Klassenkampf und Nation – Anton Pannekoek, 1912

Vom Antonie Pannekoek Archiv, von uns transkribiert. Es gab viele Gründe diese Schrift Anton Pannekoek zu transkribieren, wenn auch man sich die Frage stellen kann warum ein Text aus dem Jahr 1912 auf irgendeiner Art und Weise noch relevant sein kann.

1912, in Antwort auf die Schrift von Otto Bauer: „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“ sagte Pannekoek ganz klar dass die Interessen des Proletariats sich niemals mit denen der herrschenden Klasse, also der Bourgeoisie decken können. Wenn auch diese die Welt aus ihren Fugen heben wird, um dies zu erreichen. Ein Vehikel dafür sind die Nation und der Nationalismus. Wenn sich auch viele mit diesen Fragen auseinandergesetzt haben, scheint die Frage um diese Kategorien immer noch nicht geklärt zu sein, zumindest für viele, die nach Belieben sie hier und da zwar ablehnen, um sie danach doch wieder aufzugreifen.

Beispiele dafür gibt es wie Sand am Meer, siehe nationale Befreiungskämpfe, sogenannte antiimperialistische Kämpfe, et cetera. Ob Katalonien, Kurdistan, der Krieg in der Ukraine, die Mapuches, der Kampf gegen Kolonialismus, Palästina usw. am Ende bezieht man sich auf die unterdrückte Nation und deren Kollektiv, das Volk.

Weltweit beziehen sich Anarchistinnen und Anarchisten positiv, soweit das Narrativ passt, auf die Kategorien/Konzepte der Nation, des Nationalismus und des Volkes. Zum Glück nicht alle, aber wenige sind es trotzdem nicht.

Über die möglichen wieso´s und weshalb´s dazu werden wir uns in einen kommenden Text auseinandersetzen, bis dahin dient dieser Text fabelhaft zur Diskussion, zumindest was diese Fragen angehen, denn wenn auch sich bei Pannekoek schon bei diesem Text kommende Brüche mit der Sozialdemokratie aufzeigen, würden sie erst später kommen, dass heißt er verteidigt Positionen die wir nicht teilen, dies sollte aber niemanden daran hindern diesen Text zu lesen.


Klassenkampf und Nation

von Dr. Anton Pannekoek 1912


Vorwort

Es bedarf vielleicht der Entschuldigung, dass ein Nichtösterreicher es unternimmt, zur Nationalitätenfrage das Wort zu ergreifen. Wäre sie eine rein österreichische Frage, so würde ich auch sicher keiner einmischen, der nicht die praktischen Verhältnisse genau kennt und durch die Praxis genötigt ist, sich damit zu befassen. Sie bekommt aber immer mehr auch für andere Länder Bedeutung. Und durch die Schriften der österreichischen Theoretiker, vor allem durch das wertvolle Werk von Otto Bauer: „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“, ist sie aus einer Frage der österreichischen Praxis zu einer der allgemeinen sozialistischen Theorie geworden. Jetzt muss diese Frage, ihre Behandlung und ihr Ergebnis das höchste Interesse jedes Sozialisten werden, der die Theorie als den Leitfaden unserer Praxis betrachtet; jetzt ist auch Beurteilung und Kritik möglich, die von der speziellen österreichischen Praxis absieht. Weil wir hier einige Schlussfolgerungen Bauers bekämpfen müssen, wollen wir schon im Voraus bemerken, dass damit der Wert seines Werkes nicht im Geringsten geschmälert werden soll; seine Bedeutung liegt nicht darin, dass es auf diesem Gebiete endgültige und unanfechtbare Ergebnisse feststellt, sondern dass es erst die Grundlage zu einer vernünftigen Erörterung und Diskussion dieser Fragen schafft.

Eine solche Diskussion erscheint jetzt besonders angebracht. Die separatistische Krise stellt die Nationalitätenfrage wieder auf die Tagesordnung der Partei und zwingt zu einer neuen Orientierung, zu einer Selbstverständigung in diesen Fragen von Grund auf. Da mag eine Erörterung der theoretischen Grundlagen nicht wertlos sein, zu der wir durch diese Schrift den österreichischen Genossen einen Beitrag zu liefern hoffen. Zu ihrer Veröffentlichung war wesentlich die Tatsache mitbestimmend, dass Genosse Strasser in seiner Schrift: „Der Arbeiter und die Nation“, auf ganz anderen Wege, aus der österreichischen Praxis heraus – wenn auch durch die gleiche marxistische Grundanschauung geleitet – zu denselben Schlussfolgerungen gelangte, wie wir. Unsere Arbeiten könnten jetzt in der Begründung dieses gemeinsames Standpunktes einander als Ergänzung dienen.

A.P.

I. Die Nation und ihre Wandlungen

Bürgerliche und sozialistische Anschauung.

Der Sozialismus ist eine neue wissenschaftliche Auffassung der Menschenwelt, die sich im tiefsten Grund von allen bürgerlichen Auffassungen unterscheidet. Die bürgerliche Auffassungsweise betrachtet die verschiedenen Gebilde und Institutionen der Menschenwelt entweder als Produkte der Natur, und lobt oder verurteilt sie, je nachdem sie ihr in Übereinstimmung oder in Widerspruch mit der „ewigen menschlichen Natur“ erscheinen, – oder sie sieht sie als Produkte des Zufalls oder der menschlichen Willkür an, nach Belieben durch zu künstliche Gewaltmaßnahmen umzuändern. Die Sozialdemokratie betrachtet sie dagegen als natürlich entstandene Produkte der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. Während die Natur praktisch unveränderlich ist – die Entstehung der Tierarten aus einander hat sich erst in ungeheuren Zeiträumen vollzogen , zeigt die menschliche Gesellschaft eine unaufhörliche rasche Entwicklung. Denn ihre Grundlage, die Arbeit zur Gewinnung des Lebensunterhalts, hat durch die stetige Vervollkommnung der Werkzeuge immer neue Formen annehmen müssen; das Wirtschaftsleben wälzte sich um, neue Anschauungen und Ideen, neues Recht, neue politische Institutionen wuchsen daraus empor. Darin liegt also der Gegensatz der bürgerlichen und der sozialistischen Auffassung: dort Unveränderlichkeit von Natur wegen und zugleich Willkür; hier ein ewiges Werden und Wandeln, nach festen Gesetzen, auf der Grundlage der Arbeit, der Wirschaftsweiße.

Das gilt auch für die Nation. Die bürgerliche Auffassung sieht in der Verschiedenheit der Nationen natürliche Unterschiede der Menschen; die Nationen sind Gruppen, die durch Gemeinsamkeit der Rasse, der Abstammung, der Sprache zusammengehören. Zugleich glaubt sie aber auch durch politische Zwangsmaßnahmen hier Nationen unterdrücken, dort ihr Bereich auf Kosten anderen Nationen vergrößern zu können. Die Sozialdemokratie sieht in den Nationen Menschengruppen, die durch gemeinsame Geschichte zu einer Einheit geworden sind. Die geschichtliche Entwicklung hat die Nationen in ihrer Abgrenzung und ihrer Eigenart hervorgebracht; sie bewirkt auch, das Bedeutung und Wesen der Nation überhaupt mit der Zeit und den ökonomischen Verhältnissen wechselt. Nur aus den wirtschaftlichen Verhältnissen ist die Geschichte und die Entwicklung der Nationen und des Nationalprinzips zu verstehen.

Am gründlichsten ist diese Untersuchung vom sozialistischen Standpunkte von Otto Bauer in seinem Werke: „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“ ausgeführt worden; seine Darlegungen bilden den notwendigen Ausgangspunkt zu jeder weiteren Behandlung und Diskussion der nationalen Fragen. In diesem Werke wird der sozialistische Standpunk in folgenden Worten niedergelegt: „So ist uns die Nation kein starres Ding mehr, sondern ein Prozess der Werdens, in ihrem Wesen bestimmt durch die Bedingungen, unter denen die Menschen um ihren Lebensunterhalt und um die Erhaltung ihrer Art kämpfen.“ (S. 120) Und etwas weiter: „Die materialistische Geschichtsauffassung kann die Nation als das nie vollendete Produkt eines stetig vorsichgehenden Prozesses begreifen, dessen letzte Triebkraft die Bedingungen des Kampfes des Menschen mit der Natur, die Wandlungen menschlicher Produktivkräfte, die Veränderungen menschlicher Arbeitsverhältnisse sind. Diese Auffassung macht die Nation zu dem historischen in uns.“ (S.122) Der Nationalcharakter ist „erstarrte Geschichte“.

Die Nation als Schicksalsgemeinschaft.

Bauer bezeichnet ganz treffend die Nation als „die Gesamtheit der durch Schicksalsgemeinschaft zu einer Charaktergemeinschaft verknüpften Menschen“. Diese Darstellung ist oft angegriffen worden, aber mit Unrecht, denn sie ist vollkommen richtig. Das Missverständnis liegt immer darin, dass Gleichartigkeit und Gemeinschaft verwechselt werden. Schicksalsgemeinschaft bedeutet nicht Unterwerfung unter gleiches Schicksal, sondern gemeinsames Erleben desselben Schicksals in stetigem Verkehr, in fortwährender Wechselwirkung miteinander. Die Bauern in China, in Indien und in Ägypten, stimmen durch die Gleichheit ihrer Wirtschaftsweise stark überein; sie haben denselben Klassencharakter, aber trotzdem fehlt jede Spur von Gemeinschaft. Dagegen mögen die Kleinbürger, die Großkaufleute, die Arbeiter, die adligen Grundbesitzer, die Bauern Englands infolge ihrer verschiedenen Klassenlage noch so viel Verschiedenheiten im Charakter aufweisen, sie bilden trotzdem eine Gemeinschaft; die gemeinsam erlebte Geschichte, die stetige Wechselwirkung, die sie, sei es auch in Form gegenseitiger Kämpfe, auf einander ausübten, alles vermittelt durch die gemeinsame Sprache, machen sie zusammen zu einer Charaktergemeinschaft, einer Nation. Der geistige Inhalt dieser Gemeinschaft, die gemeinsame Kultur, wird durch die Schriftsprache zugleich von den früheren Geschlechtern auf die Späteren vererbt.

Das soll also nicht besagen, dass innerhalb der Nation Charaktergleichheit herrscht. Im Gegenteil können sehr große Charakterunterschiede, nach Klasse oder nach Wohnort bestehen. Der deutsche Bauer und der deutsche Großkapitalist, der Bayer und der Oldenburger weisen auffallende Verschiedenheiten des Charakters auf; und doch gehören sie alle zur deutschen Nation. Auch soll es nicht besagen, dass es keine anderen Charaktergemeinschaften gibt, als eben die Nationen. Natürlich sind hier nicht zeitweilige Vereinsbildungen zu besonderen Zwecken gemeint, wie zum Beispiel Aktiengesellschaften oder Gewerkschaften. Aber jede Organisation der Menschen, die sich von Geschlecht auf Geschlecht als bleibender Verband vererbt, bildet eine aus Schicksalsgemeinschaft entstehende Charaktergemeinschaft.

Ein anderen Beispiel bieten die Religionsgemeinschaften, Sie sind auch „erstarrte Geschichte“. Sie sind nicht einfach eine Gruppe von Personen desselben Glaubensbekenntnisses, die sich für religiöse Zwecke zusammengefunden haben. Denn man wird in seine Kirche gleichsam hineingeboren und Übertritte von der einen zur anderen sind verhältnismäßig selten. Ursprünglich aber umfasste die religiöse Gemeinschaft alle, die in irgend einer Weise gesellschaftlich zusammen gehörten – als Stammesgenossen, Dorfgenossen oder Klassengenossen – ;die Gemeinschaft der Lebenslage und der Interessen schuf zugleich eine Gemeinschaft der Grundanschauungen, die eine religiöse Form hatten. Sie schuf auch das Band der gegenseitigen Pflichten, der Treue und der Schutzes zwischen Organisation und Mitgliedern. Die Religionsgemeinschaft war der Ausdruck gesellschaftlicher Zusammengehörigkeit – so was es bei den urwüchsigen Stammesgemeinschaften, so gut wie bei der mittelalterlichen Kirche. Die in der Reformationszeit entstehenden Religionsgemeinschaften, die protestantischen Kirchen und Sekten waren Organisationen des Klassenkampfes gegen die herrschende Kirche und gegeneinander, stimmten also einigermaßen mit den heutigen politischen Parteien überein. Damals drückten also die verschiedenen Religionsbekenntnisse etwas Lebendiges aus, wirkliche, tief empfundene Interessen; man konnte für ein anderes gewonnen werden, wie man jetzt von einer Partei zur anderen übertritt. Seitdem sind diese Organisationen zu Glaubensgemeinschaften versteinert, in denen nur die führende Schicht, die Geistlichkeit, über die ganze Kirche in Verkehr miteinander steht. Die Gemeinsamkeit der Interessen ist dahin; innerhalb jeder Kirche haben sich durch die gesellschaftliche Entwicklung zahlreiche neue Klassen und Klassengegensätze gebildet. Die religiöse Organisation ist immer mehr zu einer toten Hülle, das Glaubensbekenntnis zu einer abstrakten, gesellschaftlich inhaltslosen Formel geworden. Andere Organisationen sind als lebendige Interessenverbände an ihre Stelle getreten. So bildet die Religionsgemeinschaft eine Gruppe, deren Schicksalsgemeinschaft weit zurück liegt und heute immer mehr aufgelöst wird. Auch die Religion ist ein Niederschlag des historischen in uns.

Die Nation ist also nicht die einzige aus Schicksalsgemeinschaft entstandene Charaktergemeinschaft, sondern nur eine ihrer Formen, und sie lässt sich gar nicht immer unzweideutig von anderen unterscheiden. Es ist auch eine müßige Frage, welchen Organisationseinheiten der Menschen, vor allem aus alter Zeit, der Name Nation beizulegen ist. Die ursprünglichen kleinen oder großen Stammeseinheiten der Menschen waren solche Schicksals- und Charaktergemeinschaften, innerhalb deren sich Eigenschaften, Sitten, Kultur und Mundart vererbten. Ähnlich die Dorfgemeinden oder die Gaue des mittelalterlichen Bauerntums. Otto Bauer findet im Mittelalter, in der Hohenstaufenzeit, die „deutsche Nation“ vorhanden in der politischen und Kulturgemeinschaft des deutschen Adels. Anderseits hatte auch die mittelalterliche Kirche viele Züge, die sie zu einer Art Nation machten; sie war die Gemeinschaft der europäischen Völker, mit einer gemeinsamen Geschichte und gemeinsamen Anschauungen, sogar mit einer gemeinsamen Sprache, der lateinischen Kirchensprache, die die Wechselwirkung zwischen den Gebildeten, dem herrschenden Intellekt ganz Europas vermittelte und sie zu einer Kulturgemeinschaft verband. Erst in den letzten Teil des Mittelalters tauchen aus ihr die Nationen im modernen Sinne, mit einer Nationalsprache, nationaler Einheit und Kultur, allmählich empor.

Die gemeinsame Sprache ist als lebendiges Bindemittel des Menschen das wichtigste Merkmal der Nation; aber darum sind Nationen noch nicht einfach dasselbe wie die Menschengruppen gleicher Sprache. Engländer und Amerikaner sind trotz der gleichen Sprache zwei Nationen mit getrennter Geschichte, zwei verschiedene Schicksalsgemeinschaften, die einen erheblichen Unterschied im Nationalcharakter aufweisen. So ist es auch zweifelhaft, ob die deutschen Schweizer zu einer gemeinsamen deutschen Nation zu rechnen sind, die alle deutsch redenden Menschen umfasst. Mögen dank der Gleichheit der Schriftsprache noch so viel Kulturelemente herüber- und hinüberfliegen, das Schicksal hat Schweizer und Deutsche schon seit mehreren Jahrhunderten getrennt. Dass die einen freie Bürger einer demokratischen Republik sind, die anderen hintereinander unter der Tyrannei kleiner Potentätchen1, unter Fremdherrschaft und unter dem Druck des neudeutschen Polizeistaats lebten, musste ihnen notwendig, trotzdem sie dieselben Dichter lesen, einen sehr verschiedenen Charakter geben, und von einer Schicksals- und Charaktergemeinschaft kann kaum mehr die Rede sein. Noch offensichtlicher tritt das politische Moment bei den Holländern hervor; der rasche wirtschaftliche Aufschwung der Seeprovinzen, die sich an der Landseite mit einem Wall abhängiger Landprovinzen umgaben, zu einem mächtigen Handelsstaat, zu einer politischen Einheit, machte aus dem Niederdeutschen eine eigene moderne Schriftsprache, aber nur für einen kleinen, aus der Masse der niederdeutsch redenden Menschen abgesonderten Teil; alle übrigen blieben durch die politische Trennung davon ausgeschlossen und haben als Teile Deutschlands durch die gemeinsame politische Geschichte die hochdeutsche Schriftsprache und die hochdeutsche Kultur angenommen. Wenn die Deutschösterreicher, trotz der langen Selbstständigkeit der eigenen Geschichte und trotzdem sie die neusten wichtigsten Schicksale der Reichsdeutschen nicht mitmachen, doch ihr gemeinsames Deutschtum stark betonen, so liegt der Grund dazu wesentlich in der Kampfstellung gegenüber den anderen Nationen Österreichs.

Die bäuerliche und die Moderne Nation

Man bezeichnet oft die Bauern als die unerschütterlichen treuen Bewahrer der Nationalität. Aber zugleich bezeichnet Otto Bauer sie als die Hinterfaffen2 der Nation, die an der nationalen Kultur keinen Anteil haben. Dieser Widerspruch weist schon darauf hin, dass das „Nationale“ im Bauerntum etwas ganz anderes ist, als das, was die modernen Nationen bildet. Die moderne Nationalität ist zwar aus der bäuerlichen hervorgegangen, aber trotzdem sind sie in ihrem Wesen völlig verschieden.

