Gefunden auf der Seite von Grupo Barbaria, die Übersetzung ist von uns. Dieser Text von Jacques Camatte kann nicht ohne ein paar Anmerkungen zu seiner Person gemacht werden.
Jacques Camatte, geboren 1935, war bis 1966 Mitglied der IKP (Internationale Kommunistische Partei) aber verließ diese als Konflikte mit Amadeo Bordiga sich zuspitzten. Bis zu diesem Zeitpunkt vertrat Camatte was bekannterweise als die italienische kommunistische Linke Position gilt, ob despektiv oder korrekt, auch bekannt als Bordigismus. Ab dem Moment begann er mit anderen Personen die Publikation Invariance zu veröffentlichen, die bis heutzuzage formell existiert, wo er sich über die Jahren anderen Ideen annähern würde die innerhalb der IKP keinen Platz hatten, seien es dass was bekannterweise als deutsch-holländische kommunistische Linke bezeichnet wird, auch bekannt als Rätekommunismus, und später auch anarchistischen Positionen. Diese Publikation soll aufgrund späterer Beiträge einen Einfluss sowohl bei Fredy Perlman wie bei John Zerzan ausgeübt werden.
Fernab der Entwicklung von Camatte nachdem er die IKP verließ, interessiert uns sehr die Thematik die sich mit der radikalen Kritik an der Demokratie beschäftigt. Deshalb haben wir diesen Text übersetzt, bei dem noch Positionen, Gedanken usw. vorkommen die wir nicht teilen und seiner Zeit der IKP noch zurückzuführen sind. Sei es das Verteidigen des Konzeptes der historischen Partei des Proletariats, oder der Diktatur des Proletariats. Was uns hier interessiert ist die Kritik an der Demokratie, eine Kritik an der sich Anarchistinnen und Anarchisten auch ausüben müssten, anstatt diese immer wieder zu verteidigen.
Wenn auch einige Gruppen und Projekte es nicht verstehen, oder verstehen wollen, warum wir auch solche Texte veröffentlichen, trotz Differenzen hier und da, welche wir auch erwähnen, ist und wird der Grund immer derselbe sein, die Kritik muss verschärft werden, die Kritik muss direkter und tiefer werden, die Kritik und das Wissen ist eine Waffen in den Händen derer die die bestehende Realität des Kapitalismus und des Staates ein Ende setzen wollen, es reicht nicht sich vulgärer Begriffe zu bedienen. Wer dies nicht verstehen will, wird am Ende genau das verteidigen was er oder sie angeblich angreift und zerstören will. Beispiele gibt es in der Geschichte und in der Gegenwart wie Sand am Meer.
Jacques Camatte: Die demokratische Mystifikation
Wir veröffentlichen die Übersetzung, die von der GCI-IKG in Miriam Qarmats Ausgabe: Gegen die Demokratie gemacht wurde, ohne ihre hinzugefügten Kommentare und mit unseren Überarbeitungen aus dem Original, das hier verfügbar ist. Sie kann auch als .pdf heruntergeladen werden
Die demokratische Mystifikation
Jacques Camatte
Invariance, Serie I, Nr. 6 (April-Juni 1969)
Der Ansturm des Proletariats auf die Zitadellen des Kapitals hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die revolutionäre Bewegung des Proletariats der Demokratie ein für alle Mal ein Ende setzt. Die Demokratie ist die letzte Zuflucht aller Renegaten, allen Verrats, denn sie ist die erste Hoffnung derjenigen, die glauben, dass die gegenwärtige Welt, die bis in ihre Grundfesten verrottet ist, gesäubert und wiederbelebt werden muss.
„Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizism[us] veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis.“ Karl Marx, 8. These über Feuerbach
These 1
Ganz allgemein können wir Demokratie als das Verhalten des Menschen, die Organisation des Menschen definieren, wenn er seine ursprüngliche organische Einheit mit der Gemeinschaft verloren hat. Sie existiert dann während der gesamten Periode zwischen dem primitiven Kommunismus und dem wissenschaftlichen Kommunismus.
These 2
Die Demokratie entsteht in dem Moment, in dem es eine Aufteilung unter den Menschen und eine Verteilung des Habens gibt, d.h. sie entsteht mit dem Privateigentum, den Individuen und der Aufteilung der Gesellschaft in Klassen, mit der Bildung des Staates. Sie wird also in dem Maße reiner und reiner, in dem das Privateigentum verallgemeinert wird und die Klassen in der Gesellschaft deutlicher hervortreten.
