(1938) Die Flagge beleidigen, André Prudhommeaux

Gefunden auf katesharpleylibrary, die Übersetzung ist von uns, ein weiterer Text von André Prudhommeaux und über die „Heuchelei“ von Regierungen, vor allem linker, in Kriegszeiten.


Die Flagge beleidigen (1938)

André Prudhommeaux

Die größtmögliche Beleidigung der Trikolore wurde soeben von den Neopatrioten gegen sie geschleudert.

Die Regierung Daladier1 hat sich zum Handlanger Mussolinis, Hitlers und der französischen Cagoulards2 gemacht, indem sie ein umfassendes Embargo gegen ausländische Antifaschisten verhängt hat.

Die Nationale Volksfront bzw. die Kammer der Nationalen Volksfront hat diese schändliche Maßnahme unterschrieben, die einen Verstoß gegen die Demokratie, einen dummen Chauvinismus und eine Feigheit dieser Nation darstellt.

Das gesamte Spektrum der politischen Parteien, Persönlichkeiten und Einrichtungen der Linken hat sich an dieser Schande beteiligt, ohne auch nur den geringsten Protest zu erheben.

Letztendlich hat das Land als Ganzes zu verstehen gegeben, dass es mit der Zwangsarbeit einverstanden ist, dass es mit dem Gemetzel einverstanden ist, dass es mit der abscheulichsten aller Union Sacrées einverstanden ist, nämlich mit Dummheit und Sklaventum.

Der gesamte Adel eines Volkes lässt sich an seiner Haltung gegenüber denjenigen ablesen, die nicht zu seiner Nation gehören.

Nun soll es auf Anordnung von Monsieur Albert Sarraut, genannt „Die Sphinx“, zwei ganz bestimmte Klassen von „Gästen Frankreichs“ geben: die wohlhabenden, geschützten, zu denen auch die Spione und agents provocateurs ausländischer Mächte gehören, wie Troncoso, Tamburini und Co.3, die S.A. aus dem Braunen Haus in Paris, die Handlanger der Faschisten, die Spitzel der GPU und der Gestapo, kurzum alle, die man mit Geld, Müßiggang, einwandfreien Papieren (seien sie echt oder gefälscht) und der Einhaltung des polizeilich-nationalkapitalistischen Spiels in Verbindung bringt. Und dann sind da noch die anderen

Die Anderen: das sind die Geächteten, die Verfolgten, die mutigen freien Menschen, die vor der Schmach der diktatorischen Herrscher geflohen sind. Es sind die Arbeiter, die von den französischen Kapitalisten nach Frankreich gelockt wurden und die wohlmeinend zugestimmt haben, ihre Muskeln an sie zu vermieten, ohne ganz zuzustimmen, auch ihre Seelen zu verkaufen. Es bedeutet all jene ausländischen Proletarier oder Kolonisten, die ihre Unabhängigkeit gegenüber den Denunzianten wie Chiappe4, Sarraut oder Doriot5 bewahrt haben – und ehrlich geblieben sind gegenüber den Schlägern der Konsulate, Mussolinis dopolavoro6 Schemen und den gelben Gewerkschaften/Syndikate – und ihre Integrität bewahrt haben, indem sie den Banden von Carbone7 und den Banden der Sodilarité Française8 aus dem Weg gegangen sind. Gemeint sind letztlich all die spanischen republikanischen Flüchtlinge, die sich (mit Bomben, faschistischen Flammenwerfern, Bajonetten der Schwarzhemden, den Halsabschneidern des Tercio9 und maurischen Söldnern, mit vom Papst gesegneten Granaten und manchmal sogar mit den Revolvern der stalinistischen Tscheka) bis in das ach so gastfreundliche und ach so liberale Land der französischen Demokratie durchgeschlagen haben.

