(Paul Mattick) Kapitel Nr. 8, Ideologie und Klassenbewußtsein

Wir fahren ein weiteres Mal mit dem Buch von Paul Mattick namens Marxism. Last Refuge of the Bourgeoisie? fort, hier handelt es sich um das achte Kapitel, Ideology and Class Consciousness. Zu vielen der Dinge mit denen wir uns beschäftigen finden wir sehr brauchbare Ansätze in Matticks Werk. Wir wollen aber nicht zu viel verraten.

(Paul Mattick) Kapitel Nr. 8, Ideologie und Klassenbewußtsein

Im Rückblick erscheinen alle verlorenen Angelegenheiten als irrationale Bemühungen, während diejenigen, die erfolgreich sind, rational und gerechtfertigt erscheinen. Die Ziele der besiegten revolutionären Minderheit wurden stets als utopisch und damit als nicht zu verteidigen bezeichnet. Der Begriff „utopisch“ bezieht sich jedoch nicht auf objektiv realisierbare Projekte, sondern auf imaginäre Systeme, die eine konkrete materielle Grundlage für ihre Verwirklichung haben können oder auch nicht. Der Versuch, über Arbeiterräte die Kontrolle über die Gesellschaft zu erlangen und die Marktökonomie zu beenden, hatte nichts Utopisches, denn im entwickelten kapitalistischen System ist das industrielle Proletariat der bestimmende Faktor im gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozess, der nicht notwendigerweise mit Arbeit als Lohnarbeit verbunden ist. Ob eine Gesellschaft kapitalistisch oder sozialistisch ist, in beiden Fällen ist es die Arbeiterklasse, die ihre Existenz ermöglicht, die Produktion kann ohne Rücksicht auf ihre Wertvermehrung und die Erfordernisse der Kapitalakkumulation betrieben werden. Die Verteilung und Aufteilung der gesellschaftlichen Arbeit hängt nicht von den indirekten Tauschbeziehungen des Marktes ab, sondern kann bewusst durch geeignete neue gesellschaftliche Institutionen unter der offenen und direkten Kontrolle der Produzenten organisiert werden. Der westliche Kapitalismus von 1918 war nicht das notwendige gesellschaftliche Produktionssystem, sondern nur das bestehende, dessen Umsturz es lediglich von seinen kapitalistischen Lasten befreit hätte.

Was fehlte, war nicht die objektive Möglichkeit zur gesellschaftlichen Veränderung, sondern die subjektive Bereitschaft der Mehrheit der Arbeiterklasse, die Chance zum Sturz der herrschenden Klasse und zur Inbesitznahme der Produktionsmittel zu nutzen. Die Arbeiterbewegung hatte sich mit dem sich wandelnden Kapitalismus verändert, allerdings in einer Richtung, die den Marxschen Erwartungen zuwiderlief. Trotz der pseudomarxistischen Ideologie tendierte sie zu der unpolitischen Position, die die Arbeiterbewegungen in den angelsächsischen Ländern kennzeichnet, und zu ihrer positiven Akzeptanz des kapitalistischen Systems. Die Bewegung war sozusagen politisch „neutral“ geworden, indem sie die politischen Entscheidungen den anerkannten politischen Parteien der bourgeoisen Demokratie überließ, zu denen unter anderem die Sozialdemokratische Partei gehörte. Die Arbeiter unterstützten die Partei, die versprach oder anscheinend beabsichtigte, sich um ihre besonderen unmittelbaren Bedürfnisse zu kümmern, die nun alle ihre Bedürfnisse umfassten. Sie hatten nichts gegen die Verstaatlichung der Industrie, wenn dies das Ziel der von ihnen favorisierten Partei war, aber sie hatten auch nichts dagegen, dass dieses Prinzip zugunsten des Privateigentums aufgegeben wurde. Sie überließen solche Entscheidungen einfach ihren gewählten und mehr oder weniger vertrauenswürdigen Anführern, so wie sie auch in den Fabriken die Anweisungen der Manager oder Unternehmer erwarteten. Sie verweigerten sich weiterhin jeder Art von Selbstbestimmung, indem sie die Dinge einfach so beließen, wie sie waren, was ihnen besser erschien als der Aufruhr und die Ungewissheit eines langwierigen Kampfes gegen die traditionellen Autoritäten. Man kann also nicht sagen, dass die Sozialdemokratie die Arbeiterklasse „verraten“ hat; was ihre Anführer „verraten“ haben, war ihre eigene Vergangenheit, da sie nun ein anerkannter Teil des kapitalistischen Establishments geworden waren.