These 3
Die Demokratie setzt ein gemeinsames Gut voraus, das verteilt werden muss. In der antiken Gesellschaft setzte die begrenzte Demokratie die Existenz eines ager publicus voraus, und Sklaven waren keine Menschen. In der modernen Gesellschaft ist dieses Gut universeller (es umfasst eine größere Anzahl von Menschen), abstrakter und illusorisch: das Vaterland.
These 4
Die Demokratie schließt Autorität, Diktatur und den Staat keineswegs aus. Im Gegenteil, sie braucht sie als Grundlage. Wer könnte sonst die Verteilung garantieren, wer könnte die Beziehungen zwischen den Einzelnen und zwischen den Einzelnen und dem Gemeinwohl regeln, wenn es den Staat nicht gäbe?
In einer voll entwickelten kapitalistischen Gesellschaft tritt der Staat in doppelter Hinsicht als Hüter der Verteilung in Erscheinung, um zu verhindern, dass der Mehrwert vom Proletariat aufgefressen wird, und um dafür zu sorgen, dass er in Form von Industrie- und Handelsgewinnen, Zinsen, Mieten usw. auf die verschiedenen kapitalistischen Sphären verteilt wird.
These 5
Demokratie impliziert also die Existenz von Individuen, von Klassen und des Staates; Demokratie ist also gleichzeitig eine Regierungsform, eine Form der Herrschaft einer Klasse und der Mechanismus der Vereinigung und Versöhnung.
In der Tat spalten ökonomische Prozesse an ihrem Ursprung die Menschen (Prozess der Enteignung), die in der primitiven Gemeinschaft vereint waren. Die alten sozialen Beziehungen werden dadurch zerstört. Das Gold wird zu einer realen Macht, die die Autorität der Gemeinschaft ersetzt. Materielle Antagonismen bringen die Menschen so gegeneinander auf, dass sie die Gesellschaft zum Explodieren bringen könnten und sie lebensunfähig machen. Die Demokratie erscheint als Mittel zur Versöhnung von Gegnern, als die politische Form, die am besten in der Lage ist, zu vereinen, was geteilt wurde. Sie stellt die Versöhnung zwischen der alten Gemeinschaft und der neuen Gesellschaft dar. Die mystifizierende Form liegt in der scheinbaren Wiederherstellung einer verlorenen Einheit. Die Mystifizierung war fortschrittlich.
Am entgegengesetzten Pol der Geschichte, in unseren Tagen, hat der ökonomische Prozess zur Vergesellschaftung der Produktion und der Menschen geführt. Die Politik hingegen neigt dazu, sie zu spalten und sie als bloße Tauschflächen für das Kapital zu erhalten. Die kommunistische Form gewinnt in der alten kapitalistischen Welt immer mehr an Macht. Die Demokratie erscheint als Versöhnung zwischen der Vergangenheit, die noch in unserer Gegenwart wirkt, und der Zukunft: der kommunistischen Gesellschaft. Die Mystifizierung ist reaktionär.
These 6
Es wird oft behauptet, dass in den Ursprüngen des Lebens unserer Spezies, im primitiven Kommunismus, Keime der Demokratie zu finden waren. Manche behaupten sogar, dass es Formen von ihr gab. Dabei wird jedoch übersehen, dass wir in der niederen Form Keime der höheren Form finden können, die sich sporadisch manifestiert. Diese „Demokratie“ trat unter genau definierten Umständen auf, nach deren Erfüllung es eine Rückkehr zur alten Organisationsform gab; zum Beispiel die Militärdemokratie in ihren Ursprüngen. Die Wahl des Anführers fand zu einem bestimmten Zeitpunkt und im Hinblick auf bestimmte Operationen statt. Sobald die Operationen abgeschlossen waren, wurde der Anführer wieder in die Gemeinschaft aufgenommen. Die Demokratie, die sich vorübergehend manifestierte, wurde wieder absorbiert. Dasselbe geschah mit den Formen des Kapitals, die Marx als prä-diluvianisch bezeichnete. Der Wucher ist die archaische Form des Geldkapitals, die sich in den alten Gesellschaften manifestieren konnte. Aber seine Existenz war prekär, weil die Gesellschaft sich gegen seine auflösende Kraft wehrte und ihn verbannte. Nur wenn der Mensch in eine Ware verwandelt wird, kann sich das Kapital auf einer soliden Grundlage entwickeln, ohne dass es wieder aufgesaugt werden kann. Die Demokratie kann sich erst ab dem Moment wirklich manifestieren, in dem die Menschen völlig gespalten sind und die Nabelschnur, die sie mit der Gemeinschaft verbindet, durchtrennt wurde, d.h. wenn es nur noch Individuen gibt.
