(Agustín Guillamón) Was war der Stalinismus?

Was war der Stalinismus?

Agustín Guillamón

Der Stalinismus war eine totalitäre Ideologie, die auf dem Stalinkult basierte, sich der marxistischen Sprache bediente und für sich in Anspruch nahm (und legitimierte), eine Fortsetzung der Thesen von Marx, Engels und Lenin zu sein.

Nach Stalins Tod kritisierten die Anführer des Sowjetstaates und der KPdSU die durch Stalins Personenkult verursachten „Abweichungen“. Die Rückkehr zu einer kollektiven Führung der KPdSU und der UdSSR reichte (1956) aus, um die schwerwiegendsten Fehler von Stalins Despotismus zu beseitigen, die Chruschtschow auf dem zwanzigsten Kongress der KPdSU angeprangert hatte.

Es genügte, dass Stalins Erben 1956 demokratische Prinzipien in die kollektive Führung der KPdSU einführten, um zu erklären, dass alles erledigt sei. Für sie war Stalin ein monströses, aber ZUFÄLLIGES Phänomen, und die perversen Erscheinungen des stalinistischen Systems, die auf den Personenkult zurückzuführen waren, wurden durch die „glorreichen Errungenschaften“ des Sowjetsystems verwischt und in den Schatten gestellt. (Für eine ausführliche Darstellung all dessen ist es sehr nützlich, Kolakowskis Band III, S. 15-55, zu konsultieren.)

Stalins Fehler und Schrecken beschränkten sich laut den stalinistischen Erben und Nachfolgern auf die Zeit, in der Stalins Erben und Nachfolger, auf den Zeitraum von den frühen 1930er Jahren bis zu seinem Tod 1953. Das war die Erklärung der Stalinisten ohne Stalin, die niemanden überzeugte, aber allen dazu diente, die Schuld auf eine einzelne Person zu schieben und die gesamte stalinistische Periode unter dem Riegel des Vergessens, der Amnesie und des Palimpsest zu begraben.

Für eine marxistische Analyse des Stalinismus haben wir zwei hervorragende marxistische Militante und Theoretiker: Munis und Bordiga.

Bordiga (beraten von Trotzki) konfrontierte Stalin (beraten von Togliatti) auf dem Vierten KI-Kongress und hat mehrere Schriften verfasst, die den Stalinismus kritisieren: „Dialog mit Stalin“ und „Dialog mit den Toten“. Die beste Kritik am Stalinismus findet sich jedoch bei Munis (in seinem Buch Partei-Staat-Revolution, das von der Muñoz Moya Edition neu aufgelegt wurde).

Die beste und präziseste Definition des Stalinismus ist die von Munis, die ich hier kurz zusammenfassen möchte. Nach Munis waren die Merkmale der stalinistischen Konterrevolution:

1. unaufhörlicher, allgegenwärtiger, fast allmächtiger politischer Terrorismus.

2. die unabdingbare Fälschung der eigenen konterrevolutionären Natur und der Natur ihrer Feinde, insbesondere der Revolutionäre.

3. die Ausbeutung der Arbeiter durch den Staatskapitalismus, der vom Partei-Staat gelenkt wird und die Arbeit militarisiert.

Unter den bourgeoisen Intellektuellen lässt sich bei der Anprangerung des Stalinismus eine Art chronologische Skala aufstellen, die sich vor allem auf bestimmte konfliktträchtige Daten konzentriert (der ungarische Aufstand von 1956 oder der tschechische Aufstand von 1968) ….. Sartre, Camus, Merleau-Ponty und ein langes etcetera, angesichts dessen es sich lohnt zu fragen, warum einige von ihnen 1968 „aufgewacht“ sind und nicht früher, 1956, oder warum nicht mit Orwell 1937. Die Antwort ist immer dieselbe: Opportunismus und die Vorteile der Toleranz gegenüber dem Stalinismus, mit massiver Militanz (A.d.Ü., in dem Falle weißt es auf viele Militante, ergo Mitglieder) in den französischen und italienischen KPs, und seinen offensichtlichen Schrecken.

