Der Explosionspunkt der israelischen Widersprüche. Zehn Thesen zu den aktuellen Umwälzungen im Nahen Osten

Gefunden auf panfletos subversivos, die Übersetzung ist von uns. Mit der italienischen Orginialversion auch verglichen und abgegleicht.


Der Explosionspunkt der israelischen Widersprüche. Zehn Thesen zu den aktuellen Umwälzungen im Nahen Osten

Von Il Lato Cattivo, am 17.10.2023 veröffentlicht.

Original: illatocattivo.blogspot.com/2023/10/il-punto-desplosione-delle.html

I

Die von der Hamas am 7. Oktober 2023 gestartete Offensive auf israelisches Territorium und ihre unmittelbaren Folgen stellen unserer Meinung nach einen wichtigen Wendepunkt in der ökonomischen, politischen und militärischen Entwicklung des Nahen Ostens dar. Wir schreiben diese Worte nicht leichtfertig, mit Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden der Opfer und ihrer Angehörigen oder, schlimmer noch, mit Sympathie für die wahllose Anwendung von Gewalt gegen Zivilisten. Wir sind einfach der Meinung, dass die Analyse der Ereignisse notwendigerweise von diesen Aspekten abstrahieren muss, um ihre Bedeutung richtig einschätzen zu können. Es ist nicht möglich, einer rein lokalen Interpretation der Ereignisse zum Nachteil einer internationalen Interpretation den Vorzug zu geben, oder umgekehrt. Es ist notwendig, beides zu verfolgen. Diese Handvoll Thesen sind nur ein erster Versuch.

II

Der vielschichtige Angriff der Hamas muss zunächst in den Kontext der aktuellen geoökonomischen Situation gestellt werden. Ganz allgemein muss er in der Phase der Krisen der Globalisierung eingeordnet werden, zu einem Zeitpunkt, an dem sich die gegensätzlichen kapitalistischen Projekte für eine postglobalisierte Welt deutlicher abzuzeichnen beginnen. kapitalistischen Projekte für eine postglobalisierte (de-globalisierte?) Welt deutlicher abzuzeichnen beginnen. Konkret geht es um die Neupositionierung der wichtigsten Akteure im Nahen Osten in der globalen Konfrontation zwischen den USA und China. Die Vereinigten Staaten und China.

III

Da sind zunächst die von den USA geförderten regionalen Integrationsprozesse (zuletzt mit dem Abraham-Abkommen), die die endgültige Normalisierung der ökonomischen und diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und einer Reihe von arabischen Ländern in Nordafrika sowie im Nahen und Mittleren Osten auf die Tagesordnung setzen, allen voran die Vereinigten Arabischen Emirate. Mit den Anschlägen der letzten Woche hat die Hamas deutlich gemacht, dass eine solche Normalisierung entweder die palästinensische Frage einschließen und eine palästinensische Vertretung am Verhandlungstisch akzeptieren muss, oder sie wird über die Leichen von 5 Millionen Palästinensern gehen müssen. Der Dynamik des Abraham-Abkommens stehen die chinesischen Bemühungen um ein Tauwetter – aus offensichtlichen, für Israel unverdaulichen Gründen – zwischen dem vulgär als „schiitisch“ bezeichneten Block (Iran-Libanon-Syrien-Irak) und dem so genannten „sunnitischen“ Block gegenüber. Die Hamas bietet hier das perfekte Alibi für Saudi-Arabien, das Abraham-Abkommen nicht zu unterzeichnen und seine (vorübergehende?) Abkehr von Washington zu bestätigen. Dank der chinesischen Diplomatie.

IV

Wenn man die Schwere des historischen Moments aus palästinensischer Sicht verstanden hat, ist es müßig, sich mit Unterscheidungen zwischen Hamas und Palästinensern im Allgemeinen aufzuhalten. Dass der Angriff der gesamten palästinensischen Bevölkerung „aufgezwungen“ wurde, in primis (A.d.Ü., in/an erster Reihe) der Bevölkerung des Gazastreifens, die von der Hamas „als Geisel gehalten“ wird, bedeutet nichts anderes als die folgende Banalität: Die Menschen machen Geschichte unter Bedingungen, die sie sich nicht aussuchen können. Die grundlegende politische Tatsache ist, dass die Hamas auf absehbare Zeit sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland der einzige bedeutende politische Akteur ist, auch wenn sie international nicht anerkannt wird, während die Palästinensische Autonomiebehörde, obwohl sie noch an der Macht ist, zur Bedeutungslosigkeit verdammt ist.

