(Spanischer Staat) Interview mit dem gefangenen Anarchisten Claudio Lavazza.

Gefunden auf der Seite von cruz negra anarquista, es handelt sich um einen Interview aus dem Jahr 2014 mit Claudio Lavazza der damals noch im spanischen Staat im Knast saß, die Übersetzung ist von uns, wir werden in den nächsten Tagen und Wochen mehrere Texte von Claudio Lavazza, sowie über seinen Fall und seinen Leben veröffentlichen.

Interview mit dem gefangenen Anarchisten Claudio Lavazza.

Wir haben dieses Interview von Contra Info mit dem Gefährten Claudio Lavazza erhalten, der seit 1996 in den Zellen der spanischen Demokratie eingesperrt ist. Das Interview wurde auf der Solidaritätsveranstaltung für langjährig verurteilte/gefangene Anarchist*innen vorgestellt, die am 11. Januar 2014 im CSO La Gatonera, Madrid, stattfand.

In deinem Streben nach vollständiger Freiheit hast du dich dafür entschieden, die Welt der Macht mit allen Mitteln anzugreifen. Was waren die Hauptgründe, die dich dazu gebracht haben, diesen Weg der bewaffneten Rebellion zu gehen?

Die Gründe, warum ich den Weg der Rebellion einschlug, waren eine Reihe von Umständen, die von dem versuchten Staatsstreich in Italien, bei dem die extreme Rechte mit Hilfe der Geheimdienste die Strategie der Spannung (terroristische Anschläge mit Sprengstoff an öffentlichen Orten) anwandte, über die Angriffe der politischen Parteien des Verfassungsbogens, wobei die Christdemokratie besonders aktiv war, indem sie mit dem Finger auf die revolutionäre Linke und die Anarchisten zeigte, die für die schweren Angriffe verantwortlich waren, bis hin zu der Ungerechtigkeit und Misshandlung der Arbeiterklasse durch die Behörden/Autoritäten reichten: dieselben Behörden/Autoritäten, die die faschistische Regierung von Benito Mussolini und den Eintritt Italiens in den Zweiten Weltkrieg an der Seite der deutschen Nazis begrüßten.

In deinem Buch „Autobiografía de un irreducible“ erzählst du, wie du 1981 an der Erstürmung des Gefängnisses von Frosinone (Region Latium, Italien) teilgenommen hast, um einen dort gefangenen Gefährten zu befreien. Heute, mehr als 30 Jahre später, gibt es nur noch wenige Gelegenheiten, bei denen die faktische Solidarität mit den Gefangenen des sozialen Krieges diesen Punkt erreicht. Wie kann die Perspektive der unmittelbaren Befreiung unserer Brüder und Schwestern wiederhergestellt werden?

Die Perspektive der sofortigen Befreiung unserer inhaftierten Brüder und Schwestern zu schaffen, ist heute wie gestern ein grundlegendes Ziel in diesem sozialen Krieg… aber während das System in Bezug auf Infrastrukturen und Repressionsmittel Fortschritte gemacht hat, sind wir in der Prähistorie geblieben, ohne in der militärischen und technologischen Vorbereitung auf die imposanten riesige Knäste1 voranzukommen. Diese abgelegenen Bauten die weit von Städten und Dörfer entfernt sind, können kaum angegriffen werden, so wie wir es 1981 in Italien getan haben, als wir zwei Gefangene befreiten. Es stimmt, dass sich die Zeiten geändert haben. Wenn wir über Angriffe auf das System sprechen, auch wenn wir Worte wie militärische und technologische Vorbereitung nicht gerne verwenden, ist es klar, dass wir über Krieg und Konfrontation sprechen, und um erfolgreich zu sein, ist es notwendig, mit der Zeit Schritt zu halten, die der technologische Fortschritt des repressiven Systems vorgibt. Ich sage nicht, dass es unmöglich ist, Strukturen wie die riesigen Knaste anzugreifen, aber es ist ein unrealistischer Traum, sowie die jetzige Lage ist, die Gefangenen die dort drinnen stecken zu befreien.

