Über einige alte, aber aktuelle Fragen unter Anarchisten, und nicht nur…

Hier ein weiterer wichtiger anarchistischer Text den wir nicht ohne Grund ausgegraben haben. Im Text ist immer wieder die Rede über die ‚Angry Brigade‘, hier eine Broschüre dazu die wir vor längerem übersetzten.


Über einige alte, aber aktuelle Fragen unter Anarchisten, und nicht nur…

Originaltitel:
Su alcune vecchie questioni d‘attualità fra gli anarchici, e non solo
Erschien 2003 in Italien
Der Text wurde im Sommer 2009 aus dem Italienischen ins
Deutsche übersetzt und nun für diese Brochüre überarbeitet.

Die Einleitung und die Anmerkungen wurden der niederländischen Ausgabe dieses Textes beigefügt und hier übersetzt und übernommen.


Einleitung

Es gibt Fragen, die schon seit Jahrhunderten die Geschichte der Revolte begleiten. Es sind Fragen, die stets zurückkommen werden, die in schwierigen Momenten an unserer Tür klopfen und sich gewaltsam Zutritt verschaffen… um plötzlich unsere Absichten völlig in Frage zu stellen. Es sind Fragen, die nur selten in geschriebenen Worten Niederschlag gefunden haben. Wir werden oft mit ihnen konfrontiert, sei es durch Diskussionen mit Kameraden, durch das Wühlen in unseren Köpfen oder durch das Kennenlernen von Erfahrungen aus anderen Gegenden und anderen Zeiten.

Eine dieser Fragen ist das alte Problem der revolutionären Avantgarden, der Selbstrepräsentation von diesen, als wären sie das radikalste Sprachrohr der Ausgebeuteten, und der Spezialisierung, die es unmöglich macht, mit allen Mitteln zu agieren, die uns zur Verfügung stehen. Ausgehend von diesem Problem werden wir auch mit konkreteren und praktischeren Überlegungen konfrontiert. Welche Rolle spielen Bekennerschreiben? Welche Beweggründe verstecken sich hinter bestimmten Methoden zu bestimmten Momenten?

Ausgehend vom Italienischen Kontext versucht dieser Text ein paar dieser Probleme anzugehen. Es geht hierbei nicht um die x-te Kritik an Organisationen und Gruppen, die uns sehr fern sind, sondern um eine Kritik dicht bei uns, um Anarchisten, die offenbar immer öfters die Entscheidung treffen, einige alte Kadaver wieder auszugraben. Diese Kritik richtet sich gewiss an die informelle anarchistische Föderation (FAI), in deren Namen sich verschiedene Gruppen in den vergangenen Jahren zu Anschlägen und Briefbomben bekannten, auch wenn dieser Text noch vor der Reihe von Brandbriefen an Europäische Institutionen geschrieben wurde, die gegen Ende des Jahres 2003 für Aufruhr sorgte. Die Situation der Bewegung in Italien liegt uns nah am Herzen, doch wir denken dennoch, dass es hier bedeutende Unterschiede zu anderen Ländern in Europa (und sonstwo) gibt. Dieser Text kommt daher aus einer spezifischen Situation und einer Kritik hervor, die darin gewachsen ist, wodurch er automatisch auch seine Grenzen kennt. Dennoch greift er Fragen auf, die alle etwas angehen. Und nicht nur diejenigen, die sich mit ein paar sonderbaren Versuchen konfrontiert sahen, die beabsichtigten, zu einer alternativen anarchistischen bewaffneten Organisation zu gelangen, während sie mit Begriffen und Konzepten von dem spielten, was Insurrektionismus genannt wird (ein Wort das wir lieber loswerden, anstatt uns zueignen wollen, denn wir sehen keinen Sinn darin, eine reichhaltige und breite Kampfperspektive auf irgendeine Ideologie und ihre Rethorik zu reduzieren).

Es gibt ein paar grundlegende Ideen, die für eine sinnvolle Diskussion über diese Fragen unentbehrlich sind. Ansonsten verwässert diese unvermeidlich zu einem quantitativen Gebot in scheinbarer Radikalität, die oft mehr aus Worten als aus wirklichem Engagement besteht. Ausserdem ist es schwierig, solche Diskussionen losgelöst von anderen Fragen zu führen, wie beispielsweise die Rolle der Propaganda, die Bedeutung von informeller Organisation, die Frage der Methoden. Auch hier verbergen sich die Grenzen dieses Textes und gleichzeitig die Öffnungen, um an Hand dieses Textes sinnvolle Diskussionen zu führen.

Der Aufstand ist für uns unbestreitbar ein soziales Ereignis. Sowohl der Aufstand wie die aufständische Methode sind ziemlich spezifische Konzepte, denen nicht einfach so irgendeine Auslegungen nach Geschmack und Moment gegeben werden kann. Eine solche linguistische Verwässerung trägt bloss zur Verwirrung bei, welche sehr praktische Folgen nach sich zieht. Der Aufstand ist der Prozess, wobei der Klassenantagonismus immer deutlicher an die Oberfläche tritt, bis zu dem Punkt, wo er seine ersten spezifischen Auslöser oder Ziele zurücklässt, alle sozialen Rollen auf den Kopf stellt und den Weg für etwas völlig anderes öffnet. Die aufständische Methode ist also unter anderem die Entscheidung, sich an Kämpfen mit beschränkten Zielen zu beteiligen, die sich durch ihre Wahl des Angriffs und der Selbstorganisation auszeichnen, wobei der Bruch mit der Normalität, das Anwachsen der Solidarität und der Kampferfahrungen, die die revoltierenden Ausgebeuteten und Unterdrückten anwenden – und nicht die vielleicht auch nicht erreichten quantitativen Resultate – der Einsatz und der „Gewinn“ sind. Es ist ein qualitativer Sprung nach vorne, die resolute Erkennung des Klassenfeindes und der Macht in ihren konkreten Strukturen.

Wie wir weiter oben bereits sagten, halten wir es für wichtig, die wahre Bedeutung der Wörter und Konzepte nicht zu verdrehen oder auszuhöhlen. Die aufständische Methode ist eine Methode neben vielen anderen, und vor allem gibt es die ganze subversive Dynamik, worin sich die verschiedenen Methoden gegenseitig nähren und stimulieren. Mit anderen Worten, indem wir das Wort „Aufstand“ in den Mund nehmen, haben wir nicht alles gesagt. An der Basis des sozialen Krieges, und somit von dessen aufständischen Äusserungen, steht die individuelle Revolte. Diese individuelle Revolte kann nach ihrer sozialen Bedeutung suchen und versuchen auf den Wogen der sozialen Konflikte schwimmen zu lernen. Andererseits kann sie auch selbst weiterwachsen und sich ausbreiten, ihre eigenen Ausdrücke suchen, ohne dass sie deswegen aufhört, Teil des sozialen Krieges auszumachen. Als revoltierendes Individuum neben anderen revoltierenden Individuen, die ihre Wege zur Subversion je nach Geschmack und Möglichkeiten wählen.

Darüber hinaus soll der soziale Aspekt des Aufstandes nicht als quantitative Angelegenheit interpretiert werden. Als Individuum oder als kleine Gruppe von Individuen zu handeln bedeutet nicht, isoliert zu handeln und ebenso wenig bedeutet eine handelnde Masse, dass ein aufständischer Prozess in Gang gesetzt wird. Es ist vielmehr die Dynamik des Konfliktes, die sozial ist und diese Welt der Autorität und Ausbeutung in Frage stellt und angreift.

