Seltsame Niederlage: Die chilenische Revolution, 1973 – PointBlank!

Gefunden auf materiales x la emancipación, die Übersetzung ist von uns. Hiermit leiten wir eine weitere Reihe an, nämlich eine kritische Auseinandersetzung mit dem „chilenischen Sozialismus“, also der sogenannten Allende-Zeit von 1970 bis 1973.

Als ‚cordon industrial‘ sind autonome Praxen (sprich Organe) des Proletariats damals in Chile zu verstehen die die Besetzung und Selbstverwaltung (in Richtung realer Enteignung und Vergesellschaftung) vorangetrieben haben und sehr oft mit der ‚fortschrittlichen und sozialistischen Regierung von Allende‘, sprich die Linke des Kapitals, in Konflikt standen.


Seltsame Niederlage: Die chilenische Revolution, 1973 – PointBlank!

PointBlank! war eine situationistisch und rätekommunistisch inspirierte, basierende revolutionäre Gruppierung, die in den 1970er Jahren in den USA existierte. Das unten wiedergegebene Dokument, dessen Übersetzung durch die Columna Negra wir in dieser Ausgabe leicht modifiziert haben, bringt vehement einige klare Positionen gegen den revolutionären Prozess zum Ausdruck, der unter der Regierung der sozialdemokratischen Unidad Popular (Volkseinheit) und dem anschließenden Militärputsch stattgefunden hat. Neben dem Wert, den sie an sich als Beweis für die zeitgenössische revolutionäre Kritik an der reaktionären Tätigkeit des Reformismus hat, die von der UP und ihrem linken Flügel vertreten wird, spiegelt der in den folgenden Zeilen verteidigte Inhalt allgemein das vitale Bedürfnis des Proletariats wider, seine Kämpfe autonom zu führen, bis es seine wirkliche Emanzipation erreicht hat, weshalb die Richtigkeit seiner Kritik und seiner Positionen nicht an Gültigkeit verliert. Dies ist jedoch kein historiographisches Dokument und wurde unmittelbar nach dem Putsch von geographisch weit entfernten Gefährten durchgeführt. Daher mag es einige historische Ungereimtheiten geben, von denen wir hoffen, dass sie kritisiert und im Zusammenhang verstanden werden. Das Originaldokument in englischer Sprache kann von der Website libcom.org Strange defeat: The Chilean revolution, 1973 – Pointblank! heruntergeladen werden.

***

I

In der spektakulären Arena der als „Nachrichten“ anerkannten Ereignisse wurde das Begräbnis der Sozialdemokratie in Chile von denjenigen als großes Drama inszeniert, die den Aufstieg und Fall von Regierungen intuitiver verstehen: andere Spezialisten der Macht. Die neuesten Szenen des chilenischen Drehbuchs wurden in verschiedenen politischen Bereichen entsprechend den Anforderungen bestimmter Ideologien geschrieben. Einige sind gekommen, um Allende zu begraben, andere, um ihn zu loben. Wieder andere behaupten, seine Fehler ex post facto1 anzuerkennen. Welche Gefühle auch immer zum Ausdruck gebracht werden, diese Nachrufe wurden lange im Voraus verfasst. Die Organisatoren der „öffentlichen Meinung“ können nur reflexartig und mit einer charakteristischen Verzerrung der Ereignisse selbst reagieren.

Während die jeweiligen Blöcke der Weltmeinung „ihre Seite wählen“, wird die chilenische Tragödie im internationalen Maßstab als Farce reproduziert; der Klassenkampf in Chile wird als Pseudokonflikt zwischen rivalisierenden Ideologien getarnt. In ideologischen Diskussionen wird nichts von denen zu hören sein, für die der „Sozialismus“ des Allende-Regimes angeblich gedacht war: die Arbeiter*innen und Bäuer*innen. Ihr Schweigen wurde nicht nur von denen zugesichert, die sie in ihren Fabriken, Feldern und Häusern mit Maschinengewehren bewaffnet haben, sondern auch von denen, die vorgaben (und weiterhin vorgeben), ihre „Interessen“ zu vertreten. Trotz tausend Fälschungen sind die Kräfte, die an dem „chilenischen Experiment“ beteiligt waren, noch nicht erschöpft. Sein wirklicher Inhalt wird sich erst herausstellen, wenn die Formen seiner Interpretation entmystifiziert sind.

