Amnestie für alle italienischen politischen Flüchtlinge

Amnestie für alle italienischen politischen Flüchtlinge

Sophie Wahnich und Jacques Wajnsztejn

veröffentlicht in lundimatin#286, am 4.Mai, 2021, die Übersetzung ist von uns.

Hier ein weiterer Text zu der Debatte, Lage, Situation und überhaupt der Verhafteten italienischen Militanten und allen die in derselben Lage sich befinden. Dieser Text wirft sehr gute Fragen auf, die aber symptomatisch an falschen Voraussetzungen oder Forderungen angeknüpft werden, damit meinen wir, dass in diesem Text nämlich eine große Frage wieder aufgemacht wird, die auch seit langem im Raum steht, nämlich die der Amnestie. Die Verteidigung einer Amnestie als politische Lösung für ein Kollektiv im Exil lebender Verfolgten, die bis Dato quasi noch unter dem Schutz der sogenannten „Mitterrand-Doktrin“ standen, verschiebt jede Auseinandersetzung in die Hände der Justiz und des Staates. Deswegen empfinden wir die im Artikel geführte Analogie, die der Kommunarden von 1871, als lächerlich was die Frage der Amnestie angeht. Oder haben wir alle vergessen dass über 60.000 Kommunarden in Paris erschossen wurden? Und dass dies die einzige politische Lösung der herrschenden Klasse sein konnte?

Geht es denn überhaupt anders und welche Fragen und welches allgemeine Wissen fehlt uns, um aus dieser Gleichung nicht nur ein spezifisches Ereignis zu erleben, sondern eine Debatte unter Revolutionären über Geschichte, Repression, Flucht, Kampf und sozialer Revolution zu führen? Aber zu diesen und weiteren hiermit verbundenen Fragen, werden wir uns hoffentlich in Kürze melden, aber wirklich, Wort drauf.

Soligruppe für Gefangene


Die Verhaftung von neun italienischen politischen Flüchtlingen am 28. und 29. April, obwohl sie unter die „Mitterrand-Doktrin“1 gefaßt waren, markiert einen weiteren Schritt in Richtung juristischer und polizeilicher Zusammenarbeit zwischen Staaten, zumindest auf europäischer Ebene. Die französische Regierung, unter dem Druck der islamistischen Anschläge, die sich besonders gegen sie richten, will sich wohl auch zur Organisation einer europäisierten Sicherheit bekennen. Die fehlende Kenntnis und der fehlende politische Bezug zum italienischen Kontext der 1970er und 1980er Jahre sowie zur damals noch quasi-faschistischen Gesetzgebung des Landes (vgl. das damals noch gültige Rocco-Strafgesetzbuch von 1930 unter Mussolini) stellt offenbar kein prinzipielles Problem dar, wie Dupont-Moretti unverblümt feststellt (er ist „ohne Skrupel“).

Medien wie Libération, die bis dahin die italienischen Flüchtlinge umso mehr unterstützt hatten, weil sie einige von ihnen als Journalisten beschäftigten, um über die Ereignisse in Italien zu berichten, beginnen nun, die Situation „objektiv“ zu beschreiben. Sie weisen zum Beispiel darauf hin, dass das jüngste Geständnis von Cesare Battisti zu den ihm zugeschriebenen vier Morden zeigen würde, dass seine Anhänger im französischen Intellektuellen- und Künstlermilieu in die Irre geführt wurden. Kein Wort in Libération vom 29. April über die Bedingungen, unter denen diese Geständnisse erpresst wurden, und über Battistis psychischen Zustand. Le Monde, am 30. April, mit etwas mehr Höhe, weist dennoch darauf hin, dass die Bedingungen, die Battisti auferlegt wurden, identisch sind mit denen der größten Mafia-Verbrecher2. Dies könnte eine Erklärung sein.