Subversion ist nicht die quantitative Summe der Anzahl Schläge, die wir dem Feind zusetzen. Sie ist nicht eine Frage des Masses an „ät“ der Mittel, die verwendet wurden. Subversion liegt gerade in dem in Frage Stellen der gesamten Gesellschaft, dem auf den Kopf Stellen ihrer Ordnung und der konsequenten Verweigerung der Rollen, die uns auferlegt werden. Unter den Mitteln, die wir dafür verwenden braucht keine Hierarchie angebracht zu werden. Es geht schlicht darum, alles was uns zur Verfügung steht zu vermischen und im richtigen Moment anzuwenden. Bedeutet dies, dass Worte alleine ausreichen? Nein, ebenso wenig wie es bedeutet, dass Waffen alleine ausreichen. Bedeutet dies, dass wir gewisse Mittel nur gebrauchen können, wenn „die Masse“ sie als positiv anerkennt? Nein, ebensowenig wie es bedeutet, dass wir nicht darüber nachdenken können, welche Mittel in welchem Moment am geschicktesten sind. Um darüber nachzudenken, können wir ein paar Sachen im Hinterkopf behalten. Wie beispielsweise die soziale Verbreitbarkeit von bestimmten Methoden. Technische Spitzenleistungen nehmen nur allzu oft den Platz einer subversiven Intelligenz ein. Auch Kreativität ist sozial und sicher keine rein technische Angelegenheit. Die Wahl unserer Ziele ist ebenso wenig belanglos. Wenn wir die Macht als Winterpalast betrachten, den es einzunehmen gilt, wenn wir die Macht als eine Zentralität betrachten, dann folgt daraus logischerweise, dass wir nur im Parlament einen wirklichen Feind erkennen. Wenn wir die Macht hingegen als etwas sehen, dass überall verstreut in Strukturen und Personen Form annimmt, dann öffnet sich ein ganzes Spektrum von einfachen und breitgefächerten Angriffen. Dann spricht die Aktion von unserer Überzeugung, nämlich, dass die Macht ein soziales Verhältnis ist, das überall in Frage gestellt werden kann.

Diese Fragen sollen immer im Umlauf bleiben. Es ist wichtig, dass wir uns selbst nicht von ihnen abschirmen weil sie zu lästig sind. Diese Diskussionen können unsere Praktik und unsere Ideen nur schärfen, mit dem Schleifstein der Kritik und der Lehren, die wir aus Erfahrungen von anderen Kameraden ziehen.


Anmerkung des Übersetzers (Sommer 2009):

Die Verwendung des Wortes Kameraden als Übersetzung von compagni aus dem Italienischen ist eine (Wieder)Aneignung. Eine Erinnerung daran, dass dieses Wort auch im deutschsprachigen Raum einmal im (nicht-rechten) populären Sinne gebräuchlich war. Im Bezug auf die Freiheit wie sie im anarchistischen Diskurs gebraucht wird. Nicht im Sinne der Ideologien aus der Ecke der Buden, der autonomen Nazis, des braunen Miefs der Kameradschaften, die es erfolgreich schafften, diesen Begriff nach Rechts zu ziehen und zu vereinnahmen (bzw. aus der Ecke der Bundeswehr/Bundesheer und Soldaten sowie anderer staatlicher Institutionen).

Ich machte mir hier Gedanken über verschiedene Ausdrucksweisen die zur Zeit in Gebrauch sind, bisher aber keine zufriedenstellend; Genossen, Gefährten, Kumpanen, Kumpel. Auch diese sind holprig bzw. von der Kommunistischen/Linken Diskussion vereinnahmt oder geprägt. Warum also nicht aufs Ganze gehen und den ursprünglichen Begriff (wieder) in unsere Hände nehmen?!

Es wäre interessant darüber mit anderen Kameraden/ Genossen/ Gefährten/ Kumpanen/ Kumpel zu diskutieren.


Über einige alte, aber aktuelle Fragen unter Anarchisten, und nicht nur…

Ich bin gewiss nicht gewaltlos. Trotzdem kann ich diejenigen verstehen, die Gewalt so sehr verabscheuen, dass sie sie aus ihrem Leben verbannen wollen; diejenigen, die niemals töten würden, niemals Gewalt anwenden würden, um sich Gehör zu verschaffen, diejenigen, die es aufgrund ihres Charakters und ihrer persönlichen Haltung vorziehen, keinen Gebrauch von ihr zu machen. Ich kann all dies jedoch nur verstehen, wenn es sich um eine individuelle und sukzessive Entscheidung handelt. Wenn die Gewaltlosigkeit als Kampfmethode präsentiert wird, wenn sie als zu befolgender Weg vorgeschlagen wird, wenn die individuelle Ethik zu einer Moral und einem kollektiven Projekt wird, dann erscheint mir dies wahrlich als Schwachsinn, der einzig zur Rechtfertigung von Untätigkeit nützt. Dann wird sie zum Hindernis für jene, die rebellieren und zu einem absoluten Wert, der den Schwachen auferlegt wird, um den Mächtigen zu ermöglichen, sich bequemer zurückzulehnen. Am Rande des Abgrunds, mit immer rutschigerem Boden unter den Füssen und unter Feindesbeschuss, kann die Einladung, ausschliesslich gute Manieren zu gebrauchen, nur derart aussehen. Mach doch was du willst, aber spar dir die Predigten.

Dies gesagt, bin ich auch kein Fanatiker der Gewalt. Ich mag diejenigen nicht, die mit ihrer Kühnheit in diesem Bereich prahlen. Ich rechtfertige ihre Verteidigung nicht als Ziel an sich. Ich verachte diejenigen, die sie als alleinige Lösung betrachten. Ich betrachte sie als Notwendigkeit im Kampf gegen die Herrschaft, und nichts weiter. Wie Malatesta glaube auch ich nicht an „stille Untergänge“. Ich glaube nicht, dass sich der Stahlbeton, mit dem die Macht unsere Existenz bedeckt hat, durch das Erblühen der Blumen der Freiheit auflösen wird, die durch Verbreitung unserer Ideen liebevoll gepflanzt wurden.

Eben weil ich nicht gewaltlos bin, kann ich die moralistische Verdammung von Gewaltakten nicht ausstehen. Deren Heuchelei verursacht Übelkeit in mir. Aber eben weil ich kein Fanatiker der Gewalt bin, kann ich die unkritische Verherrlichung solcher Akte ebensowenig ausstehen. Deren Dummheit geht mir wirklich auf die Nerven.

Kürzlich sind einige Angriffe, die von unbekannten Kameraden erst gegen das Polizeipräsidium von Genua und dann gegen das spanische Gefängnisregime begangen wurden <1> in den Vordergrund getreten. Die hysterische Reaktion der Medien war ebenso vorhersehbar wie die Reaktion der Polizei. Aber wie ist die Reaktion der Kameraden? Abgesehen von den üblichen Trotteln, die der Suche nach den verborgenen Beweggründen verfallen, ist Stille die häufigste Reaktion. Eine notwendige Stille, um eine Trennung zwischen Fürsprechern und Gegnern zu vermeiden, welche bloss den polizeilichen Ermittlungen zunutze kommen würde. Doch schon für zu lange Zeit begrenzt sich diese Stille nicht nur auf die Tage nach den Angriffen und erstreckt sich weit darüber hinaus. Es ist nicht mehr Stille im Angesicht des Feindes, der gerne wissen würde, es ist Stille unter Kameraden, die sich gerne verstehen würden. Von der Anwesenheit einer minimalen Form von Solidarität ist man zur Abwesenheit jeglicher kritischen Diskussion gelangt. Aber warum sollten Taten, welcherart auch immer sie sind, keiner kritischen Reflexion unterzogen werden? Warum sollte eine hypothetische Auseinandersetzung über solche Fragen als Hindernis betrachtet werden, als wäre es etwas, das darauf abzielt, ähnliche Aktionen zu verhindern? Warum könnte es stattdessen nicht eine Stütze sein, eine Methode um die Bedeutung dessen, was man tun will, zu klären, um die Taten zu stärken und zu verbessern?

Ich für meinen Teil habe mich entschieden, die kürzlichen Ereignisse als Ausgangspunkt nehmend, diesen Text zu schreiben und zu verbreiten. Seine anonyme Form gründet nicht in der Angst davor, Verantwortung für meine Worte zu übernehmen, sondern ist bloss ein Mittel, um mich in den Augen der Repression nicht von anderen Kameraden zu unterscheiden.

Bekennerschreiben ja, Bekennerschreiben nein

Soweit ich weiss (ich bin kein Experte auf dem Gebiet, daher könnte ich mich auch irren) müssen wir ins Russland des Jahres 1878 zurückgehen, um das erste Bekennerschreiben zum Angriff einer revolutionären Organisation aufzufinden. Es handelt sich um eine Broschüre namens Smert‘ za smert‘ (ein Tod für einen Tod), welche nach dem Mord am General Mezencov, dem Kopf der russischen Geheimpolizei, von der Gruppe Narodnaja Volja <2> (Volkswille) verbreitet wurde. 13 Tage nach dem Mord wurde die Bekennerbroschüre einer Tageszeitung von St. Petersburg zugestellt. An den darauffolgenden Tagen gelangen viele weitere Kopien an zahlreiche Regierungsfunktionäre in anderen Städten. Zu dieser Zeit erregte die Aktion grosses Aufsehen und es mangelte – natürlich – nicht an der Kritik von denjenigen, die dachten, dass die Anwendung solcher Mittel das wichtigere Werkzeug, die Propagierung der Idee einer Massenrevolte, weder ersetzen noch flankieren könne.