Vor allem Chile hat die so genannte Linke in allen Ländern fasziniert. Und indem sie die Gräueltaten der gegenwärtigen Junta dokumentieren, versuchen alle Parteien und Sekten, die Dummheiten ihrer früheren Analysen in Einklang zu bringen. Von den Bürokraten an der Macht in Moskau, Peking und Havanna bis hin zu den Bürokraten im Exil der trotzkistischen Bewegungen bietet ein liturgischer Chor linker Thronanwärter ihre postmortalen Einschätzungen Chiles an, deren Schlussfolgerungen ebenso vorhersehbar sind wie ihre Rhetorik. Die Unterschiede zwischen ihnen sind nur hierarchischer Natur; sie teilen eine leninistische Terminologie, die 50 Jahre Konterrevolution in der ganzen Welt zum Ausdruck bringt.

Die stalinistischen Parteien des Westens und die „sozialistischen“ Staaten betrachten Allendes Niederlage zu Recht als ihre eigene Niederlage: Er war einer der ihren – ein Staatsmann. Mit der falschen Logik, die einen wesentlichen Mechanismus ihrer Macht ausmacht, verurteilen diejenigen, die viel über den Staat und die (Niederlage der) Revolution wissen, den Sturz eines bourgeoisen, konstitutionellen Regimes. Die „linken“ Hochstapler des Trotzkismus und Maoismus ihrerseits können das Fehlen einer „Avantgardepartei“ – des deus ex machina2 des senilen Bolschewismus – in Chile nur beklagen. Diejenigen, die die Niederlage der Revolution in Kronstadt und Shanghai geerbt haben, wissen, wovon sie sprechen: Das leninistische Projekt erfordert die absolute Auferlegung eines deformierten „Klassenbewusstseins“ (das Bewusstsein einer bürokratischen herrschenden Klasse) gegenüber denen, die in ihren Entwürfen nur „die Massen“ sind.

Die Dimensionen der „chilenischen Revolution“ liegen außerhalb der Grenzen einer bestimmten Doktrin. Während die „Antiimperialisten“ der Welt – aus sicherer Entfernung – die sehr bequemen Vogelscheuchen der CIA anprangern, müssen die wahren Gründe für die Niederlage des chilenischen Proletariats anderswo gesucht werden. Allende, der Märtyrer, war derselbe Allende, der in den Wochen vor dem Putsch die Arbeitermilizen von Santiago und Valparaiso entwaffnet und sie dem Militär, dessen Offiziere bereits in seinem Kabinett waren, schutzlos ausgeliefert hatte.

Diese Aktionen können nicht einfach als „Klassenkollaboration“ oder „Verrat“ erklärt werden. Die Bedingungen für die bizarre Niederlage der Unidad Popular wurden lange im Voraus vorbereitet. Die sozialen Widersprüche, die im August und September auf den Straßen und Feldern Chiles auftraten, waren nicht einfach nur Trennungen zwischen „links“ und „rechts“, sondern beinhalteten einen Widerspruch zwischen dem chilenischen Proletariat und den Politikern aller Parteien, einschließlich derer, die sich als die „revolutionärsten“ ausgaben. In einem „unterentwickelten“ Land war ein hochentwickelter Klassenkampf entstanden, der die Positionen all jener bedrohte, die die Unterentwicklung aufrechterhalten wollten, sowohl wirtschaftlich durch die fortgesetzte imperialistische Herrschaft als auch politisch durch die Verzögerung einer echten proletarischen Macht in Chile.

II

Überall erzeugt die Expansion des Kapitals seinen scheinbaren Widerstand in Form von nationalistischen Bewegungen, die sich die Produktionsmittel „im Namen“ der Ausgebeuteten aneignen und für sich so die soziale und politische Macht aneignen wollen. Die imperialistische Gewinnung von Mehrwert hat ihre sozialen und politischen Folgen nicht nur in der erzwungenen Armut der Menschen, die ihre Arbeiter*innen werden müssen, sondern auch in der sekundären Rolle, die der lokalen Bourgeoisie zugewiesen wird, die nicht in der Lage ist, ihre volle Hegemonie über die Gesellschaft zu errichten. Es ist genau diese Leere, die die „nationalen Befreiungsbewegungen“ zu besetzen versuchen und damit die Führungsrolle übernehmen, die nicht von der abhängigen Bourgeoisie gespielt wird. Dieser Prozess hat viele Formen angenommen – von Gaddafis religiöser Fremdenfeindlichkeit bis hin zu Maos bürokratischer Religion – aber in jedem Fall sind die Marschbefehle des „Antiimperialismus“ die gleichen, und diejenigen, die sie erteilen, sind in identischen Befehlspositionen.