Der Kommunismus mag sich manchmal in dieser Gesellschaft manifestieren, aber er wird immer wieder aufgesaugt. Er kann sich erst in dem Moment wirklich entwickeln, in dem die materielle Gemeinschaft zerstört wird.
These 7
Das demokratische Phänomen tritt in zwei historischen Perioden deutlich zutage: zur Zeit der Auflösung der Ur-Gemeinschaft in Griechenland und zur Zeit der Auflösung der Feudalgesellschaft in Westeuropa. Es ist unbestreitbar, dass das Phänomen in dieser zweiten Periode am stärksten in Erscheinung tritt, weil die Menschen wirklich auf den Zustand von Individuen reduziert wurden und weil die bisherigen sozialen Beziehungen sie nicht mehr zusammenhalten konnten. Die bourgeoise Revolution erscheint immer als eine Massenmobilisierung. Daher das bourgeoise Dilemma: wie kann man die Massen vereinen, sie halten und in den neuen Gesellschaftsformen fixieren? Daher auch die institutionelle Krankheit und die Entfesselung des Rechts in der bourgeoisen Gesellschaft. Die bourgeoise Revolution ist sozial mit einer politischen Seele.
In der kommunistischen Revolution werden die Massen bereits durch die kapitalistische Gesellschaft organisiert sein. Sie werden nicht nach neuen Organisationsformen suchen, sondern ein neues kollektives Wesen, die menschliche Gemeinschaft, aufbauen. Das wird deutlich, wenn die Klasse als historisches Wesen handelt, wenn sie sich als Partei konstituiert.
Innerhalb der kommunistischen Bewegung wird oft festgestellt, dass die Revolution kein Problem der Organisationsformen ist. Für die kapitalistische Gesellschaft ist im Gegenteil alles ein Organisationsproblem. Am Anfang ihrer Entwicklung spiegelt sich das in der Suche nach guten Institutionen wider, am Ende in der Suche nach den Strukturen, die am besten geeignet sind, die Menschen in die Gefängnisse des Kapitals zu sperren: der Faschismus. Bei beiden Extremen steht die Demokratie im Mittelpunkt der Suche: zuerst die politische Demokratie, dann die soziale Demokratie.
These 8
Die Mystifizierung ist kein Phänomen, das von den Menschen der herrschenden Klasse gewollt ist, sie ist kein von ihnen erfundener Betrug. Wenn es so wäre, würde eine einfache Propaganda ausreichen, um es aus den Gehirnen der Menschen zu entfernen. In Wirklichkeit entsteht es in den Tiefen der sozialen Struktur, in den sozialen Beziehungen.
„Daß ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis sich als ein außer den Individuen vorhandener Gegenstand und die bestimmten Beziehungen, die sie im Produktionsprozeß ihres gesellschaftlichen Lebens eingeben, sich als spezifische Eigenschaften eines Dings darstellen, diese Verkehrung und nicht eingebildete, sondern prosaisch reelle Mystifikation charakterisiert alle gesellschaftlichen Formen der Tauschwert setzenden Arbeit.“ Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie
Es ist daher notwendig zu erklären, in welchem Sinne die Wirklichkeit mystifiziert wird und wie diese Mystifizierung, die zunächst einfach ist, immer größer wird und mit dem Kapitalismus ihren Höhepunkt erreicht.
These 9
Die menschliche Gemeinschaft war ursprünglich der Diktatur der Natur unterworfen. Sie musste gegen die Natur kämpfen, um zu überleben. Die Diktatur ist direkt und unterjocht die Gemeinschaft als Ganzes.
Mit der Entwicklung der Klassengesellschaft präsentiert sich der Staat als Vertreter der Gemeinschaft und behauptet, den Kampf des Menschen gegen die Natur zu verkörpern. Aber angesichts der schwachen Entwicklung der Produktivkräfte ist die Diktatur der Produktivkräfte immer wirksam. Diese Diktatur ist indirekt, wird durch den Staat vermittelt und trifft in erster Linie die am meisten benachteiligten Bevölkerungsschichten. Wenn der Staat den Menschen definiert, nimmt er in Wirklichkeit den Menschen der herrschenden Klasse als Substrat seiner Definition. Die Mystifizierung ist total.