Seit damals hat sich diese Szene hunderte Male wiederholt. Selbstverständlich verändern sich die Details von Mal zu Mal, aber die Substanz bleibt dieselbe. Man könnte fast sagen, dass die Erfahrung dieser russischen Revolutionäre zu einer Art Archetyp wurde, zu einem Originalmodell, dessen nachfolgende Erscheinungsformen in Wahrheit nichts anderes als Herleitungen oder Imitationen sind. Die einzige Veränderung innerhalb dieses Schemas haben jene Anarchisten herbeigeführt, die es nie für nötig hielten, sich zu den eigenen Angriffsaktionen gegen die Macht politisch zu bekennen. Tatsächlich trat die russische Gruppe „Volkswille“, obwohl sie „Militante“ mit verschiedensten Ideen versammelte, als zentralisierte Avantgarde hervor. Wie sich eine Militante in ihren Memoiren erinnert, wurde im Innern dieser Organisation diskutiert, ob das zu befolgende Programm sein soll, «die Regierung zu zwingen, dem Volk zu erlauben seinen Willen frei und ohne Hindernisse auszudrücken und das politische und ökonomische Leben wieder aufzubauen… oder ob die Organisation zuerst versuchen sollte, die Macht in ihre eigenen Hände zu nehmen, um dann von oben eine Verfassung zu erlassen, die zum Vorteil des Volkes wäre».

Unter solchen Voraussetzungen kann man ihr Bedürfnis sich zu bekennen und den Massen, die sie emporzuheben gedachten, und dem Feind, als dessen Gegenstück sie sich betrachteten die Gründe für ihre Aktion mitzuteilen gut verstehen. Schliesslich wollte sich diese Gruppe ans Volk wenden (wenn auch beinahe all ihre Mitglieder aus der wohlhabenderen Klasse kamen) und musste in dessen Namen mit der verfassungsgebenden Macht verhandeln, bis dahin, dass sie dem Thronfolger des Zaren einen Brief zuschickten, indem sie ihm Rat erteilten, welcher Politik er folgen sollte.

Aber wenn man weder irgendjemanden repräsentieren, noch sich als jemandes Gegenstück hinstellen will, wieso dann Communiqués verbeiten? Wenn man denkt, dass der Akt des Angriffs gegen die Macht in jedem Fall die soziale Revolution in Aussicht haben muss, und nicht deren Parodie in Form des bewaffneten Kampfes gegen den Staat sein kann, was kann dann das Ziel einer spezifischen bewaffneten Organisation sein?

Es scheint mir nicht, dass sich die Anarchisten in Vergangenheit durch den Gebrauch von Bekennerschreiben unterschieden haben. Diejenigen Anarchisten, die sich durch individuelle Taten aufopferten, wie Bresci <3> und Caserio <4> taten es aus offensichtlichen Gründen nicht. Jene Kameraden, die beabsichtigten eine kontinuierlichere Aktivität zu entwickeln, wie Ravachol <5> oder Henry <6>, taten es genausowenig, wie die Kameraden, die sich mit anderen zur bewaffneten Aktion zusammentaten: Weder Di Giovanni <7> tat es, noch Durruti <8> oder Ascaso <9>. Und die Gründe dafür mussten wohl ziemlich ersichtlich gewesen sein. Mit dem Verlangen nach einer Revolution, die von der Basis ausgeht und dieser weder aufgezwungen wird, noch von oben herab lanciert wird, haben es all diese Anarchisten als zweckmäßig erachtet, im Schatten zu handeln, indem sie versuchten, sich von allem fernzuhalten, was sie ins Rampenlicht bringen könnte. Sie zogen es vor, die Gründe für ihre Aktionen von der Basis auskommen zu lassen, sodass es die Bewegung selbst war, die sie ausdrückte, anstatt einen Vorteil aus dem ausgelösten Wirbel zu ziehen, um sie von oben herab zu verbreiten, als eine offizielle Nachricht derer, die revoltiert hatten, an jene, die es nicht taten. Wenn die Bedeutung einer Aktion durch den sozialen Kontext nicht ersichtlich war, lässt sie sich in Flugblättern, Zeitungen, Revues und innerhalb der theoretischen Debatte, die von der Bewegung als Gesmatheit entwickelt wurde finden, und nicht im Communiqué einer einzelnen Organisation. Ich mache ein Beispiel: Wenn die Bewegung fähig ist, ihre theoretische Kritik am Gefängnis auszudrücken und jemand zur praktischen Kritik übergeht, dann besteht keine Notwendigkeit ein Communiqué zu schreiben, worin die Gründe dafür erklärt werden. Die Gründe seiner Geste sind bereits klar und verständlich. Wenn jemand ein Bekennerschreiben veröffentlichen will, dann nur, weil er sich selbst zur Schau stellen und die eigene Identität durchsetzen will. Der Angriff auf das Polizeipräsidium von Genua zum Beispiel, war so aussagekräftig (was die Wahl des Ziels und des Momentes angeht), dass alle Worte überflüssig wurden. Warum wurde ein Communiqué in Umlauf gebracht, dass nichts als Banalitäten aussagte?

Es stimmt, dass der Fall der Angry Brigade <10> eine Art Ausnahme darstellt, die noch immer ein Thema für Anarchisten ist, die sich für ihre Aktionen bekennen. Nicht durch Zufall scheint eben diese Erfahrung für viele Kameraden, die heute die Macht angreifen, eine Art Vorbild darzustellen. Und dennoch scheint mir das Beispiel nicht wiederholbar zu sein, es sei denn, man wolle sich in ein Nachahmeverhalten stürzen. Einerseits ist es unmöglich, ausser Acht zu lassen, dass die Angry Brigade in einem historischen Kontext eingefügt war, in welchem sie heranreifte (Anfangs der 70er Jahre). Zu einer Zeit, als viele stalinistische Gruppen entsetzliche ideologische Schinken aussäten, um ihr eigenes politisches Projekt zu propagieren und sich anschickten die Dimension des bewaffneten Angriffs zu dominieren, scheint es mir nicht unsinnig, dass sich so mancher Anarchist absondern wollte, um das Risiko nicht einzugehen, ungewollt Wasser auf die Mühlen Anderer zu gießen. Von der Wahl des Namens und jener mancher Ziele, bis hin zum Stil ihrer Communiqués schien sich alles tendenziell vom politischen Zerfall zu unterscheiden, der sie umgab. Aber, die ganze stalinistische Ideologie einmal überholt, welche Bedeutung kommt der Entscheidung zu, sich als Anarchist zu kennzeichnen; welchen Sinn hat es, diese Selbstrepräsentation fortzuführen? In Ländern wie Spanien vielleicht, wo alle Aktionen, einschliesslich der anonymen, regelmässig der ETA <11> zugeschrieben werden, aber sicher nicht hier in Italien. Tatsächlich haben Angriffsaktionen seit Jahren keine Communiqués hervorgebracht, ausser hin und wieder mal etwas kurzes und einfaches, dass die Verwendung jeglicher identitären Kennzeichnung ablehnte. Es sollte überflüssig sein, die Gründe dafür darzulegen: eine Aktion kann nur allen gehören, wenn sie sich niemand selbst zuschreibt. Von dem Moment an, wo man sich mit einer Identität bekennt, entsteht eine Trennung zwischen jenen, die sie ausführten und allen anderen. Darüber hinaus sollte es auch nicht nötig sein, an die Gefahren zu erinnern, die jedem Bekennerschreiben beiwohnen. Es ist gefährlich es zu übergeben, es zu verschicken, und vor allem ist es gefährlich, es zu schreiben, denn je mehr man schreibt, desto mehr Hinweise gibt man der Polizei (eine alles andere als hypothetische Gefahr, angesichts dessen, dass es zumindest ein negativer Präzedenzfall <12> existiert, der anarchistische Kameraden getroffen hat). Ein anonymer Angriff erlaubt niemandem hervorzutreten und vereinfacht nicht die repressive Arbeit der Polizei.