Die imperialistische Verzerrung der chilenischen Wirtschaft bot eine Öffnung für eine populäre Bewegung, die eine nationale kapitalistische Basis schaffen wollte. Der relativ fortgeschrittene wirtschaftliche Status Chiles verhinderte jedoch die Art von bürokratischer Entwicklung, die in anderen Gebieten der „Dritten Welt“ mit Waffengewalt an die Macht gekommen ist (ein Begriff, der verwendet wurde, um die tatsächlichen Klassenunterschiede in diesen Ländern zu überwinden). Die Tatsache, dass die „fortschrittliche“ Unidad Popular als reformistische Koalition einen Wahlsieg erringen konnte, war ein Spiegelbild der eigentümlichen Gesellschaftsstruktur in Chile, die in vielerlei Hinsicht der der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder ähnelte. Gleichzeitig schuf die kapitalistische Industrialisierung die Voraussetzungen für die mögliche Überwindung dieser bürokratischen Alternative in Form eines ländlichen und städtischen Proletariats, das sich als die wichtigste Klasse mit revolutionären Bestrebungen herausbildete. In Chile sollten Christdemokraten und Sozialdemokraten die Widersacher einer radikalen Lösung der bestehenden Probleme sein.

Bis zur Ankunft der UP blieben die Widersprüche in der chilenischen Linken zwischen einer radikalen Basis von Arbeiter*innen und Bäuer*innn und ihren so genannten politischen „Vertretern“ weitgehend in Form eines latenten Antagonismus bestehen. Die linken Parteien waren in der Lage, eine populäre Bewegung allein auf der Grundlage der ausländischen Bedrohung durch das US-Kapital zu organisieren. Kommunisten und Sozialisten konnten ihr Bild von authentischen Nationalisten unter der christdemokratischen Regierung aufrechterhalten, da Frei’s Programm der „Chilenisierung“ (das eine Politik der Agrarreform einschloss, die später von Allende bewusst nachgeahmt wurde) ausdrücklich mit der von Nordamerika gesponserten „Allianz für den Fortschritt“ verbunden war. Die offizielle Linke konnte ihre eigene Allianz innerhalb Chiles aufbauen, indem sie sich nicht dem Reformismus an sich, sondern dem Reformismus mit externen Verbindungen entgegenstellte. Das Oppositionsprogramm der chilenischen Linken wurde trotz seines moderaten Charakters erst nach den – unabhängig von den Parteien organisierten – militanten Streiks in den 1960er Jahren angenommen, die die Existenz des Frei-Regimes bedrohten.

Die künftige UP würde sich in einem Raum bewegen, der durch die radikalen Aktionen der Arbeiter*innen und Bäuer*innen eröffnet wurde; sie setzte sich als institutionalisierte Vertretung proletarischer Anliegen durch, soweit sie in der Lage war, diese zu rekuperieren. Trotz des äußerst radikalen Charakters vieler früherer Streiks (zu denen auch Fabrikbesetzungen und die Verwaltung verschiedener Industriebetriebe, vor allem bei COOTRALACO3, gehörten), fehlte der Praxis des chilenischen Proletariats ein entsprechender theoretischer oder organisatorischer Ausdruck, und dieses Versäumnis, seine Autonomie zu behaupten, machte es anfällig für Manipulationen durch Politiker. Trotzdem war der Kampf zwischen Reform und Revolution noch lange nicht entschieden.

