La Guerre sociale, Abschaffung der Lohnarbeit (1977)

(aus der Zeitschrift LA GUERRE SOCIALE, No. l, Paris 1977 )

Abschaffung der Lohnarbeit

Die Lohnarbeit wird zur einzigen produktiven Tätigkeitsform, die das Kapital den Menschen noch läßt. Viele Jahre des Abrichtens sind nötig, bis sie hinnehmen, ein Drittel ihrer Zeit beim Arbeiten zu verlieren und die übrigen zwei Drittel zu verpfuschen, weil sie sich von ihrer Arbeit erholen müssen.

Die offiziellen Lügner versichern, daß die Arbeit notwendig ist, weil sie die Herstellung von Waren mit dem sozialen Reichtum verwechseln. Reich zu sein heißt jedoch nicht mehr, ein leidenschaftliches Leben zu führen, sondern heißt nur, Besitzer einer Menge von Gütern zu sein. Und genau das ist der Ausdruck des bürgerlichen Schwachsinns. Die gegenwärtige Gesellschaft verurteilt den Proletarier dazu, in einer idiotischen Tätigkeit abzustumpfen, um lächerliche Gegenstände aufzuhäufen und hält ihn dabei in dem Glauben, daraus entspringe die Lebensfreude.

Die verlorene Zeit der Arbeit und die unerfüllten Wünsche werden getauscht gegen den Lohn. Diese Belohnung, die der Arbeiter für seine Teilnahme an der Herstellung von Waren bekommt, erlaubt ihm lediglich, sich Waren zu beschaffen. Sie gibt ihm nur ein Anrecht auf das, was sich kaufen läßt, sie ist nicht fähig, unser Leben leidenschaftlich zu machen. Das, worauf man durch die Arbeit verzichten muß, wird uns nie wieder zurückgegeben. Das Elend des Konsums antwortet auf das Elend der Arbeit. Alle „freie“ Tätigkeit nimmt unmenschliche Gestalt an: Trinken wird zum Suff, Sich-Ausruhen wird zum Abstumpfen und Lernen wird zum Konsum von Ideologie. Alle körperlichen und intellektuellen Neigungen werden zur Manie verdreht: der Geschmack am Spiel drückt sich aus als Fußballfan-Hysteriker oder Pferdenarr, Flippern und Kino sind nur noch Ersatz abenteuerlicher Aktivitäten und Basteln ist nur Reproduktion der abgetrennten Arbeit.

Soweit wir gezwungen sind zu arbeiten, ist der Grund dafür kein natürlicher, er ist ein gesellschaftlicher. Arbeit und Klassengesellschaft gehen Hand in Hand. Der Herr will den Sklaven produzieren sehen, denn nur das, was produziert wird, ist für ihn aneigenbar. Das Vergnügen, das man in einer Tätigkeit findet, kann der Kapitalist nicht aufeinanderstapeln, vermehren und in Geld verwandeln: also ist es ihm scheißegal.

Wenn wir arbeiten, sind wir vollständig einer äußeren Autorität unterworfen. Unsere Existenz hat keinen Sinn in uns selbst mehr. Ihr Daseinszweck ist die Produktion von Waren.

Seit seinem Entstehen hat der Kapitalismus unaufhörlich die Methoden der Produktion revolutioniert und er hat die Produktivität der Arbeit beträchtlich erhöht. Doch die Einführung von Maschinen hat nicht im Geringsten dazu gedient, die Mühe der Menschen zu erleichtern. Die Berufe, die Geschicklichkeit und Aufmerksamkeit verlangten, werden beseitigt, nicht um eine reichhaltigere Tätigkeit zu erlauben, sondern um aus allen, die etwas herstellen, Lohnsklaven zu machen. In der verallgemeinerten Lohnarbeit gibt es vom ungelernten Arbeiter bis zum Ingenieur nur Gradunterschiede im Elend und vor allem in der Illusion.