Das Scheitern der deutschen Revolution scheint die Behauptung der Bolschewiki zu bestätigen, dass die Arbeiterklasse, sich selbst überlassen, nicht in der Lage ist, eine sozialistische Revolution durchzuführen, und daher die Führung einer revolutionären Partei benötigt, die bereit ist, diktatorische Macht zu übernehmen. Aber die deutsche Arbeiterklasse hat nicht versucht, eine sozialistische Revolution zu machen, und daher kann ihr Scheitern nicht die Gültigkeit der bolschewistischen Behauptung beweisen. Außerdem gab es eine revolutionäre „Avantgarde“, die versuchte, den rein politischen Charakter der Revolution zu ändern. Obwohl diese revolutionäre Minderheit sich nicht dem bolschewistischen Parteikonzept anschloss, war sie nicht weniger bereit, die Führung zu übernehmen, allerdings als Teil, nicht als Herrscher der Arbeiterklasse. Unter westeuropäischen Bedingungen hing eine sozialistische Revolution eindeutig von der Klasse und nicht von Parteiaktionen ab, denn hier ist es die Arbeiterklasse als Ganzes, die die politische Macht und die Produktionsmittel übernehmen muss. Natürlich ist es richtig – aber das gilt für alle Klassen, für die Bourgeoisie wie für das Proletariat -, dass immer nur ein Teil des Ganzen sich tatsächlich in die gesellschaftlichen Angelegenheiten einmischt, während ein anderer Teil untätig bleibt. Aber in jedem Fall ist es der aktive Teil, der für den Ausgang des Klassenkampfes entscheidend ist. Es geht also nicht darum, dass die gesamte Arbeiterklasse buchstäblich am revolutionären Prozess teilnimmt, sondern um eine Masse, die ausreicht, um sich mit den von der Bourgeoisie mobilisierten Kräften zu messen. Diese relative Masse ist nicht schnell genug angewachsen, um die wachsende Macht der Konterrevolution auszugleichen.

Die ganze konterrevolutionäre Strategie bestand darin, ein mögliches Anwachsen der revolutionären Minderheit zu verhindern. Der große Ansturm auf die Nationalversammlung als politisches Ziel der Sozialdemokratie wurde gleichzeitig von der Befürchtung diktiert, dass ein längeres Bestehen der Arbeiterräte zu deren Radikalisierung in Richtung der revolutionären Minderheit führen könnte. Mit der Demobilisierung der Armee würde die politische Vielfalt der Soldatenräte verschwinden, und die Zusammensetzung der Räte, die nun ausschließlich in den Fabriken angesiedelt waren, könnte einen konsequent revolutionären Charakter annehmen. Dass diese Befürchtung unberechtigt war, zeigten die Ergebnisse der Wahlen zur Nationalversammlung, bei denen die Mehrheits-Sozialisten 37,9 Prozent der Gesamtstimmen erhielten, während die radikaleren Unabhängigen Sozialisten nur 7,6 Prozent erhielten. Die Sozialdemokratie hatte trotz oder vielleicht gerade wegen ihres antirevolutionären Programms noch immer das Vertrauen der Masse der Arbeiterklasse. Dennoch blieb die Befürchtung bestehen, dass der Sieg der bourgeoisen Demokratie nicht der letzte Akt der Revolution sein könnte. Mit dem revolutionären Russland im Hintergrund blieb ein neuer revolutionärer Aufschwung möglich – eine Situation, die die systematische Vernichtung der revolutionären Kräfte erforderte, die sich weigerten, die erneute Konsolidierung des kapitalistischen Regimes zu akzeptieren.