Wir gehen davon aus, dass du in deinem langen Weg des polymorphen Kampfes an verschiedenen Formen der Organisierung des Gegenangriffs gegen das Etablierte beteiligt warst. Welche Erfahrungen hast du in der Frage der realen Selbstorganisation des Kampfes, ohne Anführer und ohne Angeführte, gemacht?

Meine Erfahrungen in der Selbstorganisation des Kampfes, ohne Anführer und ohne Angeführte, sind in 16 Jahren der Klandestinität nach und nach gereift. Niemand wird als Meister geboren, und wir alle müssen von anderen lernen, von denen, die besser vorbereitet sind und mehr Erfahrung haben; unter Anarchistinnen und Anarchisten haben wir einige einfache Prinzipien, die es uns ermöglichen, bei der Selbstorganisation des Kampfes schnell voranzukommen: Wenn die Gruppe einmal gebildet ist, gibt es Aufgaben, die jeder zu respektieren hat… wenn ich zum Beispiel ein Experte für Angriffstaktik bin, müssen die anderen auf mich hören, ohne dass sie in mir einen Anführer sehen und ohne dass sie sich geführt fühlen, natürlich hat jeder etwas zu dem Thema zu sagen, aber wenn diese Worte das Ergebnis von Unfähigkeit und mangelnder Erfahrung sind, müssen sie auf mich hören, damit die Operation erfolgreich verläuft. Ich werde auch bei jeder anderen Aufgabe auf den Experten hören müssen, wenn er oder sie fähiger ist als ich. Mit anderen Worten: Ich bin Lehrer, je nach den Umständen, die gerade herrschen, und ich bin Schüler, wenn jemand, der besser qualifiziert ist als ich, die Verantwortung für die Gruppe übernimmt. Meiner Erfahrung nach entsteht auf diese Weise Selbstorganisation.

Ist Anarchie per se ein illegalistischer Weg, und wenn ja, wie können aufständische Individualitäten in Flüssen zusammenfließen, die die Gesetze und Regeln ertränken, die uns an das Elend binden?

Die Anarchie ist von Natur aus illegalistisch, weil sie versucht, außerhalb der vom System auferlegten Legalität zu existieren. Wir Anarchistinnen und Anarchisten haben unsere Gesetze und unsere Art zu leben, die immer von den Gesetzen und der Art zu leben der Staaten verurteilt werden. Die einfache Tatsache, dass wir die von der Lohnarbeit auferlegten Regeln nicht akzeptieren und unseren Lebensunterhalt damit bestreiten, dass wir den Reichen Geld stehlen, wird vom System als illegal angesehen, aber für uns ist es gerecht und obligatorisch und daher aus unserer Sicht legal. Ebenso kann jede Haltung, die sich nicht an der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Macht beteiligt, als jener Strom der Rebellion betrachtet werden, von dem du sprichst und der die Gesetze und Regeln ertränken wird, die uns an das Elend binden.

Wenn der revolutionäre Augenblick jeden Tag stattfindet, ergibt sich die Notwendigkeit direkter Aktionen sowohl für die Zerstörung all dessen, was uns unterdrückt, als auch für die Schaffung einer neuen Welt. Wie lassen sich diese beiden subversiven Aufgaben miteinander vereinbaren, ohne entweder in trockene und entfremdende Militanz oder defätistischen Reformismus zu verfallen?

Die Schaffung einer neuen Welt und die Notwendigkeit der alltäglichen revolutionären Arbeit bei der Erfüllung der subversiven Aufgaben darf weder in eine trockene und entfremdende Militarisierung noch in einen defätistischen Reformismus verfallen. Wir müssen in dieser Angelegenheit vorsichtig sein, um nicht Gefahr zu laufen, in eine Ermüdung zu verfallen, die zum Aufgeben der Gefährten und Gefährtinnen führen könnte. Hier manifestiert sich unsere Kreativität, indem wir neue Impulse und Ideen einbringen, die Revolution und der Weg dorthin dürfen nicht in Entfremdung verfallen… wir müssen uns von Zeit zu Zeit eine Pause gönnen, wenn wir nicht in Routine verfallen wollen. Die Zeiten und Muster unseres Handelns gehören uns, weder Macht noch soziale Traurigkeit stehen über unseren Bedürfnissen als freie Menschen.