Arbeit, das ist nicht nur die Mühe, die Anstrengung, die Erschöpfung und die höllische Hetze. Arbeit, das ist auch die Leere, die Langeweile, die Unnützlichkeit, Vergeblichkeit und Heuchelei bei allen, die damit beschäftigt sind, in Papier zu wühlen, einen Schalter zu garnieren, unlösbare und absurde Fragen zu beantworten, auf Befehl zu lächeln und zu antworten, ein totes Wissen zu vermitteln, auf Goldbarren aufzupassen oder auf Fabriken, Grünanlagen, Kinder usw.. Der Arbeiter ist durch die Arbeit geprägt. Die Zersplitterung der Aufgaben, die Gewohnheit des Gehorsams und das Lernen des Unverständlichen wirken auf seine Lebens- und Denkweise. Der Lohnarbeiter verliert den Sinn seines wirklichen Bezugs zur Gesellschaft und zum Inhalt seiner Arbeit.

Das Kapital ist ein fortschreitender Widerspruch: auf der einen Seite drängt es zur Reduzierung der notwendigen Arbeitszeit auf ein Minimum, und auf der anderen Seite stellt es die Arbeitszeit als die einzige Quelle und als einziges Maß des Reichtums hin.

Der Proletarier verleiht der Warenökonomie Leben und er ist deren erstes Opfer, wenn er auf die Suche nach Notbehelf für sein Elend geht: vergiftete Lebensmittel, Fernseher, um die Zeit totzuschlagen, ein Auto, um zu Ärger zu kommen, Lotto und Auswahlwette, um die Hoffnung aufrechtzuerhalten … Das ist der Reichtum des modernen Menschen, das „Pro-Kopf-Einkommen“, auf das das System so stolz ist. Seit wann meint man, daß der Körperbehinderte reicher als der Unversehrte ist, weil er Besitzer eines Rollstuhls ist?

Ein immer größer werdender Teil der Arbeit vermag es nicht mehr, die Bedürfnisse, selbst die entfremdeten, der Konsumenten zu befriedigen. Die Arbeit prostituiert sich direkt im Dienste des Kapitals. Welche menschliche Bedeutung hat denn die Tätigkeit der Polizisten, der Militärs, der Bankangestellten, der Werbefachleute und Händler?

Niemals zuvor hat eine Gesellschaft über derart fabelhafte Mittel verfügt und noch nie hat sie davon einen so schwachsinnigen und unmenschlichen Gebrauch gemacht. Hunderte Millionen von Leuten weben Tag für Tag an dem Spinnennetz, das sie gefangenhält.

Die Krise, die Arbeitslosigkeit zeigen in höchstem Maße die ganze Absurdität der Gesellschaft der Lohnarbeit mit ihrer Gleichzeitigkeit von verschärfter Ausbeutung und fabulösem Dreck. Die Arbeitslosigkeit ist nur eine Kategorie der Lohnarbeit. Sie ist nicht die Negation der Arbeit, sondern die Arbeit auf dem Nullpunkt. Dennoch ist ihre Fähigkeit, die Kampfkraft der Arbeiter zu neutralisieren, abgestumpft: indem sie die Verachtung und die Abneigung gegen die Arbeit an den Tag bringt, die beginnt, sich auszubreiten.

Die kommunistische Revolution besteht nicht vor allem in einer Veränderung der Besitzverhältnisse und auch nicht in einer Änderung der Verteilung der Güter. Sie ist vor allem Ausdruck einer radikalen Veränderung der menschlichen Tätigkeit. Eine Veränderung, die sich auswirkt auf die Beziehungen der Leute untereinander, auf den Bezug der Leute zu den Produkten ihrer Tätigkeit und auf das Wechselspiel zwischen der Gesellschaft und der Natur.

In unserer Epoche rechtfertigt nichts mehr die Gefangenschaft der menschlichen Tätigkeit in der Form der Arbeit. Der Schlüssel zum Problem findet sich nicht in der Rückkehr zum primitiven Leben, sondern im Gegenteil in dem Gebrauch der phantastischen Entwicklung des Wissens und der Technologie. Bereits seit mehreren Jahrzehnten bestätigen gewisse Spezialisten, daß es möglich sei, einen großen Teil der Produktion zu automatisieren. Seitdem haben sich die materiellen Kräfte immer noch mehr entwickelt.