Obwohl sie das Ende des Krieges forderte, schloss sich nicht die gesamte Armee der Revolution an. Um einen geordneten Rückzug von der Front zu ermöglichen und einen großen Bürgerkrieg zu vermeiden, akzeptierte die Oberste Heeresleitung jedoch sowohl die Soldatenräte als auch die provisorische sozialdemokratische Regierung. In enger Zusammenarbeit mit dem Oberkommando des Heeres begann die neu eingesetzte Regierung sofort damit, die vertrauenswürdigeren Elemente der sich auflösenden Armee auszuwählen und in freiwilligen Formationen (Freikorps) zu organisieren, um die revolutionäre Minderheit herauszufordern, zu entwaffnen und zu vernichten. Unter dem Kommando des sozialdemokratischen Militaristen Gustav Noske gelang es diesen Streitkräften stückweise, die bewaffneten Revolutionäre überall dort auszuschalten, wo sie versuchten, die Revolution über die Grenzen der bourgeoisen Demokratie hinauszutreiben. Der Zugriff auf den weißen Terror störte die Selbstzufriedenheit der sozialdemokratischen Massen etwas mehr als die revolutionäre Agitation der Kommunisten. Dieser Vertrauensverlust in die sozialdemokratische Führung kam den Kommunisten jedoch nicht zugute, sondern vergrößerte lediglich die Reihen der gespaltenen oppositionellen Unabhängigen Sozialisten. Zwischen den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 und der Reichstagswahl im Juni 1920 sanken die Stimmen für die Mehrheits-Sozialisten von 37,9 Prozent auf 21,6 Prozent, während die der Unabhängigen Sozialisten von 7,6 Prozent auf 18 Prozent stiegen.

So wie die Sozialdemokratische Partei die Rätebewegung nutzte, um ihren eigenen politischen Einfluss zu erhalten, so hatte sie auch nichts gegen die vom Zweiten Kongress der Arbeiterräte geforderte Verstaatlichung der Großindustrie einzuwenden. Diese sollte von der Nationalversammlung aufgegriffen werden, die freilich keine Garantie dafür bot, dass die Forderung auch beachtet wurde. Aber dieses scheinbare Bekenntnis zur Verwirklichung eines Verstaatlichungsprogramms – als Synonym für Sozialisierung – erlaubte es der Provisorischen Regierung, ihren konterrevolutionären Kurs mit dem Versprechen zu tarnen, den Sozialisierungsprozess mit friedlichen, legalen Mitteln voranzutreiben, im Gegensatz zu den kommunistischen Bestrebungen, ihn auf dem Weg des Bürgerkriegs zu erreichen. Solange der weiße Terror herrschte, geschah dies nur, weil „der Sozialismus auf dem Vormarsch“ war und kein anderes Hindernis als den „bolschewistischen Anarchismus“ vorfand. Wo diese Verheißung ernst genommen wurde, wie etwa von den Arbeiter- und Soldatenräten im Ruhrgebiet, die einen ersten Schritt zur Vergesellschaftung machten, indem sie die Kontrolle über Industrien und Bergwerke übernahmen, in der Erwartung, dass die Regierung ihre Maßnahmen vollenden und bestätigen würde, wurde ihre eigenständige Initiative schnell mit militärischen Mitteln unterbunden. Das sozialdemokratische Konzept der Verstaatlichung beinhaltete jedenfalls keine proletarische Selbstbestimmung, sondern lediglich und bestenfalls die Übernahme von Industrien durch den Staat. Nur in diesem Sinne – also im bolschewistischen Sinne – war die Verstaatlichung überhaupt diskutabel und wurde bald zusammen mit dem ordnungsgemäß eingerichteten parlamentarischen Ausschuss für Sozialisierung als Diskussionsgegenstand verworfen.