Auf der anderen Seite hört die Anprangerung des Stalinismus meist bei Lenin auf. Siehe z. B. Bordiga selbst in seinem Artikel „Lenin auf dem Weg zur Revolution“, den er zu Lenins Tod 1924 geschrieben hat, oder den Artikel aus den 1960er Jahren über die Antwort auf Lenins Vorwurf des Linksradikalismus durch die deutsche und italienische kommunistische Linke (zu der Bordiga selbst gehörte).

Es war die deutsch-niederländische Linke (Herman Gorter, Anton Pannekoek, Karl Korsh, Otto Rühle, Jan Appel usw.), die in mehreren Büchern von Ediciones Espartaco Internacional hervorragend ins Englische übersetzt wurde, die die früheste und radikalste marxistische Kritik am Stalinismus und Leninismus übte.

Die Wurzeln des Stalinismus liegen zweifelsohne in der leninistischen Parteikonzeption sowie im Wilson’schen „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, das ebenfalls von Lenin vertreten wurde, und natürlich im Scheitern der internationalen Revolution in Deutschland im Jahr 1919.

Zur Kritik an der Parteikonzeption und dem Anspruch, die russische Taktik auf Westeuropa auszuweiten, siehe Gorters Brief an Lenin und vor allem Pannekoeks rigorose und grundlegende Kritik in Lenin Philosoph.

Für eine Kritik der leninistischen und stalinistischen Auffassung von Nationalismus siehe Pannekoeks „Klassenkampf und Nation“ und Gorters „Imperialismus, Krieg und Sozialdemokratie“ (beide in Contra el nacionalismo von Espartaco).

Die Konfrontation der deutsch-holländischen Linken mit Lenin innerhalb der Dritten Internationale war der Zusammenstoß der internationalistischen Marxisten mit einem Lenin, einem russischen Nationalisten, der zwar von der marxistischen Tradition und Terminologie durchdrungen war, sich aber in wesentlichen Kernelementen des Marxschen Denkens verabschiedet hatte:

1. Die Befreiung der Arbeiter wird das Werk der Arbeiter selbst sein, die sich ihr Bewusstsein in ihrer eigenen historischen Erfahrung aneignen, ohne dass bourgeoise Intellektuelle, die von außerhalb der Arbeiterklasse kommen und ihr fremd sind, sie die marxistische Theorie lehren müssen.

2. Das Proletariat ist international und internationalistisch und muss kein „Recht“ der Bourgeoisie auf Selbstbestimmung anerkennen. Der Klassenkampf und die proletarische Revolution werden weltweit sein, oder sie werden nicht sein.

3. Die russische Revolution von 1917 musste sich den Interessen des internationalen Proletariats unterordnen und nicht, wie es geschah, unter dem Druck von Lenin und den Bolschewiki, denen es gelang, die Internationale den Plänen und Interessen der russischen nationalen Revolution und ihres Staatskapitalismus zu unterwerfen. Bordiga prangerte dies als „Umkehrung der Pyramide“ an (d.h. die Internationale wird den nationalen Interessen der KP Russlands unterworfen).

4. 1917 wurden Parlamentarismus und Syndikalismus/Gewerkschaften in Westeuropa absolut überflüssig, da sie nur Instrumente zur Unterwerfung des Proletariats sein konnten. Die Taktik, die Russland der Kommunistischen Internationale auferlegt hat, nämlich Parlament und Gewerkschaften/Syndikate einzusetzen, war in Westeuropa absolut schädlich. Diese Aufzwingung verdankte Lenin viel und war eines der Merkmale des Leninismus.

Die Größe des Roten Oktobers liegt in der Tatsache, dass es die erste proletarische Revolution der Geschichte war, das erste Mal, dass das Proletariat die Macht ergriff und die Herrschaft der Bourgeoisie stürzte. Die kommunistische Revolution konnte nur weltweit sein, und sie scheiterte in Russland, als das revolutionäre Proletariat in Deutschland besiegt und die sowjetische Revolution isoliert wurde.