Wenn die Automatisierung momentan auf wenige Bereiche beschränkt bleibt, dann deshalb, weil eine weitere Ausdehnung nicht „rentabel“ war. Die Automatisierung stößt an die finanziellen Grenzen der Betriebe und vor allem verlangt sie Investitionen auf lange Sicht, die sich einem schnellen Umlauf des Kapitals entgegenstellen. Heute nennt man die Verzögerung der Maschinisierung Gutherzigkeit. Morgen, wenn automatisiert werden muß, um Expansion und Profitrate aufrechtzuerhalten, vollziehen sich die Entlassungen im Namen der ökonomischen Notwendigkeiten und des „Fortschritts“.

Mensch und Maschine präsentieren sich als Konkurrenten auf dem Markt der „Produktionsfaktoren“. Das ist nur möglich, weil in der kapitalistischen Produktion Mensch und Objekt, lebendes und mechanisches Material, einen vergleichbaren Gebrauchswert haben. Materialien und Maschinen gehören beide zum Räderwerk. Aber das Kapital als Ausdruck einer sozialen Beziehung kann den Menschen nicht vollständig zum Roboter reduzieren, es kann das Menschliche nicht aus dem Produktionsprozess herausschaffen, um sich auf eine Gemeinschaft von Objekten, die sich selbst reproduzieren, zu beschränken. Die Grenze besteht in der Tatsache, daß der Wert, die Arbeitszeit, die Grundlage der ökonomischen Regulierung des Systems darstellt. Die höchst gelehrten Erläuterungen über das Thema des Vergleichs zwischen Mensch und Maschine (ist der Mensch eine perfekte Maschine? kann die Maschine den Menschen unterwerfen? wie lange noch bis zur Revolte der Computer?) vergessen unter anderem, daß man noch nie eine Maschine erlebt hat, die einen Orgasmus hatte. Die Informatiker wurden nicht darauf programmiert, diese Daten angemessen zu behandeln!

Der Kommunismus bedeutet in keiner Weise die Ersetzung des Menschen durch die Maschine, sondern die Veränderung der menschlichen Tätigkeit in Verbindung mit den modernen technologischen Möglichkeiten. In der kommunistischen Gesellschaft werden die Gegensätze zwischen Arbeitszeit und Freizeit, zwischen Produktion und Lehre oder Studium, zwischen dem was erlebt und dem was ausprobiert wird, keine Bedeutung mehr haben.

Dies hat nichts mit einer idyllischen Utopie zu tun, in der sich das Verschwinden jedes Kampfes und allen Leidens ankündigt. Es geht darum, zu zeigen, was die Möglichkeiten sind, die diese Epoche in sich birgt.

Indem wir die Abschaffung der Arbeit fordern, drücken wir lediglich theoretisch eine Bewegung aus, die sich bereits praktisch vor unseren Augen entfaltet: in diesem wil­den Streik oder jenem Aufstand, wenn die amerikanischen ungelernten Arbeiter die Bän­der durcheinanderbringen oder die polnischen Arbeiter die staatlichen Läden plündern, wenn die Anstrengung durch die Leidenschaft gerechtfertigt wird, wenn die Lohnarbeiter den Mumien, von denen sie regiert werden, den Gehorsam verweigern, Wenn ein Streik um die lächerliche 35-Stunden-Woche eine Härte annimmt, daß Gewerkschaftsfunktionäre und Unternehmer das gleiche Zittern befällt. So weicht das Geschwätz dem Schritt zum Wort, weil die Menschen sich wieder etwas zu sagen und weil sie Erfahrungen mitzuteilen haben …

Diese Bewegung ist nicht die Frucht des Zufalls oder eines überraschenden historischen Zusammentreffens. Es ist die Entwicklung selbst der Produktivkräfte, die die Aufhebung der Arbeit auf die Tagesordnung setzt, indem sie die traditionellen Werte und in erster Linie die Neigung zum Opfer und zur entfremdeten Anstrengung untergräbt. Die historischen Möglichkeiten, noch gefangengehalten in der Form der Ware, bereiten das Gebiet der letzten Revolution vor: sie wird hervorgehen aus dem internationalen Kampf der Proletarier gegen die Lohnarbeit und deren Verteidiger.

 

 

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