Wenn die Gründe, die zur Anonymität raten, nun mehr als einmal ausformuliert wurden, wurden es jene, die davon abraten hingegen nicht. Seit einigen Jahren haben sich die Dinge verändert, ohne dass es zu einer Diskussion kam, die ermöglicht hätte, die Gründe einer solchen Veränderung zu verstehen (deshalb erscheinen sie verdunkelt und eher an emotionale Reaktionen gebunden, als an bestimmte Ziele). Jedenfalls ist es heute ziemlich schwierig eine Aktion zu finden, die nicht von einem schönen offiziellen Communiqué begleitet wird, mit seinen Slogans und Unterschriften im Anhang. Und weshalb? Stille… Findet man sich auf diese Weise nicht im Avantgardismus wieder? Das Risiko ist so offensichtlich, dass es unter eben diesen Autoren von Bekennerschreiben diejenigen gibt, die selbst proklamieren, gegen jeglichen Avantgardismus zu sein, in der Hoffnung, dass es ausreicht, dies zu sagen, damit es auch so ist. Aber «sich entschuldigen ist, sich anzuschuldigen». Es ist die verwendete Methode selbst, die avantgardistisch ist und manchmal sogar die deutlich verkündeten Inhalte (wie in dem quälenden Communiqué der ARA <13> nach dem Angriff auf dem Palazzo Marino). Es ist von geringer Bedeutung, ob die Slogans nun zum sozialen Krieg, anstatt zur Diktatur des Proletariats aufrufen. Egal, ob die Unterschriften immer wieder wechseln. Das zeigt nur, dass die anarchistischen „Avantgardisten“ im Vergleich zu den stalinistischen flexibler sind, doch nichts desto trotz verspüren sie das Bedürfnis, sich vom Rest der Bewegung zu unterscheiden.

Es reicht nicht den Ausgangspunkt der Angry Brigade anzunehmen, um das Problem zu lösen. Ich weiss sehr wohl, dass die Angry Brigade bekräftigte: «Wir sind nicht in der Position zu sagen, ob eine Person ein Mitglied der Brigade ist oder nicht. Alles was wir sagen ist: Die Brigade ist überall. Ohne irgendein Zentralkommitee und ohne Hierarchie zur Einteilung unsere Mitglieder können wir die Unbekannten nur durch deren Aktionen als Freunde erkennen». Ich weiss auch, dass sich ihre Teilnehmer nicht als Organisation oder als einzelne Gruppe betrachteten, sondern als «ein gegen den Staat und seine Institutionen gerichteter Ausdruck von Wut und Unzufriedenheit vieler Leuten im ganzen Land. In diesem Sinn ist die Angry Brigade stets gegenwärtig (der Mann und die Frau, die neben dir sitzen)». Aber all dies zeugt nur von den guten Absichten dieser Kameraden, von ihrer Sorge darüber, sich nicht als Avantgarde hinzustellen, aber es zeigt nicht, ob sie mit ihrem Vorhaben tatsächlich Erfolg hatten. Eine Signatur, die ein Symbol für die verbreitete Wut sein soll, hat keine Bedeutung. Damit sich jeder darin wiedererkennen kann, müssen die Aktionen und die Worte, die die Aktionen erklären, von jedem verstanden und geteilt werden. Man kann nicht eine allgemeine kollektive Identität anbieten und verlangen, dass jeder seine konkrete Individualität verleugnet. Dies kann man nur tun, wenn die verwirklichten Aktionen und die ausgesprochenen Worte auf einem solch minimalen Niveau bleiben, das es Abweichungen soweit wie möglich begrenzt: Sehr simple und exemplarische Aktionen begleitet von maximalistischen Slogans. All das – vorausgesetzt, dass es die Mühe wert wäre – kann nur über kurze Zeit funktionieren, infolge derer sich andere Faktoren einschalten, die Teil jedes Steigerungsprozesses sind und die Fortführung des Experimentes unmöglich machen: Es gibt jene, die zu mächtigeren Mitteln übergehen wollen, die ausgewähltere Ziele treffen wollen, die präzisiere Konzepte zum Ausdruck bringen wollen… Selbst die ALF, die doch aus einer Motivation heraus kämpft, die im Grunde ziemlich simpel und eindeutig ist (die Tierbefreiung), wies die ersten negativen Abweichungen auf, sobald sie eine gewisse Ausbreitung erlangte. Müde von der Verworrenheit des Projektes, vom Minimalismus der Ziele und der Deklarationen der Wortführer, bildeten sich andere Tierschützergruppen. Nicht der einzige, aber der schlimmste Aspekt ist, dass sich all diese Gruppen gezwungen sahen, sich selbst einen neuen Namen zu geben, um zu vermeiden, in den selben Topf geworfen zu werden. Denn das Mittel des Bekennerschreibens ist, mit aller Schädlichkeit, die dies mit sich bringt, ein streng politisches. Solange alle in der Anonymität verbleiben, kann man tun was man will, ohne sich mit anderen zu verwickeln oder auf deren Rücken zu reiten. Nicht aber, wenn jemand aus dem Wasser steigt; dann zwingt dieser auch die Anderen aufzutauchen, um nicht als schlichte Heereskolonnen wahrgenommen zu werden. Dieser Mechanismus der Identifikation/Assimilation kann nur durch Anonymität, Diversität der Mittel und Fantasie in der Wahl der Ziele vermieden werden, anderfalls (wie viele Vorsichtsmassnahmen man auch treffen mag) können die Medien niemals daran gehindert werden, diesen Mechanismus (noch viel stärker, als durch die Communiqués, die man eben diesen sendet) in Gang zu setzen.

Ich wiederhole, mit dem Gesagten denke ich nicht, dass man die guten Absichten dieser Kameraden bezweifeln kann. Dennoch sind sie meiner Meinung nach Opfer eines Irrtums: Zu denken, dass eine Methode anarchistisch wird, in den Händen desjenigen, der sie anwendet. Dem ist nicht so. Eine spezifische Organisation mit ihrem Kennzeichen und ihren Communiqués ist avantgardistisch – jenseits der einzelnen Personen, die Teil davon sind. Worin liegt der Sinn, den Bullen direkt ein Bekennerschreiben zukommen zu lassen? Worin liegt der Sinn, zu erklären, was nicht erklärt zu werden braucht? Abseits vom revolutionären Mythos hat das alles nur für einen Avantgardisten einen Sinn, der sich selbst im Bezug auf die Gesamtheit der Bewegung als etwas anderes und besseres sieht.

Welche Ziele?

Die avantgardistische Logik ist steif; wenn man sie sich einmal angeeignet hat, wendet man sie überall an. Es genügt an die Wahl der Ziele zu denken, an die deprimierende Entwicklung, die sie im Laufe der Jahre von anonym fallenden Hochspannungsmasten zu einer – mit beigelegtem Brief – ans Fernsehen gesendet Briefbombe gebracht hat. Im ersteren Fall wollen sie den Feind sabotieren und das Funktionieren seines Systems durch das Ausserkraftsetzen einer peripheren Struktur blockieren. Es handelt sich um eine praktische Angriffshandlung, die vielleicht etwas aufwendig zu realisieren ist, aber niemanden in Gefahr bringt. Im zweiten Fall will man bloss zum Gesprächsthema werden, Werbung für das eigene Unternehmen machen, und darum wenden sie sich direkt an die Türen des RAI [Italineischer Nationalfernsehsender]… Es ist eine rein symbolische Aktion, um vieles leichter zu realisieren, und wenn man einen unglücklichen Arbeiter der Post oder des Fernsehens in Gefahr bringt… wen kümmert das schon. Es scheint, dass nicht nur die Jesuiten denken, dass das Ziel die Mittel rechtfertigt, sondern auch gewisse Anarchisten. Und in Bezug auf Briefbomben…

Ich war ungerecht. Ich sagte, dass diejenigen, die sie verschickten nur von sich reden machen wollten. Ich vergass hinzuzufügen, dass sie, neben der Selbstbefriedigung, auch wollten, dass über etwas anderes gesprochen wird. Zum Beispiel über die Haftbedingungen einiger Anarchisten und Rebellen in Spanien. Auch die russischen revolutionären Sozialisten von 1878 teilten eine ähnliche Sorge. In einem ihrer berühmten Dokumente schrieben sie: «Wenn die Presse die Gefangenen nicht verteidigt, dann werden werden wir das tun».Heute sind es die Gruppen der 5C <14>. Anarchisten, nicht revolutionäre Sozialisten. Anarchisten wie May Piqueray, der 1921 eine Paketbombe an den amerikanischen Botschafter in Paris sandte, um gegen die Stille zu protestieren, die um die Inhaftierung von Sacco und Vanzetti vorherrschte. Die Aktion war von grossem Erfolg gekrönt, da die von der amerikanischen Regierung begangene Misshandlung endlich öffentlich bekannt wurde und einen Kampf lancierte, der Mühe hatte, ins Rollen zu kommen.