Sie haben einen guten Ruf. Alle Aufhebungen von Ausweisungsbeschlüssen sind zu überprüfen und alle Akten sind erneut zu prüfen! Keine Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung für diejenigen, die sich bisher den Launen der Behörden entziehen konnten! Drakonische Strafen (mindestens ein Jahr Gefängnis) für jeden Verstoß gegen das Ausländergesetz! Drakonische Gefängnis- und Geldstrafen für jeden französischen Staatsbürger, der einen Ausländer, dessen Ausweis nicht auf dem neuesten Stand ist, aufgenommen, beherbergt oder unter seinem Dach beherbergt hat! Fahndungen auf der Straße, in möblierten Zimmern, auf öffentlichen Plätzen, in Werkstätten und Wohnungen. Belohnungen für Hinweise, für unaussprechliche Rache, für anonyme Informanten. Die polizeiliche Aufmerksamkeit richtet sich gegen alle, die es gewagt haben, zu denken, dass Frankreich ein Land ist, in dem sie noch das Recht haben, selbst zu denken und erhobenen Hauptes zu gehen, ohne im Gleichschritt zu marschieren und politisch, gewerkschaftlich und religiös in die Reihen des totalitären Faschismus gedrängt zu werden, auch wenn sie verhungern.

Dieses Klima der Provokation und des ungezügelten Geschwätzes, dieser Faschismus, vor dem sie fliehen wollten, wird von Frankreich zuerst gegen diese Menschen und sogar gegen seine eigenen, des Liberalismus schuldigen Staatsbürger inszeniert.

Die Politik der Volksfront und der Kommunisten, des von Thorez10 bis Marin11 reichenden Blocks, geht mit dem Ruf „Frankreich für die Franzosen!“ einher. Auf die Rufe „Frankreich für die Franzosen! „ werden morgen an der Pyrenäengrenze Maschinengewehre aufgestellt, nicht um sie auf faschistische oder hakenkreuzgeschmückte Flugzeuge zu richten, die Cerbère oder Bourg-Madame bombardieren wollen, sondern um die zusammengekauerten Massen der Arbeiterklasse zu beschießen, die von den Mördern Francos verfolgt werden, und um den Flüchtlingen, die über die französische Grenze Asyl suchen, die nur den Anhängern von Gil Robles12 und Juan March13 offen steht, aber gegen diese „Unerwünschten“ hermetisch abgeriegelt bleiben muss.

Angesichts einer solchen Schande, die in der Geschichte eines Volkes ohne Beispiel ist, gehen wir davon aus, dass jeder Franzose, dessen Bindung an das Land seiner Geburt nicht nur aus niederträchtiger Eifersucht und Habgier besteht, die Pflicht hat, sich als Fremder im eigenen Land zu betrachten. Und es bleibt ihm nichts anderes übrig, als eine Heimat zu verleugnen, die schamlos eine Welt umarmt, die eine abscheuliche Bruderschaft von Profiteuren, Spitzeln und Mördern ist, ein Land ohne Rechtschaffenheit, Ideale und Ehre.

Das Blut der Eingeborenen, die zu Tausenden von der französischen Regierung in Violettes Indochina und in Nordamerika abgeschlachtet wurden; das Blut der Spanier, die unter Luftangriffen vertrieben oder den Erschießungskommandos der Rebellenarmee ausgeliefert wurden; das Blut der Italiener und der Deutschen, die ihren faschistischen Henkern ausgeliefert wurden; das Blut derer, die wir als „unsere Freunde und unsere Gäste“ bezeichnet haben und die in den Augen aller gottgegebenen und von Menschen gemachten Gesetze heilig sind – dieses Blut steht auf dem Kopf der französischen Nation.

Dieses Blut ist und bleibt auf eurem Haupt, ihr alle, die ihr die Parteien unterstützt (ob diese nun vorgeben, „nationalistisch“ oder „internationalistisch“ zu sein), die durch ihr Schweigen oder ihre Stimmen die jüngste Schmach der Daladier-Regierung gebilligt, zugelassen, genehmigt, gefördert haben.