Die Novemberrevolution selbst war somit ihr einziges Ergebnis. Abgesehen vom Sturz der Monarchie, einigen Änderungen im Wahlverfahren, dem Achtstundentag und der Umwandlung der Fabrikräte in unpolitische Vertrauensleuteausschüsse unter gewerkschaftlicher/syndikalistischer Schirmherrschaft blieb die liberale kapitalistische Ökonomie unangetastet und der Staat blieb ein bourgeoiser Staat. Alles, was die Revolution erreicht hatte, waren einige magere Reformen, die in jedem Fall im Rahmen der „normalen“ Entwicklung des Kapitalismus hätten erreicht werden können. In den Augen der reformistischen Sozialdemokraten war der gesellschaftliche Wandel stets ein rein evolutionärer Prozess kleiner progressiver Verbesserungen, die schließlich in ein quantitativ anderes Gesellschaftssystem münden würden. Sie sahen sich 1914 und 1918 nicht als „Konterrevolutionäre“ oder „Verräter“ der Arbeiterklasse, sondern im Gegenteil als deren wahre Vertreter, die sich sowohl um die unmittelbaren Bedürfnisse der Arbeiter als auch um ihre endgültige soziale Emanzipation kümmerten. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn auch die Kapitalisten sehen sich häufig als Wohltäter der Arbeiterklasse. Mit weitaus mehr Berechtigung konnte sich die sozialdemokratische Führung vorstellen, dass ihre Eingriffe in den revolutionären Prozess für die Arbeiterklasse am Ende vorteilhafter sein würden als ein radikaler Umsturz aller bestehenden Verhältnisse mit der damit einhergehenden Unterbrechung der routinemäßig notwendigen sozialen und produktiven Funktionen. Der Gradualismus schien die einzige Garantie dafür zu sein, dass die soziale Umgestaltung mit den geringsten Kosten an menschlichem Elend und natürlich mit dem geringsten Risiko für die sozialdemokratische Führung vonstatten gehen konnte. Darüber hinaus bot die politische Revolution zumindest theoretisch die Möglichkeit, den Prozess der sozialen Reform zu beschleunigen, indem die Gegensätze zwischen Arbeit und Kapital durch einen demokratischeren Staat und eine demokratischere Regierung überbrückt wurden.

Der Klassenkonflikt ließe sich nach dieser Auffassung durch staatlich veranlasste Zugeständnisse an die Arbeiterklasse auf Kosten der Bourgeoisie kontinuierlich abmildern. Eine Ausweitung der politischen Demokratie auf den ökonomischen Bereich und eine „Mitbestimmung“ über den gesellschaftlichen Produktions- und Verteilungsprozess seien möglich. Es bedürfe nicht der Diktatur einer Klasse, sei es der Bourgeoisie oder des Proletariats. Die während des Krieges praktizierte Klassenkollaboration könnte fortgesetzt werden, nun aber zu friedlichen Zwecken und zum Nutzen der gesamten Gesellschaft. Man stellte sich einen Zustand vor, wie er einige Jahrzehnte später mit dem „Wohlfahrtsstaat“ und der „sozialen Marktwirtschaft“ eintrat, in dem alle Konflikte geschlichtet statt ausgefochten wurden und ein für alle vorteilhafter sozialer Frieden hergestellt werden konnte. Die Zuversicht der Vorkriegszeit in die ökonomische Lebensfähigkeit des kapitalistischen Systems war noch lebendig: Die Rückschläge des Krieges konnten durch eine steigende Produktion überwunden werden, ungehindert von zeitraubenden und dislozierenden sozialen Experimenten. Ein bankrotter Kapitalismus wurde nicht als geeignete Grundlage für den Sozialismus angesehen; letzterer würde nach wie vor ein Problem der Zukunft sein, wenn die Ökonomie wieder in voller Blüte steht. Wenn einige Arbeiter dies nicht so sahen, sollte ihre Dummheit nicht dazu führen, dass dem Rest der Gesellschaft die Möglichkeit genommen wird, sich aus den vom Krieg hinterlassenen Trümmern zu befreien und ihre unmittelbaren Bedürfnisse in Form von Brot und Butter zu befriedigen.