Aber nachdem man sich dieser Ähnlichkeit zwischen Gegenwart und Vergangenheit Bewusst wurde, muss man Scheuklappen aufhaben, um nicht auch die riesigen Unterschiede zu erkennen. Die russischen Sozialisten töteten den Chef der Geheimpolizei infolge des Todes von einem ihrer Kameraden im Knast: Ein Tod für einen Tod eben. Der französische Anarchist tötete den höchsten Vertreter der amerikanischen Regierung in Frankreich, um die Niederträchtigkeit der amerikanischen Justiz öffentlich zu machen. Die Anarchisten der 5C übergeben ihre Geschenke heute an niemand geringeres, als an die Angestellten von RAI, oder an die Sekretäre der spanischen Reisebüros. Der Unterschied müsste ins Auge springen. Gewiss, diejenigen, die materiell für das Gefängnisregime Verantwortlich sind, welches den Häftlingen aufgezwungen wird, sind weit entfernt und wahrscheinlich zu gut geschützt, um erreichbar zu sein, während die Interessen des spanischen Staates hingegen überall sind und deshalb angegriffen werden können. Aber werden diese Interessen etwa von Angestellten verkörpert, die in Reisebüros arbeiten? Und warum beharrt man darauf, einen medialen Effekt zu suchen, als ob man die Tatsache ignorieren könnte, dass die grossen Kommunikationsmittel die Worte der Rebellen nur dann verstärken, wenn sie deren Bedeutung verzerren können? Und wieso nicht in Betracht ziehen, dass solche Aktionen diese Verzerrungsoperationen nur allzu einfach machen? Durch das Versenden von Briefbomben nach links und rechts bringt man sie zweifellos dazu, über die inhaftierten Kameraden in Spanien zu sprechen, jeder wird über sie sprechen, aber auf welche Weise? Natürlich in der Weise, die von den Medien auferlegt wird, die sich beeilen werden, jene Idee zu bestärken, die in vielen Köpfen verwurzelt ist: dass diese Gefangenen, wenn sie solch skrupellose Verfechter an ihrer Seite haben, letzten Endes das harte Regime auch verdienen.

Das Problem ist, dass jene, die denken, dass sie weiter vorne stehen und radikaler sind als die Anderen, dies aus einem bestimmten Grund tun. In diesen Fällen liegt der Grund im Gebrauch von gewissen Instrumenten: diejenigen, die reden, schwatzen bloß, diejenigen, die bewaffnet angreifen, agieren. All diese perfekten bewaffneten Kämpfer haben sich in ihre Instrumente verliebt. Sie lieben sie so sehr, dass die Waffen aufhören, solche zu sein. Sie werden zum Selbstzweck, sie werden zum Daseinsgrund. Sie wählen nicht die für den Zweck am besten geeigneten Mittel, sie verwandeln das Mittel zum Zweck an sich. Wenn ich eine Fliege an der Mauer totschlagen will, dann verwende ich eine zusammengerollte Zeitung, wenn ich eine Maus töten will, dann verwende ich einen Stock, wenn ich einen Menschen töten will, dann verwende ich einen Revolver, wenn ich ein Gebäude zerstören will, dann verwende ich Dynamit. Je nach dem was ich tun will, wähle ich von all den Mitteln, die mir zur Verfügung stehen jenes, das ich für das passendste erachte. Der bewaffnete Kämpfer nicht. Er überlegt nicht so. Er möchte ausschliesslich sein bevorzugtes Instrument verwenden, jenes, das ihm am meisten Befriedigung verschafft, jenes, das ihn sich radikaler fühlen läßt, jenes, das es ihm erlaubt, sich in seinem Medienruhm zu aalen, und er verwendet es unabhängig vom Ziel, dass er sich vornahm: er schiesst auf Fliegen, rattert mit dem Maschinengewehr auf die Maus, dynamitisiert den Menschen und falls er es könnte, würde er eine Atombombe verwenden, um das Gebäude in die Luft zu jagen. Für den bewaffneten Kämpfer besteht die Radikalität eines Kampfes nicht aus seiner Verbreitung und Tiefe, aus seiner Kapazität den sozialen Frieden in Frage zu stellen. Für den bewaffneten Kämpfer ist Radikalität schlicht eine Frage der Feuerkraft: eine Kaliber 22 Pistole ist nicht so radikal wie eine 38er, welche weniger radikal ist wie eine Kalaschnikov, die wiederum weniger radikal ist wie der Plastiksprengstoff. Und aus diesem Grund, nach Ruhm dürstend und durch seine eigene technizistische Vergötterung stumpfsinnig gemacht, verschickt er Briefbomben an einfache Angestellte, um das FIES Gefängnisregime zu bekämpfen. Er macht das, weil es die einzige Sache ist, die er zu tun weiss; die Technik begleitet die Intelligenz nicht, sondern ersetzt sie, und somit hält er nicht inne, um sich für einen Augenblick zu fragen, ob die Mittel für das Ziel angebracht sind, das er erreichen will. Was die Skrupel betrifft, so hat er aus dem einfachen Grund keine, da in seinem Kopf alles in Schwarz und Weiss aufgeteilt ist, ohne Farbschattierungen. Auf der einen Seite ist der Staat, auf der anderen sind die Anarchisten. Es gibt niemanden in der Mitte. Wenn man nicht Anarchist ist, gehört man zum Staat und ist somit ein Feind. Die Ausgebeuteten sind ebenso verantwortlich für die Bedingungen, welche sie hinnehmen, wie die Ausbeuter, die ihnen diese aufzwingen: Sie sind alle Feinde, darum scheiss auf sie.

Eigenartigerweise gewinnt diese typisch militaristische Logik unter einigen anarchistischen Kameraden an Boden, bei welchen es nicht an jenen mangelt, die sogar die palästinensischen Kamikazeaktionen unterstützen. Unglaublich, wenn man bedenkt, dass solche Stufen der Niederträchtigkeit selbst den russischen Revolutionären am Ende des 19ten Jahrhunderts fern lagen: avantgardistische Autoritäre ja, aber mit einer strikten Ethik, dazu bereit, einen Ausbeuter zu töten, aber ohne ein Haar eines einzigen Ausgebeuteten zu krümmen. Und wenn dem bei den Autoritären eine solche Aufmerksamkeit zukam, dann stell dir erst die Anarchisten vor! Es mangelt nicht an Beispielen was dies betrifft: sogar Schicchi, der für seine harte Sprache bekannt ist, war fähig, dorthin zurückzukehren, wo er eine Bombe hinterliess, um sie zu entschärfen, als er realisierte, dass irgendein unbeteiligter Passant verwundet werden könnte.

Aber das Bild des Anarchisten aus der Vergangenheit, der perfekte Gentleman, ist zu gutmenschlich und wenig befriedigend für gewisse Anarchisten von Heute. Anarchisten, die ihrem Leben nur dann einen Sinn geben können, wenn sie fühlen, dass sie von öffentlicher Missbilligung getroffen werden. Je mehr etwas verurteilt wird, desto mehr fühlen sie sich davon angezogen. Je mehr die Zeitungen und Richter die Anarchisten als skrupellose Leute bezeichnen, desto mehr strengen sie sich an, diese Rolle zu erfüllen. Jeglicher eigenen Perspektive beraubt, lassen sie sich von ihren Feinden sagen, was sie sind und was sie zu tun haben.