V

Durch die Entfesselung von Gewalt gegen die israelische Zivilbevölkerung in einem noch nie dagewesenen Ausmaß und die Verwicklung Israels in einen umfassenden Krieg zeigt die Hamas die Grenzen (die Unmöglichkeit) eines rein repressiven/militärischen Ansatzes in der Palästinafrage auf. Die „Hamas auszulöschen“ bedeutet für Israel nicht nur, im Gazastreifen Bodentruppen aufzustellen, was eine technisch schwierige Militäroperation mit ungewissem Ausgang bedeutet. Es bedeutet auch, sich der Wahrscheinlichkeit von Massenunruhen im Westjordanland und der Eröffnung einer weiteren militärischen Front an der Grenze zum Libanon (Hisbollah) auszusetzen. Das Ausmaß einer solchen Konfrontation würde jede Komponente der vielfältigen sozialen Struktur Israels vor das existenzielle Dilemma stellen: „Für Israel sterben?“ Diejenigen, die das Land wirklich kennen, wissen, dass die Antwort heute keineswegs eine ausgemachte Sache ist. Vielleicht war sie es 1967, vielleicht war sie es 1973, aber heute ist sie es nicht mehr. Sind die jungen bourgeois-bohemistischen aschkenasischen Doppelpass-Inhaber, für die Tel Aviv nur eine Vergnügungshauptstadt unter vielen ist, wirklich bereit, für das Vaterland zu sterben? Sind die russischsprachigen Juden, die kaum Hebräisch sprechen, die Haredim, die Zulagen erhalten, aber von der Wehrpflicht befreit sind, die israelischen Araber, die weiterhin als Staatsbürger zweiter Klasse behandelt werden, bereit, für Israel zu sterben? Dies ist die vexata quaestio, die die Aussicht auf einen umfassenden militärischen Konflikt hervorhebt.

VI

Die Politik Israels nach den Osloer Verträgen (1993) ist wirklich unverständlich, wenn man nicht die Vielfalt der „Stämme Israels“ („Limes“) und den unvollendeten, noch im Werden begriffenen Charakter der israelischen Nationenbildung in Betracht zieht. Diese Politik war weder das Ergebnis einer politischen Laune des Likud, noch hatte sie grobe buchhalterische Gründe, die ein grober Materialismus offenbaren würde. Die Vertreibung der palästinensischen Arbeitskräfte aus den Gebieten aus der israelischen Ökonomie, die stillschweigende oder ausdrückliche Unterstützung neuer Siedlungen, die verwaltungstechnische Zersplitterung des Westjordanlandes usw. versprachen, den inneren Zusammenhalt zu gewährleisten, indem sie den externen Konfliktfaktor anheizten. Dies setzte jedoch voraus, dass sich dieser in den Grenzen eines Konflikts geringer Intensität und überschaubaren Ausmaßes bewegte. In diesem wie in anderen Punkten hat der Hamas-Angriff die Karten auf dem Tisch radikal verändert. Debatten und Diktate darüber, inwieweit der Hamas-Angriff wirklich unerwartet kam, inwieweit die Nachrichtendienste versagt haben oder ob Warnungen auf höchster politischer Ebene ungehört verhallt sind usw., sind wenig oder gar nicht von Nutzen. Noch vor einer Woche schien das palästinensische Problem zu verschwinden, weil Israel scheinbar die Oberhand gewonnen hatte. Wenn das Image der israelischen Macht heute ernsthaft in Frage gestellt scheint, so hängt das nicht von dem Ereignis selbst oder einem bestimmten Aspekt davon ab (Anzahl der Opfer, Reaktionszeit der Armee usw.), sondern von den Rissen, die es in der israelischen Gesellschaft vertiefen kann.

VII

Tariq Ali (siehe Blog der New Left Review vom 13. Oktober 2023) irrt also, und mit ihm ein großer Teil der linken Intelligenz, wenn er glaubt, dass die Existenz Israels, nur weil es „ein von den USA bis an die Zähne bewaffneter Atomstaat“ ist, überhaupt nicht in Frage gestellt wird. Hinter der phantasmagorischen und ideologisierten Bedrohung durch die Einkreisung der „Achse des Widerstands“ steht die sehr reale Bedrohung, dass Israel nicht mehr in der Lage ist, die innere Geschlossenheit herzustellen, die notwendig ist, um sich im Ausland zu behaupten. Das heißt, es besteht die Gefahr, dass es trotz der bemerkenswerten ökonomischen und technologischen Entwicklung, die es erlangt hat, auf den Status eines gewöhnlichen gescheiterten Staates im Nahen Osten reduziert wird, eines amorphen Flickenteppichs von ethnischen Gruppen und Clans, der regelmäßig am Rande eines Bürgerkriegs steht.

