Sozialdemokratie (eine Kritik), von Agustín Guillamón

Hier eine Kritik und historische Einordnung, mit Schwerpunkt auf den spanischen Staat, von Agustín Guillamón, der Sozialdemokratie. Wir fanden aus historischer Sicht vieles, wenn auch nur kurz und sehr knackig, interessant, alles was auf den spanischen Staat hinweist ist etwas aus der Zeit, vor allem weil es sich sehr spezifisch auf den Moment, 2016, auf die Partei PSOE und Podemos bezieht und seit dem sich einiges entwickelt hat und man die Kritik komplett neu formulieren müsste. Dennoch, wenn auch nicht der beste Beitrag, hier ein weiterer.


Sozialdemokratie

Agustín Guillamón

Oktober 2016


Gestern

Die Sozialdemokratie ist eine politische Strömung, die Ende des 19. Jahrhunderts aus der deutschen Arbeiterbewegung hervorgegangen ist. Die 1869 gegründete Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) war nicht nur die älteste und wichtigste sozialistische Partei, sondern auch das Vorbild für die übrigen Parteien der Zweiten Internationale: Dänemark 1878, Spanien 1879, Belgien 1885, Österreich und Schweden 1889, Ungarn 1890, Italien und Polen 1892, Rumänien 1893, Bulgarien und Holland 1894, Argentinien 1896, Russland 1898, Frankreich 1902/1905. In England und einigen anderen Ländern nannten sie sich Labours.

Nachdem die Anarchisten 1896 (A.d.Ü., auf dem Kongress in London) aus der Zweiten Internationale ausgeschlossen worden waren, übernahmen alle sozialistischen Parteien marxistisch inspirierte ideologische Grundsätze. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs gab es in allen nationalen Parteien eine radikalisierte und minderheitliche, aber theoretisch mächtige und sehr aktive revolutionäre Tendenz (Luxemburg, Lenin), der eine auf syndikalistische/gewerkschaftsbasierende und populären Charakter, der gemäßigt und reformistisch war, gegenüberstand (Bernstein, der letzte Kaustky, Lassalle).

Die grundlegenden Ziele der sozialistischen Parteien waren das allgemeine Wahlrecht und die Eroberung des Staates als Mittel zur schrittweisen Umwandlung vom Kapitalismus zum Sozialismus. Bernstein verteidigte diesen Gradualismus als einen Prozess von politischen und ökonomischen Reformen. Diese Reformen waren das vorrangige Ziel der Arbeiterbewegung, und folglich wurden Wahlen und Parlamentarismus zur wichtigsten, wenn nicht sogar zur einzigen Methode des langsamen, schrittweisen und stetigen Voranschreitens zum Sozialismus.

Für Bernstein waren die von ihm befürworteten Reformen nicht nur ein System zur Erlangung unmittelbarer gewerkschaftlicher/syndikalistischer oder sozialer Vorteile, sondern Demokratie war ein verbesserungsfähiges Konzept und auch ein politisches Ziel, das durch den Kampf für das Recht der Gewerkschaften/Syndikate auf Beteiligung nicht nur an der Verwaltung der Unternehmen, sondern auch an der politischen Leitung des Staates erreicht werden sollte.

Die Arbeiterparteien ihrerseits waren der Meinung, dass der Übergang zum Sozialismus besser durch eine Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie als durch eine gewaltsame Revolution oder ein anderes Mittel als demokratische Wahlen erreicht werden kann.

Bernstein wurde in der Theorie von allen sozialistischen Parteien verurteilt und abgelehnt.

In der Praxis jedoch hatten seine gradualistischen Positionen großen Einfluss auf den internationalen Sozialismus und die Mentalität der sozialdemokratischen Militanten.

Der Erste Weltkrieg führte zum Zusammenbruch der Zweiten Internationale, als die verschiedenen sozialistischen Parteien, insbesondere die deutsche und die französische, in ihren jeweiligen nationalen Parlamenten positiv und fast einstimmig für die Kriegskredite stimmten. Die internationalen Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal stellten fest, dass alle Revolutionäre, die sich dem großen Gemetzel an den Arbeitern entgegenstellten, in nur zwei Wagen passen würden.