These 10
Im Kapitalismus haben wir eine erste Periode, in der die Bourgeoisie zwar die Macht ergriffen hat, das Kapital aber nur eine formale Herrschaft ausüben kann. Viele Überbleibsel der vorangegangenen gesellschaftlichen Formationen bestehen fort und behindern seine Herrschaft über die Gesellschaft als Ganzes. Es war die Zeit der politischen Demokratie, in der die individuelle Freiheit und der freie Wettbewerb propagiert wurden. Die Bourgeoisie präsentierte sie als Mittel zur Befreiung der Menschen. Das ist eine Mystifikation, denn „nicht die Individuen sind frei gesetzt in der freien Konkurrenz; sondern das Kapital ist frei gesetzt.“ (Karl Marx, Grundrisse) [und er fährt fort:].
„Daher andrerseits die Abgeschmacktheit, die freie Konkurrenz als die letzte Entwicklung der menschlichen Freiheit zu betrachten; und Negation der freien Konkurrenz = Negation individueller Freiheit und auf individueller Freiheit gegründeter gesellschaftlicher Produktion. Es ist eben nur die freie Entwicklung auf einer bornierten Grundlage – der Grundlage der Herrschaft des Kapitals. Diese Art individueller Freiheit ist daher zugleich die völligste Aufhebung aller individuellen Freiheit und die völlige Unterjochung der Individualität unter gesellschaftliche Bedingungen, die die Form von sachlichen Mächten, ja von übermächtigen Sachen – von den sich beziehenden Individuen selbst unabhängigen Sachen annehmen.
Die Entwicklung dessen, was die freie Konkurrenz ist, ist die einzig rationelle Antwort auf die Verhimmlung derselben durch die Middleclasspropheten oder ihre Verteufelung durch die Sozialisten.“
These 11
„Nach ihrem Sieg durch Waffen und Terror sind Demokratie und Parlamentarismus für die Bourgeoisie unverzichtbar, um eine in Klassen gespaltene Gesellschaft zu beherrschen.“ Battaglia comunista, Nr. 18 (1951)
Die Versöhnung war notwendig, um zu herrschen, da es unmöglich war, die Herrschaft allein durch Terror aufrechtzuerhalten. Nach der Machtergreifung durch Gewalt und Terror braucht das Proletariat keine Demokratie mehr, nicht weil die Klassen von einem Tag auf den anderen verschwinden, sondern weil das Proletariat keine Masken und keine Mystifikationen besitzt. Die Diktatur ist notwendig, um jede Möglichkeit der Wiederherstellung der gegnerischen Klasse zu verhindern. Außerdem ist der Zugang des Proletariats zum Staat seine eigene Negation als Klasse sowie die Negation anderer Klassen. Es ist der Beginn der Vereinheitlichung der Spezies, der Bildung der Gemeinschaft. Die Forderung nach Demokratie würde die Forderung nach einer Versöhnung zwischen den Klassen implizieren, was bedeuten würde, dass man bezweifelt, dass der Kommunismus die Lösung aller Antagonismen ist, dass er die Versöhnung des Menschen mit sich selbst ist.
These 12
Mit dem Kapital ist die ökonomische Bewegung nicht mehr von der sozialen Bewegung getrennt. Mit dem Kauf und Verkauf von Arbeitskraft findet die Vereinigung statt, aber auf der Grundlage der Unterwerfung des Menschen unter das Kapital. Letzteres konstituiert sich als materielle Gemeinschaft und es gibt keine Politik mehr, da das Kapital selbst die Sklaven organisiert.
Bis zu dieser historischen Phase gab es eine mehr oder weniger klare Trennung zwischen Produktion und Verteilung. Die politische Demokratie konnte als Mittel zur gerechteren Verteilung der Produkte gesehen werden. Aber wenn die materielle Gemeinschaft verwirklicht ist, sind Produktion und Verteilung untrennbar miteinander verbunden; die Erfordernisse der Zirkulation bedingen die Verteilung. Erstere ist nun nicht mehr etwas, das außerhalb der Produktion liegt, sondern im Gegenteil ein wesentliches Moment des Gesamtprozesses des Kapitals. Es ist also das Kapital selbst, das die Verteilung bedingt.