Seit langem verteidigen die italienischen politischen Exilanten (und ihre Anhänger in Italien) die Position der Amnestie, unabhängig von den Anklagen und sogar den politischen Meinungen der damaligen „Kämpfer“, ein Weg, um die Fallstricke der im Laufe der Zeit schwankenden Einteilung in „Unbezwingbare“, „Abschwörer“ und „Verräter“ zu überwinden, ein Weg, um gegen alle „Erinnerungspfuscher“ zu kämpfen3. Ein einziger gemeinsamer Standpunkt zur Amnestie, der angesichts eines Staates und gesellschaftlicher Verhältnisse, die weiterhin christliche Vorstellungen von Schuld und damit von Reue vertreten, zum A und O einer Justizpolitik wird, bei der es in erster Linie darum geht, sich für die Angst zu rächen, die alle damaligen Mächte durchdrungen hat; dann die Kämpfer für ihre Fehler büßen zu lassen (es sei denn, sie kämen von der extremen Rechten, die tödlicher und blinder ist, mit echten Anschlägen und nicht mit bewaffnetem Kampf, wobei die beiden Seiten ständig unter dem gemeinsamen Begriff „Terrorismus“ verwechselt werden); schließlich auf die Opferverbände in einem allgemeinen Kontext zu reagieren, in dem die Viktimisierung der eigenen Situation zu einer Art militanter Praxis der Wiedergutmachung wird, in Abwesenheit objektiver Praktiken der Kapitalkritik. Ganz allgemein erleben wir eine regelrechte Regression des Rechts und die Infragestellung jeglicher Idee der Verjährung, während sich in den modernen Rechtstheorien seit dem 18. Jahrhundert und dem Bemühen Beccarias, Vergehen und Strafen miteinander in Einklang zu bringen, die Idee herausgebildet hat, dass nur Verbrechen, die die gesamte Menschheit betreffen, nicht der Verjährung unterliegen.

Die politische Position, eine Amnestie zu fordern und zu gewähren, deren historische Anerkennung uns in Frankreich durch das Beispiel der Amnestie, die den Teilnehmern der Pariser Kommune gewährt wurde, gegeben wird, ist im aktuellen Kontext unverständlich geworden. Letztendlich geht es bei dem Auslieferungsantrag, der ursprünglich 200 Personen betraf, nicht mehr darum, über eine Bewegung und ihre Fehler zu urteilen, sondern darum, diese und jene Person zu verurteilen, indem jeder Fall getrennt wird, manchmal auf der Grundlage nebulöser Zeugnisse von Reumütigen, die in Gefängnissen gefoltert werden oder um diesen Preis ihre Zukunft retten wollen. Aus diesem Grund und auf dieser Grundlage haben sich die französischen Richter dazu veranlasst gesehen, eine eigene Auswahl zwischen den verschiedenen Arten von Straftaten oder Verbrechen zu treffen und schließlich vorerst bei zehn super schuldig zu bleiben. Das Ergebnis: Statt der Einheit, die die Amnestie schaffen würde, finden sich die Angeklagten individualisiert wieder, als wären sie damals persönlich für einzelne Taten verantwortlich gewesen, und nicht für kollektive Praktiken, die als solche angenommen wurden. Die Unterstützung, die ihnen zugeteilt werden kann, wird dann dazu neigen, denselben Weg zu gehen, bei dem plötzlich einige weniger unterstützungswürdig sind als andere und bei dem eher moralische als politische Kriterien ins Spiel gebracht werden, die bestimmte Protagonisten des Kampfes aufgrund ihres Alters, ihres zivilen Status als Großeltern oder ihrer Situation als „gut integrierte“ Menschen in zweitklassige „Opfer“ verwandeln.

Wenn die Gewalt der Repression den Körper betrifft (Auslieferung, Freiheitsentzug, Hinrichtung), ist die legislative Gewalt eines Amnestiegesetzes symbolisch. Sie kann daher als gewaltbefreiend wahrgenommen werden, indem sie die Verbrechen und die Akteure, die sie begangen haben, neu klassifiziert, ohne jedoch den Opfern zu schaden, da zwischen der Anklage, dem Urteil und der Amnestie Zeit verstrichen ist.

In allen Fällen geht es darum, die Grausamkeiten der bisherigen Herren der Exekutive vor Gericht zu stellen und die legitime Gewalt auf die Seite der Legislative zu verlagern, um deutlich zu machen, dass eine neue historische Ära beginnt.

Es geht auch darum, zu zeigen, dass die inkriminierten Handlungen nicht unter die von den Richtern angeführte Ungeheuerlichkeit fallen. So im Fall von Cesare Battisti, wo der Vorwurf der Unmenschlichkeit auf der einen Seite (die Richter) und die Verteidigung der Unschuld auf der anderen Seite in einen vergeblichen Konflikt mündeten4. Die verurteilten Straftaten, für die eine Amnestie beantragt wird, gehören zum Register der politischen Straftaten und nicht zu dem des allgemeinen Rechts, und daher ist es notwendig, zunächst ihre Bedeutung zu prüfen, um der Kategorie „politische Straftat“ eine neue Bedeutung zu geben, da dieser Begriff faktisch aus der Landschaft des Strafrechts sowohl auf der Ebene der Union als auch ihrer Mitgliedstaaten verschwunden ist.