Der Triumph der Bolschewiki in Russland führte dazu, dass sich der internationale Sozialismus endgültig in zwei große ideologische Richtungen spaltete; die radikaleren Fraktionen der sozialistischen Parteien spalteten sich ab und bildeten schließlich kommunistische Parteien, die in die Dritte Internationale (auch Kommunistische Internationale oder Komintern genannt) integriert waren und eine der Moskauer Regierung nahe stehende Linie verfolgten.

So entstanden die kommunistischen Parteien in Italien, Spanien, Frankreich und so weiter. Die sozialistischen Parteien, von denen sich der radikale Flügel abgespalten hatte, übernahmen stärker das Konzept und die Bezeichnung der Sozialdemokraten.

Einige dieser Parteien übernahmen in der Zwischenkriegszeit in den so genannten Volksfronten allein oder in Koalitionen Regierungsaufgaben, sogar mit kommunistischen Parteien. Diese sozialdemokratischen Parteien traten für die antifaschistische Einheit und Reformen als Weg zum Sozialismus ohne Privateigentum ein und lehnten die Existenz der UdSSR nicht ab. Die Arbeiterparteien, die vom Keynesianismus beeinflusst waren, sahen das Wesentliche in der staatlichen Kontrolle der Finanzmechanismen, aus der sich ein langsamer Entwicklungsprozess zum Sozialismus ergeben sollte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wandte sich die europäische Sozialdemokratie vom Marxismus ab und entwickelte eine neue Vision des Verhältnisses zwischen Kapitalismus und Sozialismus: Sie schlug eine stärkere staatliche Intervention in die Prozesse der Wohlstandsverteilung, eine progressive Steuerpolitik und ein subventioniertes Wohlfahrtsnetz vor, das den Sozialstaat bildete. 1959, auf dem Kongress in Bad Godesberg, gab die SPD den Marxismus auf und identifizierte Sozialismus und Demokratie vollständig. Die PSOE folgte diesem Beispiel 1979.

Die prominentesten Denker und Politiker waren Leon Blum, Ramsay McDonald, Pierre Mendès-France, Tony Crosland, John Maynard Keynes, John Kennet Galbraith, Olof Palme (schwedischer Ministerpräsident von 1969 bis 1976), Bruno Kreisky (Bundeskanzler von Österreich, 1970-1983), Willy Brandt (deutscher Bundeskanzler, 1969-1974), Nehru und so weiter. Ohne sie parodieren zu wollen, sind ihre spanischen Vertreter Pablo Iglesias Posse (1850-1925), Francisco Largo Caballero (1869-1946) und Felipe González. Zapatero wäre bereits ein Progre1 von Kopf bis Fuß, ohne jede Spur eines sozialdemokratischen oder sonstigen Gedankens.

Heute

Bis ins 21. Jahrhundert hinein wurden die Sozialisten als die besten Verwalter des Kapitalismus dargestellt. Sie waren eine politische Bewegung, die sich für die Reform der kapitalistischen sozialen und politischen Strukturen einsetzte. Sie legten den höchsten Wert auf den parlamentarischen Kampf als Instrument zur Erreichung ihrer Ziele; Gewalt und illegale Aktionen lehnten sie ab. Sie verbündeten sich am ungernsten mit den Kommunisten und standen transnationalen Konzernen und Finanzspekulationen am wohlwollendsten und zurückhaltendsten gegenüber.

Viele Sozialdemokraten sind der Meinung, dass es keinen Konflikt zwischen der kapitalistischen Marktwirtschaft und ihrer Definition einer Wohlfahrtsgesellschaft gibt, solange der Staat über ausreichende Befugnisse verfügt, um den Staatsbürgern einen angemessenen sozialen Schutz zu garantieren.

Sie unterscheiden sich vom Liberalismus und Neoliberalismus durch ihr Beharren auf der Regulierung der Produktionstätigkeit und auf der Progressivität und Höhe der Besteuerung. Dies führt zu einem Anstieg der staatlichen Maßnahmen und der öffentlichen Medien sowie der Renten, Beihilfen und Subventionen für kulturelle und soziale Vereinigungen. Einige europäische Regierungen haben unter dem Druck des Neoliberalismus eine Variante gewählt: den so genannten Dritten Weg mit weniger Interventionismus und der Präsenz öffentlicher Unternehmen, aber unter Beibehaltung der für die Sozialdemokratie typischen Beihilfen und Subventionen. Dies war der von Tony Blair (Premierminister des Vereinigten Königreichs, 1997-2007) vorgeschlagene Weg, der sich bald als überholt erwies.