Alle Menschen erfüllen eine Funktion für das Kapital, die dessen Existenz im Wesentlichen voraussetzt. Als Gegenleistung für die Erfüllung dieser Funktion erhalten die Menschen eine bestimmte Verteilung der Produkte in Form von Lohn. Wir haben also eine soziale Demokratie. Die Einkommenspolitik ist ein Mittel zu diesem Zweck.
These 13
In der Periode der formalen Herrschaft des Kapitals (politische Demokratie) ist die Demokratie keine Organisationsform, die sich dem Kapital entgegenstellt, sondern ein Mechanismus, den die kapitalistische Klasse einsetzt, um die Gesellschaft zu beherrschen. Es ist die Zeit, in der alle gesellschaftlichen Kräfte um das gleiche Ergebnis kämpfen. Deshalb kann das Proletariat für eine gewisse Zeit auch auf diesem Terrain intervenieren. Andererseits entwickeln sich auch innerhalb derselben Klasse Gegensätze, zum Beispiel zwischen der Industrie- und der Finanzbourgeoisie. Das Parlament ist also der Schauplatz, an dem die verschiedenen Interessen aufeinanderprallen. Das Proletariat kann die parlamentarische Tribüne nutzen, um die demokratische Mystifizierung anzuprangern und das allgemeine Wahlrecht als Mittel zur Organisierung der Klasse einzusetzen.
Wenn das Kapital seine reale Herrschaft erreicht und sich als materielle Gemeinschaft konstituiert hat, ist das Problem gelöst: es hat sich des Staates bemächtigt. Die Eroberung des Staates von innen heraus ist keine Frage mehr, denn sie ist „nur eine Formalität, die hohe Vorliebe des Volkslebens, eine Zeremonie. Das konstituierende Element ist die gesetzlich sanktionierte Lüge von Verfassungsstaaten, die sagen, dass der Staat das Interesse des Volkes ist oder dass das Volk das Interesse des Staates ist.“ (Karl Marx)1
These 14
Der demokratische Staat vertritt die Illusion, dass der Mensch die Gesellschaft steuert – dass er das ökonomische Phänomen steuern kann – er verkündet den souveränen Menschen. Der faschistische Staat ist die Verwirklichung der Illusion – in diesem Sinne kann er als deren Negation erscheinen: der Mensch ist nicht souverän. Zugleich ist der faschistische Staat aus diesem Grund die reale, erklärte Form des kapitalistischen Staates: die absolute Herrschaft des Kapitals. Das gesellschaftliche Ganze konnte mit der Trennung zwischen Theorie und Praxis nicht leben. Die Theorie sagte: der Mensch ist souverän; die Praxis bestätigte: es ist das Kapital. Es gab nur eine Möglichkeit der Verzerrung, solange das Kapital die Gesellschaft nicht absolut beherrschte. Im faschistischen Staat unterwirft die Realität die Idee, um sie zu einer realen Idee zu machen. Im demokratischen Staat unterwirft die Idee die Realität, um sie zu einer imaginären Realität zu machen. Die Demokratie der Sklaven des Kapitals unterdrückt die Mystifizierung, um sie besser zu verwirklichen. Die Demokraten wollen ihr neue Kraft verleihen, wenn sie glauben, dass sie das Proletariat mit dem Kapital versöhnen können.
Die Gesellschaft hat das Wesen ihrer Unterdrückung gefunden – das, was die Dualität, die Wirklichkeits-Verzerrung des Denkens, beseitigt. Ihm muss das befreiende Wesen entgegengesetzt werden, das die menschliche Gemeinschaft repräsentiert: die kommunistische Partei.
These 15
Das erklärt, warum die meisten Theoretiker des 19. Jahrhunderts Etatisten waren. Sie glaubten, sie könnten soziale Probleme auf der Ebene des Staates lösen. Sie waren Mediatoren. Sie haben nicht verstanden, dass das Proletariat nicht nur den alten Staatsapparat zerstören, sondern auch einen neuen an seine Stelle setzen sollte. Viele Sozialisten glaubten, man könne den Staat von innen heraus erobern, Anarchisten glaubten, sie könnten ihn über Nacht abschaffen.