In der früheren Naturalwirtschaft der Bauern ist die wirtschaftliche Einheit auf das kleinste Maß reduziert; über Dorf oder Tal geht das Interesse nicht hinaus. Jeder Bezirk bildet eine Gemeinschaft die mit den anderen kaum in Verkehr steht, eine Gemeinschaft mit eigener Geschichte, eigenen Sitten, eigener Mundart, eigenem Charakter. Diese alle mögen denen der benachbarten Bezirke verwandt sein, aber sie stehen mit ihnen nicht mehr in Wechselwirkung. An dieser besonderen Eigenart seiner Gemeinschaft hält der Bauer zähe fest. Weil seine Wirtschaft nichts mit der Außenwelt zu tun hat, weil sein Säen und Mähen vom Wechsel der politischen Ereignisse nur ausnahmsweise berührt sind, gehen alle Einwirkungen von außen über ihn hinweg, ohne eine Spur zu hinterlassen. Denn er verhält sich dabei völlig teilnahmslos und passiv; sie dringen nicht in sein Inneres ein. Nur das, was der Mensch aktiv ergreift, was ihn selbst zur Änderung treibt und woran er aus eigenem Interesse mit eigener Teilnahme mitarbeitet, vermag seine Natur umzuändern. Daher bewahrt der Bauer seine Eigenart gegen alle Einwirkungen der übrigen Welt, und bleibt er „geschichtslos“, solange seine Selbstwirtschaft für den eigenen Gebrauch intakt bleibt. Sobald er aber in das Getriebe des Kapitalismus hineingezogen und in neue Verhältnisse gebracht wird – sei es, dass er Bürger oder Arbeiter wird, oder dass er als Bauer von dem Weltmarkt abhängig wird und mit der übrigen Welt in Verkehr tritt – , sobald er neue Interessen bekommt, geht auch die Unzerstörbarkeit der alten Eigenart verloren. Er tritt in die moderne Nation ein; er wird Mitglied einer größeren Schicksalsgemeinschaft, einer Nation im modernen Sinne.

Es wird oft über dieses Bauerntum in dem Sinne geredet, als ob auch die früheren Geschlechter schon zu derselben Nation gehört hätten, der ihre Nachkommen unter dem Kapitalismus angehören. In dem Wort von den „geschichtslosen Nationen“ ist die Auffassung enthalten, dass von altersher schon die Tschechen, die Slowenen, die Polen, die Ruthenen, die Russen ebenso viele bestimme verschiedene Nationen bildeten, aber lange als Nationen gleichsam schließen. In Wirklichkeit konnte man zum Beispiel von den Slowenen nur als einer Anzahl Gruppen oder Gaue mit verwandten Mundarten reden, ohne dass diese Gruppen eine wirkliche Einheit oder Gemeinschaft gebildet hätten. Was Richtiges in dem Namen steckt, ist dies, dass die Mundart in der Regel darüber entscheidet, in welche Nation die Nachkommen sich eingliedern werden. Die tatsächliche Entwicklung muss jedoch darüber entscheiden, ob Slowenen und Serben, ob Russen und Ruthenen zu einer Nationsgemeinschaft mit gemeinsamer Schriftsprache und Kultur, oder zu zwei Nationen werden. Nicht die Sprache, sondern der politisch-ökonomische Entwicklungsgang entscheidet. So wenig der niedersächsische Bauer der treue Bewahrer der deutschen Nationalität ist, oder – je nach der Seite der Grenze wo er wohnt – der holländischen (er bewahrt nur seine eigene dörfliche oder provinziale Eigenart), so wenig der Ardennenbauer zähe eine belgische, eine wallonische oder eine französische Nationalität hütet, indem er an Mundart und Sitte seines Tales festhält, so wenig kann man auch von einem karinthischen Bauer aus der vorkapitalistischen Zeit sagen, dass er zu der slowenischen Nation gehört. Die slowenische Nation entsteht erst mit den modernen bürgerlichen Klassen, die sich als besondere Nation konstituieren, und der Bauer tritt in sie erst ein, wenn er durch tatsächliche Interessen mit dieser Gemeinschaft verknüpft wird.

Die modernen Nationen sind völlig das Produkt der bürgerlichen Gesellschaft; sie sind aufgekommen mit der Warenproduktion, namentlich mit dem Kapitalismus, und ihre Träger sind die bürgerlichen Klassen. Die bürgerliche Produktion mit ihrem Warenverkehr braucht große Wirtschaftseinheiten, große Gebiete, deren Bewohner sie zu einer Gemeinschaft mit einheitlicher staatlicher Verwaltung vereinigt. Der entwickelte Kapitalismus stärkt die zentrale Staatsgewalt immer mehr; er schließt den Staat fester zusammen und von den anderen Staaten ab. Der Staat ist die Kampforganisation der Bourgeoisie. Weil die Wirtschaft der Bourgeoisie auf Konkurrenz, auf Kampf gegen ihresgleichen beruht, müssen auch die Verbände, in denen sie sich organisiert, miteinander kämpfen; je mächtiger die Staatsgewalt, umso größere Vorteile verspricht sie ihrer Bourgeoisie zu bringen. Die Abgrenzung dieser Staaten wurde nun vorwiegend durch die Sprache bestimmt; die Gegenden mit verwandten Mundarten waren hier, soweit nicht andere Kräfte eingriffen, auf den politischen Zusammenschluss angewiesen, weil die politische Einheit, die neue Schicksalsgemeinschaft, eine einheitliche Sprache als Verkehrsmittel erfordert. Aus irgend einer der Mundarten wird die Schrift- und Verkehrssprache geschaffen, die also in gewissen Sinne ein künstliches Gebilde ist. Denn, wie Otto Bauer richtig sagt: „mit den Menschen, mit denen ich im engsten Verkehr stehe, mit denen schaffe ich mir eine gemeinsame Sprache.“ (S. 113) So sind die Nationalstaaten entstanden, die Staat und Nation zugleich sind.3 Sie sind nicht einfach politische Einheiten geworden, wie sie schon eine Nationsgemeinschaft bildeten; die Grundlage des festen Zusammenschlusses der Menschen zu solchen großen Gebilden ist das neue wirtschaftliche Interesse, die ökonomische Notwendigkeit; dass aber gerade diese Staaten und keine anderen entstanden, dass nicht zum Beispiel Süddeutschland und Nordfrankreich zusammen eine politische Einheit gebildet haben, sondern Süd- und Norddeutschland, liegt hauptsächlich an der ursprünglichen Verwandtschaft der Mundarten.

Innerhalb eines Nationalstaates besteht infolge der kapitalistischen Entwicklung und der Ausdehnung eine bunte Mannigfaltigkeit von Klassen und Volksarten; daher wird bisweilen bezweifelt, ob man ihn wirklich eine Schicksals- und Charaktergemeinschaft nennen kann, da sie nicht alle direkt aufeinander einwirken. Aber die Schicksalsgemeinschaft der deutschen Bauern und Großkapitalisten, der Bauern und der Oldenburger besteht darin, dass sie alle Mitglieder des Deutschen Reiches sind, dass sie innerhalb dieses Rahmens ihre wirtschaftlichen und politischen Kämpfe führen, dieselbe Politik erleiden, zu denselben Gesetzen Stellung nehmen müssen und dadurch aufeinander einwirken; so bilden sie eine tatsächliche Gemeinschaft, trotz aller Verschiedenheit innerhalb dieser Gemeinschaft.

Anders, wo die Staaten unter dem Absolutismus als dynastische Einheiten entstanden, ohne direkte Mitwirkung der bürgerlichen Klassen, und daher durch Eroberung Stämme der verschiedenen Mundarten umfassten. Dringt dort der Kapitalismus immer weiter ein, so entstehen mehrere Nationen innerhalb des einen Staates, und er wird zum Nationalitätenstaat, wie Österreich. Die Ursache der Entstehung neuer Nationen neben dem alten liegt wieder darin, dass die Konkurrenz die Grundlage der Existenz der bürgerlichen Klassen ist. Wenn aus einer zuvor rein bäuerlichen Volksgruppe moderne Klassen entstehen, wenn größere Massen als Industriearbeiter in die Stadt ziehen, bald von Kleinhändlern, Intelligenz und Unternehmern gefolgt, so müssen diese letzteren von selbst versuchen, sich durch die Betonung ihrer Nationalität die Kundschaft der gleichsprachigen Massen sichern. Die Nation als solidarische Gemeinschaft bildet für ihre Angehörigen einen Kundenkreis, einen Absatzmarkt, ein Ausbeutungsgebiet, wo sie vor den Konkurrenten anderer Nationen einen Vorsprung haben. Als Gemeinschaft moderner Klassen müssen sie eine gemeinsame Schriftsprache ausbilden, die als Verkehrsmittel nötig ist und zur Kultur- und Literatursprache wird.

Die fortwährende Berührung der Klassen einer bürgerlichen Gesellschaft mit der Staatsgewalt, die bisher nur das Deutsche als offizielle Verkehrssprache kannte, zwingt zum Kampfe um die Anerkennung der Sprache, um Schule und Amt, wobei die nationale Intelligenz die direkt materiell interessierte Klasse ist. Weil der Staat das Interesse der Bourgeoisie zu vertreten hat und sie materiell unterstützen kann, muss jede nationale Bourgeoisie sich einen möglichst großen Einfluss auf den Staat sichern. Um diesen Einfluss muss sie mit den Bourgeoisien der anderen Nationen kämpfen; je mehr es ihr gelingt, die ganze Nation in diesem Kampf geschlossen um sich zu scharen, um so mehr Macht kann sie ausüben. Solange die führende Rolle der Bourgeoisie im Wesen der Wirtschaft begründet liegt und als selbstverständlich anerkannt wird, wird sie auch auf die anderen Klassen, die sich in diesem Punkte mit ihr durch Gleichheit der Interessen verbunden fühlen, rechnen können.

Auch hier ist die Nation völlig ein Produkt der kapitalistischen Entwicklung, und zwar ein notwendiges Produkt; wo der Kapitalismus einzieht, muss sie als Schicksalsgemeinschaft der bürgerlichen Klassen entstehen. Der Kampf der Nationalitäten in einem solchen Staate ist nicht eine Folge irgendwelcher Unterdrückung oder rückständiger Gesetzgebung, sondern eine natürliche Äußerung der Konkurrenz als Grundbedingung der bürgerlichen Wirtschaft; der gegenseitige Kampf ist Sinn und Ziel der schroffen Absonderung der verschiedenen Nationen gegeneinander.

Menschengeist und Tradition

Das Nationale im Menschen ist ein Stück seiner Natur, aber vor allem ein Stück geistiger Natur. Die durch Abstammung vererbten körperlichen Eigenschaften mögen die Völker unterscheiden, aber sie trennen sie nicht, sie bringen sie noch weniger zueinander in Gegensatz. Die Völker sind getrennt als verschiedene Kulturgemeinschaften. Die Nation ist vor allem eine Kulturgemeinschaft, die durch die gemeinsame Sprache vermittelt wird; in der Kultur einer Nation, die man ihre geistiger Natur nennen kann, ist ihre ganze Lebensgeschichte niedergeschlagen. Der Nationalcharakter beseht nicht in der körperlichen Merkmalen, sondern in der Gesamtheit ihrer geschichtlichen gewordenen Sitten, Anschauungen und Denkformen. Will man das Wesen der Nation erfassen, so ist es also zuerst nötig, klar zu sehen, wie das Geistige sich im Menschen aus der Einwirkung der Lebensverhältnisse herausbildet.

Alles was den Menschen in Bewegung setzt, muss durch seinen Kopf hindurch. Die unmittelbare bewegende Kraft seines Handelns liegt in seinem Geiste. Sie kann in Gewohnheiten, in unbewussten Trieben und Instinkten bestehen, die ein Niederschlag der immer gleichartigen Wiederholungen der gleichen Lebensnotwendigkeiten unter denselben äußeren Lebensverhältnissen sind. Sie kann den Menschen auch bewusst werden als Gedanke, Idee, Beweggrund, Prinzip. Woher kommen diese?

Die bürgerliche Auffassung sieht darin Einwirkungen einer höheren, übernatürlichen Welt, die sie uns einprägt, Äußerungen eines ewigen sittlichen Prinzips in uns, oder sie lässt sie ursachlos aus sich selbst durch den Geist erzeugen. Dagegen erklärt die marxistische Lehre, der historische Materialismus, dass alles Geistige in dem Menschen ein Produkt der ihn umgebenden materiellen Welt ist. Diese ganze wirkliche Welt dringt von allen Seiten mittels der Sinnesorgane auf den Geist ein und prägt sich in ihn ein: unsere Lebensbedürfnisse, unsere Erfahrung, alles was wir sehen und hören, was andere uns als ihre Gedanken mitteilen, so gut wie das, was wir selbst beobachten4. Also wird jede Einwirkung einer unwirklichen, bloß vorgestellten, übernatürlichen Welt ausgeschaltet. Alles, was im Geiste ist, ist aus der Außenwelt gekommen, die wir hier als die materielle Welt bezeichnen – wobei materiell also nicht bedeutet: aus wägbarer physischer Materie gebildet, sondern alles, was wirklich ist, auch die Gedanken selbst. Aber der Geist wirkt hier nicht, wie eine beschränkte mechanische Auffassung es bisweilen darstellt, als ein passiver Spiegel, der die Außenwelt spiegelt, oder ein totes Fass, das alles aufnimmt und bewahrt, was hineingeworfen wird. Der Geist ist aktiv, tätig, ändert alles, was von außen auf ihn eindringt, zu etwas Neuem um. Um wie er es umändert, hat Dietzgen am meisten klargemacht. Die Außenwelt fließt wie ein endloser, ewig wechselnder Strom am Geist vorbei; der Geist hält ihre Einwirkungen fest, sammelt sie, fügt sie seinem bisherigen Besitze hinzu und verbindet sie miteinander. Er bildet aus dem Strom unendlich mannigfaltiger Erscheinungen beharrende feste Begriffe, in denen die fließende Wirklichkeit wie fest geronnen und erstarrt, und ihre Vergänglichkeit aufgehoben ist. In dem Begriff „Fisch“ liegt eine Vielfalt von Beobachtungen über schwimmende Tiere, in dem Begriff „gut“ eine Unzahl von Stellungnahmen zu verschiedenen Handlungen, in dem Begriff „Kapitalismus“ ein ganzes Leben von oft qualvollsten Erfahrungen. Jeder Gedanke, jede Überzeugung, jede Idee, jeder Schluss – wie z.B.: die Bäume sind im Winter kahl; die Arbeit ist schwer und unangenehm; mein Arbeitgeber ist mein Wohltäter; der Kapitalist ist mein Feind; die Organisation gibt Macht; für seine Nation kämpfen ist gut; – ist die Zusammenfassung eines Stückes der lebendigen Welt, einer vielgestaltigen Erfahrung in eine kurze, Schroffe, man möchte sagen starre und leblose Formel. Je größer und vollkommener die Erfahrung, die als Material in sie aufgenommen ist, umso begründeter und fester, umso wahrer der Gedanke, die Überzeugung. Aber jeder Erfahrung ist beschränkt, die Welt wird immer anders, immer neue Erfahrungen häufen sich zu den alten, gliedern sich den alten Ideen ein, oder treten zu ihnen in Widerspruch. Dann muss der Mensch seine Ideen umbilden, einige als unrichtig aufgeben – wie die des Kapitalisten als Wohltäters , bestimmten Begriffen einen neuen Sinn beilegen – wie dem Begriff Fisch, indem man die Wale davon trennt -, für neue Erscheinungen neue Begriffe aufstellen, – wie den des Imperialismus -, neue ursächliche Zusammenhänge zwischen ihnen finden – die Unerträglichkeit der Arbeit stammt aus dem Kapitalismus -, sie anders bewerten als bisher – der nationale Kampf schädigt die Arbeiter -. kurz, er muss immerfort umlernen. Darin besteht alle geistige Tätigkeit und Entwicklung der Menschen, dass sie die Begriffe, Ideen, Urteile und Prinzipien immerfort umgestalten, um sie der immer reicheren Erfahrung der Wirklichkeit möglichst angepasst zu halten. Bewusst geschieht das in der Entwicklung der Wissenschaft.

Damit tritt auch die Bedeutung der Bezeichnung Bauers, dass die Nation das Historische in uns ist und der Nationalcharakter erstarrte Geschichte, besser hervor. Die gemeinsame materielle Wirklichkeit erzeugt in den Köpfen der Mitglieder einer Gemeinschaft gemeinsames Denken. Die besondere Natur der Wirtschaftseinheit, die sie zusammen bilden, bestimmt ihre Gedanken, Sitten und Anschauungen; sie erzeugt in ihnen ein zusammenhängendes System von Ideen, eine Ideologie, die ihnen gemeinsam ist und zu ihrer materiellen Lebenslage gehört. Die gemeinsamen Erlebnisse haben sich ihrem Geist eingeprägt, gemeinsame Kämpfe für die Freiheit gegen äußere Feinde, gemeinsame Klassenkämpfe im Innern. Sie stehen in den Geschichtsbüchern beschrieben und werden als nationale Erinnerungen der Jugend mitgeteilt. Was das emporkommende Bürgertum gemeinsam ersehnte, erhoffte und wollte, wurde von Dichtern und Denkern verherrlicht und zum klaren Ausdruck gebracht, und als Literatur blieben diese Gedanken der Nation, geistiger Niederschlaf aufbewahrt. Die stetige gegenseitige geistige Einwirkung festigt und verstärkt das alles; indem sie aus dem Denken der einzelnen Nationsgenossen das Gemeinsame, für die Gesamtheit Wesentliche, Charakteristische, d.h. das Nationale absondert, bildet sie den Kulturbesitz der Nation. Was im Geiste einer Nation lebt, ihre nationale Kultur, ist die abstrakte Zusammenfassung ihrer gemeinsamen Lebenserfahrung, ihres materiellen Seins als Wirtschaftseinheit.