III

Die Wahl des Freimaurers Allende bedeutete zwar keineswegs, dass die Arbeiter*innen und Bäuer*innen ihre eigene Macht erlangt hatten, verschärfte aber dennoch den Klassenkampf in ganz Chile. Entgegen den Behauptungen der UP, die Arbeiter*innklasse habe einen großen „Sieg“ errungen, setzten sowohl das Proletariat als auch seine Feinde ihren Kampf außerhalb der herkömmlichen parlamentarischen Kanäle fort. Obwohl Allende den Arbeiter*innen ständig versicherte, dass beide einen „gemeinsamen Kampf“ führten, offenbarte er den wahren Charakter seines Sozialismus per Dekret gleich zu Beginn seiner Regierung, als er das Statut unterzeichnete, das formal garantierte, dass er die bourgeoise Verfassung treu einhalten würde. Nachdem die UP mit einem „radikalen“ Programm an die Macht gekommen war, geriet sie in Konflikt mit einer wachsenden revolutionären Strömung an ihrer Basis. Als das chilenische Proletariat zeigte, dass es bereit war, die Slogans des UP-Programms wörtlich zu nehmen – Slogans, die sich nur als leere Rhetorik und unerfüllte Versprechen der bürokratischen Koalition herausstellten – und sie in die Praxis umzusetzen, wurden die Widersprüche zwischen Form und Inhalt der chilenischen Revolution deutlich. Die Bäuer*innen und Arbeiter*innen Chiles begannen, für sich selbst zu sprechen und zu handeln.

Trotz seines „Marxismus“ war Allende nie mehr als ein Verwalter staatlicher Interventionen in einer kapitalistischen Ökonomie. Allendes Etatismus – eine Form des Staatskapitalismus, die den Aufstieg aller Verwalter der Unterentwicklung begleitete – war nichts weiter als eine quantitative Ausweitung der christdemokratischen Politik. Mit der Verstaatlichung der Kupferminen und anderer Industriezweige setzte Allende die Zentralisierung der Ökonomie unter der Kontrolle des chilenischen Staatsapparats fort – eine Zentralisierung, die der „Erzfeind der Linken“, Frei, eingeleitet hatte. Allende war nämlich gezwungen, bestimmte Unternehmen zu verstaatlichen, weil sie spontan von ihren Beschäftigten besetzt worden waren. Indem er die Selbstverwaltung der Industrie durch die Deaktivierung dieser Besetzungen verhinderte, stellte sich Allende aktiv gegen die Einführung sozialistischer Produktionsverhältnisse. Infolgedessen tauschten die chilenischen Arbeiter*innen nur eine Reihe von Bossen gegen eine andere aus: die herrschende Bürokratie statt Kennecott oder Anaconda, die ihre entfremdete Arbeit lenkten. Diese scheinbare Veränderung konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der chilenische Kapitalismus sich selbst aufrechterhält. Von den Profiten der multinationalen Konzerne bis hin zu den „Fünfjahresplänen“ des internationalen Stalinismus – die Akkumulation des Kapitals erfolgt immer auf Kosten des Proletariats.

Dass Regierungen und soziale Revolutionen nichts gemeinsam haben, zeigte sich auch in den ländlichen Gebieten. Im Gegensatz zur bürokratischen Verwaltung der „Agrarreform“, die vom Allende-Regime geerbt und fortgesetzt wurde, boten die spontanen bewaffneten Übernahmen von Großgrundbesitz eine revolutionäre Antwort auf das „Landproblem“. Trotz aller Bemühungen der CORA (Corporación de la Reforma Agraria), diese Enteignungen durch die Vermittlung von „Bauerngenossenschaften“ (Siedlungen) zu verhindern, ging die direkte Aktion der Bäuer*innen über diese illusorischen Formen der „Beteiligung“ hinaus. Viele der Landerwerbe wurden von der Regierung erst legitimiert, nachdem der Druck der Bäuer*innen es unmöglich machte, anders zu handeln. In der Erkenntnis, dass solche Aktionen sowohl ihre eigene Autorität als auch die der Landbesitzer in Frage stellten, ließ die UP nie eine Gelegenheit aus, „wahllose“ Enteignungen anzuprangern und zu einer „Verlangsamung“ aufzurufen.