Diese Isolation, gepaart mit den Katastrophen des Bürgerkriegs, des ökonomischen Chaos, des Elends und der Hungersnot, vergrößerte die schrecklichen Fehler der Bolschewiki, nicht zuletzt die Verwechslung von Partei und Staat, die zum unausweichlichen Triumph der stalinistischen Konterrevolution führte, und zwar ausgerechnet in der bolschewistischen Partei, die die sowjetische Revolution vom Oktober 1917 vorangetrieben hatte. Die stalinistische Konterrevolution hatte also einen politischen Charakter: Sie zerstörte jede politische und ideologische Opposition, unterdrückte die zweifellos revolutionären proletarischen Bewegungen und Gruppen mit aller Härte und verfolgte diejenigen bis zur physischen Vernichtung, die auch nur die geringste abweichende Meinung äußerten, sei es innerhalb oder außerhalb der einzigen bolschewistischen Partei. In Russland erreichte der 1905 begonnene revolutionäre Prozess mit der demokratischen Revolution vom Februar 1917, die den Zaren stürzte und eine demokratische Republik errichtete, seinen ersten Erfolg, aber er blieb nicht auf halbem Weg stehen und ging mit dem Aufstand vom Oktober 1917 in Petrograd, bei dem die Sowjets die Macht ergriffen und die Bourgeoisie aus dem Staatsapparat verdrängten, in die Vollen.

Die stalinistische Konterrevolution hatte also einen politischen Charakter und äußerte sich im Machtmonopol der bolschewistischen Partei selbst, in den Maßnahmen der Verstaatlichung und der staatlichen ökonomischen Konzentration (Staatskapitalismus) sowie in der Umwandlung der bolschewistischen Partei in einen Partei-Staat.

Weit davon entfernt, ein banaler Staatsstreich zu sein, wie die herrschende Klasse lügt, ist die Oktoberrevolution der höchste Punkt, den die Menschheit in ihrer gesamten Geschichte bisher erreicht hat. Zum ersten Mal hatte die Arbeiterklasse den Mut und die Fähigkeit, den Ausbeutern die Macht zu entreißen und die proletarische Weltrevolution einzuleiten.

Obwohl die Revolution bald darauf in Berlin, München, Budapest und Turin besiegt werden sollte, obwohl das russische und das Weltproletariat einen schrecklichen Preis für ihre Niederlage zahlen mussten: den Schrecken der Konterrevolution, einen weiteren Weltkrieg und all die Barbarei, die unter den stalinistischen totalitären Staaten erlitten wurde; die Bourgeoisie hat es bis heute nicht geschafft, die Erinnerung und die Lehren aus diesem außerordentlichen Ereignis auszulöschen.

Das schlimmste Erbe des Stalinismus war seine perverse Verwendung der marxistisch-leninistischen Ideologie als orthodoxe Weiterentwicklung des „Marxismus“, der damit als Theorie der proletarischen Revolution entwertet und diskreditiert wurde. Der Leninismus verwendete die marxistische Sprache, um totalitäre Regime zu rechtfertigen, die nichts mit Marx‘ Analyse des Kapitalismus und der Ausbeutung des Proletariats zwischen 1844 und 1883 zu tun hatten. Lenin selbst stellte sich mit seinen Konzepten und Analysen der Partei, des Nationalismus, der russischen Revolution usw. frontal gegen andere marxistische Theoretiker wie Luxemburg, Bordiga, Gorter und Pannekoek, die schon sehr früh die schlimmsten Verirrungen des Leninismus anprangerten.

Die leninistische Auffassung von der Partei geht davon aus, dass die Arbeiterklasse nicht in der Lage ist, ein Bewusstsein zu erlangen, das über die platten syndikalistischen/gewerkschaftlichten (A.d.Ü., oder wie es Lenin selber sagte, ‚Trade-Unionismus‘) und reformistischen Konzeptionen hinausgeht. Die Partei muss der Arbeiterklasse das sozialistische und revolutionäre Bewusstsein von außen einimpfen. Eine solche Auffassung ist, wie Pannekoek in Lenin Philosoph (erschienen bei Ediciones Espartaco) zeigt, Marx fremd, der klar feststellte, dass „die Emanzipation der Arbeiter das Werk der Arbeiter selbst sein wird“.