Alles Geistige im Menschen ist also ein Produkt der Wirklichkeit; aber nicht bloß der heutigen Wirklichkeit; die ganze Vergangenheit lebt darin mehr oder weniger stark nach. Der Geist ist träge dem Stoff gegenüber; er nimmt immerfort von außen die Einwirkungen auf, während sein alter Bestand langsam in den Lethestrom der Vergessenheit sinkt. Erst allmählich passt sich also der Inhalt des Geistes der immer neuen Wirklichkeit an. Beides, Gegenwart und Vergangenheit, bestimmen seinen Inhalt, aber in verschiedener Weise. Was fortwährend in derselben Weise auf den Geist einwirkt als lebendige Wirklichkeit, prägt sich darin immer fester und stärker aus. Was aber in der heutigen Wirklichkeit seine Nahrung mehr findet, zehrt nur von der Vergangenheit; es kann vor allem durch die gegenseitige Einwirkung der Menschen, durch künstliche Belehrung und Propaganda noch lange erhalten bleiben, aber da es den materiellen Boden verloren hat, aus dem es aufwuchs, muss es immer mehr verkümmern. Es hat dann einen traditionellen Charakter bekommen. Eine Tradition ist auch ein Stück Wirklichkeit, die in den Köpfen der Menschen lebt, auf andere wirkt und daher oft eine große und gewaltige Macht besitzt. Aber sie ist eine Wirklichkeit geistiger Natur, deren materielle Wurzeln in der Vergangenheit liegen. So ist die Religion in einem modernen Proletarier eine Ideologie rein traditioneller Natur geworden; sie mag noch sehr mächtig sein handeln bestimmen, aber diese Macht wurzelt nur in der Vergangenheit, in der früheren Bedeutung der Religionsgemeinschaft für sein Leben; aus seiner heutigen Wirklichkeit, aus seiner Ausbeutung durch das Kapital, aus seinem Kampf gegen das Kapital, zieht sie keine Nahrung mehr. Daher wird sie in ihm immer mehr absterben. Dagegen wird das Klassenbewusstsein immer stärker durch die heutige Wirklichkeit herangezüchtet und nimmt daher in seinem Geiste einen immer breiteren Raum ein, bestimmt sein Handeln immer mehr.

Unsere Aufgabe.

Damit ist auch die Aufgabe für unsere Untersuchung gestellt. Die Geschichte hat die Nationen in ihrer Abgrenzung und ihrer Eigenart erzeugt. Aber damit sind sie noch nicht etwas Fertiges, womit man einfach wie mit einer endgültigen Tatsache zu rechnen hat. Denn die Geschichte läuft weiter. Jeder Tag baut weiter und baut um, was frühere Tage aufbauten. Es genügt also nicht, wenn wir feststellen, dass die Nation das Historische in uns ist, fest geronnene Geschichte. Ist sie nicht mehr als erstarrte Geschichte, so ist sie rein traditioneller Natur, ähnlich wie auch die Religion. Für unserer Praxis, für unsere Taktik ist aber die Frage, ob sie noch mehr ist, von allergrößter Wichtigkeit. Natürlich muss mit ihr, wie mit jeder großen geistigen Macht im Menschen auf jeden Fall gerechnet werden; aber es macht doch einen großen Unterschied, ob die nationale Ideologie bloß als eine Macht der Vergangenheit auftritt, oder mit ihren Wurzeln in der heutigen Welt haftet. Die wichtigste und bestimmende Frage ist für uns diese: Wir wirkt die gegenwärtige Wirklichkeit auf die Nation und das Nationale ein? In welchem Sinne ändern sie sich jetzt um? Und die Wirklichkeit, um die es sich hier handelt, ist der hochentwickelte Kapitalismus mit seinem proletarischen Klassenkampf.

Hier ergibt sich also folgende Stellung zu Bauers Untersuchung: Früher spielte die Nation in der Theorie und der Praxis der Sozialdemokratie keine Rolle. Dazu fehlte auch jeder Anlass; in den meisten Ländern braucht man für den Klassenkampf auf das Nationale gar nicht zu achten. Bauer hat, durch die österreichische Praxis genötigt, diesen Mangel verbessert. Er hat nachgewiesen, dass die Nation nicht die Einbildung einiger Literaten oder ein künstliches Produkt nationaler Propaganda ist; er hat mit dem Werkzeug des Marxismus ihre materiellen Wurzeln in der Geschichte nachgewiesen und aus dem emporkommenden Kapitalismus die Notwendigkeit und die Macht der nationalen Ideen erklärt. So steht die Nation als eine machtvolle Wirklichkeit vor uns, die wir auch in unserem Kampf zu berücksichtigen haben; sie bietet erst den Schlüssel zum Verständnis der modernen Geschichte Österreichs, und daher muss auch die Frage beantwortet werden: Wie wirkt die Nation, das Nationale auf den Klassenkampf ein? Wie muss man ihr im Klassenkampf Rechnung tragen? Dies ist die Grundlage und der Leitfaden der Arbeit Bauers und der anderen österreichischen Marxisten. Aber damit ist die Aufgabe nur zur Hälfte erledigt. Denn die Nation ist nicht einfach eine fertige Erscheinung, deren Wirkung auf den Klassenkampf zu untersuchen ist: Sie ist selbst dem Einfluss der heutigen Kräfte unterworfen, und unter ihnen nimmt der revolutionäre Befreiungskampf des Proletariats immer mehr die erste Stelle ein. Wie wirkt nun der Klassenkampf, der Aufstieg des Proletariats, umgekehrt auf die Nation ein? Diese Frage hat Bauer nicht oder nur ungenügend untersucht; ihre Erörterung führt in vielen Fällen zu Urteilen und Schlussfolgerungen, die von den seinigen abweichen.

II. Die Nation und das Proletariat.

Der Klassengegensatz

Die heutige Wirklichkeit, die Geist und Wesen der Menschen am gewaltigsten bestimmt, ist der Kapitalismus. Er wirkt aber nicht einheitlich auf die zusammenlebende Menschen; für den Kapitalisten ist er etwas ganz anderes, als für den Proletarier. Für den Angehörigen der Bourgeoisklasse ist der Kapitalismus die Welt der Reichtumserzeugung und der Konkurrenz; ein steigender Wohlstand, wachsende Kapitalmassen, von denen er sich in individualistischem Wettkampf mit Seinesgleichen möglichst viel zu gewinnen sucht, und die ihm den Weg zu Luxus und verfeinertem Kulturgenuss öffnen, fließen ihm aus dem Produktionsprozess zu. Für die Arbeiter ist er die Welt der harten, endlosen Sklavenarbeit, der ständigen Lebensunsicherheit, der ewigen Armut, ohne Hoffnung, etwas mehr als einen dürftigen Lebensunterhalt zu gewinnen. Daher muss der Kapitalismus auf den Geist der Bourgeoisie ganz anders einwirken als auf den der ausgebeuteten Klasse. Die Nation ist eine wirtschaftliche Einheit, eine Arbeitsgemeinschaft, auch von Arbeitern und Kapitalisten. Denn Kapital und Arbeit sind beide nötig und müssen zusammenkommen, damit die kapitalistische Produktion stattfinden kann. Aber es ist eine Arbeitsgemeinschaft eigenartiger Natur; Kapital und Arbeit treten in dieser Gemeinschaft als gegensätzliche Pole; auf sie bilden eine Arbeitsgemeinschaft in ähnlichen Sinne, wie Raubtiere und ihre Beutetiere eine Lebensgemeinschaft bilden.

Die Nation ist eine aus Schicksalsgemeinschaft entstandene Charaktergemeinschaft. Aber zwischen Bourgeoisie und Proletariat desselben Volkes herrscht mit der Entwicklung des Kapitalismus in steigendem Maße Schicksalsverschiedenheit. Von dem gemeinsamen Erleben desselben Schicksals kann hier kaum geredet werden. Bauer spricht (S.113) zur Erläuterung der Schicksalsgemeinschaft über „die Beziehungen, die den englischen Arbeiter mit dem englischen Bourgeois dadurch verknüpfen, dass sie beide in derselben Stadt leben, dieselben Plakate an den Mauern, dieselben Zeitungen lesen, an denselben politischen oder Sport-Ereignissen Anteil nehmen, dass sie selbst gelegentlich miteinander oder doch beide mit denselben Personen – den verschiedenen Mittelspersonen zwischen Kapitalisten und Arbeitern – sprechen“. Aber das „Schicksal“ der Menschen besteht nicht in dem Lesen derselben Plakate an den Mauern, sondern in den großen wichtigen Lebenserfahrungen, die für die beiden Klassen völlig verschieden sind. Jedermann kennt den Ausspruch des englischen Ministers Disraeli von den zwei Nationen, die in unserer modernen Gesellschaft in demselben Lande nebeneinander wohnen, ohne einander zu verstehen. Was bedeutet er anders, als dass keine Schicksalsgemeinschaft die beiden Klassen mehr verbindet?

Natürlich ist dieser Ausspruch nicht im modernen Sinne wörtlich zu nehmen. Denn die frühere Schicksalsgemeinschaft wirkt noch in der heutigen Charaktergemeinschaft nach. Solange dem Proletarier seine besondere Lebenserfahrung nicht klar bewusst geworden ist, solange sein Klassenbewusstsein nicht oder kaum erwacht ist, bleibt er im überlieferten Denken befangen, lebt er geistig von den Abfällen der Bourgeoisie und bildet noch eine Art Kulturgemeinschaft mit ihr, allerdings in ähnlicher Weise, wie die Dienstboten in der Küche eine Tischgemeinschaft mir ihrer Herrschaft bilden. Diese geistige Gemeinschaft ist durch die besondere Geschichte in England noch sehr stark, während sie in Deutschland äußerst schwach ist. Überall wo der Kapitalismus in jungen Nationen emporkommt, wird der Geist der Arbeiterklasse durch die Traditionen der früheren kleinbürgerlichen und bäuerlichen Zeit beherrscht. Erst allmählich geht dann, mit dem Erwachen des Klassenbewusstseins und des Klassenkampfes, unter dem neuen gegensätzlichen Lebensinhalt die Charaktergemeinschaft der beiden Klassen immer mehr verloren.

Gewiss besteht noch ein Verkehr zwischen ihnen. Aber er beschränkt sich immer mehr auf das Kommando der Fabriksordnung und des Arbeitsauftrages, wozu – wie die Anwendung fremdsprachiger Arbeiter beweist – eine Gemeinsamkeit der Sprache nicht mehr nötig ist. Je mehr die Arbeiter sich ihrer Lage, ihrer Ausbeutung bewusst werden und wiederholt mit den Unternehmern um Verbesserung der Arbeitsbedingungen kämpfen, umso mehr wird der Verkehr der beiden Klassen von Feindschaft und Kampf erfüllt. Eine Gemeinschaft besteht da ebenso wenig zwischen ihnen, wie zwei Völker in stetigem Grenzkampf zu einer Gemeinschaft zusammenwachsen. Und je mehr die Arbeiter die gesellschaftliche Entwicklung erkennen und der Sozialismus als notwendiges Ziel ihres Kampfes vor ihren Augen aufleuchtet, umso mehr empfinden sie die Herrschaft Kapitalistenklasse als eine Fremdherrschaft – in diesem Worte, hört man, wie die Charaktergemeinschaft völlig erlischt.

Bauer bezeichnet den Nationalcharakter als „die Verschiedenheit der Willensrichtungen, die Tatsache, dass derselbe Reiz verschiedene Bewegungen auslöst, dieselbe äußere Lage verschiedene Entschließung hervorruft“. (S.111) Kann man sich etwas Gegensätzlicheres denken, als die Willensrichtungen von Bourgeoisie und Proletariat? Die Namen Bismarck, Lassalle, 1848, lösen bei den deutschen Arbeitern und der deutschen Bourgeoisie nicht nur verschiedene, sondern sogar entgegengesetzte Empfindungen aus. Die reichsdeutschen Arbeiter, die zu deutschen Nation gehören, bewerten fast alles am Deutschen Reich anders und entgegengesetzt, als die Bourgeoisie. Alle anderen Klassen schwärmen gemeinsam für die äußere Größe und Macht ihres Nationalstaates – das Proletariat bekämpft alle dazu dienenden Maßnahmen. Die bürgerlichen Klassen reden über den Krieg gegen andere Staaten, um die eigene Macht zu vergrößern – das Proletariat denkt daran, wie es den Krieg verhindern oder aus der Niederlage der eigenen Regierung Gelegenheit zur eigenen Befreiung finden kann.

Es ergibt sich also, dass von einer Nation als Einheit nur vor der stärkeren Entfaltung des Klassenkampfes geredet werden kann, da die Arbeiterklasse noch unter dem Banne der Bourgeoisie steht. Der Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat bewirkt, dass ihre nationale Schicksals- und Charaktergemeinschaft immer mehr verschwindet. Die Kräfte, die die Nation bilden, müssen daher für beide Klassen getrennt untersucht werden.

Der Wille zur Nation.

Es ist vollkommen richtig, wenn Bauer die Verschiedenheit der Willensrichtung als das wesentliche Element des verschiedenen Nationalcharakters anführt. Wo alle Willen gleichgerichtet sind, bleibt man als eine Masse zusammen; wo die Ereignisse und Wirkungen der Außenwelt verschiedene und entgegengesetzte Entschließungen hervorrufen, wo der Willen verschieden gerichtet ist, führt das zur Trennung und Absonderung. Die Willensverschiedenheit hat die Nationen voneinander abgesondert; aber von wessen Willen ist hier die Rede? Von dem Willen der aufsteigenden Bourgeoisie. Ihr Wille zur Nation ist – wie sich aus der früheren Darlegung der Entstehung der modernen Nationen ergibt – die wichtigste Kraft, die die Nation konstituiert hat.

Was bildet eigentlich die tschechische Nation als eine besondere Gemeinschaft im Gegensatz zu der deutschen? Der Vorrat an gemeinsamen Erlebnissen, der Inhalt der Schicksalsgemeinschaft, die praktisch im Nationalcharakter nachwirkt, ist äußerst dürftig. Der Inhalt ihrer Kultur ist fast völlig den älteren modernen Nationen, also vor allem den Deutschen entnommen; daher sagt Bauer auch (S.118): „Es ist gewiss nicht ganz unrichtig, wenn man sagt, die Tschechen seien tschechisch sprechende Deutsche“. Einige bäuerliche Traditionen kommen hinzu, ergänzt durch aus der Geschichte ausgegrabene Reminiszenzen an Hus, Zizfa und die Schlacht am Weißen Berge, die sonst ohne praktischen Einfluss auf die Gegenwart sind. Wie konnte daraus nun auf der Grundlage der besonderen Sprache eine eigene „nationale Kultur“ werden? Weil die Bourgeoisie eine Trennung braucht, weil sie eine scharfe Grenze will, weil sie sich gegenüber den Deutschen als Nation konstituieren will. Sie will es, weil sie muss, weil die kapitalistische Konkurrenz sie dazu zwingt, sich eine Absatz- und Ausbeutungsgebiet möglichst zu monopolisieren. Der Interessengegensatz zu den anderen Kapitalisten schafft die Nation, wo ein notwendiges Element dazu, die besonderen Sprache, vorhanden ist. Das wird vor allem aus der vorzüglichen Darstellung der Entstehung der modernen Nationen von Bauer und Renner klar, dass es der Wille der aufsteigenden bürgerlichen Klassen war, der die Nationen schuf. Natürlich nicht im Sinne von bewussten Willen oder von Willkür, sondern von einem Wollen, das zugleich ein Müssen ist, eine notwendige Wirkung wirtschaftlicher Faktoren. Die „Nationen“ über die im politischen Kampf geredet wird, die miteinander um Einfluss auf den Staat, um Macht im Staate kämpfen (Bauer §19) sind nichts als Organisationen der bürgerlichen Klassen, des Kleinbürgertums, der Bourgeoisie, der Intelligenz – der Klassen, deren Existenz auf Konkurrenz beruht – wobei Proletarier und Bauern die Rolle von Hintersassen spielen.

Mit diesem Konkurrenzbedürfnis der bürgerlichen Klassen, mit ihrem Willen zur Nation, hat das Proletariat nichts gemein. Ein Privilegium an Kunden, Stellen oder Arbeitsgelegenheit kann ihm die Nation nicht bedeuten. Die Kapitalisten haben ihm das durch Einfuhr fremdsprachiger Arbeiter schon von Anfang an klargemacht. Der Hinweis auf diese kapitalistische Praxis ist nicht in erster Linie eine Entlarvung nationaler Heuchelei, sondern soll vor allem den Arbeitern zu Gemüte führen, dass unter der Herrschaft des Kapitalismus die Nation für sie nie ein Arbeitsmonopol bedeuten kann. Und nur ausnahmsweise hört man bei rückständigen Arbeitern – wie bei den alten amerikanischen Gewerkschaftlern – von einem Streben, die Einwanderung beschränken zu wollen. Zeitweilig kann allerdings das Nationale auch für das Proletariat eine eigene Bedeutung haben. Wenn der Kapitalismus zuerst in eine bäuerliche Gegend eindringt, gehören die Fabrikanten der kapitalistische fortgeschritteneren, die aus dem Bauerntum stammenden Arbeiter einer anderen Nation an. Dann kann das Nationalempfinden für die Arbeiter ein erstes Mittel sein, sich ihrer Interessengemeinschaft gegen den fremdsprachigen Kapitalisten bewusst zu werden Der nationale Gegensatz ist da die primitive Form des Klassengegensatzes, ähnlich wie in Rheinland-Westfalen zur Zeit des Kulturkampfes der religiöse Gegensatz zwischen katholischen Arbeitern und liberalen Fabrikanten die primitive Form des Klassengegensatzes war. Sobald aber eine Nation sich so weit entwickelt hat, dass in ihr eine nationale Bourgeoisie entstanden ist, die die Ausbeutung betreibt, verliert dieser proletarische Nationalismus seine Wurzeln. In dem Kampf um bessere Lebensverhältnisse, um geistige Entwicklung, um Kultur, um ein menschenwürdiges Dasein, sind die anderen Klassen seiner Nation die erbitterten Feinde der Arbeiter, seine anderssprachigen Klassengenossen seine Freunde und Helfer. Der Klassenkampf schafft eine internationale Interessengemeinschaft im Proletariat. Von einem in den wirtschaftlichen Interessen, in der materiellen Lebenslage begründeten Willen, sich als Nation gegenüber anderen Nationen zu konstituieren, kann also beim Proletariat keine Rede sein.