Eine weitere Konsequenz dieser Ereignisse ist die völlige Verdunkelung der Bedeutung des Begriffes „aufständisch“, der heute zunehmends als Synonym für „gewalttätig“ verwendet wird, oder für die blosse Tatsache, sich dem Dialog mit den Institutionen zu entziehen. Aufständische sind jene Anarchisten, die Bomben legen, Aufständische sind jene Anarchisten, die Scheiben einschlagen, Aufständische sind jene Anarchisten, die sich mit der Polizei konfrontieren, Aufständische sind jene Anarchisten, die Demonstrationen von politischen Parteien bekämpfen, und so weiter. Nicht ein Wort über die Ideen. In gewisser Weise wiederholt sich genau das, was am Anfang des Jahrhunderts mit dem Adjektiv „individualistisch“ geschah. Zu einem gegebenen Moment gelangte man zur Überzeugung, dass all jene Individualisten seien, die Akte individueller Gewalt unterstützen. Der Begriff wurde mehr oder weniger überall und oft und gerne Unsinnig verwendet. Wer hielt in der Hektik der Ereignisse schon inne, um die Verwirrung, die sich verbreitete klarzustellen? Die Anwendung von individueller Gewalt ist nicht im geringsten eine typische Eigenheit des Individualismus. Es gab auch pazifistische individualistische Anarchisten (sowie Tucker <15>) oder gewaltlose (sowie Mackkay <16>). Und vielleicht war auch Galleani <17> ein Individualist? Und doch unterstützte er individuellen Aktionen… wie es auch Malatesta unter bestimmten Umständen tat. Und auch an Kommunisten, die individuelle Taten befürworten mangelt es nicht. Leider verfestigte sich die Verwirrung so sehr, dass es sogar diejenigen gab, die sich selbst Individualisten nannten, obwohl sie es nicht im Geringsten waren (wie es Schicchi beim Pisa-Prozess tat). Missverständnisse, Unverständnisse… Es geht bestimmt nicht darum, zu einer solchen Verwirrung beizutragen. Dass die Medien das tun, ist ziemlich offensichtlich und nachvollziehbar. Aber warum sollten wir es auch tun?

Der Aufstand ist ein soziales Ereignis. Er ist nicht eine Herausforderung zur einen Schlacht gegen den Staat, von denjenigen in die Wege geleitet, die glauben, dass die Massen nur Schafe sind, die darauf warten, geschoren zu werden. Der Gebrauch von Gewalt ist in einem aufständischen Projekt unvermeidbar und notwendig, während des aufständischen Momentes genauso wie auch davor (denn der soziale Aspekt des Aufstandes kann niemals zur Rechtfertigung einer Wartehaltung dienen). Daher ist es auch jetzt so. Doch diese Gewalt kann sich nicht vom Rest des Projektes loslösen, sie kann nicht dessen Platz einnehmen. Es ist die Gewalt, die dem Projekte als Instrument zur Verfügung steht und nicht das Projekt, das der Gewalt als Vorwand zur Vergfügung steht. Wer denkt, dass ein Aufstand nicht möglich sei, wer das Vertrauen in die Möglichkeit verloren hat (oder niemals hatte), dass die Ausgebeuteten rebellieren werden, der sollte sich über die Distanz bewusst werden, die ihn von jeglicher aufständischen Perspektive trennt. Wenn er seinen privaten Krieg gegen die Macht führen will, denn zu dem ist es geworden, dann soll er dies nur tun, aber ohne es als sozialen Krieg auszugeben. Wenn er mit seinen Aktionen in die Geschichte eingehen will, um der reinen Selbstbeweihräucherung wegen, dann soll er es sich unter den Scheinwerfern der Medien nur bequem machen, aber ohne vorzugeben, den Rest der Bewegung hinter sich zu haben.

Es versteht sich von selbst, dass jeder frei ist, das zu tun, was er will. Für diejenigen, die denken, oberhalb jeglicher Kritik zu stehen und somit nur gelobt, verstanden und nachgeahmt werden zu können, ohne dass sie es jemals für nötig hielten, die Gründe für ihre Methoden darzulegen, gilt das viel weniger.

 

Der Text erschien am 15. Februer 2003
auf Italienisch auf der Webseite Anarcotico
Originaltitel: Su alcune vecchie questioni d‘attualità fra gli anarchici, e non solo
Autor: anonym


Anmerkungen

1 – Am 12. September 2002 explodieren zwei selbstgebaute Sprengsätze bei einem Polizeikommissariat in Genua. Die Fensterscheiben des Kommissariats zerbersten. Die Aktion wird in einem Communiqué mit Brigade 20. Juli [Der Tag an dem Carlo Guiliani in Genua ermordet wurde] unterzeichnet. Am 13. Dezember 2002 empfängt die Iberia-Geschäftsstelle [Spanische Flugzeuggesellschaft] in Rom eine (als Buch getarnte) Packetbombe. An den folgenden Tagen erhalten auch die Iberai-Geschäftsstellen in Milano und Fiumicino Paketbomben. Auch das RAI [Italienischer Nationalfernsehsender] empfängt ein solches Packet. Die 5C [Cellule contre il capitale, il carcere, i carcerieri e le loro celle] bekennt sich zu den Packetbomben. Am 16. Juni 2003 bekennt sich die 5C zu einem weiteren Bombenanschlag gegen das Spanische Cervantes-Institut in Rom.

2 – Naradnja Vola [Volkswille] – Diese russische Revolutionäre Organisation wurde 1879 gegründet und versammelte Militante mit unterschiedlichen Ideen, die sich den Kampf gegen die Autokratie zum zentralen Ziel machten. Die Organisation war zentralisiert und operierte im Schatten. In mehr als 50 Städten gab es Abteilungen der Naradnja Volja. Obwohl sie effektiv nie mehr als 500 Leute waren, haben sich viele tausend Leute an der Organisation beteiligt. Die Organisation teilte verschiedene Zeitungen aus, während sich die Entscheidung für Anschläge mit der Zeit zu verbreiten begann. Sie planten sieben Anschläge gegen den Zar Alexander II (der siebente glückte). Nach diesem Anschlag macht die Regierung  aus Angst vor einem Aufstand einige demokratische Zugeständnisse. Da dieser jedoch ausblieb, schlug die Repression zu und die Organisation fiel auseinander.

3 – Gaetano Bresci (1869 – 1901) – Schon mit jungen Jahren arbeitet Bresci in der Italienischen Textilindustrie.Von diesem Moment an suchte er Kontakte innerhalb des anarchistischem Milieues von Prato. Er landete zwei mal im Gefängnis. Das zweite mal wird ihm Amnestie gewährt und er beschliesst 1896 in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Er lässt sich in New York nieder. 1898 bricht in Milano aufgrund von Preiserhöhungen eine Revolte aus. Der General Bava Beccaris lässt die Soldaten mit Kanonen auf die Massen schiessen und entfesselt nach der Niederschlagung der Revolte eine blutige Repression. Anschliessend an diese Ereignissen wird der General Beccaris vom König Umberto I mit einem Orden ausgezeichnet. In diesem Moment beschliesst Bresci zur Rache überzugehen. Er kehrt nach Italien zurück und tötet den König Umberto I am 29. Juli 1900 mit drei Revolverschüssen. Er wird festgenommen und am 29. August in Milano zu lebenslänglicher Zwangsarbeit in Santo Stefano verurteilt. Am 22. Mai 1901 wird er in seiner Zelle aufgehängt vorgefunden, mit grosser Wahrscheinlichkeit wurde er ermordet.

4 – Sante Geronimo Caserio (1873 – 1894) – Caserio wird in eine Bauernfamilie geboren. Als er zehn jahre alt war, stirbt sein Vater an der zu einseitigen Maisernährung. Er wollte seiner Mutter und seinen Brüdern und Schwestern nicht länger zur Last fallen und zog nach Milano, wo er Bäckerslehrling wird. Sehr schnell geriet er in Kontakt mit den anarchistischen Milieues. Er stellte selbst einen kleinen anarchistischen Kreis auf die Beine, „A Pè“ [frei übersetzt „auf nackten Füssen“, auf die Armut verweisend]. Ab einem gewissen Punkt gerät er in das Visier der Polizei und ist gezwungen zu flüchten, zuerst in die Schweiz und dann nach Frankreich. Während einer öffentlichen Zeremonie in Lyon am 24. Juni 1894 tötete er den Französischen Präsidenten Carnot. Er bohrte seinen Dolch mit rot-schwarzem Griff in das Herz des Präsidenten. Er versuchte nicht zu flüchten, sondern begann um den Zeremoniewagen zu laufen und «lang lebe die Anarchie» zu rufen. Am 2. und 3. August 1894 wird er verurteilt, am 16. August wird er auf der Guillotine umgebracht. Kurz vor seiner Exekution rief er: «Habt Mut Freunde! Es lebe die Anarchie!». Während seines Prozesses zeigte er keine Reue, bat nicht um Gnade und weigerte sich, die Namen seiner Komplizen preiszugeben.