Es gilt dann zu bejahen, dass es besonders grausam und darüber hinaus unangemessen wäre, Strafen zu verlängern oder zu vollstrecken, die in keinem Verhältnis zu den Tatsachen stehen5. So wird mit der Amnestie der Kommunarden eine Figur der Amnestie durchgespielt, die den Besiegten Rechte einräumt und gleichzeitig den patriotischen und politischen Charakter ihres Kampfes teilweise anerkennt. Mit dieser Amnestie löschte die Republik die Vergangenheit nicht aus, sondern versuchte, ihren großen revolutionären Kreislauf zu schließen. Was Italien im Besonderen betrifft, so behaupteten die Gegner der Amnestie zum Zeitpunkt der Entführung von Paolo Persichetti, dass die Abfolge der „bleiernen Jahre“ nicht abgeschlossen sei, weil sie eine Verbindung zwischen den alten und neuen Roten Brigaden herstellen wollten. Heute würde man vergeblich nach Spuren davon suchen, und die Ankläger haben keine anderen Argumente mehr vorzubringen als das der notwendigen Sühne durch eine unendliche Strafe. Die Position der Befürworter der Amnestie, die seit langem argumentieren, dass diese historische Sequenz nun vorbei ist und dass man aus diesem Grund wissen muss, wie man die Vergangenheit regelt, anstatt ihre Dämonen aus politischen Gründen künstlich zu reaktivieren, wird gestärkt.

Wenn Amnestie im Nachgang zu demokratischer politischer Gewalt gewährt wird, deutet dies darauf hin, dass die unkontrollierbare und manchmal tragische Natur der Geschichte des Freiheitswunsches symbolisch als akzeptabel anerkannt wird; dass die Akteure der Tragödie so einen legitimen Platz in der Gesellschaft und ihrer kollektiven Zukunft zurückgewinnen können.

Heute ist das Konzept der Amnestie als politischer Akt, der an die Souveränität des gesetzgebenden Staates gebunden ist (die Macht der Gnade der Sieger), dazu verdammt zu verschwinden, gerade weil die nationale Souveränität zu Gunsten der europäischen Macht oder der Macht der Richter geschwächt wurde. Besonders deutlich wird der Sachverhalt im Fall von Frankreich und Italien. Vor allem in Italien, wo die Richter während des großen Prozesses von 1979 und dann während der Operation „Mani Pulite“ ihr ganzes Gewicht in die Waagschale warfen und die Reste der Macht der Christdemokratie und des PCI (Partito Comunista Italiano, Kommunistische Partei Italiens, A.d.Ü.) untergruben. Damit war der Weg frei für staatliche Rache (der italienische Staat), wo die Macht auf der Seite der Justiz lag, und für das schmutzige Kalkül von Geben und Nehmen innerhalb des Schengen-Raums (der französische Staat).

Die Frage der Amnestie ist auch in der Reihe der aktuellen Debatten um die Frage der legitimen Gewalt neu zu verorten, wie sie zunächst sehr konkret während der Bewegung der Gelben Westen gestellt wurde, und dann in einer globaleren und theoretischeren Weise in der Analyse der Rolle der Ordnungskräfte zur Zeit der Transformationen des Staates.

Diese Frage der legitimen Gewalt stellt sich heute nicht mehr in der gleichen Weise wie in den Kämpfen der 1960er und 1970er Jahre. Während die Legitimität der Gewaltanwendung für alle selbstverständlich zu sein schien, wird sie heute ständig in Frage gestellt. Die am wenigsten Engagierten im Kampf oder die am wenigsten ″politisierten″ unterstützen keine Gewalt und delegitimieren im Voraus jede Aktion, die sie einsetzt. Nur die Reaktion auf eine illegitime Gewaltanwendung des Staates erscheint den meisten Protagonisten dann legitim, wenn sie überfallen, zusammengetrieben, mit Gas beschossen werden. Diese polizeistaatliche Gewalt ist Gegenstand einer präzisen Kritik, bei der jede Waffe eine der erlebten Situation angepasste Analyse verdient; eine Arbeit, die einige Journalisten und unabhängige Fotografen oder Ärzte in den letzten Jahren geleistet haben, zum Beispiel anlässlich der Bewegung der „Gelben Westen“ und der schweren Verletzungen der Demonstranten. Das Missverhältnis von staatlichen Waffen gegenüber den kleinen Waffen erlaubt es uns, uns als gewaltlos zu betrachten, auch wenn wir annehmen, zu kämpfen. Das ist der Fall bei den Gelben Westen und manchmal sogar bei den Akteuren der Taktik in Schwarzen Blöcken. Aber ob „gewalttätig“ oder „gewaltfrei“, jeder akzeptiert, dass die Frage der Gewalt gestellt und möglicherweise von anderen übernommen wird, wohl wissend, dass die wirklich Gewalttätigen in dieser Perspektive nur die Kräfte der Unterdrückung sein können. Schließlich müssen diejenigen, die Gewalt als eine Struktur des Kapitalismus betrachten, nicht von den Kräften von Recht und Ordnung unter Beschuss genommen werden, um sich legitimiert zu fühlen, die Symbole des Kapitalismus zu brechen und zu zerschlagen. Die Fragen nach dem taktischen und strategischen Interesse dieser Handlungen werden dann wieder auf den Plan gerufen, zum einen im Hinblick auf die Demonstranten als Ganzes, zum anderen im Hinblick auf die Kräfteverhältnisse und die Finalität der Aktionen und Praktiken.