Die Reformisten hatten keine Prinzipien zu „verraten“. Sie blieben, was sie immer gewesen waren, aber sie waren nun verpflichtet, in erster Linie das System zu bewahren, in dem ihre liebgewonnene Praxis fortbestehen konnte. Die Revolution musste auf eine bloße Reform reduziert werden, um ihre tiefsten Überzeugungen zu befriedigen und ganz nebenbei ihre politische Existenz zu sichern. Erstaunlich war nur die große Zahl der sozialistischen Arbeiter, für die die Reformen zumindest ideologisch nur eine Zwischenetappe auf dem Weg zur sozialen Revolution sein sollten. Nun, da sich die Gelegenheit bot, ihre „historische Mission“ zu verwirklichen, nutzten sie sie nicht und zogen stattdessen den „einfachen Weg“ der Sozialreform und die Liquidierung der Revolution vor. Auch dies ist keine Bestätigung der These von Kautsky-Lenin, dass die Arbeiterklasse nicht in der Lage ist, ihr Klassenbewusstsein über die bloße Gewerkschafts- Syndikatsarbeit hinaus zu erhöhen, denn die deutsche Arbeiterklasse war eine hoch sozialistisch gebildete Arbeiterklasse, die durchaus in der Lage war, eine soziale Revolution zum Sturz des Kapitalismus zu konzipieren. Außerdem war es nicht „revolutionäres Bewusstsein“, das die bourgeoisen Intellektuellen in die Arbeiterklasse hineingetragen hatten, sondern nur ihr eigener Reformismus und Opportunismus, der jedes revolutionäre Bewusstsein in der Arbeiterklasse untergrub. Der marxistische Revisionismus entstand nicht in der Arbeiterklasse, sondern in ihrer Führung, für die Gewerkschafts- Syndikatswesen und Parlamentarismus die ausreichenden Mittel für eine fortschrittliche gesellschaftliche Entwicklung waren. Sie verwandelten lediglich die historisch begrenzte Praxis der Arbeiterbewegung in eine Theorie des Sozialismus und konnten durch die Monopolisierung ihrer Ideologie die Arbeiter in die gleiche Richtung beeinflussen.

Dennoch zeigten sich die Arbeiter nur allzu bereit, die reformistischen Überzeugungen der Anführer zu teilen. Für Lenin war dies Beweis genug für ihre angeborene Unfähigkeit, ein revolutionäres Bewusstsein zu entwickeln, was sie dazu verdammte, der reformistischen Führung zu folgen. Die Lösung bestand also darin, die reformistischen durch revolutionäre Anführer zu ersetzen, die die revolutionären Potenziale der Arbeiterklasse nicht „verraten“ würden. Es war eine Frage der „richtigen Führung“, ein Kampf der Intellektuellen um die Köpfe der Arbeiter, ein Wettbewerb der Ideologien um die Gefolgschaft des Proletariats. Und so wurde der Charakter der Partei als das entscheidende Element des revolutionären Prozesses angesehen, auch wenn diese Partei das Vertrauen der Massen durch ihre intuitive Erkenntnis gewinnen musste, dass sie ihre eigenen Interessen vertrat, die die Massen selbst nicht in der Lage waren, in wirksamen politischen Aktionen zum Ausdruck zu bringen.

Gleichzeitig wurde die Unterscheidung zwischen Klasse und Partei als deren Identität angesehen, da letztere das fehlende politische Bewusstsein des weniger gebildeten Proletariats kompensieren sollte. Im Gegensatz zur Marxschen Theorie, wonach es die materiellen Bedingungen und sozialen Verhältnisse sind, die das Entstehen eines revolutionären Bewusstseins im Proletariat bedingen, hindern nach sozialdemokratischer Auffassung (ob reformistisch oder revolutionär) gerade diese Bedingungen die Arbeiter daran, ihre wahren Klasseninteressen zu erkennen und Mittel und Wege zu ihrer Durchsetzung zu finden. Sie sind zweifellos in der Lage, sich aufzulehnen, aber sie sind nicht in der Lage, ihren Zorn in erfolgreiche revolutionäre Aktionen und sinnvolle soziale Veränderungen umzusetzen. Dazu brauchen sie die Hilfe von Intellektuellen aus der Mittelschicht (A.d.Ü., middle-class), die sich die Sache der Arbeiter zu eigen machen, obwohl oder gerade weil sie nicht an den Entbehrungen der Arbeiterklasse teilhaben, die nach der Marxschen Auffassung die Arbeiter zu Revolutionären machen würden. Diese elitäre Vorstellung impliziert natürlich, dass die Ideen zwar ihren Ursprung in den materiellen gesellschaftlichen Verhältnissen haben, aber dennoch das unersetzliche und beherrschende Element im Prozess der gesellschaftlichen Veränderung sind. Aber als Ideen sind sie das Privileg derjenigen Gruppe in der Gesellschaft, die sich bei der gegebenen Arbeitsteilung um ihre ideologischen Erfordernisse kümmert.