5 – François Claudius Koëningstein alias Ravachol (1859 – 1892) – Ravachol erlebte eine schwere Kindheit. Schon mit acht Jahren irrt er durch die dunklen Gässchen der Gesellschaft. Er arbeitet, um Mutter, Schwester, Bruder und Neffen zu unterhalten, während er Sonntags in Saint-Etienne Akkordeon spielt. Sehr bald eignet sich Ravachol anarchistische Ideen an. Am 1. Mai 1891 findet in Fourmies eine Demonstration für den Achtstundentag statt. Es brechen Ausschreitungen aus und die Polizei schiesst auf die Demonstranten. Neun Demonstranten (Männer, Frauen und Kinder) werden getötet. Am selben Tag findet in Clichy eine Demonstration statt, woran sich auch die Anarchisten beteiligen. Es kommt zu schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei. Nach einer kurzen Schiesserei, wobei einige Beamte getroffen wurden, werden drei Anarchisten ins Kommisariat von Clichy abgeführt. Dort wurden sie verhört und geschlagen. Es folgt ein Prozess: Decamps wird zu 5 Jahren und Dardare zu 3 Jahren verurteilt, Léveillé wird freigesprochen. Bulot, der öffentliche Ankläger forderte die Todesstrafe. Ravachol (flüchtig mit einer Anklage für Verleumdung) und einige andere Kameraden entscheiden sich ein paar Anschläge zu organisieren. Am 7. März 1892 misslingt ein Anschlag auf das Komissariat von Clichy. Am 11. März 1892 explodiert das Haus des Rechtsanwaltes Benoit (Vorsitzender des Assisenhofes, der sich um die Sache von Clichy kümmert). Am 27. März ist das Haus des öffentliche Anklägers Bulot an der Reihe. Am 30. März wird Ravachol nach einem Anschlag auf das Bourgeoisierestaurant Véry in Paris verhaftet. Erst wird er zu lebenslanger Haft verurteilt, doch in einem zweiten Prozess bekommt er die Todesstrafe. Am 11. Juli 1892 wird er mit der Guillotine getötet.

6 – Émile Henry (1872 – 1894) – Nach der Kommune von Paris 1871 muss die Familie von Henry nach Spanien flüchten, um der Todesstrafe zu entkommen. Dort werden Émile und sein Brude geborden. Nach dem Waffenstillstand von 1882 kehrten sie nach Frankreich zurück. Henry schloss mit Glanz sein Studium als Buchhalter ab. Erst vom Sozialismus angezogen, kehrt er sich um 1891 von dieser Strömung ab. « Ich hielt zu viel von der Freiheit, hatte zu viel Respekt für individuelle Initiativen, zu viel Abneigung für Konformismus, um mir ein Nümmerchen für die geordnete Armee des vierten Staates zu ziehen. » Henry kam in Kontakt mit den anarchistischen und individualistischen Milieues um die Jahrhundertwende. Am 8. November 1892 platzierte er eine Bombe beim Büro des Minenunternehmens Carmaux. Der Hausmeister des Gebäudes findet sie und bringt sie ins Polizeikommisariat in der Rue des Bons Enfants. Dort explodiert die Bombe. Fünf Polizisten sterben und ein sechster erleidet an einem Herzanfall. Am 12. Februar 1894 betritt er um 9 Uhr Morgens das bourgeoise Café Terminus in Paris. Er wirft einen metallenen Kessel voller Sprengstoff in die Luft und die Bombe explodiert. Zwanzig Menschen werden verwundet und einer stirbt anschliessend aufgrund seiner Verletzungen. Das Café selbst ist eine Ruine. Am 21. Mai 1894 wird Henry (zu dieser Zeit 21 Jahre alt) auf der Guillotine umgebracht.

7 – Severino Di Giovanni (1901 – 1931) – Di Giovanni wird in Italien geboren. Seine Rebellion begann mit sehr jungen Jahren. 1921 schloss er sich der anarchistischen Bewegung an. Als Mussolini 1922 an die Macht kam, entschied er sich nach Argentinien zu ziehen. Dort brachte er ab 1925 die italienischsprachige Zeitschrift Culmine heraus, womit er nicht nur agitierte, sondern auch Verbindungen zwischen verschiedenen anarchistischen Gruppen in der Region und der ganzen Welt schloss. Di Giovanni propagierte die Notwendigkeit vom Gebrauch revolutionärer Gewalt. Er verübt verschiedene Bombenanschläge und plante Überfälle, um das Herausbringen von Büchern und von Culmine zu finanzieren. Er beteiligte sich auch an der Solidaritätsbewegung gegen die Exekution von Sacco und Vanzetti. Bei einige Aktionen fielen Tote, worauf ihn ein Teil der anarchistischen Bewegung abschrieb. Nach einem Schusswechsel mit der Polizei wird Di Giovanni verhaftet. 24 Stunden später, am 1. Februar 1931 wird er hingerichtet.
Siehe Severino Di Giovanni, Elephant Editions, London

8 – Buenaventura Durruti (1896 – 1936) – Durruti wird in Spanien in eine Arbeiterfamilie geboren. Ab 1913 arbeitet er an der Drehbank und schliesst sich der Metallarbeitergewerkschaft an. Ein Jahr später wird er als Eisenbahnarbeiter eingestellt. 1917 ruft die UGT (allgemeine Arbeitergewerkschaft) zu einem Generalstreik auf. Die spanische Regierung setzt die Armee ein, um den Streik zu brechen. 500 Arbeiter werden getötet oder verwundet, 2000 Streikende werden ins Gefängnis gesperrt. Durruti nahm an dem Streik als junger Saboteur und Brandstifter aktiv teil. Die Gewerkschaft brach jegliche Verbindung mit ihm und anderen Kameraden ab, worauf sie herausgeworfen werden. Er wird gesucht und flüchtet nach Frankreich bis er 1920 nach Barcelona zurückkehrt. Zusammen mit García Oliver, Francisco Ascaso und anderen Anarchisten gründen sie die Gruppe Los Solidarios, die unteranderem Vergeltungsmassnahmen gegen Bosse und Angriffe auf Banken organisierten. Erfolgslos versuchen Leute dieser Gruppe den spanischen König Alphonso XIII zu töten. 1923 wird der Kardinal von Saragossa Juan Soldevilla y Romero getötet, als Antwort auf den Mord an dem Kameraden Salvador Seguí.  Los Solidarios waren hierbei beteiligt. Durruti und Oliver tauchen in Argentinien unter, wo er zusammen mit anderen Kameraden unteranderem verschiedene Banken überfällt um die anarchistische Bewegung zu finanzieren. Durruti kehrt nach Barcelona zurück und schliesst sich der CNT (anarcho-syndikalistische Gewerkschaft) und der FAI (Iberische anarchistische Föderation) an. Während der spanischen Revolution spielte er eine wichtige Rolle, was die Koordination des Kampfes gegen General Franco betrifft. Im Novamber 1936 lässt sich Durruti dafür überzeugen, Madrid zu befreien. Durruti stirbt im Verlaufe dieses Gefechts an einer Kugel. Es ist noch immer nicht klar wie er getötet wurde, vielleicht von Stalinisten, durch einen technischen Defekt, durch eine verirrte Kugel…
Für Durrutis Beteiligung an der spanischen Revolution siehe Miguel Amorós, Durruti dans le labyrinthe, Encyclopédie des Nuisances, Paris, 2006.