Die autonomen Aktionen des städtischen und ländlichen Proletariats bildeten die Grundlage für die Entwicklung einer bedeutenden Bewegung zur Linken der Regierung Allende. Zugleich bot diese Bewegung eine weitere Gelegenheit für die politische Repräsentation, sich in den Realitäten des Klassenkampfes in Chile zu behaupten. Diese Rolle übernahmen die militanten Guevaristen der MIR und ihr ländliches Pendant, die MCR (Movimiento Campesino Revolucionario), denen es gelang, viele der radikalen Errungenschaften der Arbeiter*innen und Bäuer*innen zurückzufordern. Die miristische Parole der „bewaffneten Revolution“ und ihre obligatorische Ablehnung der Wahlpolitik waren bloße Gesten: Kurz nach den Wahlen von 1970 wurde ein Elitekorps der ehemaligen Stadtguerilla der MIR Allendes auserwählte persönliche Palastwache. Die Verbindungen zwischen der MIR-MCR und der UP gingen über rein taktische Erwägungen hinaus – beide hatten gemeinsame Interessen zu verteidigen. Trotz der revolutionären Haltung der MIR handelte sie in Übereinstimmung mit den bürokratischen Forderungen der UP: Wann immer die Regierung in Schwierigkeiten war, bewegten die Helfer der MIR ihre Militante um die Flagge der UP. Wenn die MIR es nicht schaffte, die „Vorhut“ des chilenischen Proletariats zu sein, dann nicht, weil sie nicht avantgardistisch genug war, sondern weil ihre Strategie von denen, die sie zu manipulieren versuchte, abgelehnt wurde.

IV

Die Aktivitäten der Rechten in Chile nahmen zu, nicht als Reaktion auf irgendeinen Regierungserlass, sondern wegen der direkten Bedrohung, die von der Unabhängigkeit des Proletariats ausgeht. Angesichts der wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten konnte die UP nur von „rechter Sabotage“ und dem Starrsinn einer „Arbeiteraristokratie“ sprechen. Trotz aller ohnmächtigen Denunziationen der Regierung waren diese „Schwierigkeiten“ soziale Probleme, die nur durch die Errichtung einer revolutionären Macht in Chile radikal gelöst werden konnten. Trotz ihres Anspruchs, „die Arbeiterrechte zu verteidigen“, erwies sich die Regierung Allende als machtloser Zuschauer im Klassenkampf, der außerhalb formaler politischer Strukturen geführt wurde. Es waren die Arbeiter*innen und Bäuer*innen selbst, die die Initiative gegen die Reaktion ergriffen und dabei neue und radikale Formen der gesellschaftlichen Organisation schufen, Formen, die Ausdruck eines hoch entwickelten Klassenbewusstseins waren. Nach dem Streik der Bosse im Oktober 1972 warteten die Arbeiter*innen nicht auf das Eingreifen der UP, sondern besetzten aktiv die Fabriken und begannen, ohne gewerkschaftliche oder staatliche „Unterstützung“ selbst zu produzieren. Die cordones industriales, die den Vertrieb der Produkte kontrollierten und koordinierten und die bewaffnete Verteidigung gegen die Bosse organisierten, bildeten sich in den Fabriken. Im Gegensatz zu den von der UP versprochenen „populären Vollversammlungen“, die nur auf dem Papier existierten, wurden die Absperrungen (cordones)von den Arbeiter*innen selbst errichtet. In ihrer Struktur und Arbeitsweise waren diese Komitees – zusammen mit den ländlichen Räten – die ersten Manifestationen einer Rätetendenz und stellten als solche den wichtigsten Beitrag zur Entwicklung einer revolutionären Situation in Chile dar.

Eine ähnliche Situation bestand in den Vierteln, in denen die ineffizienten, von der Regierung kontrollierten „Versorgungsausschüsse“ (JAP)4 durch die Ausrufung von „selbstverwalteten Vierteln“ und die Organisation kommunaler Kommandos durch die Bewohner überwunden wurden. Trotz ihrer Unterwanderung durch MIR-Loyalisten bildeten diese bewaffneten Enteignungen des sozialen Raums den Ausgangspunkt für eine echte proletarische Macht. Zum ersten Mal konnten Menschen, die zuvor von der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen waren, Entscheidungen über die grundlegendsten Realitäten ihres täglichen Lebens treffen. Die Männer, Frauen und Jugendlichen der Städte entdeckten, dass Revolution keine Frage der Wahlurne war; wie auch immer die Ortschaft/Gegend/Kiez hieß – Nueva Habana, Vietnam Heroico (Neu-Havanna, heldenhaftes Vietnam) -, was dort geschah, hatte nichts mit den entfremdeten Landschaften ihrer Namensvettern zu tun.