Die Kulturgemeinschaft.

Im Klassenkampf findet Bauer jedoch eine andere nationbildende Kraft für das Proletariat. Nicht in dem wirtschaftlichen Inhalt des Klassenkampfes, sondern in seinen kulturellen Wirkungen. Die Politik der modernen Arbeiterklasse bezeichnet er (S.160 bis 161) als die evolutionistisch-nationale Politik, die das gesamte Volk erst zur Nation machen will. Das soll mehr sein, als eine primitiv-populäre Weise, unsere Ziele in der Sprache des Nationalismus auszudrücken, und sie Arbeitern mundgerecht zu machen, die, in der nationalen Ideologie befangen, den Sozialismus noch nicht in seiner großen weltumwälzenden Bedeutung erfassen. Denn Bauer fügt hinzu: „Da das Proletariat notwendig um den Besitz der Kulturgüter kämpft, die seine Arbeit schafft und möglich macht, so ist die Wirkung dieser Politik notwendig die, das gesamte Volk zur Teilnahme an der nationalen Kulturgemeinschaft zu berufen und dadurch die Gesamtheit des Volkes erst zur Nation zu machen.“

Auf den ersten Blick erscheint das ganz richtig. Solange die Arbeiter tief heruntergedrückt durch die kapitalistische Ausbeutung, im physischen Elend verkommen und ohne Hoffnung, ohne geistige Betätigung dahin vegetieren, haben sie an der Kultur der bürgerlichen Klassen – deren Grundlage durch ihre Arbeit geschaffen wird – keinen Anteil. Sie gehören so wenig zur Nation, wie das Vieh im Stalle, sie bilden nur ein Besitztum, sind nur Hintersassen der Nation. Der Klassenkampf weckt sie zum Leben; sie erkämpfen sich freie Zeit und höheren Lohn und damit die Möglichkeit, sich geistig zu entwickeln. Ihre Energie wird geweckt, ihr Geist angestachelt durch den Sozialismus; sie fangen an zu lesen, zuerst sozialistische Broschüren und politische Zeitungen, aber bald drängt sie die Sehnsucht und das Bedürfnis, ihren Geist weiter auszubilden, zu Werken der Literatur, der Geschichte, der Naturwissenschaft zu greifen – die Bildungsausschüsse der Partei beeifern sich sogar besonders, ihnen die klassische Literatur mundgerecht zu machen. So treten sie in die Kulturgemeinschaft der bürgerlichen Klassen ihrer Nation ein. Und wenn der Arbeiter nicht mehr, wie heute, in spärlichen freien Stunden nach abrackernder Arbeit nur mühsam ein paar kleine Brocken davon gewinnen kann, sondern unter dem Sozialismus, befreit von der endlosen Arbeitsqual, sich frei und ungehemmt dieser geistigen Entwicklung hingeben kann, dann wird er erst die ganze Nationalkultur in sich aufnehmen und im echtesten Sinne Mitglied der Nation werden.

Aber bei dieser Betrachtung wird ein Wichtiges übersehen: Eine Kulturgemeinschaft zwischen Arbeitern und Bourgeoisie kann nur oberflächlich, in der äußeren Form und zeitweilig bestehen. Die Arbeiter mögen teilweise dieselben Bücher lesen wie die Bourgeoisie, dieselben Klassiker und dieselben naturgeschichtlichen Bücher; trotzdem entsteht daraus keine Kulturgemeinschaft; die Arbeiter lesen etwas ganz anderes in diesen Werken, als die Bourgeoisie, weil das Fundament ihres Denkens, ihre Weltanschauung grundverschieden ist. Die nationale Kultur hängt, wie oben schon dargelegt wurde, nicht in der Luft; sie ist der Ausdruck der materiellen Lebensgeschichte der Klassen, deren Aufstieg die Nation schuf. In Schiller und Goethe kommen nicht abstrakte Schönheitsphantasien zum Ausdruck, sondern die Empfindungen und Ideale des jungen Bürgertums, sein Sehnen nach Freiheit und Menschenrecht, seine besondere Art und Weise, die Welt und ihre Probleme anzusehen. Der klassenbewusste Arbeiter von heute hat andere Empfindungen, andere Ideale und eine andere Weltanschauung; liest er vom Individualismus Tells oder von den ewigen unveräußerlichen Menschenrechten, die im Himmel hängen, so ist der Geist, der sich darin ausspricht, nicht sein Geist, der durch eine tiefere gesellschaftliche Einsicht gereift ist und weiß, dass nur eine Organisation der Massen sich Menschenrechte erkämpfen kann. Er steht der Schönheit der alten Literatur nicht gefühllos gegenüber; gerade durch seine historische Einsicht kann er die Ideale früherer Geschlechter aus ihrer Wirtschaft verstehen, ihre Kraft mitempfinden und daher die Schönheit der Werke verstehen, worin sie zum vollkommensten Ausdruck gelangten. Denn schön ist, was das Allgemeine, das Wesentliche, den tiefsten Kern einer Wirklichkeit vollkommen erfasst und darstellt. Es kommt hinzu, dass Vieles in den Empfindungen des revolutionären Bürgertums ein starkes Echo in ihm auslöst; aber was bei ihm ein Echo findet, findet es gerade nicht bei der modernen Bourgeoisie. Noch mehr gilt das für die radikale und proletarische Literatur; was in Heine und Freiligrath den Proletarier begeistert, davon will die Bourgeoisie nichts wissen. Die beiden Klassen lesen etwas völlig Verschiedenes in der ihnen gemeinsam zur Verfügung stehenden Literatur; ihre gesellschaftlichen und politischen Ideale sind völlig entgegengesetzt, ihre Weltanschauung hat nichts gemein. Für die Geschichte gilt das in noch viel höherem Masse: was darin der Bourgeoisie die Schönsten, erhabensten Erinnerungen der Nation sind, stößt bei dem klassenbewussten Proletariat auf Hass, Abneigung oder Gleichgültig; hier fehlt jede Spur einer Gemeinsamkeit in dem Kulturbesitz. Naturwissenschaft allerdings findet bei beiden Klassen Bewunderung und Verheerung; ihr Inhalt ist für beide gleich. Aber mit wie anderen Gefühlen als die bürgerlichen Klassen betrachtet sie doch auf der Arbeiter, der sie als die Grundlage seiner völligen Herrschaft über die Natur und über sein Schicksal in der kommenden sozialistischen Gesellschaft erkannt hat! Diese Naturanschauung, diese Geschichtsbetrachtung, diese Literaturempfindung sind für den Arbeiter nicht Bestandteile einer nationalen Kultur, an der er teil hat, sondern sie sind für ihn Bestandteile seiner sozialistischen Kultur.

Der wesentliche Geistesinhalt, die bestimmenden Gedanken, die wirkliche Kultur der deutschen Sozialdemokraten, sie wurzeln nicht in Schiller und Goethe, sondern in Marx und Engels. Und diese Kultur, aus klarer sozialistischer Einsicht in Geschichte und Zukunft der Gesellschaft, aus dem sozialistischen Ideal einer klassenlosen freien Menschheit und aus der proletarischen Gemeinsamkeitsmoral zusammengesetzt, also in allen wesentlichen Zügen der bürgerlichen Kultur entgegengesetzt, ist international. Mag sie bei verschiedenen Völkern eine verschiedene Färbung ausweisen – wie die Anschauungsweise der Proletarier ja auch nach Lebenslage und Wirtschaftsform einen verschiedenen Charakter ausweist – mag sie vor allem bei wenig entwickelten Klassenkämpfe noch stark durch die besondere nationale Vorgeschichte beeinflusst sein, ihr wesentlicher Inhalt ist überall derselbe. Die Form, die Sprache, in der sie ausgedrückt wird, ist verschieden; aber alle anderen Unterschiede lässt die Entwicklung des Klassenkampfes, das Wachstum des Sozialismus immer mehr zurücktreten, auch die nationalen. Dagegen wird die Trennung zwischen der Kultur der Bourgeoisie und der Kultur des Proletariats immer größer.

Es ist also nicht richtig, dass das Proletariat um den Besitz der nationalen Kulturgüter kämpft, die es durch seine Arbeit schafft. Es kämpft nicht um die Kulturgüter der Bourgeoisie, es kämpft um die Herrschaft über die Produktion, um auf dieser Grundlage seine eigene sozialistische Kultur aufzubauen. Was wir die kulturellen Wirkungen des Klassenkampfes nennen, der Aufstieg der Arbeiter zum Selbstbewusstsein, zum Wissen und Wissensdrang, zu höheren geistigen Ansprüchen, hat nichts mit einer nationalen bürgerlichen Kultur zu tun, sondern ist das Wachsen der sozialistischen Kultur. Sie ist ein Produkt des Kampfes, der ein Kampf gegen die ganze bürgerliche Welt ist. So wie im Proletariat jetzt schon die neue Menschheit aufwächst, stolz, siegesbewusst, ohne die Sklavenlaster der Vergangenheit, trotzige Kämpfer, ohne Aberglauben das Weltbewegen verständnisvoll durchschauend, durch festeste Solidarität mit den Genossen zu einer festen Einheit verbunden – so blüht jetzt in diesem Proletariat auch der Geist der neuen Menschheit, die sozialistische Kultur empor, zuerst schwach, getrübt und gemischt mit bürgerlichen Traditionen, aber dann immer klarer, reiner, schöner und reicher.

Natürlich soll das nicht besagen, dass auch die bürgerliche Kultur nicht oft und lange noch mächtig vom Geiste der Arbeiter Besitz ergreift. Zu viele Einflüsse wirken aus jener Welt auf das Proletariat ein, absichtliche und unabsichtliche; nicht nur Schule, Kirche und bürgerliche Presse, sondern die ganze vom bürgerlichen Denken durchgetränkte Schöne und wissenschaftlichen Literatur. Aber immer wieder und in stets fortschreitendem Maße wird die bürgerliche Weltanschauung in den Köpfen der Arbeiter von dem Leben selbst, von der eigenen Erfahrung überwunden. Und dass muss auch sein. Denn in dem Maße, wie sie die Arbeiter ergreift, werden diese dadurch kampfunfähiger; unter ihrem Einfluss werden sie mit Ehrfurcht vor den herrschenden Gewalten erfüllt, zu ideologischem Denken erzogen, in ihrem klaren Klassenbewusstsein getrübt, national gegeneinander verhetzt, zersplittert, also im Kampfe geschwächt und ihres Selbstvertrauens beraubt. Aber unser Ziel erfordert ein stolzes, selbstbewusstes Geschlecht, kühn im Denken wie im Handeln. Daher treiben die Anforderungen des Kampfes selbst jene lähmenden bürgerlichen Kultureinflüsse immer wieder aus den Arbeitern hinaus.

Es ist also unrichtig, dass die Arbeiter durch ihren Kampf in eine „nationale Kulturgemeinschaft“ emporsteigen. Die Politik des Proletariats, die internationale Klassenkampfpolitik, erzeugt in ihm eine neue internationale sozialistische Kultur.

Die Gemeinschaft des Klassenkampfes.

Bauer stellt der Nation als Schicksalsgemeinschaft die Klasse gegenüber, in der die Gleichartigkeit des Schicksals gleichartige Charakterzüge entwickelt hat. Aber die Arbeiterklasse ist nicht einfach eine Menschengruppe gleichen Schicksals und daher gleichen Charakters. Der Klassenkampf schmiedet das Proletariat zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammen. Das gemeinsam erlebte Schicksal ist der gemeinsam geführte Kampf gegen denselben Feind.

Im gewerkschaftlichen Kampfe stehen Arbeiter verschiedener Nationalität demselben Unternehmer gegenüber. Sie müssen als eine geschlossene Einheit den Kampf führen, sie erleben all seine Wechselfälle und Wirkungen in engster Schicksalsgemeinschaft. Aus ihrer verschiedenen Heimat haben sie mit dem urwüchsigen Individualismus des Bauern oder Kleinbürgers ihre nationalen Verschiedenheiten, mit anderen bürgerlichen Traditionen vielleicht auch etwas Nationalbewusstsein mitgebracht. Aber all ihre Verschiedenheit ist Tradition der Vergangenheit gegen die Notwendigkeit, jetzt als eine einzige geschlossen Masse zusammen zu stehen, gegen die lebendige Kampfgemeinschaft von heute. Nur eine Verschiedenheit hat hier eine praktische Bedeutung, die der Sprache; alle Aufklärung, alle Vorschläge und Mitteilungen müssen jedem in seiner eigenen Sprache übermittelt werden. Während der letzten großen Streikbewegungen in Amerika (wie in den Stahlwerken in Mc. Kees Rocks, oder in der Textilindustrie in Lawrence) vereinigten sich die Streikenden, die eine bunte Mischung der verschiedensten Nationalitäten, Franzosen, Italien, Polen, Türken, Syrier usw. bildeten, zu sprachlich getrennten Sektionen, deren Ausschüsse immer zusammen waren, jeder Sektion gleichzeitig die Vorschläge in ihrer Sprache mitteilten und so die Einheit des Ganzen bewahrten – ein Beweis, wie trotz der Schwierigkeit der sprachlichen Verschiedenheit eine enge proletarische Kampfgemeinschaft zu verwirklichen ist. Hier eine Organisationstrennung vornehmen zu wollen zwischen dem, was Leben und Kampf, was das wirkliche Interesse zusammenbindet, wie es der Separatismus will, verstößt so sehr gegen die Wirklichkeit, dass es nur zeitweilig gelingen kann.

Das gilt aber nicht nur für die Arbeiter derselben Fabrik. Um ihren Kampf erfolgreich durchführen zu können, müssen sich die Arbeiter des ganzen Landes in einer Gewerkschaft vereinigen; und alle Mitglieder betrachten da das Vordringen einer örtlichen Gruppe als ihren eigenen Kampf. Noch notwendiger wird das, wenn der gewerkschaftliche Kampf im Laufe der Entwicklung gewaltigere Formen annimmt. Die Unternehmer schließen sich in Kartellen und Unternehmerverbänden zusammen; diese sind nicht für die tschechischen und deutschen Unternehmer verschieden, sondern umfassen alle Unternehmer des ganzen Staates – gehen sogar schon über die Grenzen des Staates hinaus. Alle Arbeiter desselben Berufes, die in demselben Staat wohnen, führen die Streiks und erleiden die Aussperrungen gemeinsam, bilden also eine Gemeinschaft des wichtigsten Lebensschicksals, die über alle nationalen Verschiedenheiten hinweggeht. Und in der letzten Lohnbewegung der Seeleute im Sommer 1911, die einem internationalen Reederverein gegenüberstanden, sehen wir schon eine internationale Schicksalsgemeinschaft als reale Wirklichkeit vor unseren Augen auftauchen.

Dasselbe gilt auch für den politischen Kampf. Das „Kommunistische Manifest“ von Marx und Engels führt darüber aus: „Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muss natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden“. Es ist klar, dass in diesem Satz das Wort „national“ nicht im österreichischen Sinne gebraucht wird, sondern den westeuropäischen Verhältnissen entstammt, wo Nation und Staat als gleichbedeutende Worte gelten. Dieser Ausspruch bedeutet einfach, dass der englische Arbeiter nicht gegen die französische, der französische Arbeiter nicht gegen die englische Bourgeoisie den Klassenkampf führen kann, sondern dass die englische Bourgeoisie und die englische Staatsgewalt nur vom englischen Proletariat angegriffen und besiegt werden kann. Für Österreich sind Staat und Nation verschiedene Gebilde. Die Nation ist eine natürliche gewachsene Interessengemeinschaft der bürgerlichen Klassen. Aber die eigentliche feste Organisation der Bourgeoisie zum Schutze ihrer Interessen ist der Staat. Der Staat schützt das Eigentum, sorgt führ die Verwaltung, richtet Armee und Flotte ein, erhebt Steuern und hält die Volksmassen nieder. Die „Nationen“, oder besser noch: die aktiven Organisationen, die in ihrem Namen auftreten, die nationalen bürgerlichen Parteien, dienen nur dazu, sich einen entsprechenden Einfluss auf den Staat, einen Anteil an die Staatsgewalt zu erkämpfen. Für die Großbourgeoisie, deren wirtschaftliches Interessengebiet den ganzen Staat umfasst, und noch darüber hinaus geht, die direkte Begünstigungen, Zölle, Lieferungsaufträge und Schutz im Ausland braucht, ist von vornherein nicht die Nation, sondern der größere Staat die natürliche Interessengemeinschaft. Die scheinbare Unabhängigkeit, die die Staatsgewalt sich durch den Streit der Nationen lange zu wahren wusste, kann doch die Tatsache nicht verdecken, dass sie auch hier ein Instrument im Dienste des Großkapitals ist.