Die Theoretiker des 20. Jahrhunderts sind Korporativisten, weil sie denken, dass es nur darum geht, die Produktion zu organisieren, sie zu humanisieren, um alle Probleme zu lösen. Sie sind Immediatisten. Das ist ein indirektes Bekenntnis zur Gültigkeit der Theorie des Proletariats. Die Behauptung, dass es notwendig wäre, das Proletariat mit der ökonomischen Bewegung zu versöhnen, bedeutet anzuerkennen, dass nur auf diesem Terrain die Lösung entstehen kann. Dieser Immediatismus ergibt sich aus der Tatsache, dass die kommunistische Gesellschaft innerhalb des Kapitalismus selbst immer mächtiger wird. Es geht nicht darum, sie zu versöhnen, sondern darum, die Macht des Kapitals und seiner organisierten Kraft, des kapitalistischen Staates, zu zerstören, der das private Monopol aufrechterhält, wenn alle ökonomischen Mechanismen dazu tendieren, es zum Verschwinden zu bringen. Die kommunistische Lösung ist ein Mittelweg. Die Realität scheint den Staat zu verbergen, es ist notwendig, ihn aufzuzeigen und gleichzeitig auf die Notwendigkeit eines anderen Übergangsstaates hinzuweisen: die Diktatur des Proletariats.
These 16
Der Übergang zur sozialen Demokratie war von Anfang an deutlich:
„Solange die Macht des Geldes nicht das Band der Dinge und Menschen war, mussten die sozialen Beziehungen politisch und religiös organisiert werden.“ Karl Marx2
Marx prangerte stets die politische Überheblichkeit an und legte die wirklichen Verhältnisse offen:
„Die Naturnotwendigkeit also, die menschlichen Wesenseigenschaften, so entfremdet sie auch erscheinen mögen, das Interesse halten die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft zusammen, das bürgerliche und nicht das politische Leben ist ihr reales Band.“ Karl Marx, Die heilige Familie
„Eben das Sklaventum der bürgerlichen Gesellschaft ist dem Schein nach die größte Freiheit, weil die scheinbar vollendete Unabhängigkeit des Individuums, welches die zügellose, nicht mehr von allgemeinen Banden und nicht mehr vom Menschen gebundne Bewegung seiner entfremdeten Lebenselemente, wie z.B. des Eigentums, der Industrie, der Religion etc., für seine eigne Freiheit nimmt, während sie vielmehr seine vollendete Knechtschaft und Unmenschlichkeit ist. An die Stelle des Privilegiums ist hier das Recht getreten.“ Karl Marx, Die Heilige Familie
Die Problematik der Demokratie wiederholt lediglich in anderer Form den trügerischen Gegensatz zwischen Wettbewerb und Monopol. Die materielle Gemeinschaft vereinigt beide. Mit dem Faschismus = soziale Demokratie werden auch Demokratie und Diktatur integriert. Deshalb ist sie ein Mittel zur Überwindung der Anarchie.
„Die Anarchie ist das Gesetz der von den gliedernden Privilegien emanzipierten bürgerlichen Gesellschaft, und die Anarchie der bürgerlichen Gesellschaft ist die Grundlage des modernen öffentlichen Zustandes, wie der öffentliche Zustand wieder seinerseits die Gewähr dieser Anarchie ist. So sehr sich beide entgegengesetzt sind, so sehr bedingen sie sich wechselseitig.“ Karl Marx, Die Heilige Familie
These 17
Jetzt, da die bourgeoise Klasse, die die Revolution angeführt hat, die die Entwicklung des Kapitals ermöglicht hat, verschwunden ist und durch die kapitalistische Klasse ersetzt wurde, die vom Kapital und seinem Verwertungsprozess lebt, jetzt, da die Herrschaft des Kapitals gesichert ist (Faschismus) und daher keine politische Schlichtung mehr nötig ist, weil sie oberflächlich ist, sondern eine ökonomische Schlichtung (Korporativismus, Doktrin der Bedürfnisse…), sind es die Mittelklassen, die zu Unterstützern der Demokratie werden. Doch je mehr der Kapitalismus gestärkt wird, desto mehr schwindet die Illusion, die Führung mit dem Kapital teilen zu können. Alles, was bleibt, ist die Forderung nach sozialer Demokratie, der politische Schein: demokratische Planung, Vollbeschäftigung… Indem die kapitalistische Gesellschaft jedoch soziale Sicherheit schafft und versucht, Vollbeschäftigung aufrechtzuerhalten, verwirklicht sie die fragliche soziale Demokratie: die der Sklaven des Kapitals.
Mit der Entwicklung der neuen Mittelklassen wird die Forderung nach Demokratie – nur – als Kommunismus dargestellt.