Was für eine Schande für alle, die sich als „Franzosen“ bezeichnen, wenn dieses Etikett gleichbedeutend ist mit so viel Elend, Geldgier und Pfennigfuchserei, wenn sie beispielsweise die gesamte asylsuchende Bevölkerung Spaniens in den sicheren Tod und die Verzweiflung zurückschicken, nur um 50 Milliarden Francs zu sparen!

Der deutsche Rassismus, der darauf abzielt, Andersdenkende aus Deutschland auszugrenzen, mag die humanitären Gefühle verletzen; er beruht jedoch auf einem politischen Ideenkomplex und Enthusiasmus. Aber dass Frankreich, das – wie man sagt – eine Mehrheit von kolonisierten Völkern (deren Ländereien es verwüstet hat) und von Ausländern (deren Arbeitskraft es ausbeutet) „mit seiner Flagge bedeckt“, sich gegenüber den „einheimischen“ und „ausländischen“ Arbeitern auf seinem „Boden“ so verhalten hat, ist ein überwältigender Beweis dafür, was für ein schmutziges und dreckiges Tuch die Flagge von Monsieur Jean Zay14 und der französischen Republik ist.

A.P. In Terre libre (Nîmes) Nr. 52, 6. Mai 1938 veröffentlicht


Aus Un anarchisme hors norme (Sammlung von Texten von André Prudhommeaux, veröffentlicht von Tumult https://tumult.noblogs.org/un-anarchisme-hors-norme-andre-prudhommeaux/ )


1Edouard Daladier, französischer Politiker: einer der „Väter“ der Volksfront.

2Cagoule war der Spitzname des geheimen, rechtsextremen, pro-faschistischen CSAR (Geheimes Revolutionäres Aktionskomitee), Cagoulard war die Bezeichnung für seine Mitglieder/Anhänger.

3Julián Troncoso war der führende franquistische Spion, der an Operationen gegen spanische republikanische Interessen auf französischem Boden beteiligt war. Tamburini (der sich als „Anarchist“ ausgab) war zusammen mit Locuty und Fiomberti an einem doppelten Bombenanschlag in Paris im Jahr 1937 beteiligt, mit dem gegen Kommunisten und Anarchisten vorgegangen werden sollte. Bei seiner Festnahme gab er zu, für Rom, Salamanca und Berlin gearbeitet zu haben.

4Jean Chiappe, französischer Beamter, Polizeipräfekt und Politiker mit Verbindungen zur extremen Rechten.

5Jacques Doriot, ehemaliger Anführer der Kommunistischen Jugend und kommunistischer Parteipräfekt, der nach rechts wechselte und 1936 die PPF (Französische Volkspartei) gründete, bevor er sich offen dem Dritten Reich anschloss und im Zweiten Weltkrieg an der Seite der Deutschen an der Ostfront kämpfte.

6 Die dopolavoro (Feierabendprogramme) waren die kulturelle Front der italienischen faschistischen Bewegung.

7Carbone war ein korsischer Gangster, Zuhälter und Drogenhändler, der in Marseille an politischem Bossismus und Streikbruch beteiligt war und zusammen mit Chiappe (oben) in Montmartre der Prostitution nachging.

8Eine spöttische Anspielung auf die Solidarité Française, eine von Major Jean Renaud gegründete rechtsextreme Aktivistengruppe.

9Die Spanische Fremdenlegion, notorisch pro-faschistisch.

10Maurice Thorez, prominenter Anführer der Kommunistischen Partei Frankreichs.

11Louis Marin, französischer Politiker, der in den 1930er Jahren mehrere Kabinettsressorts innehatte.

12Anführer der rechtsgerichteten CEDA-Partei in Spanien.

13Berüchtigter spanischer Schmuggler und Financier, der den Putschversuch vom Juli 1936 in Spanien maßgeblich unterstützte.

14Jean Zay, französischer Minister für Bildung, 1936-1939.

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