1996 wurdest du nach der gescheiterten Flucht nach der Enteignung der Zentrale der Banco Santander in Córdoba in dem Dorf Siete Puertas inhaftiert. Wie waren die Reaktionen der anarchistischen Kreise (mit und ohne Anführungszeichen) damals, sowohl in Spanien als auch im Ausland?

Das Dorf, in dem ich inhaftiert war, heißt Bujalance, Sietepuertas ist der Name der Cafeteria, in der ich von den Guardia Civiles gefangen wurde, diese Cafeteria gibt es nicht mehr, an ihrer Stelle steht eine Bank. Die Reaktionen aus anarchistischen Kreisen des spanischen Staates waren zum Teil harsche Kritik, zum Teil Befürwortung der Enteignung der Santander-Bank in Córdoba (eine der reichsten Banken der Stadt). Von außerhalb des spanischen Staates erhielten wir bewegende solidarische Unterstützung aus Italien. Ich erinnere mich, dass ich, als ich verwundet und geschlagen in Einzelhaft im Gefängnis von Córdoba saß, ein Telegramm aus meinem Land erhielt, das mich wegen der Herzlichkeit und der Gefährtenschaft, die es ausstrahlte, zum Weinen brachte. Mit der Zeit trafen dann auch Briefe und Postkarten aus Spanien und anderen Ländern der europäischen und internationalen Gemeinschaft ein, viele davon mit der gleichen Intensität und Zuneigung.

Du hast die offensive Praxis über die Grenzen der Staaten ausgeübt und hast jahrelang die Behörden verspottet. Wie siehst du den unpatriotischen und internationalistischen Kampf der Anarchisten und Anarchistinnen auf der ganzen Welt heute?

Ich sehe die unpatriotischen und internationalistischen Kämpfe der Anarchistinnen und Anarchisten auf der ganzen Welt, die ständig präsent sind und im Gegenzug sehr harte Reaktionen von der Polizei und den Gerichten erhalten, die sich vor ihnen zu Tode fürchten. Ihr, die ihr draußen seid, habt mehr Daten, die von der Intensität dieser Kämpfe zeugen. Bevor ich von der Bildfläche verschwinde, würde ich gerne noch den einen oder anderen Triumph sehen. Das wäre für mich und für euch alle das schönste Geschenk, das wir bekommen können… Hoffentlich ist es bald soweit.

Während du in den Kerkern der spanischen Demokratie saßt, hast du hart dafür gekämpft, die Isolation und die Abschaffung des Sonderregimes der FIES zu durchbrechen. Wie bewertest du diese Momente heute?

Ich habe in den Kerkern der spanischen Demokratie hart gekämpft, für die Abschaffung des FIES-Regimes und der Isolation, für die Abschaffung der langen Haftstrafen und der heimlichen lebenslangen Haftstrafen. Jetzt bin ich im Kampf für die Abschaffung von Folter und Misshandlung in den Gefängnissen, der im Oktober 2011 mit gemeinsamen Aktionen begann, indem ich an jedem ersten Tag des Monats einen symbolischen Hungerstreik durchführte und so ein Netzwerk von Solidaritätsanwälten erhielt, um den kämpfenden Gefährten angesichts der Repressalien des Gefängnissystems rechtlichen Beistand zu leisten. Ich bewerte diese Momente des Kampfes nicht als Vergangenheit… sondern als etwas Gegenwärtiges, vielleicht mit weniger Intensität und Beteiligung der Gefangenengemeinschaft als zuvor. Im Gefängnis zu sein bedeutet für mich, sich in einem ständigen Kampf zu befinden. Das Gefängnis ist kein Ort, an dem man sich entspannen und die Realität um sich herum vergessen kann.

Du bist einer der Anarchisten, die weltweit zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. Gibt es nach so vielen Jahren der Inhaftierung irgendwelche Veränderungen in der Gefängnisgesellschaft und ihrer Bevölkerung?

