Text von Il lato cattivo zum Coronavirus.
„Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes.“1
In einer wirtschaftlich beschädigten, doch politisch stagnierenden Welt muss der Schock manchmal „von aussen“ kommen, von Faktoren oder Ereignissen, die ursprünglich weder strikt wirtschaftlich noch politisch sind, und, im gegenwärtigen Fall, nicht einmal strikt menschlich. Nicht dass Epidemien als rein biologisches Phänomen qualifiziert werden könnten2, doch es scheint uns offensichtlich, dass diese Episode des ewigen Kampfes zwischen dem Menschen und den Krankheitserregern, der heute den Namen Covid-19 trägt, deswegen eine so dramatische Wende nimmt, weil er mit jener besonderen Umwelt verbunden ist – die ihrerseits rein gesellschaftlich ist – in welcher er sich abspielt. Dass auf wirtschaftlicher Ebene ein „perfekter Sturm“ aufziehen würde, das wussten wir schon lange3. Dass er mit einer grossflächigen Pandemie einhergehen würde, war schwer vorauszusehen. Diese Tatsache ist definitiv ein neues Element im Szenario, das vorsichtig und nüchtern analysiert werden muss: Zu häufig ist gesagt worden, dass nichts mehr wie zuvor sein würde aufgrund irgendwelcher absolut unbedeutender Verschiebungen. Trotzdem ist die konkrete Lebensweise eines steigenden Teils der Weltbevölkerung schon stark davon betroffen (auf dem Papier etwa drei Milliarden in Quarantäne am 25. März) und die Tendenz wird wahrscheinlich weiter in diese Richtung gehen. Die wenigen Leute, die glauben, dass sie nach drei Wochen leichter Quarantäne in Begleitung von Netflix ihren grauen Alltag wiederfinden werden, dürften letztendlich enttäuscht sein. Nicht nur und nicht wirklich, weil der berühmte Höhepunkt der Epidemie auf sich warten lässt, sowohl in Italien, als auch anderswo (Frankreich, Spanien usw.), sondern vor allem, weil die Rückkehr zu einer scheinbaren Normalität in der wirtschaftlichen Aktivität und der täglichen Mobilität zu einem Zeitpunkt erfolgen wird, wo die Epidemie immer noch andauern und beträchtliche Kontrollmassnahmen und Sicherheitsdispositive zur Folge haben wird, um eine zweite Welle der Ansteckung und des Todes zu verhindern. Das gilt allen voran für jene Länder, wo die neomalthusianische Versuchung der „Herdenimmunität“ mehr oder weniger abgelehnt worden ist.
In der Zwischenzeit bleibt der Gegenstand der kommunistischen Theorie immer der gleiche: Das kapitalistische gesellschaftliche Verhältnis als Träger seiner eigenen Überwindung oder seiner Reproduktion auf einer höheren Ebene – ein Ausbeutungsverhältnis zwischen antagonistischen Klassen, das, unter all jenen, die historisch existierten, zum widersprüchlichsten und somit zum dynamischsten gehört. Inmitten eines Gewühls der Tatsachen und der Diskurse über die Tatsachen geht es darum, die in dieses Verhältnis eingebrachten Auswirkungen der gegenwärtigen Entwicklungen zu erfassen, sowohl kurz- als auch langfristig. Was, es sei nur nebenbei gesagt, das Gegenteil der Leichtigkeit darstellt, mit welcher einige den „Zusammenbruch des Kapitalismus“ heraufbeschwören – ein Ausweg, dank welchem alles einfach wird, weil man die Wirklichkeit einfach verschwinden lässt, obwohl sie ungleiche sozioökonomische und institutionelle Deklinationen, Temporalitäten der Ausbreitung des Virus und der Ansteckung und verschiedene Strategien der Reaktion auf den Gesundheitsnotstand hervorbringt. Darüber hinaus sollte man die ungleiche Verteilung der Verluste zwischen den verschiedenen individuellen Kapitalfraktionen im Kontext der Wirtschaftskrise nicht vergessen. Die Ungleichmässigkeit der Entwicklung ist immer noch die Regel im historischen Prozess. Die folgenden Anmerkungen – kaum mehr als ein Patchwork – sind nur eine leichte Anpassung im Fokus, zu unserem Gebrauch und für jene, die mitlesen.