Daher verschiebt sich auch das Schwergewicht des politischen Kampfes der Arbeiterklasse immer mehr zum Staate hin. Solange der Kampf um die politische Macht noch im Hintergrunde steht und die Aufklärung, die Belehrung, der Ideenkampf, die natürlich in jeder Sprache für sich stattfinden müssen, an erster Stelle stehen, sind die politisch kämpfenden Proletarierarmeen noch national getrennt. In diesem ersten Stadium der sozialistischen Bewegung gilt es, die Proletarier aus der Macht der kleinbürgerlichen Ideologie zu befreien, sie von der bürgerlichen Parteien loszureißen und mit Klassenbewusstsein zu erfüllen. Dann sind die bürgerlichen Parteien, die national gesondert sind, die eigentlichen Gegner, die man bekämpft. Der Staat erscheint als die gesetzgebende Macht, von dem man Gesetze zum Schutze des Proletariats verlangt; Einfluss auf den Staat für proletarische Interessen zu gewinnen erscheint den eben erwachenden, noch bescheidenen Proletariern als das nächste Ziel der politischen Aktion. Und das Endziel, der Kampf für den Sozialismus, erscheint als ein Kampf um die Staatsgewalt, gegen die bürgerlichen Parteien.

Wenn aber die sozialistische Partei zu einem wichtigen Faktor im Parlament aufwächst, wird das anders. Im Parlament, wo über alle wesentlichen politischen Fragen entschieden wird, steht das Proletariat Vertretern der bürgerlichen Klassen des ganzen Staates gegenüber. Der wesentliche politische Kampf, dem sich die Aufklärungsarbeit immer mehr angliedert und unterordnet, spielt sich auf dem Boden des Staates ab. Er ist allen Arbeitern dieses Staates, welcher Nation sie sind, gemeinsam. Er erweitert die Kampfgemeinschaft auf das gesamte Proletariat des Staates, für das der gemeinsame Kampf gegen denselben Feind, gegen die Gesamtheit der bürgerlichen Parteien aller Nationen und ihrer Regierung zum gemeinsamen Schicksal wird. Nicht die Nation, sondern der Staat begrenzt für das Proletariat die Schicksalsgemeinschaft des politisch-parlamentarischen Kampfes. Solange für die Ruthenen Österreichs und die Ruthenen Russlands die sozialistische Aufklärung die wichtigste Betätigung ist, bleiben sie eng verbunden. Sobald aber die Entwicklung so weit gediehen ist, dass der wirkliche politische Kampf gegen die Staatsmacht – bürgerliche Mehrheit und Regierung – geführt wird, müssen sie sich trennen, an verschiedenen Orten und nach oft völlig verschiedenen Methoden kämpfen. Der eine tritt in Wien im Reichsrat zusammen mit tirolischen und tschechischen Arbeitern auf, der andere kämpft bald illegal im Stillen, bald auf den Straßen Kiews gegen die Zarenregierung und ihre Kosaken. Ihre Schicksalsgemeinschaft ist gebrochen.

Das tritt umso stärker hervor, je gewaltiger das Proletariat sich erhebt, je mehr sein Kampf die ganze Geschichte erfüllt. Die Staatsgewalt mit all ihren gewaltigen Machtmitteln ist die Hochburg der besitzenden Klasse; das Proletariat kann sich nur befreien, kann den Kapitalismus nur beseitigen, wenn es zuerst diese mächtige Organisation besiegt. Die Eroberung der politischen Herrschaft ist nicht einfach ein Kampf um die Staatsgewalt, sondern ein Kampf gegen die Staatsgewalt. Die soziale Revolution, die den Sozialismus bringen wird, besteht im Wesentlichen in der Überwindung der Staatsgewalt durch die Macht der proletarischen Organisation. Sie muss daher von dem Proletariat des ganzen Staates zusammen gemacht werden. Dieser gemeinsame Befreiungskampf gegen denselben Feind ist das wichtigste Erlebnis, gleichsam die ganze Lebensgeschichte des Proletariats von seinem ersten Erwachen bis zu seinem Sieg. Er macht eine Schicksalsgemeinschaft aus der Arbeiterklasse, nicht derselben Nation, sondern desselben Staates. Nur in Westeuropa, wo Nation und Staat ziemlich zusammenfallen, führt der auf staatliche-nationalem Boden geführte Kampf um die politische Herrschaft zu Schicksalsgemeinschaften im Proletariat, die sich mit den Nationen decken.

Aber auch hier entwickelt sich immer mehr der internationale Charakter des Proletariats. Die Arbeiter verschiedener Länder übernehmen Theorie und Taktik, Kampfmethoden und Anschauungen voneinander und behandeln sie als eine gemeinsame Angelegenheit. Allerdings war das auch der Fall mit der aufsteigenden Bourgeoisie; in ihren allgemeinen wirtschaftlichen und philosophischen Anschauungen haben Engländer, Franzosen und Deutsche durch den Austausch der Ideen einander aufs Tiefste beeinflusst. Aber trotzdem erwuchs daraus keine Gemeinschaft, da ihr wirtschaftlicher Gegensatz sie zu einander feindlichen Nationen organisierte; gerade als die französische Bourgeoisie die bürgerliche Freiheit erkämpfte, die die englische schon besaß, erwuchsen daraus die erbitterten napoleonischen Kriege. Ein solcher Interessengegensatz fehlt bei dem Proletariat vollkommen, und daher kann die gegenseitige geistige Beeinflussung der Arbeiterklasse verschiedener Länder ungehemmt ihre Wirkung zur Bildung einer internationalen Kulturgemeinschaft entfalten. Aber darauf beschränkt sich die Gemeinschaft nicht. Die Kämpfe, die Siege und die Niederlagen in einem Lande über eine starke Rückwirkung auf den Klassenkampf in den anderen Ländern aus. Die Kämpfe, die unsere Klassengenossen im Auslande gegen ihre Bourgeoisie führen, sind nicht nur ideell sondern auch materiell unsere eigene Angelegenheit; sie sind Teile unseres eigenen Kampfes und wir empfinden sie als solche. Das wissen gerade die österreichischen Arbeiter am besten, für die die russische Revolution eine entscheidende Episode ihres eigenen Wahlrechtskampfes war. Das Proletariat aller Länder fühlt sich als eine einzige Armee, ein großer Verband, der sich nur zum praktischen Zwecke – weil die Bourgeoisie staatlich organisiert ist und daher viele Zwingburgen zu nehmen sind – in mehreren Heerhaufen teilen muss, die sich getrennt mit den Feinden schlagen. Unsere Presse übermittelt uns die Kämpfe im Ausland auch in dieser Form: die englischen Hafenstreiks, die belgischen Wahlen, die Budapester Straßendemonstrationen sind alle Angelegenheiten unserer eigenen großen Klassenorganisation. So wird der internationale Klassenkampf zu einem gemeinsamen Erlebnis der Arbeiter aller Länder.

Die Nation im Zukunftsstaat.

In dieser Auffassung des Proletariats spiegeln sich schon die Verhältnisse der kommenden Gesellschaftsordnung, in der die Menschen keine staatlichen Gegensätze mehr kennen werden. Mit der Überwindung der festen Staatsorganisationen der Bourgeoisie durch die Organisationsmacht der proletarischen Massen verschwindet der Staat als Zwangsgewalt und als scharf nach außen sich abgrenzendes Herrschaftsgebiet. Die politischen Organisationen bekommen eine neue Funktion; „aus der Herrschaft über Personen wird eine Verwaltung von Sachen“, wie Engels im Anti-Dühring ausdrückte. Die bewusste Regelung der Produktion erfordert Organisation, ausführende Organe und Verwaltungstätigkeit; aber dafür ist eine Zentralisation, wie sie der heutige Staat möglichst schroff durchführt, nicht nötig und nicht möglich. Eine weitgehende Dezentralisation und Selbstverwaltung tritt an ihre Stelle. Je nach dem Umfange eines Produktionszweiges werden die Organisationen größere oder geringere Gebiete umfassen; während z.B., Brotproduktion wohl lokal stattfinden wird, erfordert die Eisenproduktion und der Eisenbahnverkehr schon Wirtschaftseinheiten von der Größe eines Staates. Produktionseinheiten des verschiedensten Umfanges werden vorkommen, von Werkstatt und Gemeinde bis zum Staat oder gar für einige Betriebszweige bis zur ganzen Menschheit. Werden hier nun nicht die natürlich entstandenen Gruppen der Menschheit, die Nationen, sich an die Stelle der verschwundenen Staaten als Organisationseinheiten durchsetzten? Zweifelslos wird das der Fall sein, aus dem einfachen praktischen Grunde, aber auch nur aus diesem Grunde, dass sie die Gemeinschaften gleicher Sprache sind, und alle Beziehungen zwischen den Menschen durch die Sprache vermittelt werden.

Bauer legt aber den Nationen in der Zukunftsgesellschaft noch eine ganz andere Bedeutung bei: „Die Tatsache, dass der Sozialismus die Nation autonom, ihr Geschick zum Erzeugnis ihres bewussten Willens macht, bewirkt nun aber steigende Differenzierung der Nationen in der sozialistischen Gesellschaft, schärfere Ausprägung ihrer Eigenart, schärfere Scheidung ihrer Charaktere voneinander“ (S.105). Zwar übernehmen sie den Inhalt der Kultur, die Ideen vielfach voneinander, aber diese werden erst in Verbindung mit der nationalen Kultur aufgenommen. „Darum bedeutet die Autonomie im Sozialismus notwendig, trotz der Ausgleichung der materiellen Kulturinhalte, doch steigende Differenzierung der geistigen Kultur der Nationen“ (S.108)…. So „trägt die auf Erziehungsgemeinschaft beruhende Nation in sich die Tendenz der Einheit; alle ihre Kinder unterwirft sie gemeinsamer Erziehung, alle ihre Genossen arbeiten zusammen an der Bildung des Gesamtwillens der Nation, genießen miteinander die Kulturgüter der Nation. So trägt der Sozialismus in sich auch die Gewähr der Einheit der Nation“ (S.109). Jetzt liegt schon im Kapitalismus die Tendenz, die Massen national schärfer voneinander zu sondern und die Nation innerlich einheitlicher zu machen. „Aber erst die sozialistische Gesellschaft wird (dieser Tendenz) zum Siege verhelfen. Sie wird die gesamten Völker durch die Verschiedenheit nationaler Erziehung und Gesittung so scharf gegeneinander abgrenzen, wie heute nur die Gebildeten der verschiedenen Nationen gegeneinander abgegrenzt sind. Wohl wird es auch innerhalb der sozialistischen Nation engere Charaktergemeinschaften geben; aber es wird in ihrer Mitte keine selbstständigen Kulturgemeinschaften geben können, da fehlt jede örtliche Gemeinschaft unter dem Einflusse der Kultur der Gesamtnation, im kulturellen Verkehr, im Austausch der Vorstellungen mit der Gesamtnation stehen wird“ (S.135).

Die Auffassung, die sich in diesen Sätzen ausspricht, ist nichts als eine ideologische Übertragung der österreichischen Gegenwart auf die sozialistische Zukunft. Sie erteilt den Nationen unter dem Sozialismus dieselbe Rolle, die heute den Staaten zufällt, sich nach außen immer schärfer gegeneinander abzusondern, nach innen alle Unterschiede ausmerzen; sie gibt den Nationen unter den vielen Stufen von Wirtschafts- und Verwaltungseinheiten einen besonderen Vorrang, ähnlich wie sie dem Staate in der Vorstellung unserer Gegner zukommt, die über die „Staatsallmacht“ unter dem Sozialismus zetern – sogar wird hier von den „Werktätigen der Nation“ geredet. Während sonst in sozialistischen Schriften immer von Werkstätten und Produktionsmitteln der „Gemeinschaft“ geredet wird, als Gegensatz zum Privatbesitz, ohne dass näher angegeben werden kann, welchen Umfang die Gemeinschaft aufweist, wird hier die Nation als die einzige Gemeinschaft der Menschen betrachtet, autonom nach außen, undifferenziert nach innen.

Eine solche Auffassung ist nur möglich, weil der materielle Boden, aus dem die gegenseitigen Beziehungen und die Ideen der Menschen aufwachsen, völlig außer Acht gelassen und nur auf die geistigen Kräfte als bestimmende Potenzen geachtet wird. Denn die nationalen Unterschiede haben dann die wirtschaftlichen Wurzeln völlig verloren, die ihnen heute eine so gewaltige Kraft geben.

Die sozialistische Produktionsweise entwickelt keine Interessengegensätze zwischen den Nationen, wie die bürgerliche. Die Wirtschaftseinheit ist nicht der Staat oder die Nation, sondern die Welt. Diese Produktionsweise ist mehr als eine durch kluge Verkehrspolitik und internationale Abmachungen vermittelte Verbindung nationaler Produktionseinheiten, wie Bauer sie S.519 darstellt; sie ist eine Organisation der Weltproduktion zu einer Einheit, eine gemeinsame Angelegenheit der ganzen Menschheit. In dieser Weltgemeinschaft, zu der die Internationalität des Proletariats jetzt schon einen Anfang bildet, kann von einer Autonomie z.B. der deutschen Nation so wenig die Rede sein, wie von der Autonomie Bayerns, der Stadt Prag oder der Poldihütte. Alle regeln zum Teil ihre eigenen Angelegenheiten, und alle sind als Teile des Ganzen von dem Ganzen abhängig. Der ganze Begriff der Autonomie entstammt dem kapitalistischen Zeitalter, in dem Herrschaftsverhältnisse auch ihren Gegensatz, Freiheit von bestimmter Herrschaft mit sich bringen.

Dieser materielle Grundlage der Gemeinsamkeit, die organisierte Weltproduktion, macht aus der zukünftigen Menschheit eine einzige Schicksalsgemeinschaft. Für die großen Aufgaben, die ihrer warten, die wissenschaftliche und technische Eroberung der ganzen Erde, ihre Ausstattung zum herrlichen Wohnsitz eines glücklichen, siegesstolzen Geschlechtes von Herrenmenschen, die die Natur und ihre Kräfte als Meister beherrschen – Aufgaben, die wir heute erst eben ahnen können -, sind die Grenzen der Staaten und Völker zu eng und beschränkt. Die Schicksalsgemeinschaft wird die ganze Menschheit auch zu einer Anschauungs- und Kulturgemeinschaft vereinigen. Die Verschiedenheit der Sprachen kann darin kein Hindernis sein, denn jede Gemeinschaft von Menschen, die in tatsächlichem Verkehr miteinander stehen, wird sich eine gemeinsame Sprache schaffen müssen. Ohne hier die Frage einer Weltsprache berühren wollen, verweisen wir nur darauf, dass es heute schon jedem, der über den Volksschulunterricht hinauskommt, eine Leichtes ist, sich einige Fremdsprachen zu eigen zu machen. Die Frage, in welchem Maße die heutigen sprachlichen Abgrenzungen und Verschiedenheiten bleibender Natur sind, kann dabei unerörtert bleiben. Für die ganze Menschheit gilt dann, was Bauer in dem letzten der angeführten Sätze über die Nation sagt: Wohl wird es auch innerhalb der sozialistischen Menschheit engere Charaktergemeinschaften geben, aber es wird in ihrer Mitte keine selbständigen Kulturgemeinschaften geben können, da selbst jede örtliche (und nationale) Gemeinschaft unter dem Einfluss der Kultur der Gesamtmenschheit im kulturellen Verkehr, im Austausch der Vorstellungen mit der Gesamtmenschheit stehen wird.

Die Wandlungen der Nation.

Unsere Untersuchung hat ergeben, dass unter der Herrschaft des entwickelten Kapitalismus mit seinem Klassenkampf keine einzige nationbildende Kraft für das Proletariat zu finden ist. Mit den bürgerlichen Klassen bildet es keine Schicksalsgemeinschaft, weder eine Gemeinschaft der materiellen Interessen, noch eine solche der geistigen Kultur; was davon in den ersten Anfängen des Kapitalismus entsteht, muss der entwickelte Klassenkampf wieder verschwinden machen. Während in den bürgerlichen Klassen mächtige ökonomische Kräfte die nationale Absonderung, einen nationalen Gegensatz und die ganze nationale Ideologie erzeugen, fehlen sie im Proletariat; da erzeugt der Klassenkampf, der wichtigste Inhalt seines Lebens, eine internationale Schicksals- und Charaktergemeinschaft, in der die Nationen nur als Gruppen gleicher Sprache eine praktische Bedeutung haben. Und da das Proletariat die werdende Menschheit ist, bildet diese Gemeinschaft die Morgenröte der wirtschaftlichen und kulturellen Gemeinschaft der ganzen Menschheit unter dem Sozialismus.

Die Frage, die wir anfangs gestellt haben, muss also mit ja beantwortet werden: das Nationale hat für das Proletariat nur die Bedeutung einer Tradition; seine materielle Wurzeln liegen in der Vergangenheit, und in den lebendigen Verhältnissen des Proletariats findet es keine Nahrung. Mit der Nation verhält es sich also für das Proletariat ähnlich wie mit der Religion. Natürlich ist neben dieser Verwandtschaft auch der Unterschied wohl zu beachten. Die materiellen Wurzeln der religiösen Gegensätze liegen weit in der Vergangenheit zurück und sind den heutigen Menschen kaum mehr bekannt; diese Gegensätze selbst sind daher völlig losgelöst von allen materiellen Interessen und erscheinen als rein abstrakte Differenzen über übernatürliche Fragen. Dagegen liegen die materiellen Wurzeln der nationalen Gegensätze unmittelbar hinter uns, in der modernen bürgerlichen Welt, mit der wir fortwährend in Berührung stehen; sie haben daher noch die Frische und Kraft der Jugend, reißen gewaltiger mit, da wir die Interessen, die sie ausdrücken, unmittelbar mitempfinden können; wie sie weniger tief wurzeln, fehlt ihnen dafür aber die nur mühsam anzutastende Härte der durch ein Alter von Jahrhunderten versteinerten Ideologie.