VIII

Verglichen mit einem solchen Mosaik ist die Situation der Palästinenser so hoffnungslos, wie man es sich nur wünschen kann, aber sie hat den Vorteil einer außergewöhnlichen nationalen Homogenität, die gerade durch den mehr als siebzigjährigen Konflikt mit Israel entstanden ist. Die palästinensische Nation ist keine blasse Erfindung des britischen Kolonialismus, wie sie es zur Zeit des Mandats Palästina und noch nach der Nakba war, sondern erlangt vielleicht erst jetzt den Status einer historischen Nation im eigentlichen Sinne. Auf jeden Fall ist es viel mehr als in den 1970er Jahren, im goldenen Zeitalter des damaligen Dritte-Weltismus. Der Erfolg des Hamas-Anschlags beweist dies. Dies soll keine Entschuldigung für den Anschlag sein, sondern sein Ausmaß über seine spektakulärsten und grausamsten Aspekte hinaus messen, d. h. seinen Organisationsgrad, seine Komplexität und seine Entschlossenheit erfassen, die wenig mit den Anschlägen der Al-Qaida und des Islamischen Staats zu tun haben, mit denen er in den Mainstream-Medien verglichen wird.

IX

Wie in der übrigen arabischen Welt war auch in Palästina der Aufstieg des politischen Islams ein petite bourgeoiser Abstieg aus der Krise des säkularen und sozialistischen Nationalismus, wenn nicht gar der arabischen Nation schlechthin, ein Abstieg, der oft von seinen schärfsten lokalen und internationalen Gegnern gefördert und unterstützt wurde. Der Weg der islamistischen Kräfte wurde jedoch immer von dem spezifischen Kontext bestimmt, in dem sie Wurzeln geschlagen haben, nämlich im palästinensischen Kontext von der plebejischen „Widerstands“-Bewegung gegen Israel. Für die Hamas sind der Rückgriff auf diese Bewegung, die politische Umsetzung der Aufstände (Erste und Zweite Intifada) und das Erreichen einer zumindest vorläufigen Lösung der palästinensischen Frage die notwendigen Schritte, um die mittelfristigen Klasseninteressen zu verwirklichen, die ihr als politische Kraft zugrunde liegen: der Aufstieg der „petite Bourgeoisie“ des Gazastreifens in den Status einer vollwertigen palästinensischen Bourgeoisie, die eine neue Dynamik der kapitalistischen Beziehungen in einem relativ kleinen, aber dicht von jungen und gebildeten Arbeitskräften bevölkerten Gebiet auslösen kann. In der Tat steht die politische Entwicklung der Hamas im Widerspruch zur sozialen Entwicklung des palästinensischen Proletariats, für das „Israel“ immer weniger ein Arbeitgeber-Kapital und immer mehr eine reine Repressions- und Militärmacht ist.

X

Damit sind wir wieder bei dem unmöglichen Dilemma, vor dem Israel steht: In den Gazastreifen eindringen, aber um was zu tun? In anderen Zeiten und unter anderen Umständen hätte Israel die Palästinenser zu einem seiner „Stämme“ machen können. Heute ist diese Option nicht mehr an der Tagesordnung: „zwei Völker für einen Staat“ ist keine praktikable Lösung, wenn eines der beiden Völker, das vermeintlich dominante, zur Zersplitterung neigt. Die Aussicht auf einen groß angelegten Krieg erfordert eine Präzisierung des strategischen Horizonts. Unter den derzeitigen Bedingungen ist die „Ausrottung der Hamas“ bestenfalls utopisch und schlimmstenfalls ein Euphemismus für einen Genozid. Die Art der asymmetrischen Kriegsführung, die notwendig wäre, um den Gazastreifen zu „säubern“ (und zu gewinnen), würde eine Reihe von Bedingungen voraussetzen, die nicht gegeben sind, in erster Linie die Neutralität oder Duldung eines nicht unbedeutenden Teils der lokalen Bevölkerung. Natürlich schließt der irreale Charakter der Operation nicht aus, dass sie durchgeführt wird, noch schließt er aus, dass sich ihre tatsächlichen oder erklärten Ziele im Laufe der Zeit ändern, selbst im blutrünstigsten De profundis. Aber Vorsicht: Seit einigen Jahren sind die Variablen, die im Spiel sind, nicht mehr dieselben. Die globale Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und China überlagert alles. Wir setzen nicht auf die guten Gefühle Xi Jinpings zur Rettung der Palästinenser, sondern auf die politische „Entbehrlichkeit“ der Palästinafrage im Rahmen der sich abzeichnenden neuen Bipolarität. Das wäre zwar keine proletarische Revolution, aber vielleicht eine gute Nachricht für die Zukunft der Palästinenser, die heute so ungewiss und düster erscheint.

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