9- Franciso Ascaso Budría (1901 – 1936) – Als Bäcker und Kelner schloss sich Ascaso der spanischen FAI (Iberische anarchistische Föderation) und einer ihrer bewaffneten Gruppen, Los Justicieros, an. 1922 ging er nach Barcelona und zusammen mit unteranderem Buenaventura Durruti und García Oliver formte er die Gruppe Los Solidarios (siehe Anmerkung 8). 1923 flüchtete er zusammen mit Durruti nach Südamerika, wo sie zusammen in der anarchistischen Bewegung aktiv waren und unter anderem Banküberfälle durchführten. Als er nach Frankreich zurückkehrt, wird er (zusammen mit den anderen) angeschuldigt, einen Mordversuch am  König Alphonso XIII geplant zu haben. Mangels Beweisen wird er freigesprochen und aus dem Land verwiesen. Ascaso bleibt weiterhin klandestin in Frankreich. 1931 kehrt er nach Spanien zurück und organisiert die Gruppe Nosotros (anarchistische Gruppe am Rande der FAI). Die ersten fünf Jahre der Zweiten Spanischen Republik werden von anarchistischen Aufständen gezeichnet, woran er sich aktiv beteiligt. 1932 wird er verhaftet und erst nach Bata, dann auf die kanarischen Inseln deportiert. Kurz darauf taucht er in Sevilla wieder auf, wo er erneut verhaftet wird. Während der ersten Tagen des Kampfes in Barcelona (bei der Atarazanakaserne) nach dem Misslungenen Coup von Franco wird er niedergeschossen.

10 – The Angry Brigade – Zwischen 1970 und 1972 wird eine ganze Reihe von bewaffneten Angriffen in Grossbritanien mit diesem Namen Unterzeichnet. Die Angriffe richteten sich vorallem gegen Banken, Botschaften und die Häuser von konservativen Parlamentsleuten. Nur einmal gerieten Personen durch einen Angriff der Angry Brigade ans Licht. Am 6. Dezember 1972 werden vier Kameraden zu 10 Jahren Haft für ihre Beteiligung an der Angry Brigade verurteilt.

11 – ETA Euskadi Ta Askatasuna [Baskenland und Freiheit] – Eine 1959 gegründete bewaffnete Gruppierung. Mit revolutionär marxistischen Ideen vermischt mit Baskischem Nationalismus gingen sie den Kampf gegen das Franco-Regime an. 1974 teilte sich die ETA entzwei: die militärische ETA und die politisch-militärische ETA. Die Spaltung hat underanderem, aber bestimmt nicht ausschliesslich, mit durch Anschläge getroffenen Zielen und Methoden, die angewendet wurden, um Geld zu beschaffen zu tun. 1982 löst sich die politisch-militärische ETA auf, während sich die militärische ETA immer mehr auf ausschliesslich nationalistisches Terrain begiebt.

12 – Am 25 April 1997 explodiert beim Palazzo Marino in Milano eine Bombe. Der Haupteingang wurde beschädigt und einige Fenster entglast. Die Presse und das Gericht sprechen von Versuchtem Todschlag. Die Azione Revoluzionaria Anarchica [revolutionäre anarchistische Aktion] bekennt sich zur Verantwortung. In den folgenden Tagen zirkuliert ein unscharfes Foto mit einem Bild von einer Überwachungskamera, die die Umgebung um das Lokal der kommunistischen Radiostation Radio Populare filmt. Auf dem Foto ist eine „Postfrau“ zu sehen, die ein Brief deponiert, worin sich zum Anschlag bekannt wird. Es wird eine Belohnung von 10 Millionen Liren für denjenigen ausgeschrieben, der die Frau erkennen kann. Am 29. Juni 1997 wird die Anarchistin Patrizia Cadeddu verhaftet und angeschuldigt diese „Postfrau“ zu sein. Ihr Prozess folgte ein Jahr später.

13 – ARA, siehe Anmerkung 12

14 – 5C – Unter dem Namen Cinque C, „Contro il Capitale, il Carcere, i Carcerieri e le loro Celle“ [Gegen das Kapital, das Gefängnis, die Wärter und ihre Zellen] werden im Dezember 2002 und Juni 2003 in Italien verschiedene Aktionen unteranderem bei Spanischen Zielen gegen das FIES-Isolationsregime durchgeführt (Briefbomben und Sprengstoffanschläge).

15 – Benjamin Tucker (1854 – 1939) – Tucker war durch seine Beiträge als Herausgeber und Schreiber einer der bekanntesten Amerikanischen Träger des individualistischen Anarchismus. Er brachte unter anderem die anarchistische Zeitschrift „Liberty“ heraus, worin verschiedene individualistische Denker zu Wort kamen, des weiteren übersetzte er die englischsprachige Ausgabe von „Was ist Eigentum“ von Proudhon und „Der Einzige und sein Eigentum“ von Max Stirner. Schliesslich kommt es zu einem Bruch zwischen dem von Stirner inspirierten Individualismus und der alten Garde von Jusnaturalisten unter Einfluss von Lysander Spooner. Beide Tendenzen waren sich darüber einig, Autorität, Gesetzgebung und die Vorstellung eines „Gesellschaftsvertrages“ zu verwerfen. Sie unterschieden sich in diesem Sinne, dass die Jusnaturalisten ein Leben ohne zwang als ein natürliches individuelles Recht betrachten, während beim individualistischen Anarchismus von Stirner die Entscheidung für den Individualismus eher pragmatisch ist, als die beste Art und Weise gegenüber sich selbst und der Gesellschaft zu stehen.

16 – John Henry Mackay (1864 – 1933) – als Anhänger von Stirner schrieb dieser individualistische Anarchist den Roman „Die Anarchisten“, welchem Ende des 19. Jahrhunderts ein grosser Einfluss zukam.

17 – Luigi Galleani (1861 – 1931) – Während seines Rechtsstudiums in Turin (das er nicht abschloss) kam Galleani in Kontakt mit anarchistischen Ideen. Er widmete sich der anarchistischen Propaganda und muss nach Frankreich flüchten. Auch dort wird er ausgewiesen. Er landete in der Schweiz wo er erneut für seine Angitation ausgewiesen wird. Zurück in Italien wird er für Verschwörung zu 5 Jahren Haft verurteilt. 1900 brach er aus dem Gefängnis Pantelleria aus und flüchtete nach Egypten, Londen und schliesslich in die Vereinigten Staaten. Etwas später wird er schon wieder für  Aufstand und Anstiftung zur Gewalt nach Kanada ausgewiesen (wo er erneut deportiert wird). Zurück in den Vereinigten Staaten wurde er bekannt als ein Verteidiger der „Propaganda der Tat“. Er gab die italienischsprachige Zeitschrift Cronaca Sovversiva (Subversive Chronik) heraus. 1918, nach 15 Jahren publikation, wird die Zeitschrift durch den Sedition Act verboten. Die Cronaca Sovversiva umfasst neben Darlegungen von anarchistischen Ideen auch oft eine Liste mit Adressen und detaillierten Beziehungen der Kapitalisten, Geschäftsleute, Streikbrecher,… Viele Anarchisten umgaben Galleani, darunter Nicola Sacco und Cartolomeo Vanzetti, die 1927 hingerichtet werden. Die Gruppe machte viel propaganda durch die Cronaca und besonders bekannt wurden sie durch die Herausgabe von La Salute è in voi! [Gesundheit sitzt in dir], eine Anleitung zum Herstellen von Bomben. Ab 1914 folgen die Anschläge in den Vereinigten Staaten in einem rasenden Tempo aufeinander. Duzende Bombenanschläge gegen die Polizei, Richter, Gerichte, Geschäftsleute, Gefängnisse,… 1917 zieht die Gruppe nach Mexiko um sich an der langerwarteten Revolution zu beteiligen. Desillusioniert kehren sie Ende 1917 in die USA zurück, um ihre Agitation fortzusetzen. Es folgen erneut verschiedene Bombenanschläge. Aufgrund des Mangels an konkreten Beweisen greift die amarikanische Regierung zum Anarchist Act, der die Deportation von Anarchisten und Subversiven ermöglicht. Ende April 1919 werden ungefähr 30 Briefbomben an verschiedene Politiker, Richter und Bankiers verschickt. Die Meisten Packete wurden im voraus entdeckt. Ein Dienstmädchen des Senator Hardwick (ein Unterstützer des Anarchist Act) verlor beide Hände als sie das Packet öffnete. Die Bombenanschläge gehen unvermindert weiter, die Antwort waren jene hunderte von Deportationen, die später als Palmer Raids bekannt wurden. 1919 wird auch Galleani nach Italien abgeschoben, wo er auf eine Insel vor der Küste verbannt wird. Als Mussolini an die Macht kam wird Galleani unter permanente Überwachung gestellt. Galleani stirbt 1931 mit 70 Jahren an einem Herzanfall.

 

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