Unsere Untersuchung führt uns also zu einer ganz anderen Auffassung als die Bauersche. Bauer nimmt im Gegensatz zum bürgerlichen Nationalismus eine stetige Wandlung der Nation zu neuen Formen und Charakteren an; so erschien z.B. die deutsche Nation in der Geschichte in immer neuen Gestalten, von den Ur-Germanen anfangend bis zu dem künftigen Glieder der sozialistischen Gesellschaft. Aber unter diesen wechselnden Formen bleibt die Nation selbst; auch wenn bestimmte Nationen untergehen oder entstehen mögen, bleibt die Nation überhaupt doch immer das Grundgebilde der Menschheit. Nach unserem Ergebnis dagegen ist die Nation nur ein zeitweiliges und vergängliches Gebilde in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, eine unter den vielen Organisationsformen, die einander ablösen oder nebeneinander auftreten: Stämmen, Völkern, Weltreichen, Kirchen, Dorfgemeinden, Staaten. Unter ihnen ist die Nation in ihrer Eigenart wesentliche ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft, und mit der bürgerlichen Gesellschaft wird sie verschwinden. In allen früheren und späteren Gemeinschaften immer die Nation wiederfinden zu wollen, ist genau so künstlich, als wenn man, wie bürgerliche Ökonomen es machen, alle vergangenen und künftigen Wirtschaftsformen als verschiedene Formen des Kapitalismus auffasst und die Weltentwicklung als eine Entwicklung des Kapitalismus betrachtet, vom „Kapital“ des Wilden, seinem Bogen, an, bis zum „Kapital“ der sozialistischen Gesellschaft.

Hier tritt nun der Mangel des von uns anfangs zitierten Grundgedankens in Bauers Werk hervor. Wenn er sagt, dass die Nation kein starres Ding ist, sondern ein Prozess des Werdens, so ist dabei schon vorausgesetzt, dass die Nation selbst bleiben und ewig ist. Für Bauer ist die Nation „das nie vollende Produkte eines steigt vor sich gehenden Prozesses“, für uns ist sie eine Episode in dem endlos fortschreitenden Prozess der menschlichen Entwicklung. Für Bauer ist die Nation das bleibende Grundelement der Menschheit; seine Theorie ist eine Betrachtung der ganzen menschlichen Geschichte unter dem Gesichtswinkel des Nationalen. Wirtschaftsformen wandeln sich um, Klassen entstehen und gehen zu Grunde, aber das sind alles Umwandlungen der Nation, innerhalb der Nation. Die Nation bleibt das Primäre, dem die Klassen und ihre Wandlungen nur einen wechselnden Inhalt geben. Daher drückt er auch die Ideen und Ziele des Sozialismus in der Sprache des Nationalismus aus, und spricht von Nation, wo andere von Volk und Menschheit redeten: die „Nation“ hat durch das Sondereigentum an Arbeitsmitteln ihr Schicksal aus der Hand gegeben; die „Nation“ hat nicht bewusst darüber beschlossen; die Kapitalisten bestimmen das Schicksal der „Nation“; die „Nation“ der Zukunft wird sich ihr Schicksal selbst zimmern; oben führten wir schon die Werkstätten der Nation an. So kommt er auch dazu, die beiden entgegengesetzten Richtungen der Politik, die sozialistische, vorwärts gerichtete, und die kapitalistische, die die heutige Wirtschaftsordnung erhalten will, mit den Namen evolutionistisch-nationale und konservativ-nationale Politik zu bezeichnen. Man könnte in ähnlicher Weise nach dem oben angeführten Vergleich den Sozialismus als evolutionistisch-kapitalistische Politik bezeichnen.

Bauers Behandlung der Nationalitätenfrage ist eine spezifisch österreichische Theorie; sie bildet eine Lehre der Entwicklung der Menschheit, die nur in Österreich entstehen konnte, wo die nationalen Fragen das ganze öffentliche Leben beherrschen. Es ist gewiss kein Makel, wenn man feststellt, dass ein Forscher, der mit so vielem Erfolg die Methode der marxistischen Geschichtsauffassung handhabt, selbst zum Dokument dieser Lehre wird, indem er dem Einfluss seines Milieus unterliegt – denn nur durch diesen Einfluss war er befähigt, unsere wissenschaftliche Einsicht so bedeutend zu fördern. Wir sind eben keine logischen Denkmaschinen, sondern lebendige kämpfende Menschen innerhalb einer Welt, wo wir mittels Erfahrung und Nachdenken die Probleme bewältigen müssen, die die Praxis des Kampfes uns vorlegt.

Aber es kommt uns vor, dass in der Verschiedenheit der Resultate auch noch eine Verschiedenheit der philosophischen Grundanschauung mitspielt. Worauf kam unsere Kritik der Auffassungen Bauers immer hinaus? Auf eine verschiedene Bewertung der geistigen und materiellen Kräfte. Während er auf die unzerstörbare Macht des Geistigen, der Ideologie als selbständiger Kraft baute, betonen wir immer ihre Abhängigkeit von den wirtschaftlichen Verhältnissen. Es liegt nahe, mit dieser Abweichung vom marxistischen Materialismus die Tatsache in Zusammenhang zu bringen, dass Bauer wiederholte als Verfechter der Philosophie Kants auftrat und zu den Kantianern gezählt wird. So bewährt sich in seinem Wert die Vorzüglichkeit und Unentbehrlichkeit des Marxismus als wissenschaftliche Methode in doppelter Hinsicht. Nur mit ihrer Hilfe konnte er zu den vielen vorzüglichen Ergebnissen gelangen, womit er unsere Einsicht bereichert; wo sich verbesserungsbedürftige Mängel ergeben, ist es gerade dort, wo seine Methode sich von der materialistischen Grundanschauung des Marxismus entfernt.

III. Die sozialistische Taktik.

Die nationalen Forderungen.

Die sozialistische Taktik beruht auf der Wissenschaft von der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Art und Weise, wie eine Arbeiterklasse ihre Interessen wahrnimmt, wird bestimmt durch ihre Auffassung der zukünftigen Entwicklung der Verhältnisse. Nicht alle Wünsche und Ziele, die in dem unterdrückten Proletariat aufkommen, nicht alle Ideen, die seinen Geist beherrschen, dürfen seine Taktik beeinflussen; stehen sie zu der tatsächlichen Entwicklung in Widerspruch, so sind sie nicht zu verwirklichen, alle darauf verwendete Kraft und Mühe ist nutzlos vergeudet oder gereicht sogar zum Schaden. So war es mit allen Versuchen und Bestrebungen, den Siegeszug der Großindustrie zu hemmen und die alten Zunftordnungen wieder herzustellen. Das kämpfende Proletariat hat das alles von sich gewiesen; durch seine Einsicht in die Unvermeidlichkeit der kapitalistischen Entwicklung geleitet, hat es sein sozialistisches Ziel aufgestellt. Was tatsächlich werden wird und werden muss, bildet die Richtlinie für unsere Taktik. Daher war es von erster Wichtigkeit, festzustellen, nicht welche Rolle das Nationale jetzt in irgend einem Proletariat spielt, sondern welche Rolle es auf die Dauer, unter dem Einfluss des steigenden Klassenkampfes, im Proletariat spielen wird. Unsere Anschauungen über die künftige Bedeutung des Nationalen für die Arbeiterklasse müssen unsere Anschauungen über die Taktik in nationalen Fragen bestimmen.

Bauers Anschauungen über die Zukunft der Nation bilden die theoretische Grundlage zur Taktik des nationalen Opportunismus. Die opportunistische Taktik ergibt sich von selbst aus dem Grundgedanken seines Werkes: die Nationalität als machtvolles, bleibendes Resultat der ganzen geschichtlichen Entwicklung zu begreifen. Wenn die Nation nur nur heute, sondern mit dem Aufschwung der Arbeiterbewegung immer mehr, und vollends unter dem Sozialismus das natürliche Einheits- und Trennungsprinzip der Menschheit ist, dann ist es vergeblich, die Macht des nationalen Gedankens im Proletariat bekämpfen zu wollen; dann muss vielmehr auch der Sozialismus im Lichte des Nationalismus gesehen und sein Ziel in der Sprache des Nationalismus ausgedrückt werden. Dann müssen wir die nationalen Forderungen voran stellen und die gut nationalen Arbeiter damit zu gewinnen suchen, dass der Sozialismus der beste und wirklichste Nationalismus ist.

Ganz anders muss die Taktik sein, wenn man zu der Einsicht kommt, dass das Nationale nur eine bürgerliche Ideologie ist, die im Proletariat keine materiellen Wurzeln findet, und daher mit der Entwicklung des Klassenkampfes immer mehr verschwindet. Dann ist das Nationale im Proletariat nicht nur eine vorübergehende Erscheinung, dann ist es wie jede bürgerliche Ideologie ein Hemmnis des Klassenkampfes, dessen schädliche Macht möglichst beseitigt werden muss; und ihre Überwindung liegt auch in der tatsächlichen Entwicklungslinie. Die nationalen Losungen und Ziele lenken die Arbeiter von ihren eigenen proletarischen Zielen ab. Sie trennen die Arbeiter verschiedener Nation von einander, stellen sie einander feindlich gegenüber und brechen damit die notwendige Einheit des Proletariats. Sie stellen Arbeiter und Bürgertum in einer Kampffront nebeneinander, verdunkeln damit ihr Klassenbewusstsein und machen das Proletariat zu Handlangern bürgerlicher Politik. Die nationalen Kämpfe verhindern, dass die sozialen Fragen und die proletarischen Interessen in der Politik zur Geltung kommen und schlagen diese wichtigste Kampfmethode des Proletariats mit Unfruchtbarkeit. Das alles wird gefördert, wenn die sozialistische Propaganda den Arbeitern die nationalen Losungen als etwas Wertvolles neben ihrem eigenen Kampfziel hinstellt und die Sprache des Nationalismus in der Darstellung unserer sozialistischen Ziele übernimmt. Gerade umgekehrt ist es nötig, dass Klassenempfinden und Klassenkampf sich tief in den Köpfen der Arbeiter festsetzen; dann wird ihnen die Unwirklichkeit und die Wertlosigkeit der nationalen Losungen für ihre Klasse allmählich klar bewusst werden.

Solche staatliche-nationale Ziele, wie z.B. die Wiederherstellung eines unabhängigen polnischen Nationalstaats haben deshalb in der sozialistischen Propaganda nichts zu suchen. Nicht aus dem Grunde, weil ein eigener Nationalstaat für das Proletariat völlig bedeutungslos wäre. Denn es ist für die Ausbildung eines klaren Klassenbewusstseins von Übel, wenn durch die russische Fremdherrschaft, die die polnischen Kapitalisten schützt, der Hass gegen die Ausbeutung und Unterdrückung leicht die Form eines nationalen Hasses gegen die fremden Bedrücker annimmt. Sondern aus dem Grunde, dass die Wiederherstellung Polens als eines unabhängigen Staates im Zeitalter des Kapitalismus utopisch ist. Dasselbe gilt auch für Bauers Lösung der polnischen Frage: die nationale Autonomie der Polen im Rahmen des russischen Reiches. Mag dieses Ziel für das polnische Proletariat noch so erwünscht oder notwendig sein, solange der Kapitalismus herrscht, wird die reale Entwicklung nicht bestimmt durch das, was das Proletariat für sich nötig glaubt, sondern durch das, was die herrschende Klasse will. Ist das Proletariat aber mächtig genug, seinen Willen durchzusetzen, dann ist der Wert einer solchen Autonomie unendlich klein im Vergleich zu dem Werte seiner zum Sozialismus führenden Klassenforderungen. Der Kampf des polnischen Proletariats gegen die tatsächliche politische Gewalt, unter deren Druck es leidet – je nachdem die russische, die preußische oder die österreichische Regierung – ist als nationaler Kampf mit Unfruchtbarkeit geschlagen; nur als Klassenkampf führt er zum Ziele. Das einzig erreichbare und daher notwendige Ziel ist, zusammen mit den anderen Arbeitern dieser Staaten die kapitalistische Staatsgewalt zu besiegen und den Sozialismus zu erkämpfen. Unter dem Sozialismus hat aber das Ziel der Selbstständigkeit Polens keinen Sinn mehr, da dann der Freiheit aller polnisch redenden Menschen, sich zu einer Verwaltungseinheit zusammenzuschließen, nichts im Wege steht.

In der Stellung zu den beiden polnischen sozialistischen Parteien5 tritt also der Unterschied der Beurteilung klar hervor. Bauer legt den Nachdruck darauf, dass sie beide ihre Berechtigung haben, da jede eine Seite im Wesen des polnischen Arbeiters verkörpert, die P. P. S. das nationale Empfinden, die S. D. Polens und Litauens den internationalen Klassenkampf. Das ist richtig; aber es ist unvollständig. Mit der allzu objektiven Geschichtsmethode, die nachweist, wie jede Erscheinung oder Richtung begreiflich ist und aus natürlichen Ursachen entspringt, sind wir nicht fertig. Wir müssen hinzufügen, dass die eine Seite dieses Wesens durch die Entwicklung an Kraft wächst, die andere abnimmt. Das Prinzip der einen Partei wurzelt in der Zukunft, das der anderen in der Vergangenheit; das eine ist die große Kraft des Fortschritts, das andere ist eine hemmende Tradition. Daher sind die beiden Parteien uns nicht gleich; als Marxisten, die in der Wissenschaft der realen Entwicklung, als revolutionäre Sozialdemokraten, die im Klassenkampf ihr Prinzip finden, müssen wir der einen Partei recht geben und ihren Standpunkt unterstützen gegen die andere.

Wir redeten oben von der Wertlosigkeit der nationalen Losungen für das Proletariat. Gibt es aber unter den nationalen Forderungen nicht viele, die auch für die Arbeiter von höchster Wichtigkeit sind und wofür sie also mit der Bourgeoisie zusammen kämpfen sollen? Sind zum Beispiel nationale Schulen, wo die Proletarierkinder in der eigenen Sprache lernen können, nicht etwas Wertvolles? Sie sind für uns keine nationalen, sondern proletarische Forderungen. Die nationalen Forderungen der Tschechen sind gegen die Deutschen gerichtet und werden von den Deutschen bekämpft. Wenn aber tschechische Schulen, tschechische Gerichtssprache usw. im Interesse der tschechischen Arbeiter liegen, weil sie ihre Bildungsgelegenheit und ihre Unabhängigkeit gegenüber Unternehmern und Behörden vergrößern, dann sind sie zugleich ein Interesse der deutschen Arbeiter – denn diese haben alles Interesse daran, dass ihre tschechischen Klassengenossen möglichst stark im Klassenkampfe werden. Schulen für tschechische Minoritäten werden daher nicht nur von den tschechischen, sondern zugleich von den deutschen Sozialdemokraten gefordert, und es kann den Vertretern des Proletariats dabei völlig gleichgültig sein, ob damit die Macht der deutschen oder der tschechischen „Nation“, d. h. die Macht des deutschen oder des tschechischen Bürgertums im Staate gestärkt oder geschwächt wird. Das proletarische Interesse ist immer maßgebend. Wenn die Bourgeoisie aus nationalen Gründen eine gleichlautende Forderung ausstellt, meint sie damit in der praktischen Verwirklichung meist etwas ganz anderes, da sie eben andere Ziele hat. Die Arbeiter werden in den tschechischen Minoritätsschulen zugleich die Kenntnis der deutschen Sprache fördern, da das den Kindern im Lebenskampf hilft; die tschechische Bourgeoisie wird das Deutsche möglichst von ihnen fernhalten. Die Arbeiter fordern die weitherzigste Vielheit der Sprachen im Amt, die Nationalen wollen die fremde Sprache beseitigen. Nur dem Scheine nach stimmen also die sprachlichen und kulturellen Forderungen der Arbeiter mit den nationalen Forderungen überein; sie sind proletarische Forderungen, die vom gesamten Proletariat aller Nationen gemeinsam erhoben werden.

Ideologie und Klassenkampf

Die marxistische Taktik der Sozialdemokratie beruht auf der Erkenntnis der wirklichen Klasseninteressen der Arbeiter. Sie lässt sich nicht durch Ideologien betören, wenn diese auch noch so fest in den Köpfen der Menschen zu haften scheinen. Sie weiß durch ihre marxistische Anschauungsweise, dass Ideen und Ideologien, die scheinbar keinen materiellen Boden haben, doch nichts Übernatürliches sind, mit einer vom Körperlichen völlig losgelösten geistigen Existenz, sondern der festgeronnene überlieferte Ausdruck früherer Klasseninteressen. Daher sind wir sicher, dass gegen die Allgewalt der heutigen realen Klasseninteressen und Notwendigkeiten, wenn sie einmal erkannt sind, auf die Dauer keine noch so mächtige in der Vergangenheit wurzelnde Ideologie standhält. Diese Grundanschauung bestimmt auch die Art und Weise, wie wir ihre Macht bekämpfen.

Wer die Ideen als selbständige Mächte in den Menschenköpfen betrachtet, die dort von selbst oder durch fremde geistige Einwirkung entstehen, hat zwei Möglichkeiten, die Menschen für seine neuen Ziele zu gewinnen. Entweder er muss die alten Ideologien direkt bekämpfen, ihre Unrichtigkeit durch abstrakt theoretische Erörterungen beweisen und ihnen so ihre Macht über die Menschen zu nehmen suchen. Oder er kann auch versuchen, die Ideologie in seinen Dienst zu stellen, indem er sein neues Ziel als die Konsequenz und die Verwirklichung der alten Ideen darstellt. Nehmen wir als Beispiel die Religion.