Es soll zuerst gesagt werden, dass die von der internationalen Ausbreitung der Pandemie determinierte Situation definitiv eine gewisse Anzahl dem generell als „Globalisierung“ definierten Akkumulationszyklus inhärenter Grenzen entblösst und gleichzeitig von den betroffenen Akteuren (Unternehmen und Machtzentren auf jeder Ebene) verlangt, sich diesen Grenzen zu stellen, indem sie dringend unmittelbare Antworten vorbereiten müssen, wovon sich einige (die wenigsten) – wie immer im Rahmen der Konkurrenz – als angemessen und zur Verallgemeinerung geeignet herausstellen, während andere (die meisten) im Mülleimer der Geschichte landen werden. Um eine Formel wieder aufzugreifen, auf welcher wir oft beharrt haben, „das geheime Labor der Produktion“ ist genau das: Ein Labor, wo sich die Agenten der Akkumulation unablässig bewegen – sogar in den hoffnungslosesten Situationen – um sich den jedes Mal neu gegebenen Bedingungen anzupassen und sie zu ihrem Vorteil zu modifizieren, sobald sich dazu die Gelegenheit bietet. Nehmen wir als eine kurze Untersuchung der erwähnten Grenzen vor, nicht ohne einige Hypothesen bezüglich der Antworten aufzustellen, welche sie auslösen werden.
Allen voran bringt die aktuelle Notsituation die Zerbrechlichkeit der globalisierten supply chains und der Option zero stock ans Licht. In den USA hat man feststellen können, inwieweit die Versorgung mit Medikamenten und medizinischem Material von den Pazifik überquerenden Lieferungen abhängt. Es ist allgemein bekannt, dass sich die Ausbreitung von Covid-19 in China deutlich verlangsamt hat und die Produktion wieder aufgenommen wird. Der Höhepunkt der Epidemie in den USA dürfte hingegen im April oder im Mai mit einer voraussichtlichen Inzidenzrate von 30 bis 40% der Bevölkerung erreicht sein. Die Erhöhung der Nachfrage wird massiv sein. Es ist also wahrscheinlich, dass die USA gezwungen sein werden, Massnahmen zur Relokalisierung der Produktion in diesem Sektor zu ergreifen, sei es nur teilweise, für gewisse pharmazeutische Produkte oder medizinische Geräte. Die durch den Defense Production Act erlaubte Requisition von General Motors zur Fabrikation von Beatmungsgeräten ist ein erster Schritt in diese Richtung. Falls sich diese Tendenz verstärkt, wäre es eine beträchtliche Beschleunigung des chinesisch-amerikanischen decoupling, das in anderen Sektoren schon begonnen hat (allen voran in der Militärindustrie). Im Vereinigten Königreich haben die durch den Ansturm auf die Supermärkte ausgelösten Verknappungen die Abhängigkeit bezüglich Nahrungsmittel eines Landes deutlich hervorgehoben, welches 50% seiner Nachfrage nach Grundnahrungsmittel mit Importen abdeckt (hauptsächlich aus der EU) und in welchem der sprunghafte Anstieg der städtischen Bodenrente die Lagerkapazitäten beträchtlich reduziert hat, gleichzeitig hat er zum Niedergang der lokalen Landwirtschaft beigetragen4. In Frankreich hat der Wirtschaftsminister Bruno Le Maire während einer Pressekonferenz am 9. März die zutage tretenden Szenarien zur Kenntnis genommen:
„Ich bin überzeugt, dass es ein Zuvor und Danach bezüglich dieser Epidemie des Coronavirus und der Organisation der globalen Wirtschaft geben wird. Es ist klar, inwieweit es in gewissen Bereichen wichtig ist, über eine bessere Organisation der Verwertungsketten, die Relokalisierung gewisser strategischer Aktivitäten, besonders im Gesundheitssektor, und den Aufbau einer Globalisierung nachdenken zu müssen, wo die Verwertungsketten besser geschützt und unabhängiger sind, damit auf diese Art und Weise manchmal nutzlose Bewegungen vermieden werden, wenn gewisse Produkte in der Nähe hergestellt werden können.“
Die Tatsache, dass man eine solche Rede halten und sich dabei immer noch auf die Globalisierung beziehen kann, obwohl man in Wirklichkeit von ihrer Demontage spricht, ist nur ein für einen Politiker typisches Oxymoron: Die Würfel sind gefallen. Man könnte unendlich viele ähnliche Beispiele, Hinweise und Vorschläge aufzählen.