Obwohl die Errungenschaften der populären Initiativen beträchtlich waren, kam eine dritte Kraft, die eine revolutionäre Alternative zur Regierung und den Reaktionären darstellen konnte, nie ganz zum Vorschein. Den Arbeiter*innen und Bäuer*innen gelang es nicht, ihre Errungenschaften so weit auszuweiten, dass sie das Allende-Regime durch ihre eigene Macht ersetzten. Ihr so genannter „Verbündeter“, die MIR, benutzte ihren Diskurs über den Widerstand gegen den Bürokratismus mit den „bewaffneten Massen“ als Maske für ihre eigenen Intrigen. In ihrem leninistischen Schema wurden die cordones als „Kampfformen“ angesehen, die den Weg für zukünftige, weniger „eingeschränkte“ Organisationsmodelle ebnen könnten, deren Führung zweifellos von der MIR übernommen werden würde.

Bei aller Besorgnis über die Pläne des rechten Flügels, die seine Existenz bedrohten, hinderte die Regierung die Arbeiter*innen daran, positive Maßnahmen zur Lösung des Klassenkampfes in Chile zu ergreifen. Damit ging die Initiative aus den Händen der Arbeiter*innen an die Regierung über, und indem sich das chilenische Proletariat nach außen manövrieren ließ, ebnete es den Weg für seine künftige Niederlage. Als Reaktion auf Allendes Plädoyer nach dem gescheiterten Putsch vom 29. Juni besetzten die Arbeiter*innen weitere Fabriken, nur um sich hinter den Kräften zu verschanzen, die sie einen Monat später entwaffnen sollten. Diese Besetzungen wurden nach wie vor von der UP und ihren Vermittlern in der nationalen Gewerkschaft CUT definiert, die die Arbeiter*innen voneinander isolierten, indem sie sie innerhalb der Fabriken einschlossen. In einer solchen Situation war das Proletariat machtlos, einen unabhängigen Kampf zu führen, und sobald das Waffenkontrollgesetz unterzeichnet war, war ihr Schicksal besiegelt. Wie die spanischen Republikaner, die den anarchistischen Milizen an der aragonischen Front Waffen verweigerten, war auch Allende nicht bereit, die Existenz einer bewaffneten proletarischen Kraft außerhalb seines eigenen Regimes zu tolerieren. Alle Verschwörungen der Rechten hätten nicht einen Tag gedauert, wenn die chilenischen Arbeiter*innen und Bäuer*innen bewaffnet gewesen wären und ihre eigenen Milizen organisiert hätten. Obwohl die MIR gegen den Eintritt des Militärs in die Regierung protestierte, sprachen sie, wie ihre Vorgänger in Uruguay, die Tupamaros, nur über die Bewaffnung der Arbeiter*innen und hatten mit dem Widerstand, der stattfand, wenig zu tun. Die Losung der Arbeiter*innen „Un pueblo desarmado es un pueblo derrotado – Ein unbewaffnetes Volk ist ein besiegtes Volk“ sollte ihre bittere Wahrheit in den Massakern an Arbeiter*innen und Bäuer*innen finden, die dem Militärputsch folgten.

Allende wurde nicht wegen seiner Reformen gestürzt, sondern weil er nicht in der Lage war, die revolutionäre Bewegung zu kontrollieren, die sich spontan an der Basis der UP entwickelte. Die Junta, die an seiner Stelle installiert wurde, nahm die Bedrohung der Revolution klar wahr und widmete sich ihrer Beseitigung mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln. Es war kein Zufall, dass der stärkste Widerstand gegen die Diktatur in den Gebieten stattfand, in denen die Arbeiter*innenmacht am weitesten gegangen war. In der Textilfabrik SUMAR und in Concepción zum Beispiel war die Junta gezwungen, diese Macht durch Bombenangriffe aus der Luft zu liquidieren. Infolge der Politik Allendes konnte das Militär freie Hand bei der Vollendung dessen haben, was unter der UP-Regierung begann: Allende war ebenso wie Pinochet für die Massenmorde an Arbeiter*innen und Bäuer*innen in Santiago, Valparaiso, Antofagasta und anderen Provinzen verantwortlich. Die vielleicht aufschlussreichste aller Ironien, die mit dem Sturz der UP einhergingen, ist die Tatsache, dass viele von Allendes Anhänger*innen den Putsch zwar nicht überlebt haben, wohl aber viele seiner Reformen. Den politischen Kategorien wurde so wenig Bedeutung beigemessen, dass der neue Außenminister sich selbst als „Sozialist“ bezeichnete.