Die Religion ist die mächtigste Ideologie der Vergangenheit, die das Proletariat beherrscht und es vom einheitlichen Klassenkampf zurückzuhalten sucht. Unklare Sozialdemokraten, die dieses gewaltige Hemmnis gegen den Sozialismus vor sich sahen, konnten entweder versuchen, die Religion direkt zu bekämpfen und die Unrichtigkeit der religiösen Lehren zu beweisen – ähnlich wie es die bürgerliche Aufklärung früher machte –, um dadurch ihren Einfluss zu brechen. Oder sie konnten umgekehrt den Sozialismus für das bessere Christentum, für die wahre Erfüllung der religiösen Lehren ausgeben und so die gläubigen Christen für den Sozialismus gewinnen. Wo sie aber versucht wurden, haben beide Methoden einen Fehlschlag gebracht; die theoretischen Angriffe auf die Religion konnten ihr nichts anhaben und stärkten das Vorurteil gegen den Sozialismus; und mit dem Umhängen des christlichen Mäntelchens hat man auch keinen Menschen gewonnen, weil die Tradition, an der die Menschen fest haften, nicht irgendein Christentum überhaupt, sondern eine bestimmte christliche Lehre ist. Und es ist klar, dass sie auch fehlschlagen mussten. Denn durch die theologischen Erörterungen und Diskussionen, die solche Versuche mit sich brachten, wird der Geist gerade den abstrakten religiösen Fragen zugewandt, von der Wirklichkeit des Lebens abgewandt und wird das ideologische Denken gestärkt. Der Glaube ist im Allgemeinen für theoretische Beweise unangreifbar; erst wenn sein Boden, die alte Lebenslage, verschwunden ist und eine neue Weltanschauung in dem Menschen aufwächst, kommt auch der Zweifel an den alten Lehren und Dogmen. Nur die neue Wirklichkeit, die sich immer deutlicher in den Geist einprägt, kann einen überlieferten Glauben umstoßen; natürlich muss sie dazu dem Menschen zuerst klar zum Bewusstsein kommen. Nur durch die ständige Berührung mit der Wirklichkeit wird der Geist von der Macht überkommener Ideen befreit.

Daher denkt die marxistische Sozialdemokratie nicht daran, die Religion mit theoretischen Argumenten zu bekämpfen, oder sie in ihren Dienst zu stellen. Damit würden die abstrakten überlieferten Ideen künstlich wachgehalten werden, anstatt allmählich zu verblassen. Unsere Taktik besteht darin, die Arbeiter immer über ihre wahren Klasseninteressen aufzuklären, ihnen die Wirklichkeit der Gesellschaft und ihres Lebens vor Augen zu führen, damit sich ihr Geist immer mehr auf die Realitäten der heutigen Welt richtet. Dann schlafen die alten Ideen, die in der Wirklichkeit des proletarischen Lebens keine Nahrung mehr finden, von selbst ein. Was die Menschen über theologische Fragen denken, ist uns egal, wenn sie nur zusammen für die neue Wirtschaftsordnung des Sozialismus kämpfen. Daher redet und diskutiert die Sozialdemokratie nie über die Existenz Gottes oder über religiöse Streitfragen; sie redet immer nur über Kapitalismus, über Ausbeutung, über Klasseninteressen, über die Notwendigkeit, dass die Arbeiter zusammen den Klassenkampf führen. Damit lenkt sie den Geist von den unwesentlichen Ideen der Vergangenheit auf die Wirklichkeit von heute; damit nimmt sie diesen Ideen die Macht, die Arbeiter vom Klassenkampf und von der Verfolgung ihrer Klasseninteressen abzuhalten.

Natürlich nicht mit einem Schlage. Was fest versteinert im Geiste haftet, kann erst durch lange Einwirkung der neuen Kraft allmählich zerfetzt und aufgelöst werden. Wie lange hat es gedauert, bis die christlichen Arbeiter Rheinland-Westfalens in großen Scharen die Zentrumsfahne verließen und zur Sozialdemokratie herüberkamen. Aber die Sozialdemokratie hat sich dadurch nicht beirren lassen; sie hat nicht versucht, die christlichen Arbeiter durch Konzessionen an ihre religiösen Vorurteile rascher zu gewinnen; sie hat sich nicht, durch die Geringfügigkeit ihrer Erfolge ungeduldig gemacht, zu antireligiöser Propaganda verführen lassen. Sie hat den Glauben an den Sieg der Wirklichkeit über die Tradition nicht verloren, sie hat am Prinzip festgehalten, sie hat sich nicht auf taktische Irrwege begeben, die raschere Erfolge vortäuschen; sie hat immer der Ideologie den Klassenkampf entgegengesetzt. Und jetzt sieht sie die Früchte ihrer Taktik immer mehr reifen.

Ähnlich steht es mit dem Nationalismus, nur mit dem Unterschied, dass hier, weil er eine jüngere, weniger versteinerte Ideologie ist, vor dem Fehler der abstrakten theoretischen Bekämpfung kaum, vor dem Fehler des Entgegenkommens umso mehr gewarnt werden muss. Auch hier haben wir nur den Klassenkampf zu betonen und das Klassenempfinden zu wecken, damit die Aufmerksamkeit von den nationalen Fragen abgelenkt wird. Auch hier wird es oft scheinen, als ob gegen die Macht der nationalen Ideologie all unsere Propaganda vergeblich wäre;6 zuerst scheint der Nationalismus in den Arbeitern der jungen Nationen nur mächtiger anzuschwellen. So erstarkten auch die christlichen Gewerkschaften im Rheinland zugleich mit der Sozialdemokratie; mit ihnen ist der nationale Separatismus zu vergleichen, der gleichfalls ein Stück Arbeiterbewegung darstellt, der eine bürgerliche Ideologie mehr gilt, als das Prinzip des Klassenkampfes. Dadurch, dass solche Bewegungen in der Praxis nichts anderes sein können als Schleppträger der Bourgeoisie, und so das Klassenempfinden der Arbeiter gegen sich wachrufen, werden sie immer mehr ihre Macht verlieren.

Es wäre also eine durchaus falsche Taktik, Arbeitermassen für den Sozialismus gewinnen zu wollen, indem man ihrem nationalen Empfinden entgegenkommt. Mit einem solchen nationalen Opportunismus können sie äußerlich, dem Scheine nach für die Partei gewonnen werden, aber für unsere Sache, für die sozialistische Einsicht sind sie nicht gewonnen; bürgerliche Anschauungen werden nach wie vor ihren Geist beherrschen. Und wenn dann eine Stunde der Entscheidung kommt, wo zwischen nationalen und proletarischen Interessen gewählt werden muss, offenbart sich auf einmal die innere Schwäche dieser Arbeiterbewegung – wie jetzt in der separatistischen Krise. Wie können wir auch die Massen unter unserer Fahne sammeln, wenn wir diese vor der Fahne des Nationalismus sinken lassen? Unser Prinzip des Klassenkampfes kann nur herrschen, wenn die anderen Prinzipien, die die Menschen anders einordnen und trennen, wirkungslos werden; wenn wir aber durch unsere Propaganda die anderen Prinzipien zu höherem Ansehen bringen, untergraben wir unsere eigene Sache.

Natürlich wäre es, wie sich aus obiger Darlegung ergibt, ebenso verkehrt, direkt die nationalen Empfindungen und Losungen bekämpfen zu wollen. Wo sie in den Köpfen haften, können sie nicht durch theoretische Argumente, sondern nur durch eine stärkere Wirklichkeit, die man auf die Köpfe einwirken lässt, beseitigt werden. Fängt man erst darüber zu reden an, so ist der Geist der Hörer sofort auf das Nationale gerichtet, und denkt nur in der Sprache des Nationalismus. Man redet daher überhaupt nicht über diese Dinge, geht nicht auf sie ein. Auf alle nationalen Schlagwörter und Argumente antwortet man mit: Ausbeutung, Mehrwert, Bourgeoisie, Klassenherrschaft, Klassenkampf. Reden sie über die nationale Schulforderung, so weisen wir auf den dürftigen Unterricht für die Arbeiterkinder hin, die nicht mehr lernen, als sie nötig haben, um später im Dienste des Kapitals schuften zu können. Reden sie über Straßentafeln und Ämter, so reden wir über die Not, die die Proletarier zum Auswandern treibt. Reden sie über die Einheit der Nation, so reden wir über Ausbeutung und Klassenunterdrückung. Reden sie über die Größe der Nation, so reden wir über die Solidarität des Proletariats der ganzen Welt. Erst wenn die große Realität der heutigen Welt, die kapitalistische Entwicklung, die Ausbeutung, der Klassenkampf mit seinem Endziel des Sozialismus den ganzen Geist des Arbeiters immer mehr erfüllt, werden die kleinen bürgerlichen Ideale des Nationalismus in ihm verblassen und verschwinden. Die Propaganda des Sozialismus und des Klassenkampfes bildet das einzig aber auch sicher erfolgreiche Mittel, die Macht des Nationalismus zu brechen.

Der Separatismus und die Parteiorganisation

In Österreich ist seit dem Wimberger Parteitag die sozialdemokratische

Partei nach Nationen gespalten, und jede nationale Arbeiterpartei ist autonom und arbeitet mit denen der anderen Nationen föderalistisch zusammen. Diese nationale Spaltung des Proletariats bot keine großen Unzuträglichkeiten und wurde vielerseits als das naturgemäße Organisationsprinzip der Arbeiterbewegung in einem national zerklüfteten Lande angesehen. Als aber diese Spaltung sich nicht mehr auf die politische Organisation beschränkte, sondern unter dem Namen Separatismus auf die Gewerkschaften übergriff, wurde auf einmal die Gefahr handgreiflich. Die Widersinnigkeit des Verfahrens, dass Arbeiter derselben Werkstatt sich in verschiedenen Verbänden organisieren und damit den gemeinsamen Kampf gegen die Unternehmer erschweren, liegt auf der Hand. Solche Arbeiter bilden eine Interessengemeinschaft, sie können nur als eine geschlossene Masse kämpfen und siegen und gehören daher in eine einzige Organisation zusammen. Die Separatisten, die die Spaltung der Arbeiter nach Nationen in die Gewerkschaft hineintragen, brechen, genauso wie die christlichen Gewerkschaftszersplitterer, die Kraft der Arbeiter und hemmen den Aufstieg des Proletariats in hohem Maße.

Die Separatisten wissen und sehen das genauso gut wie wir. Was treibt sie also zu ihrem arbeiterfeindlichen Vorgehen, trotzdem es vom internationalen Kongress in Kopenhagen mit erdrückender Einstimmigkeit missbilligt wurde? In erster Linie die Tatsache, dass sie das nationale Prinzip als etwas viel Höheres betrachten, als das materielle Interesse der Arbeiter und das sozialistische Prinzip. Aber sie berufen sich dabei auf den Ausspruch eines anderen internationalen Kongresses, des Stuttgarter Kongresses (1907), dass Partei und Gewerkschaften in einem Lande aufs Engste in stetiger Arbeits- und Kampfgemeinschaft zusammengehören. Wie aber ist das möglich, wenn die Partei nach Nationen gegliedert und zugleich die Gewerkschaftsbewegung international über den ganzen Staat zentralisiert ist? Wo findet die tschechische Sozialdemokratie die Gewerkschaftsbewegung, an die sie sich eng angliedern kann, wenn sie nicht eine besondere tschechische Gewerkschaftsbewegung schafft?

Es heißt also geradezu die allerschwächste Stellung auswählen, wenn viele deutsch-österreichischen Sozialdemokraten in ihrem theoretischen Kampf gegen den Separatismus als wichtigstes Argument immer die völlige Verschiedenheit des politischen und des gewerkschaftlichen Kampfes anführen. Allerdings bleibt ihnen nichts anderes übrig, wenn sie zu gleicher Zeit die internationale Einheit in den Gewerkschaften, die nationale Trennung in der Partei verfechten wollen. Aber Erfolge können mit diesem Argument nicht erzielt werden.

Es stammt aus den Verhältnissen im Anfange der Arbeiterbewegung, da beide sich erst langsam gegen die Vorurteile der Arbeitermassen emporkämpfen müssen und jede sich ihren eigenen Weg sucht; dann sieht es aus, als ob die Gewerkschaften nur für die unmittelbare Verbesserung der materiellen Lage da wären, während die Partei den Kampf für eine Zukunftsgesellschaft, für allgemeine Ideale und erhabene Ideen führt. In Wirklichkeit kämpfen sie beide für unmittelbare Verbesserungen und bauen sie beide zugleich an der Macht des Proletariats, die den Sozialismus bringen wird. Nur, weil der politische Kampf der allgemeine Kampf ist gegen die ganze Bourgeoisie, muss man sich dort über die weitesten Konsequenzen und die tiefsten Grundlagen der Weltanschauung klar werden, während im Gewerkschaftskampf, wo die Argumente und die unmittelbaren Interessen handgreiflich vor Augen liegen, dieses Herbeiholen allgemeiner Prinzipien nicht nötig ist und für die augenblickliche Einheit bisweilen sogar schädlich sein kann. Aber in Wirklichkeit sind es dieselben Arbeiterinteressen, die beide Kampfformen bestimmen; in der Parteibewegung liegen sie bloß in der Form der Ideen und Prinzipien etwas mehr versteckt. Je mehr sich nun aber die Bewegung entwickelt, umso enger rücken sie zusammen, umso mehr müssen sie gemeinsam kämpfen. Die großen Gewerkschaftskämpfe werden Massenbewegungen von gewaltiger politischer Wirkung, die das ganze Gesellschaftsleben erschüttern. Umgekehrt wachsen die politischen Kämpfe zu Massenaktionen aus, die die aktive Mithilfe der Gewerkschaften erfordern. Die Stuttgarter Resolution verkörpert diese immer stärker hervortretende Notwendigkeit. Daher müssen alle Versuche, den Separatismus mit dem Argument der völligen Verschiedenheit von Gewerkschafts- und Parteibewegung zu schlagen, an der Wirklichkeit abprallen.

Der Fehler des Separatismus liegt also nicht darin, dass er für Gewerkschaft und Partei dieselbe Organisation will, sondern darin, dass er zu diesem Zwecke die Gewerkschaft zerschlägt. Denn die Wurzel des Widerspruchs liegt nicht in der Einheit der Gewerkschaftsbewegung, sondern in der Spaltung der politischen Partei. Der Separatismus in der Gewerkschaftsbewegung ist nur die unvermeidliche Konsequenz der nationalen Autonomie der Parteiorganisation: ja, er ist in seiner Unterordnung des Klassenkampfes unter das Nationalprinzip die äußerste Konsequenz der Theorie, die die Nationen als die natürlichen Gebilde der Menschheit betrachtet und den Sozialismus im Lichte des Nationalprinzips, als die Verwirklichung der Nation ansieht. Daher ist eine wirkliche Überwindung des Separatismus nur möglich, wenn überall, in der Taktik, in der Agitation, in dem Bewusstsein aller Genossen der Klassenkampf als das einzige proletarische Prinzip herrscht, gegen das alle nationalen Verschiedenheiten bedeutungslos sind. Die Vereinigung der sozialistischen Parteien ist der einzige Ausweg, den Widerspruch, aus dem die separatistische Krise mit ihrer Schädigung der Arbeiterbewegung entstand, zu lösen.

In dem Kapitel: „Die Gemeinschaft des Klassenkampfes“, wurde schon dargelegt, dass der politische Kampf sich auf dem Boden des Staates abspielt und die Arbeiter aller Nationen des ganzen Staates zu einer Einheit verbindet. Zugleich ergab sich dort, dass in den Anfängen der sozialistischen Partei das Schwergewicht noch in die Nationen fällt. Daraus erklärt sich die historische Entwicklung, dass die Partei, sobald sie in ihrer Agitation die Massen zu erfassen begann, in national getrennte Einheiten zerfiel, von denen jede sich ihrem Milieu, den besonderen Verhältnissen und Denkweisen ihrer Nation anpassen musste – dabei natürlich zugleich mit nationalen Ideen mehr oder weniger infiziert wurde. Denn jede emporkommende Arbeiterbewegung steckt voll bürgerlicher Ideen, die erst durch die Entwicklung selbst, durch die Praxis des Kampfes und die wachsende theoretische Einsicht, allmählich überwunden werden. Diese bürgerliche Beeinflussung der Arbeiterbewegung, die in anderen Ländern als Revisionismus und Anarchismus auftritt, musste in Österreich notwendig die Form des Nationalismus annehmen, weil der Nationalismus nicht nur die mächtigste bürgerliche Ideologie ist, sondern hier auch in Opposition gegen Staat und Bürokratie steht. Die nationale Autonomie ist nicht einfach ein fehlerhafter Beschluss irgendeines Parteitages, der hätte vermieden werden können, sondern eine natürliche Entwicklungsform, die sich von Stufe zu Stufe durch die Verhältnisse selbst ausgebildet hat.