Zweitens bringt die aktuelle Notsituation jene Risiken ans Licht, welchen die kapitalistische Akkumulation in einem Kontext der Unterfinanzierung der öffentlichen Gesundheitssysteme und der Infrastrukturen im Allgemeinen ausgesetzt ist. Vergessen wir nicht, dass die Notwendigkeit und die Strenge der Massnahmen der Ausgangsbeschränkung hauptsächlich von der Fähigkeit des Gesundheitssystems abhängen, die wirklichen Ansteckungen innerhalb der Bevölkerung ausfindig zu machen und sich um sie zu kümmern. In einem hypothetischen Szenario einer Überfülle an Spitalbetten und einer massiven und unmittelbaren Verfügbarkeit der Tests wäre die Ausgangssperre alles andere als unumgänglich und könnte vermieden werden. Ohne sich Illusionen zu machen über den Weitblick oder die edle Gesinnung der Entscheidungsträger und Regierenden dort, war das klar ersichtlich in Südkorea, ein Land, das nicht so gross ist wie China, aber auch nicht so klein wie San Marino (50 Millionen Einwohner), und obwohl das Durchschnittsalter zweifellos niedriger ist als jenes Italiens (42.1 gegen 46.3), hatte es Anfang März zweimal mehr offizielle Ansteckungsfälle. Man wird nicht erstaunt sein, dass in Südkorea die Anzahl Spitalbetten pro 1‘000 Einwohner 12.27 beträgt, gegenüber 3.18 in Italien (Zahlen von 2017). Was Italien betrifft, hat unlängst ein Bericht des Observatoriums GIMBE5 die Budgetkürzungen im Bereich der öffentlichen Gesundheit zwischen 2010 und 2019 auf 37 Milliarden geschätzt, etwa die Hälfte davon betraf die Infrastrukturen, die Geräte und das Material und die andere Hälfte die Neuanstellungen und die Lohnerhöhungen (besonders Ärzte, Verwaltungs- und Führungspersonal). Wir werden freilich nicht jene beklagen, welche Marx als Mitzehrer der Surplusvalue anprangerte, doch es soll gesagt sein, dass die hohen Löhne gewisser Berufskategorien nicht nur die Auslösung von Prestige oder Ehrfurcht seitens der Benutzer oder des untergeordneten Personals zum Ziel haben, sondern auch den Korpsgeist und die Bereitschaft zur individuellen Aufopferung unter den Betroffenen – ausser man glaubt, es wäre wünschenswert, dass ein Chirurg den Operationssaal mit der gleichen Haltung betritt wie ein spezialisierter Arbeiter sich ans Fliessband begibt. Insoweit als dass diese Einkommensniveaus in sich zusammenfallen, geschieht das selbe mit ihrer subjektiven Konsequenz. Was soll man sagen über die pensionierten Ärzte in der Lombardei, wovon sich nur 10% bereit erklärt haben, wieder zum Dienst anzutreten? Was soll man sagen über die Region Lombardei, die gezwungen war, Ärzte und Virologen aus China, Kuba, Venezuela und Russland zu importieren? Die Tatsache, dass der Ostwind angefangen hat, über der Hauptstadt des eurokompatiblen Autonomismus der Liga des Nordens und der linken Movida zu wehen, deren Forderung der Aperitif um jeden Preis ist, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Gleichzeitig scheint es in Venetien, als ob der Präsident der Region Luca Zaia von der koreanischen Schule bekehrt worden ist: massive Früherkennung mit mehr als 20‘000 Tests pro Tag über drei Wochen hinweg. Es ist auf jeden Fall klar, dass die drastischsten Massnahmen der Ausgangsbeschränkung, die eingeführt worden sind, um die Implosion eines häufig sowieso schon atemlosen Gesundheitssystems zu verhindern, bezüglich der Auswirkungen auf die wirtschaftliche Aktivität extrem schmerzhaft sind. Der daraus hervorgehende Widerspruch ist also, dass die ständige Bemühung um die Verschonung des Gesundheitssystems zeigt, dass ein etwas aggressiveres und tödlicheres Virus reicht, damit das BIP zehn Punkte verliert. Ausser man entscheidet sich, die Leute einfach krepieren zu lassen.