These 18
Was oben gesagt wurde, bezieht sich auf den euro-amerikanischen Raum und gilt nicht für alle Länder, in denen lange Zeit die asiatische Produktionsweise vorherrschte (Asien, Afrika) und in denen diese Produktionsweise immer noch vorherrscht (zum Beispiel Indien). In diesen Ländern ist das Individuum nicht produziert worden. Das Privateigentum ist zwar entstanden, aber es ist nicht autonom geworden, und das gilt auch für das Individuum. Das hängt mit den geo-sozialen Bedingungen dieser Länder zusammen und erklärt, warum sich der Kapitalismus nicht entwickeln kann, solange er sich nicht als Gemeinschaft konstituiert hat. Mit anderen Worten: erst wenn dieses Stadium erreicht ist, kann der Kapitalismus die alte Gemeinschaft ablösen und große Gebiete erobern. In diesen Ländern können sich die Menschen nicht so verhalten wie im Westen, und die politische Demokratie ist zwangsläufig ausgeschlossen. Wir können höchstens eine soziale Demokratie haben.
Deshalb finden wir in den Ländern, die am stärksten von der kapitalistischen Durchsetzung geprägt sind, ein doppeltes Phänomen: eine Versöhnung zwischen der realen Bewegung und der primitiven Gemeinschaft und eine weitere Versöhnung mit der zukünftigen Gemeinschaft: den Kommunismus. Daher die Schwierigkeit, diese Gesellschaften zu verstehen.
Mit anderen Worten: ein großer Teil der Menschheit kennt die demokratische Mystifizierung, wie der Westen sie kennt, nicht. Das ist eine positive Tatsache für die zukünftige Revolution.
Was Russland betrifft, so haben wir einen Zwischenfall. Hier hatte der Kapitalismus enorme Schwierigkeiten, sich zu etablieren. Dafür war eine proletarische Revolution notwendig. Auch hier hatte die westliche politische Demokratie keinen Raum, sich zu entwickeln, und wir können sehen, dass sie sich nicht entfalten konnte. Wir haben, wie heute im Westen, die soziale Demokratie. Leider hat auch dort die Konterrevolution Gift in Form der proletarischen Demokratie gebracht, und für viele ist die Ursache dafür, die Involution der Revolution, dass sie nicht verwirklicht wurde.
Die kommunistische Bewegung wird ihren Marsch fortsetzen, indem sie diese Tatsachen anerkennt und ihnen ihre ganze Bedeutung beimisst. Das Proletariat wird sich als Klasse und damit als Partei neu konstituieren und den engen Rahmen aller Klassengesellschaften hinter sich lassen. Die menschliche Spezies wird endlich in der Lage sein, sich zu vereinen und ein einziges Wesen zu bilden.
These 19
Alle historischen Formen der Demokratie entsprechen Phasen der Entwicklung, in denen die Produktion begrenzt war. Die verschiedenen Revolutionen, die aufeinander folgten, waren Teilrevolutionen. Ohne die Ausbeutung einer Klasse war eine ökonomische Entwicklung, ein Fortschreiten, unmöglich. Wir können sehen, dass diese Revolutionen seit der Antike zur Emanzipation einer wachsenden Masse von Menschen beigetragen haben. Daher die Idee, dass wir uns auf die perfekte Demokratie zubewegen, d.h. eine Demokratie, die alle Menschen zusammenbringt. Deshalb sind viele schnell dabei, die Gleichsetzung zu behaupten: Sozialismus = Demokratie. Es stimmt, dass mit der kommunistischen Revolution und der Diktatur des Proletariats eine größere Masse von Menschen als zuvor in das Feld dieser idealen Demokratie eintritt; dass das Proletariat durch die Verallgemeinerung seines proletarischen Zustands auf die gesamte Gesellschaft die Klassen beseitigt und die Demokratie verwirklicht – im Manifest heißt es, dass die Revolution die Eroberung der Demokratie ist. Es ist jedoch unabdingbar, hinzuzufügen, dass dieser Schritt zur Grenze, diese Verallgemeinerung, gleichzeitig die Zerstörung der Demokratie ist. Denn gleichzeitig wird die menschliche Masse nicht auf eine einfache Summe von Individuen reduziert, die alle rechtlich gleich sind, sondern in der Tat. Dies kann nur die Realität eines kurzen Moments in der Geschichte aufgrund einer erzwungenen Gleichstellung sein. Die Menschheit wird zu einem kollektiven Wesen, dem Gemeinwesen. Dieses wird außerhalb des demokratischen Phänomens geboren, und es ist das als Partei konstituierte Proletariat, das es an die Gesellschaft weitergeben wird. Wenn wir uns in die zukünftige Gesellschaft begeben, wird es nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative Veränderung geben. Die Demokratie „ist das antimarxistische Reich dieser Quantität, die ewig unfähig ist, sich in Qualität zu verwandeln“ (Amadeo Bordiga, A.d.Ü., 2005). Die Demokratie für die postrevolutionäre Gesellschaft zu beanspruchen, bedeutet, ihre Ohnmacht zu beanspruchen. Andererseits ist die kommunistische Revolution nicht länger eine partielle Revolution. Sie markiert das Ende der progressiven Emanzipation und die Verwirklichung der radikalen Emanzipation. Das bedeutet auch einen Qualitätssprung.