Als aber durch die Eroberung des allgemeinen Wahlrechtes der parlamentarische Kampfboden eines modernen kapitalistischen Staates geschaffen war und das Proletariat zu einer wichtigen politischen Macht geworden war, konnte dieser Zustand nicht bestehen bleiben. Jetzt musste sich zeigen, ob die autonomen Parteien, noch eine wirkliche Gesamtpartei bildeten. Jetzt kam man nicht mehr aus mit platonischen Erklärungen der Zusammengehörigkeit; jetzt war eine festere Einheit notwendig, in der Weise, dass die sozialistischen Fraktionen der verschiedenen nationalen Parteien sich praktisch und tatsächlich einem gemeinsamen Willen unterordneten. Diese Probe hat die politische Bewegung nicht bestanden; in einzelnen ihrer Teile hatte der Nationalismus schon so tief Wurzel gefasst, dass sie sich nicht nur mit den anderen sozialistischen Fraktionen, sondern genauso oder noch mehr mit den bürgerlichen Parteien ihrer Nation verwandt fühlten. So erklärt sich der scheinbare Widerspruch, dass die Gesamtpartei gerade in dem Augenblick zugrunde ging, als die neuen Bedingungen des politischen Kampfes eine wirkliche Gesamtpartei, eine feste Einheit des gesamten österreichischen Proletariats erforderten – der lose Zusammenhang der nationalen Gruppen wurde zerbrochen, als die Anforderung an sie herantrat, sich zu einer festen Einheit zu vereinigen. Aber dadurch wird zugleich klar, dass dieses Fehlen einer Gesamtpartei nur ein Übergangszustand sein kann. Aus der separatistischen Krise muss notwendig die neue Gesamtpartei als geschlossene politische Organisation der ganzen österreichischen Arbeiterklasse emporkommen.

Die autonomen nationalen Parteien sind Gebilde der Vergangenheit, die den neuen Kampfbedingungen nicht mehr entsprechen. Der politische Kampf wird für alle Nationen zusammen in einem einzigen Parlament in Wien geführt; dort kämpfen nicht tschechische Sozialdemokraten gegen die tschechische Bourgeoisie, sondern mit allen anderen Arbeitervertretern gegen die ganze österreichische Bourgeoisie. Man hat demgegenüber gesagt, dass der Wahlkampf innerhalb der Nation geführt wird und dass nicht Staat und Bürokratie, sondern die bürgerlichen Parteien der eigenen Nation dabei die Gegner sind. Das ist richtig; aber der Wahlkampf ist gleichsam nur eine Verlängerung des parlamentarischen Kampfes. Nicht die Worte, sondern die Taten unserer Gegner bilden das Material im Wahlkampf, und diese Taten sind im Reichsrat verübt, gehören der Tätigkeit des österreichischen Parlaments an. Daher rückt auch der Wahlkampf die Arbeiter aus der kleinen nationalen Welt heraus und weist sie auf das größere Herrschaftsgebilde hin, das als die mächtige Zwangsorganisation der Kapitalistenklasse ihr Leben beherrscht.

Umso mehr, als der Staat, der früher gegen die Nationen schwach und machtlos erschien, infolge der großkapitalistischen Entwicklung immer mächtiger hervortritt. Die Entwicklung des Imperialismus, der auch die Donaumonarchie mitreißt, legt immer gewaltigere Machtmittel zum Zwecke der Weltpolitik in die Hände des Staates, legt einen immer größeren militärischen und Steuerdruck auf die Massen, dämmt die Opposition der bürgerlichen, nationalen Parteien ein und geht über die sozialpolitischen Forderungen der Arbeiter einfach hinweg. Der Imperialismus muss den gemeinsamen Klassenkampf der Arbeiter gewaltig anstacheln; und gegen seine weltbewegenden Kämpfe, die Kapital und Arbeit in den schroffsten Gegensatz gegeneinanderstellen, sinken die Objekte des nationalen Haders zu völliger Bedeutungslosigkeit herab. Und es ist gar nicht ausgeschlossen, dass die gemeinsamen Gefahren, womit die Weltpolitik die Arbeiter bedroht, vor allem die Kriegsgefahr, schneller als man denkt, die jetzt getrennten Arbeitermassen zum gemeinsamen Kampf zusammenführen werden.

Natürlich muss die Propaganda und die Aufklärung in jeder Nation wegen der besonderen Sprache besonders betrieben werden. Die Praxis des

Arbeiterkampfes hat mit den Nationen als Gruppen verschiedener Sprache zu rechnen; das gilt für die Partei genauso gut, wie für die Gewerkschaftsbewegung. Als Kampforganisationen müssen beide, Partei und Gewerkschaft, staatlich international einheitlich organisiert sein. Zum Zwecke der Propaganda, der Aufklärung, der Bildungsbestrebungen, die sie in gleicher Weise und gemeinsam angehen, ist eine nationale Unterorganisation und Gliederung dieser Einheiten nötig.

Die nationale Autonomie

Wenn wir auf die Schlagwörter und Losungen des Nationalismus nicht eingehen und immer mit den Losungen des Klassenkampfes und des Sozialismus antworten, so soll das nicht bedeuten, dass wir den nationalen Fragen gegenüber eine Art Straußpolitik befolgen. Denn sie sind reale Fragen, die die Köpfe der Menschen beschäftigen und ihrer Lösung harren. Wir bringen den Arbeitern zum Bewusstsein, dass nicht diese Fragen, sondern Ausbeutung und Klassenkampf für sie die wichtigen, alles beherrschenden Lebensfragen sind; aber damit sind die anderen Fragen nicht aus der Welt verschwunden und wir müssen zeigen, dass wir sie lösen können. Denn die Sozialdemokratie vertröstet die Menschen nicht einfach auf den Zukunftsstaat, sondern zeigt in ihrem Programm der Augenblicksforderungen, wie sie jede Einzelfrage, um die heute gekämpft wird, lösen will. Wir suchen nicht nur die christlichen Arbeiter mit allen anderen ohne Rücksicht auf die Religion zum gemeinsamen Klassenkampfe zu vereinigen; sondern in unserem Programmsatz: „Erklärung der Religion zur Privatsache“, zeigen wir ihnen auch den Weg, ihr religiöses Interesse besser zu wahren, als durch religiöse Kämpfe und Streitigkeiten. Gegen die Machtkämpfe der Kirchen, die zu ihrem Charakter als Herrschaftsorganisationen gehören, stellen wir das Prinzip der Selbstbestimmung und der Freiheit aller Menschen auf: ihre religiöse Überzeugung ohne fremde Beeinträchtigung zu betätigen. Dieser Programmsatz gibt nicht die Lösung jeder Einzelfrage, sondern enthält ihre allgemeine Lösung, da sie den Boden schafft, auf dem sie die Einzelfragen nach freiem Belieben regeln können. In dem aller staatlicher Zwang aufgehoben wird, fällt jede Notwendigkeit der Abwehr und des Streites weg; die religiösen Fragen werden aus der Politik ausgeschaltet und den Organisationen überlassen, die die Menschen sich nach freiem Willen bilden.

In ähnlicher Weise stehen wir auch zu den nationalen Fragen. Das sozialdemokratische Programm der nationalen Autonomie bietet hier die praktische Lösung, die die Kämpfe der Nationen gegenstandslos machen würde. Die Nationen werden, durch die Anwendung des Personalprinzips an Stelle des Territorialprinzips, als Organisationen anerkannt, denen im Rahmen des Staates die Sorge für alle kulturellen Interessen der Nationsgemeinschaft zufällt. Jede Nation bekommt dadurch die rechtliche Macht, auch wo sie Minderheit ist, ihre Angelegenheiten selbständig zu regeln; keine Nation ist genötigt, sich diese Macht im Kampfe um Einfluss auf den Staat immer wieder zu erobern und zu behaupten. Damit wäre dem Machtkampf der Nationen, der durch die endlose Obstruktion das ganze parlamentarische Leben lähmt und jede Beschäftigung mit sozialen Fragen verhindert, völlig ein Ende bereitet. Als die bürgerlichen Parteien blind gegeneinander tobten, ohne weiterzukommen und ratlos vor der Frage standen, wie aus dem Chaos herauszukommen, hat die Sozialdemokratie den praktischen Weg gezeigt, wie die berechtigten nationalen Wünsche zu erfüllen sind, ohne dass man sich gegenseitig zu schädigen braucht.

Damit ist aber nicht gesagt, dass dieses Programm nun auch Aussicht auf Verwirklichung hat. Wir sind alle überzeugt, dass unsere Forderung der Erklärung der Religion zur Privatsache, wie die meisten unserer Augenblicksforderungen, vom kapitalistischen Staate auch nicht verwirklicht werden wird. Unter dem Kapitalismus ist die Religion nicht, wie den Leuten vorgetäuscht wird, eine freie persönliche Überzeugung – wäre sie das, so müssten die Wortführer der Religion unseren Programmsatz übernehmen und durchführen –, sondern ein Herrschaftsmittel in den Händen der besitzen- den Klasse; und dieses Mittel wird sie nicht aus den Händen geben. Etwas Ähnliches liegt nun auch bei unserem Nationalprogramm vor, das die Nationen als das zu verwirklichen sucht, wofür sie ausgegeben werden. Die Nationen sind nicht einfach Gruppen von Menschen, die dieselben Kulturinteressen haben und sich daher friedlich mit anderen Nationen vertragen wollen; sie sind Kampforganisationen der Bourgeoisie, zum Zwecke der Gewinnung von Macht im Staate. Jede nationale Bourgeoisie hofft ihr Machtgebiet auf Kosten des Gegners zu erweitern; dass sie daher aus eigenem Antrieb diese kraftverzehrenden Kämpfe einstellen werden, ist in derselben Weise fraglich, wie es ausgeschlossen ist, dass die kapitalistischen Weltmächte durch eine vernünftige Regelung ihrer Streitobjekte den ewigen Weltfrieden herbeiführen werden. Allerdings liegt hier die Sache insoweit anders, als es in Österreich eine höhere Instanz gibt, die eingreifen könnte, den Staat, die regierende Bürokratie. In der Regel wird auch darauf gerechnet, dass die zentrale Staatsgewalt aus Selbsterhaltungstrieb zur Lösung der nationalen Streitigkeiten schreiten wird, weil sie den Staat auseinanderzureißen drohen und den regelmäßigen Gang der Staatsmaschine verhindern. Aber der Staat hat schon gelernt, mit den nationalen Kämpfen auszukommen, nutzt sie sogar zur Stärkung der Regierungsmacht gegenüber dem Parlament aus, sodass eine absolute Notwendigkeit, sie zu schlichten, nicht vorliegt. Und was das Wichtigste ist: die Durchführung der nationalen Autonomie, wie die Sozialdemokratie sie fordert, hat zur Grundlage die demokratische Selbstverwaltung. Davor aber haben die feudal-klerikal-großkapitalistisch-militaristischen Kreise, die Österreich regieren, einen nur allzu begründeten und gesunden Schrecken.

Hat aber die Bourgeoisie wirklich nur ein Interesse daran, die nationalen Kämpfe einzustellen? Gerade umgekehrt hat sie das allergrößte Interesse, diese Kämpfe nicht einzustellen, und umso mehr, je stärker der Klassenkampf emporkommt. Denn ähnlich wie die religiösen, bilden die nationalen Gegensätze ein vorzügliches Mittel, das Proletariat zu spalten, durch ideologische Schlagwörter seine Aufmerksamkeit vom Klassenkampf abzulenken und seine Klasseneinheit zu verhindern. Das instinktive Streben der bürgerlichen Klassen, das Proletariat nicht zur Einheit, Klarheit und Macht kommen zu lassen, wird immer mehr zu einem Hauptmoment der bürgerlichen Politik. Wir sehen in Ländern, wie England, Holland, Amerika, sogar in Deutschland (wo die konservative Junkerpartei als ausgesprochene Klassenpartei eine Ausnahmestellung einnimmt), dass die Kämpfe zwischen den beiden großen bürgerlichen Parteien – in der Regel eine liberale“ und eine „konservative“ oder „klerikale“ Partei – umso schärfer und die Kampfrufe umso tönender werden, je mehr der reale Interessengegensatz zwischen ihnen verschwindet und ihr Gegensatz also in ideologischen, aus der Vergangenheit stammenden Schlagwörtern besteht. Wer den Marxismus schematisch auffasst, und daher in den politischen Parteien reine Interessenvertretungen bürgerlicher Gruppen sieht, steht hier vor einem Rätsel: wo man erwarten sollte, dass sie gegenüber dem drohenden Proletariat zu einer reaktionären Masse zusammenschmelzen sollten, scheint die Kluft gerade umgekehrt tiefer und breiter zu werden. Diese Erscheinung erklärt sich einfach aus dem instinktiven Empfinden, dass mit Gewalt allein gegen das Proletariat nichts zu machen ist, und dass es unendlich viel wichtiger ist, das Proletariat mit ideologischen Losungen zu verwirren und zu spalten. Daher werden in Österreich die nationalen Kämpfe der verschiedenen Bourgeoisien umso gewaltiger auflodern, je mehr sie gegenstandslos werden; je mehr die Herren sich in der Teilung der Staatsmacht hinter den Kulissen zusammenfinden, umso wütender pauken sie wegen nationaler Bagatellen in den öffentlichen Debatten aufeinander los. Früher suchte jede Bourgeoisie das Proletariat ihrer Nation geschlossen hinter sich zu scharen, um mit größerer Macht den nationalen Gegner bekämpfen zu können; heute muss umgekehrt immer mehr der Kampf gegen den nationalen Gegner dazu dienen, das Proletariat hinter den bürgerlichen Parteien zu scharen, damit seine internationale Einheit verhindert wird. Dieselbe Rolle, die in anderen Ländern die Kampfrufe: hie Christentum! hie Gewissensfreiheit! erfüllen sollen, die Aufmerksamkeit der Arbeiter von den sozialen Fragen, in denen ihre Klassengemeinschaft und ihr Klassengegensatz gegen die Bourgeoisie hervortreten würde, abzulenken, dieselbe Rolle werden in Österreich immer mehr die nationalen Kampfrufe spielen.

Wir dürfen also kaum darauf rechnen, dass die praktische Lösung der nationalen Streitigkeiten, die wir vorschlagen, je verwirklicht werden wird, gerade aus dem Grunde, dass sie die Kämpfe gegenstandslos machen würde. Wenn Bauer sagt: „Nationale Machtpolitik und proletarische Klassenpolitik sind logisch schwer vereinbar; psychologisch schließen sie einander aus; die proletarische Armee wird durch die nationalen Gegensätze in jedem Augenblicke gesprengt, der nationale Streit macht den Klassenkampf unmöglich. Die zentralistisch-atomistische Verfassung, die den nationalen Machtkampf unvermeidlich macht, ist darum für das Proletariat unerträglich“ (S. 313—314) – so mag das teilweise, soweit es zur Begründung unserer Programmforderung dient, richtig sein. Soll es aber bedeuten, dass zuerst der nationale Kampf aufhören muss, bevor der Klassenkampf sich entfalten kann, so ist es unrichtig. Denn dass es in unserem Interesse liegt, die nationalen Kämpfe zu beseitigen, ist für die Bourgeoisie gerade ein Grund, sie möglichst zu erhalten. Aber damit wird sie uns doch nicht aufhalten können. Die proletarische Armee wird durch die nationalen Gegensätze nur so lange gesprengt, als das sozialistische Klassenbewusstsein schwach ist. Schließlich geht der Klassenkampf einfach über den nationalen Streit hinweg. Nicht durch unseren Vorschlag der nationalen Autonomie, dessen Verwirklichung nicht in unserer Hand liegt, sondern nur durch die Stärkung des Klassenbewusstseins wird die verhängnisvolle Macht des Nationalismus in Wirklichkeit gebrochen werden.

Daher wäre es falsch, wollten wir all unsere Kraft auf eine „positive nationale Politik“ verwenden, und alles auf diese eine Karte, auf die Verwirklichung unseres Nationalitätenprogramms als Vorbedingung der Entfaltung des Klassenkampfes setzen. Diese Programmforderung dient nur, wie die meisten unserer praktischen Augenblicksforderungen, dazu, zu zeigen, wie leicht wir diese Fragen lösen würden, wenn wir erst die Macht hätten, und an der Vernunft unserer Lösungen die Unvernunft der bürgerlichen Losungen umso schroffer hervortreten zu lassen. Aber solange die Bourgeoisie herrscht, wird unsere vernünftige Lösung wohl auf dem Papier stehen bleiben. Unsere Politik und unsere Agitation können nur darauf gerichtet sein, immer und nur den Klassenkampf zu führen, das Klassenempfinden zu wecken, damit die Arbeiter durch klare Einsicht in die Wirklichkeit gegen die Schlagworte des Nationalismus unempfindlich werden.


1Anm. d. Red., Potentant, Potentantin sind Herrscher und Herrscherin.

2Anm. d. Red., der oder ein Hinterfaff ist ein Untertan, oder Lehnsmann, in engerer Bedeutung diejenigen Bauern, welche so wenig Acker besitzen, dass sie kein Zugvieh darauf halten können.

3In West-Europa werden daher Staat und Nation als gleichbedeutend gebraucht. Die Staatsschuld heißt nationale Schuld und die Interessen der Staatsgemeinschaft heißen immer die nationalen Interessen.

4Am Klarsten ist dieses Verhältnis von Geist und Materie in den Schriften von Joseph Dietzgen auseinandergesetzt, der durch seine Darlegung der philosophischen Grundlagen des Marxismus mit Recht den Namen verdient, womit Marx ihn einmal bezeichnete, den des Philosophen des Proletariats.

5Seitdem sind in den Parteien Neubildungen und Umwandlungen vorgekommen, auf die wir hier nicht eingehen, da es sich nur um das Beispiel zur Erläuterung der theoretischen Stellungnahmen handelt.

6So bezweifelte neulich Otto Bauer in seiner Besprechung der Strasser’schen Broschüre: „Der Arbeiter und die Nation“ im „Kampf“ (5, 9), ob gegen den mitreißenden Glanz der nationalen Ideale die Hervorhebung der Klasseninteressen des Proletariats irgendwelche Wirkung ausüben könnte.

Dieser Beitrag wurde unter Anton Pannekoek, Kritik am Nationalismus, Texte veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.