Wir können sagen, dass die Sozialdemokratie derzeit die Ideologie der politischen Linken des Kapitals und die Progre-Mentalität nährt, aber sie wurde durch die neoliberale Kritik und die Ruinen des Wohlfahrtsstaates schwer beschädigt.

Zu den Denkern, die den größten Einfluss auf die heutige Sozialdemokratie hatten, gehören Gerhard Schoeder, Paul Krugman, Robert Solow, Joseph Stiglitz, Norberto Bobbio und Zygmunt Bauman. Die Ideen, die zu Tony Blairs Positionen führten, stammen aus der Arbeit von Anthony Giddens und Jeffey Sachs.

Sozialdemokratische Parteien gehören in den meisten europäischen Ländern zu den wichtigsten Parteien. In den Vereinigten Staaten sind Sozialdemokraten eine Seltenheit und werden immer noch ohne guten Grund als gefährliche Extremisten und Revolutionäre angesehen.

Die meisten sozialdemokratischen Parteien sind Mitglieder der aseptischen, funktionalen und bürokratisierten Sozialistischen Internationale, die 1951 gegründet wurde.

Die Begriffe „Sozialismus“ oder „sozialistisch“ werden oft in Bezug auf die Sozialdemokratie und die Sozialdemokraten verwendet, obwohl der Begriff „Sozialismus“ weiter gefasst ist, da er in verschiedenen Ländern auch Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten einschließen kann, wenn auch zunehmend nur als historischer Verweis auf ihren gemeinsamen ideologischen Ursprung in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts.

Progres

Unter Progre-Denken versteht man eine Reihe von mehr oder weniger unzusammenhängenden und unverbundenen Ideen aus der linken Mitte des parlamentarischen Spektrums. Die wiedergegründete PSOE führte den politischen Progressivismus während der Regierung von Felipe González (1982-1996) an. Mit Zapatero (2004-2011) ging die gesamte sozialdemokratische Ideologie verloren und die Progres zeigten all ihre Widersprüche und Ineffizienz, die typisch für den leeren politischen Opportunismus sind, der sie nährt.

Nachdem der Marxismus von Felipe González (1979) aufgegeben und die PSOE unter Zapatero in die Einheitspartei PP-PSOE umgewandelt wurde, schlagen die Progres verbal immer weniger und unmöglichere Sozialpläne vor und verteidigen in der Praxis den brutalen Kapitalismus der transnationalen Konzerne und des Finanzkapitals, der nur zu einer größeren Konzentration des Reichtums und sozialer Ungleichheit führt.

Mit der Krise 2008 brach das einzige sozialistische Programmjuwel, der Wohlfahrtsstaat, ins Nichts zusammen und machte die Progres zu lausigen Verwaltern des Kapitals. Sie unterschieden sich in ihrer Gutmütigkeit, Toleranz und kulturellen Veranlagung kaum von der extremen Rechten, die sich für Abtreibung, die Anerkennung der Rechte von Homosexuellen, die Gleichstellung der Frau und Resignation angesichts der massiven Einwanderung aussprach.

Im August 2011 reformierten Zapatero und die Einheitspartei kurzerhand die Verfassung ohne Volksabstimmung, um den Haushalt der von Merkel geforderten Haushaltsdisziplin zu unterwerfen. Ihr Versagen in der Sozialpolitik, das Versäumnis, die Budgets für Bildung und Gesundheit, die sozialen Subventionen, die Aufrechterhaltung der Renten usw. zu erhalten, zusammen mit dem unverhältnismäßigen Anstieg der Arbeitslosigkeit und den Fällen von weit verbreiteter Korruption in ihren Reihen, wie in jeder anderen Partei, machten die Progres unfähig und ohne jede Glaubwürdigkeit. Im Privaten tun sie genau das Gegenteil von dem, was sie in der Öffentlichkeit predigen. Sie glauben nicht mehr an die Utopie und vielleicht an gar nichts. Sie ignorieren die alte sozialistische Tradition, die noch vorgab, für Prinzipien wie Solidarität oder Gleichheit zu stehen. Ihre offensichtliche Entpolitisierung macht sie zu amoralischen Opportunisten, unglaubwürdig, verachtenswert und verächtlich.