V

Radikale Bewegungen bleiben in dem Maße unterentwickelt, wie sie die Entfremdung respektieren und ihre Macht an externe Kräfte abgeben, anstatt sie selbst zu schaffen. In Chile beschleunigten Revolutionäre ihren eigenen Thermidor-Tag5, indem sie „Repräsentanten“ in ihrem Namen sprechen und handeln ließen: Obwohl die parlamentarische Autorität faktisch durch die cordones ersetzt worden war, gingen die Arbeiter*innen nicht über diese Bedingungen der Doppelherrschaft hinaus, um den bourgeoisen Staat und die Parteien, die ihn aufrechterhalten, abzuschaffen. Wenn zukünftige Kämpfe in Chile voranschreiten sollen, müssen die Feinde innerhalb der Arbeiter*innenbewegung praktisch überwunden werden; die Rätetendenzen in den Fabriken, Städten und auf den Feldern müssen alles oder nichts sein. Alle Avantgarde-Parteien, die sich weiterhin als „Führer der Arbeiter*innen“ ausgeben – sei es die MIR, eine klandestine KP oder irgendeine andere Untergrund-Splittergruppe – können nur den Verrat der Vergangenheit wiederholen. Dem ideologischen Imperialismus muss so radikal begegnet werden, wie der ökonomische Imperialismus enteignet wurde; Arbeiter*innen und Bäuer*innen können sich nur auf sich selbst verlassen, um über das hinauszukommen, was die cordones industriales erreicht haben.

Vergleiche zwischen der chilenischen Erfahrung und der spanischen Revolution von 1936 wurden bereits gemacht, und nicht nur hier findet man seltsame Worte von Trotzkisten, die die Arbeiter*innenmilizen loben, die gegen jede Form der Hierarchie kämpften. Es stimmt zwar, dass in Chile eine dritte radikale Kraft entstand, aber nur zögerlich. Anders als das spanische Proletariat haben die chilenischen Revolutionäre nie eine neue Gesellschaftsform auf der Grundlage einer Organisation von Räten geschaffen, und die chilenische Revolution wird nur dann triumphieren, wenn diese Formen (Gebiete, Kommandos) ihre soziale Hegemonie durchsetzen können. Die Hindernisse für seine Entwicklung sind ähnlich wie in Spanien: Die spanischen Räte und Milizen hatten zwei Feinde, in Form des Faschismus und der republikanischen Regierung, während die chilenischen Arbeiter*innen dem internationalen Kapitalismus und den sozialdemokratischen Manipulierer*innen und dem Leninismus gegenüberstanden.

Von den Favelas in Brasilien bis zu den Arbeitslagern in Kuba ist das Proletariat weder in Lateinamerika noch anderswo an der Macht, und diese Ohnmacht treibt es ständig zu neuen Aktionen. Die chilenischen Arbeiter*innen stehen mit ihrem Widerstand gegen die Kräfte der Konterrevolution nicht allein; die revolutionäre Bewegung, die in Mexiko mit den Guerillagruppen von Villa begann, ist noch nicht zu Ende. In den Arbeiter*innenmilizen, die 1965 in den Straßen von Santo Domingo kämpften, dem städtischen Aufstand in Córdoba, Argentinien, 1969, und den jüngsten Streiks und Besetzungen in Bolivien und Uruguay, den spontanen Arbeiter*innen- und Student*innenenrevolten in Trinidad 1970 und der anhaltenden revolutionären Krise in der Karibik, hat das lateinamerikanische Proletariat eine kontinuierliche Offensive gegen all jene aufrechterhalten, die versuchen, die gegenwärtigen Bedingungen aufrechtzuerhalten.

In seinem Kampf sieht sich das Proletariat mehreren Karikaturen der Revolution gegenüber, die sich als seine Verbündeten ausgeben. Diese Transvestiten haben wiederum in der so genannten „ultralinken“ Opposition eine falsche Bewegung gefunden. So bereitet der Ex-Faschist Perón den Aufbau eines korporativen Staates in Argentinien vor, diesmal in linker Verkleidung, während die trotzkistischen Kommandos der ERP ihn dafür anprangern, nicht „revolutionär“ genug zu sein, und der Ex-Guerillakämpfer Castro all jene schimpft, die nicht den Standards der „kommunistischen“ Disziplin entsprechen. Die Geschichte wird nicht daran scheitern, die Macht dieser Idioten aufzulösen.