Vorerst muss aber festgehalten werden, dass, wenn der Staat weiterhin für die Sicherheit und den Schutz vor Terrorismus verantwortlich ist, die Kritik daran schwierig wird. Unter diesen besonderen Bedingungen, die den Handlungsspielraum stark einschränken, wird es schwierig, eine Amnestie zu erhalten.

Sophie Wahnich und Jacques Wajnsztejn, am 2. Mai 2021

 

1„Die italienischen Flüchtlinge […], die vor 1981 an terroristischen Aktion teilgenommen haben […], haben mit der Höllenmaschine, in die sie verwickelt waren, gebrochen, sind in eine zweite Phase ihres eigenen Lebens eingetreten, haben sich in die französische Gesellschaft eingefügt […]. Ich habe der italienischen Regierung gesagt, dass sie vor jeder Sanktion in Form einer Auslieferung sicher sind. „François Mitterrand, 21. April 1985.

2„Im Januar 2019 in Bolivien verhaftet und sofort nach Italien ausgeliefert, wurde Cesare Battisti in Einzelhaft in einem Gefängnis auf Sardinien untergebracht und dann nach Kalabrien verlegt, um eine lebenslange Haftstrafe zu verbüßen, unter Bedingungen, die denen für Mafiaführer sehr ähnlich sind. Es handelt sich um das berühmte „41bis“, ein besonders hartes und unmenschliches Regime der Einzelhaft“, schrieb Le Monde am 29. April 2021 („Wie der Fall Battisti die französisch-italienischen Beziehungen belastet hat“).

3Siehe Paolo Persichetti und Oreste Scalzone, La révolution et l’État, Dagorno, 2000, S. 163. Es ist anzumerken, dass diese „Doktrin“ nie Gegenstand eines geschriebenen Gesetzes war und, was immer man davon hält (und unsere Kameraden haben in der Tat davon profitiert), eine Sache des Willens des Fürsten ist… und daher in Frage gestellt werden kann, wenn der Präsident wechselt. Diese Situation ähnelt derjenigen, die der „Amnestie“ der Kommunarden vorausging, in Wirklichkeit eine amnestierende Begnadigung, die den legitimen Charakter des Aufstands nicht anerkannte.

4Die von Bompressi, Pietrostefani und Sofri, den Anführern von Lotta Continua, in Bezug auf den Mord an Kommissar Calabresi verteidigte „Wir haben nie“ Linie hat sie „von uns allen isoliert“, wie es Erri de Luca im Corriere della Sera am 14. Mai 1996 ausdrückte. De Luca fährt fort: „Diese Verteidigung hat dich gekreuzigt […] Meine Idee war, dass du das Offensichtliche zugeben musstest, dass diese Anschuldigung mit uns allen vereinbar war, mit dem Aufstandsfieber, das wir hatten.“

5Der juristische Werdegang von Paolo Persichetti ist in dieser Hinsicht beispielhaft. In einem Kontext, in dem der Rahmenbeschluss zur Terrorismusbekämpfung in Verbindung mit dem Europäischen Haftbefehl die humanitären Klauseln des Auslieferungsrechts beseitigt hat, erfolgte die Auslieferung von Paolo Persichetti auf der Grundlage einer Anklage für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat. Dies zeigte sich in einem Gerichtsverfahren, das einen Entlassungsbefehl ausstellen musste und „die Hypothese der Anschuldigung“ für den Mord an Marco Biagi als unbegründet anerkannte, sowie „das Fehlen von Elementen, die es erlauben würden, den Angeklagten zu belasten“. Die Auslieferung erfolgte jedoch auf der Grundlage des Auslieferungsdekrets von Premierminister Edouard Balladur aufgrund einer alten Verurteilung wegen „moralischer und psychologischer Beteiligung am Mord“, die am 16. Februar 1991 im Berufungsverfahren erging. Er wurde der italienischen Justiz übergeben und zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt, nur weil ihm vorgeworfen wurde, die Roten Brigaden der Vergangenheit symbolisch mit denen der Gegenwart zu verbinden, indem er sich weigerte, die gesetzlichen Formen der Reue oder Distanzierung zu akzeptieren.

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