Das (bourgeoise) Selbstbestimmungsrecht der Nationen, das von Lenin befürwortet wird, führt die nationalistische Ideologie als grundlegendes Ziel des Proletariats im Kampf um seine Emanzipation ein. Wie Rosa Luxemburg mit Lenin debattierte, ist die Ideologie der nationalen Befreiung unterdrückter Völker eine bourgeoise Ideologie, die dem Klassenkampf und der Emanzipation des Proletariats völlig fremd ist (siehe María José Aubets Bücher über Luxemburg, veröffentlicht von Anagrama und El Viejo Topo).

Die Taktik der Bolschewiki in Russland war nicht auf die Situation in Westeuropa übertragbar, wo die kommunistischen Parteien eine antiparlamentarische und gewerkschafts-, syndikalistischfeindliche Taktik vertraten, die von Lenin dogmatisch verurteilt wurde. Siehe (in Ediciones Espartaco) den Offenen Brief an Genosse Lenin, den Gorter als Antwort auf das leninistische Pamphlet Der „Linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus schrieb.

Es gibt also ein ganzes marxistisches Korpus, das nicht nur die totalitäre Barbarei der stalinistischen und faschistischen Regime anprangerte, sondern auch einige der schlimmsten theoretischen Entgleisungen des Leninismus: das ist das unverzichtbare Erbe, das uns die verschiedenen Fraktionen der kommunistischen Linken hinterlassen haben.

Weder die leninistische Ideologie noch der stalinistische Totalitarismus sind marxistisch. Unter Marxismus müssen wir die Kritik der politischen Ökonomie des Kapitals verstehen, die Marx in der Mitte des 19. Jahrhunderts geübt hat, seine Untersuchungsmethode und die Theoretisierung der historischen Erfahrungen des Proletariats (Kommunistisches Manifest, Das Kapital, 18. Brumaire usw.), die von Engels, Luxemburg und der kommunistischen Linken (russisch, italienisch und deutsch-holländisch) fortgeführt wurde. Diese kommunistische Linke bestand aus kleinen Fraktionen, die unter den harten Bedingungen der Isolation und der physischen und politischen Verfolgung mit der marxistischen Methode und in der Praxis des Klassenkampfes die Falschdarstellungen der Dritten Internationale und des stalinistischen und faschistischen Totalitarismus kritisierten.

Die marxistische Kritik an den stalinistischen Regimen, das Ergebnis der theoretischen Analyse und des Kampfes dieser Fraktionen der Kommunistischen Linken innerhalb der Kommunistischen Internationale selbst, die diese Regime mehr oder weniger deutlich als Staatskapitalismus definierten, findet sich in der folgenden Bibliografie.


Bibliographie (A.d.Ü., alle auf Spanisch, die meisten Werke sind auch auf Deutsch erhältlich)

Appel; Gorter; Laufenberg; Meyer; Pannekoek; Pfemfert; Rühle; Reichenbach; Schwab; Wolfheim y otros: Ni parlamento, ni sindicatos: ¡Los Consejos obreros! Los comunistas de izquierda en la Revolución alemana. Ediciones Espartaco Internacional, Barcelona, 2004.

Aubet, María José: Rosa Luxemburg y la cuestión nacional. Anagrama, Barcelona. 1977.

[Bordiga, Amadeo]: Las grandes cuestiones históricas de la revolución en Rusia. Partido comunista internacional, Madrid, 1997.

Gorter; Pannekoek: Contra el nacionalismo, contra el imperialismo y la guerra: ¡Revolución proletaria mundial! Ediciones Espartaco Internacional, Barcelona, 2005.

Gorter; Korsh; Pannekoek: La izquierda comunista germano-holandesa contra Lenin. Ediciones Espartaco Internacional, Barcelona, 2004. [Contiene la “Carta abierta alcamarada Lenin”, de Gorter y “Lenin filósofo” de Pannekoek].

Luxemburg, Rosa: La revolución rusa. Anagrama, Barcelona, 1975.

Luxemburg, Rosa: La cuestión nacional. Traducción y prólogo de María José Aubet. El Viejo Topo, Barcelona, 1998.

Mett, Ida: La Comuna de Cronstadt. Crepúsculo sangriento de los Soviets. Ediciones Espartaco Internacional, Barcelona, 2006.

Munis, G.: Revolución y contrarrevolución en Rusia. Muñoz Moya, Llerena, 1999.

2010

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