These 20
Die Demokratie basiert auf einem Dualismus und ist das Mittel, diesen zu überwinden. Die Demokratie löst den Dualismus zwischen Geist und Materie, der dem zwischen großen Menschen und Massen entspricht, durch die Delegation von Befugnissen auf; den zwischen Staatsbürger und Mensch, durch den Stimmzettel, das allgemeine Wahlrecht. Unter dem Vorwand, die Realität des totalen Seins zu erreichen, wird die Souveränität des Menschen an den Staat delegiert. Der Mensch wird von seiner menschlichen Macht losgelöst.
Die Gewaltenteilung braucht ihre Einheit und diese wird immer durch den Verstoß gegen eine Verfassung erreicht. Diese findet ihre Grundlage in der Trennung zwischen der faktischen Situation und der rechtlichen Situation. Der Übergang vom einen zum anderen wird durch Gewalt sichergestellt.
Das demokratische Prinzip ist in Wirklichkeit nichts anderes als die Akzeptanz einer Tatsache: die Spaltung der Wirklichkeit, der mit der Klassengesellschaft verbundene Dualismus.
These 21
Es wird sehr oft behauptet, der Demokratie im Allgemeinen, die ein leeres Konzept wäre, eine Form der Demokratie entgegenzusetzen, die der Schlüssel zur menschlichen Emanzipation wäre. Aber was kann etwas sein, dessen Besonderheit nicht nur im Widerspruch zu seinem allgemeinen Konzept steht, sondern dessen Negation sein muss? Eine bestimmte Demokratie (z. B. die proletarische) zu theoretisieren, bedeutet in der Tat, den qualitativen Sprung zu umgehen. Denn entweder steht die betreffende demokratische Form wirklich im Widerspruch zum allgemeinen Konzept und ist daher etwas anderes – warum dann Demokratie – oder sie ist mit diesem Konzept vereinbar und kann nur einen quantitativen Widerspruch aufweisen (z. B. eine größere Anzahl von Menschen umfassen), und in diesem Fall überschreitet sie die Grenzen nicht, auch wenn sie dazu neigt, sie zu verwerfen.
Diese These taucht oft in der Form auf: die proletarische Demokratie ist nicht die bourgeoise Demokratie, und man spricht von direkter Demokratie, um zu zeigen, dass, wenn die letztere einen Schnitt, eine Dualität (Delegation der Macht) erfordert, die erstere sie verweigert. Die zukünftige Gesellschaft wird dann als die Verwirklichung der direkten Demokratie definiert.
Dies ist nur die negative Negation der bourgeoisen Gesellschaft und keine positive Negation. Außerdem soll der Kommunismus durch eine Organisationsform definiert werden, die für verschiedene menschliche Erscheinungsformen besser geeignet ist. Aber Kommunismus ist die Bejahung eines Wesens, des wahren Gemeinwesens des Menschen. Die direkte Demokratie würde als Mittel zur Verwirklichung des Kommunismus erscheinen. Aber der Kommunismus braucht keine solche Vermittlung. Kommunismus ist keine Frage des Habens und Tuns, sondern eine Frage des Seins.
1A.d.Ü., wir haben diese Stelle gesucht, aber da wir nicht wissen aus welchen Werk und nichts ähnliches gefunden haben, haben wir es aus dem spanischen so Übersetzt, was mit absoluter Sicherheit nicht mit dem Originaltext sich überschneidet.
2A.d.Ü., wie bei Fußnote Nummer Drei.
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