Drittens bringt die aktuelle Notsituation – besonders innerhalb der Europäischen Union – die Defekte einer multilevel governance zutage, welche nunmehr zwangsläufig, aufgrund der „Subsidiarität“ und der Umverteilung der Kompetenzen des Nationalstaates gegen unten und oben (Regionen und internationale Organismen), unfähig ist, irgendwelche Ordnung hervorzubringen. Das ist nicht neu: Man konnte es schon während der Migrationskrise 2015 beobachten. Aber heutzutage ist die Sache viel schlimmer, zumindest in Italien, besonders weil die Regionen direkt betroffen sind, sie sind verantwortlich für die Planung und die Organisation der Gesundheitsdienste. Und wir haben gesehen, wie in diesem Bereich jeder tut, was er für richtig hält. Die verschiedenen Länder der EU halten das übrigens ebenfalls so. In einem in Le Monde am 23. März erschienenen Interview hat der Vorstehende der Nationalbank Italiens, Ignazio Visco, einmal mehr den den Umständen entsprechenden Wunsch nach einer ever closer Union wiederholt: „Die Krise des Coronavirus muss es uns erlauben, in Richtung eines vereinigten Europas zu gehen.“ Aber wer glaubt noch daran? Ob uns das gefallen mag oder nicht, Marine Le Pen ist unvergleichbar mehr im Einklang mit der Wirklichkeit, als sie vor den Mikrophonen von RT France (25. März) verkündet, dass „die Europäische Union das erste Opfer des Coronavirus ist“. Es ist eine neue Tatsache, dass das Diktat einer strengen Haushaltspolitik nun auch in Deutschland gefallen ist, was die Gefahr einer allgemeinen Lockerung der Sparzwänge mit sich bringt. Macron hat von der Gelegenheit profitiert, indem er schon am 25. März einen „massiven“ Investitionsplan für das Gesundheitssystem angekündigt hat. Jenseits der schönen Worte wird sich zeigen, wie viel Geld wirklich auf den Tisch gelegt werden wird. Doch wenn die EU nicht mehr fähig ist, ihre Mitglieder (PIIGS oder auch nicht) zu disziplinieren, wird sie für diese (oder ihre künftigen Mitglieder) zu einer Melkkuh verkommen und wird somit komplett nutzlos, sogar für jene, welche bis anhin in ihrem Schatten fett geworden sind.