Aber was ist Klassenbewusstsein überhaupt? Soweit es sich lediglich auf die eigene Stellung in der Gesellschaft bezieht, ist es sofort erkennbar: Der Bourgeois weiß, dass er zur herrschenden Klasse gehört; der Arbeiter, dass er zu den Beherrschten gehört; und die gesellschaftlichen Gruppen dazwischen zählen sich zu keiner dieser Grundklassen. Es gibt kein Problem, solange die verschiedenen Klassen ein und derselben Ideologie anhängen, nämlich der Vorstellung, dass diese Klassenverhältnisse natürliche Verhältnisse sind, die als Grundcharakteristikum des Menschseins immer vorherrschen werden. In Wirklichkeit divergieren natürlich die materiellen Interessen der verschiedenen Klassen und führen zu sozialen Reibungen, die mit der gemeinsamen Ideologie in Konflikt geraten. Letztere wird zunehmend als Ideologie der herrschenden Klasse erkannt, die die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse stützt, und wird als Ausdruck des unausweichlichen Schicksals der menschlichen Gesellschaft abgelehnt. Die herrschende Ideologie wird somit zwangsläufig der Ausdehnung des Klassenbewusstseins auf die ideologische Sphäre erliegen. Die Unterschiede der materiellen Interessen werden zu ideologischen Unterschieden und dann zu politischen Theorien, die auf den konkreten sozialen Widersprüchen basieren. Die politischen Theorien mögen aufgrund der Komplexität der sozialen Fragen, um die es geht, recht rudimentär sein, aber sie stellen nichtsdestotrotz einen Übergang vom bloßen Klassenbewusstsein zu der Einsicht dar, dass die sozialen Verhältnisse anders sein könnten als sie sind. Wir befinden uns also auf dem Weg vom bloßen Klassenbewusstsein zu einem revolutionären Klassenbewusstsein, das die herrschende Ideologie als Hochstapelei erkennt und sich mit Mitteln und Wegen zur Veränderung der bestehenden Verhältnisse befasst. Wäre dies nicht der Fall, wäre keine Arbeiterbewegung entstanden und die gesellschaftliche Entwicklung wäre nicht durch Klassenkämpfe gekennzeichnet.

Doch ebenso wie die Präsenz der herrschenden Ideologie nicht ausreicht, um die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse aufrechtzuerhalten, sondern ihrerseits von den materiellen Kräften des Staatsapparats gestützt werden muss, bleibt eine Gegenideologie eben dies, es sei denn, sie kann materielle Kräfte hervorbringen, die stärker sind als die der herrschenden Ideologie. Ist dies nicht der Fall, spielt die Qualität der Gegenideologie, ob sie nun rein intuitiv ist oder auf wissenschaftlichen Überlegungen beruht, keine Rolle, und weder der Intellektuelle noch der Arbeiter können eine Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse bewirken. Je nach der in der herrschenden Klasse vorherrschenden Mentalität dürfen Revolutionäre ihre Ansichten äußern oder nicht, aber unter welchen Bedingungen auch immer werden sie nicht in der Lage sein, die herrschende Klasse mit ideologischen Mitteln zu vertreiben. In dieser Hinsicht ist die herrschende Klasse im Vorteil, da sie mit den Produktionsmitteln und den staatlichen Kräften die Instrumente für die Aufrechterhaltung und Verbreitung ihrer eigenen Ideologie kontrolliert. Da dieser Zustand bis zum tatsächlichen Umsturz eines gegebenen Gesellschaftssystems anhält, müssen Revolutionen mit unzureichender ideologischer Vorbereitung durchgeführt werden. Kurzum, die Gegenideologie kann nur durch eine Revolution triumphieren, die die Produktionsmittel und die politische Macht in die Hände der Revolutionäre spielt. Bis dahin wird das revolutionäre Klassenbewusstsein immer weniger wirksam sein als die herrschende Ideologie.

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