Die sozialistischen Abgeordneten, die Rajoys Amtseinführung zugestimmt haben, sind keine Verräter, ganz im Gegenteil: sie waren kohärent. Diejenigen, die mit Nein zu Rajoy gestimmt haben, schätzen ihr eigenes Image mehr als den Dienst, den sie ihren Herren schulden: es ist eine Frage der Ästhetik.

Die Progre-Ideologie ist keine Philosophie, keine Ideologie und kein Glaube mehr, sondern nur noch ein Alibi, um ihre eigenen elitären Privilegien in einer Gesellschaft zu verteidigen, die wie die spanische europaweit führend ist bei Arbeitslosigkeit, Prostitution, Alkoholismus, Drogenhandel und -konsum, null Qualität in der Bildung, Schulversagen, zunehmender Armut, Diskreditierung der repräsentativen Demokratie, Eden der politischen Kasten und Verlust ethischer Werte.

Sie sind nutzlose Narren und ihr einstiges Ansehen ist unwiederbringlich. Ihre ideologischen und programmatischen Trümmer sind unter den folgenden Postulaten zu finden, an die sie weder glauben noch geglaubt werden, weil sie ihrer grundsätzlichen Loyalität und Verteidigung des kapitalistischen Systems und dem Gehorsam gegenüber den Herren der Welt widersprechen:

1. Gemischte Ökonomie, in der Privateigentum und Staatseigentum nebeneinander bestehen. Der Staat subventioniert eine universelle, hochwertige Gesundheitsversorgung und Bildung.

2. Der Staat koordiniert und plant ein effizientes, fast flächendeckendes Sozialversicherungssystem, das für angemessene Renten sorgt, vor Armut und Krankheit schützt und die Arbeitslosigkeit subventioniert.

3. Der Staat muss die gewerkschaftliche/syndikalistische Organisierung der Arbeiterinnen und Arbeiter und Verbraucherschutzgesetze gegen den Missbrauch durch transnationale Unternehmen und das Finanzkapital fördern.

4. Der Staat muss die Umwelt schützen, Gesetze zum Schutz der Natur und alternativer Energien erlassen und den Klimawandel bekämpfen, ohne die Gewinne der transnationalen Konzerne anzutasten.

5. Der Staat muss ein progressives Steuersystem durchsetzen, verfolgt aber nicht die großen Betrüger.

6. Der Staat sollte säkular sein, aber die katholische Kirche zahlt keine Steuern und genießt unerhörte Privilegien im Bildungswesen und bei der Aneignung von Gemeineigentum oder fremdem Eigentum.

7. Der Staat sollte Gesetze zugunsten von Einwanderern, fairem internationalen Handel und kulturellem Pluralismus erlassen, aber er finanziert salafistische Moscheen und errichtet Stacheldrahtzäune.

8. Der Staat sollte die Menschenrechte und die Demokratie international schützen, aber es gibt keine Untersuchung der Morde und des Verschwindenlassens im Bürgerkrieg.

9. Im Moment des Überschwangs schlagen sie sogar ein universelles Grundeinkommen für alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger vor, nur weil sie im Staatsgebiet geboren wurden oder dort leben.

10. Sie wollen die besten Verwalter des Kapitalismus sein, die besten Verteidiger der Interessen der transnationalen Konzerne und der Finanzwelt: IWF, Weltbank und WTO. Und dieser grundlegende Punkt hat in Zeiten der Krise des Systems absoluten Vorrang vor den vorherigen 9 Punkten, die ein „Wollen, aber nicht können“ bleiben.

*

Diese zehn Punkte verdeutlichen die brutal unüberwindbaren Widersprüche der Progres, machen sie zur Linken des Kapitals, zu natürlichen Verbündeten der Rechten des Kapitals, mit der sie ein einziges Denken und eine einzige Partei (PP-PSOE) bilden, und ermutigen sie, sich als theatralische Konkurrenten der extremen Linken des Kapitals (En común – Podemos) zu betrachten, denen sie die Fackel zu übergeben versuchen, um die Farce fortzusetzen. Denn es geht nicht darum, den Staat zu erobern, sondern ihn zu zerstören.

Agustín Guillamón

Barcelona, Oktober 2016


1A.d.Ü., siehe weiter unten den Abschnitt dazu.

Dieser Beitrag wurde unter Agustín Guillamon, Kritik am Reformismus, Kritik an der (radikalen) Linke des Kapitals, Texte veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.