Eine Verschwörung der Tradition – mit Agenten sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite – sorgt dafür, dass die bestehende Realität immer in Form von falschen Alternativen dargestellt wird. Die einzigen akzeptablen Alternativen zur Macht sind die zwischen konkurrierenden Hierarchien: den Obersten von Peru oder den Generälen von Brasilien, den Armeen der arabischen Staaten oder denen Israels. Diese Gegensätze sind nur Ausdruck von Spaltungen innerhalb des globalen Kapitalismus, und jede wirklich revolutionäre Alternative muss sich auf den Trümmern dieser spektakulären Konflikte einrichten. Den kombinierten Lügen der Bourgeoisie und der bürokratischen Macht muss eine revolutionäre Wahrheit in Waffen gegenübergestellt werden, überall auf der Welt wie in Chile. Es kann keinen „Sozialismus in einem Land“ oder in einer Fabrik oder einem Bezirk geben. Revolution ist eine internationale Aufgabe, die nur auf internationaler Ebene gelöst werden kann – sie kennt keine kontinentalen Grenzen. Wie jede Revolution erfordert auch die chilenische Revolution den Triumph ähnlicher Bewegungen in anderen Gegenden. Überall, bei den wilden Streiks in den Vereinigten Staaten und Westdeutschland, den Fabrikbesetzungen in Frankreich und den zivilen Aufständen in der UdSSR, werden die Grundlagen für eine neue Welt gelegt. Diejenigen, die sich in dieser globalen Bewegung erkennen, müssen die Gelegenheit ergreifen, sie mit allen ihnen zur Verfügung stehenden subversiven Waffen zu verbreiten.

Oktober 1973


1A.d.Ü., rückwirkend

2A.d.Ü., „(wenn) Gott aus einer Maschine (auftritt)“. So die Bedeutung aus dem Latein, heutzutage wird es auch verwendet um zu beschreiben wenn eine Person oder eine Begebenheit unerwartet auftritt.

3Im November 1968 traten 126 Arbeiter der Industrie „Andrés Hidalgo y Cia“ wegen der Schulden, die der Chef bei ihnen hatte, in den Streik. Nach einem Mobilisierungsprozess mit traditionellen Mitteln, der keine Früchte trug, beschlossen die Arbeiterinnen und Arbeiter, die Fabrik zu übernehmen und sie selbst zu verwalten. Ehemalige Kader linker Parteien und Arbeiter ohne Parteimitgliedschaft waren an dieser Initiative beteiligt: „Unter uns gibt es keine Frage, welcher Partei du angehörst. Unsere Definition lautet, ob du in der Praxis mit den Arbeitern oder gegen sie bist. Wir akzeptieren nicht, dass ideologische Differenzen uns lähmen. Wir stellen die traditionelle Gewerkschaftsbewegung in Frage, den Kampf innerhalb des Arbeitsrechts, ein Instrument der Ausbeutung der Bourgeoisie“ (Revista „Punto Final“ Nº 90, Oktober 1969). Anmerkung der vorliegenden Ausgabe.

4An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass die JAP nicht nur ein bloßes Instrument der Regierung waren, um auf das Horten zu reagieren (eine reaktionäre Maßnahme, die von Teilen der Bourgeoisie gefördert wurde, die mit der politischen Rechten verbunden sind), sondern dass sie, wie andere Erfahrungen an der Basis, in der Praxis die von der Macht auferlegten Grenzen überschritten. Darüber hinaus waren sie Räume, in denen der Protagonismus der Frauen betont wurde, indem sie in der Praxis mit der ihnen von der patriarchalischen Kultur zugewiesenen sekundären Rolle brachen, auch wenn diese Beteiligung zum Teil als Erweiterung der Räume des sozialen Kampfes, der traditionellen Frauenrollen in Bezug auf die Hausarbeit erreicht wurde. Auf der anderen Seite waren die JAPs Teil der Comandos Comunales. Anmerkung der vorliegenden Ausgabe.

5A.d.Ü., der Thermidor ist der elfte Monat nach dem republikanischen Kalender der französischen Revolution (1789-1799). In dem Sinne bezeichnet man auch eine Kehrtwendung von revolutionären Idealen oder Kämpfen in deren Enthauptung und infolgedessen zur (eigenwilligen) Niederlage. Der bekannte historische Beispiele der sich auf diesen Begriff stützt ist die Verhaftung von Robespierre in der französischen Revolution.

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