Seit meinem Eintritt in den Strafvollzug im Jahr 1980 haben sich viele Veränderungen in der Gesellschaft und bei den Insassen ergeben. Die Bevölkerung (A.d.Ü., im Knast) hat sich mit dem Einzug legaler Drogen wie Methadon und Psychopharmaka verändert, die täglich von der Verwaltung abgegeben werden. Sie haben es geschafft, einen großen Teil der Gefängnisinsassen zu isolieren und sie zu Individualisten zu machen. Es gibt nicht mehr die kämpferische Solidarität wie früher, wo sie einen berührten und alle rebellierten. Heute und seit vielen Jahren werden die Gefangenen nicht nur physisch, sondern auch psychisch kontrolliert, was sie daran hindert, einen Weg zu finden, der ihrer Persönlichkeit entspricht. Die täglich eingenommenen Drogen nehmen ihnen das Beste von sich selbst und lassen nur die Sorge zurück, sie weiter einzunehmen… der Rest ist zweitrangig und von geringer Bedeutung… das ist ihr elender Kampf und der Versuch, sie vom Gegenteil zu überzeugen, ist in den meisten Fällen eine Verschwendung von Zeit und Energie. Ein Drogenkonsument ist zweimal Sklave des Systems, einmal als Gefangener und einmal als Süchtiger. Glücklicherweise gibt es in den Gefängnissen auch einen kleinen Teil der Insassen, der nicht zu diesem Kollektiv gehört, und mit ihnen können wir hier für Veränderungen kämpfen.

Apropos lange Haft: Wie hat sich dein langer Aufenthalt in Gefangenschaft auf die Solidarität mit dir, aber auch auf deine Freundschaften und persönlichen Beziehungen ausgewirkt?

Die von außen zum Ausdruck gebrachte Solidarität war und ist für mich immer eine Quelle des Stolzes, vor allem jetzt, da meine Autobiographie veröffentlicht wurde.

Wie ist der aktuelle Stand des Verfahrens gegen dich und wie sind die Aussichten für die nahe und fernere Zukunft?

Im Moment ist meine rechtliche Situation noch kompliziert, ich bin seit 17 Jahren im Gefängnis und meine Strafe in Spanien beträgt 25 Jahre. Nach meiner Verurteilung habe ich in Italien eine Strafe von 27 Jahren und 6 Monaten zu verbüßen und in Frankreich eine Strafe von 30 Jahren (mit einem noch ausstehenden Prozess, der mit etwas Glück auf 15 Jahre reduziert werden könnte). Mein Ziel ist es, eine Neufassung der ausstehenden Strafen auf insgesamt 30 Jahre zu erreichen, aber es wird für jedes Gericht sehr schwierig sein, dies anzuerkennen. Es gibt derzeit keinen Artikel in der Strafvollzugsgesetzgebung, der besagt, dass ich nach 30 Jahren ununterbrochener Haft entlassen werden muss. Wir müssen alles bis zum Gerichtshof für Menschenrechte durchkämpfen, damit er eine Einschränkung anerkennt, sonst werde ich zu lebenslanger Haft verurteilt.

Welche Botschaft möchtest du denjenigen übermitteln, die Tag und Nacht, innerhalb und außerhalb der Mauern kämpfen?

Denjenigen, die Tag und Nacht, innerhalb und außerhalb der Mauern kämpfen, möchte ich diese Botschaft übermitteln: Bleibt stark und frei, denn der beste Weg, gegen das System und die Gefängnisse zu kämpfen, ist, sie niemals zu betreten.

Eine herzliche Umarmung für euch alle.

Claudio

 

1A.d.Ü., im spanischen ist die Rede von macrocárceles, was wortwörtlich Macroknäste, riesige Knäste und ähnlicheres ist. Dieser Begriff beschreibt den Trend der spanischen Regierung ab den 1990er, vereinzelt auch davor riesige Knäste außerhalb von Städten und Ortschaften zu bauen, also in der Regel mitten im Nirgendwo, damit unter anderem der Besuch, die Unterstützung und die Solidarität mit den Gefangenen erschwert werden würde. Für Angehörige ohne Auto würde es eine Tortur sein jedes Mal dort hin zu fahren und alle Knastkundebungen und Demos würden im Nirgends, weit von der Aufmerksamkeit, stattfinden.

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