Zum Thema der governance schrieben wir vor fast drei Jahren:
„Die Integration zwischen Staat und privater Unternehmung […] ist zu gross geworden, sogar vom rein kapitalistischen Standpunkt ihrer optimalen Funktionsweise aus betrachtet. [D]iese Koexistenz/Kombination des Managements und der parasitären Verwaltung der staatlichen Sphäre mit all ihren Verflechtungen beschränkt die Effizienz und die Reaktivität des staatlichen Handelns in seinem Verhältnis gegenüber der Gesellschaft beträchtlich, vor allem in einer Situation der Verknappung des Mehrwerts. […] Vom Standpunkt der heute zerstreuten ‚Partei der Subversion‘ aus betrachtet, ist der aktuelle Zerfall des getrennten Staates eine gute Neuigkeit, denn sie verkündet die Möglichkeit einer kompletten institutionellen Lähmung in Anbetracht eines eventuellen aufständischen Bruches. Doch hüten wir uns vor einem einfachen Optimismus: Ein revolutionärer Aufschwung, oder womöglich einfach eine starke fordernde Dynamik, könnte dieser Tendenz entgegenwirken, statt sie zu verstärken.“6
Der prinzipielle Mangel dieser Analyse ist, dass sie die Funktionsstörung des Nationalstaates nur vom Standpunkt des „Endziels“ bewertet und ihre unmittelbaren Auswirkungen auf die „Bewegung“ vernachlässigt. Ist eine institutionelle Lähmung in Abwesenheit einer unmittelbaren revolutionären Perspektive wünschenswert, wenn dazu – hypothetisch – noch eine schlimme Gesundheitskrise kommen würde? Es steht jedem frei, in seinem tiefsten Inneren das Chaos oder die Apokalypse herbeizusehnen, aber es soll sich dann niemand beklagen darüber, dass seine Eltern und Grosseltern letztendlich wie Hunde krepieren, zu Hause oder in Gängen von ausser Kontrolle geratenen Spitälern. Zudem ist der Inhalt der gesellschaftlichen Instanzen und Forderungen, insoweit als die Funktionsstörungen des Operettenstaates7, mit welchen wir heute konfrontiert sind, heftige Auswirkungen auf das alltägliche Leben jener haben, welche keine Alternative zum öffentlichen Dienst haben – nicht nur auf die Arbeiter und Angestellten, d.h. den wesentlichen Teil der aktiven proletarischen Armee, sondern auch immer mehr auf die niederen Mittelkassen, entlohnt oder nicht – von dieser Sachlage überdeterminiert. Zusammengefasst kann man sagen, dass, je weniger der Staat funktioniert, die Frage der Reform in einem souveränistischen Sinn desto mehr den alltäglichen Klassenkampf und die politischen Launen der sogenannt „subalternen“ Klassen kontaminiert und in verschiedener Ausprägung mit der direkten Konfrontation mit diesem oder jenem anderen Kapital oder Chef kombiniert wird. Wenn man nicht den Bauchredner der Kämpfe der anderen spielen und ihnen in den Mund legen will, was uns passt, ist es unmöglich, die Tatsache zu verschweigen, dass während der immer noch andauernden Streikwelle in Italien die Forderungen über die Arbeitsbedingungen (Sicherheitsmassnahmen) und die Unterbrechung der unwesentlichen Sektoren gleichzeitig an die Arbeitgeber und den Staat gerichtet sind und letzteren verpflichten, sich gegenüber Confindustria und Co. weniger gefällig zu verhalten, d.h. eine relative Autonomie gegenüber der dominanten Fraktion der Arbeitgeberschaft an den Tag zu legen. Ging die latente Bedrohung der Plünderungen, welche Giuseppe Conte dazu bewegt hat, die Einführung von Lebensmittelgutscheinen anzukündigen, nicht in die gleiche Richtung – objektiv, oder gar subjektiv betrachtet? Werden diese Massnahmen, zusammen mit anderen, die schon ergriffen worden sind oder noch ergriffen werden, nicht endlich die europäische Zwangsjacke zerreissen?
In Bezug zum vorhergehenden Punkt heben die Ausbreitung und die Folgen von Covid-19 die Grenzen der liberalen Subjektivität, des souveränen Individuums mit seinem freien Willen und Inhaber seines eigenen Körpers hervor. In Anbetracht der Ansteckung oder der Gefahr der Ansteckung für sich selbst und die anderen zeigen die Prinzipien „ich mache, was ich will“ oder „mein Körper gehört mir“8 all ihre Relativität auf, dies aus dem einfachen Grund, dass die Verbindung des Individuums mit der Gesellschaft, sowie seine Abhängigkeit von ihr, ihre Ansprüche geltend machen. Man muss eine erfolgreiche Schriftstellerin sein und sich darüber empören, nicht ins Schuhgeschäft gehen zu können, oder ein Philosoph der Biopolitik mit einem Heiligenstatus innerhalb der radikal-schicken Intelligenzia, um das nicht zu erkennen. Muss man noch erstaunt darüber sein, dass Liberale und Libertäre sich in der Verurteilung vermeintlich „freiheitsbedrohender“ Massnahmen Seite an Seite wiederfinden?
(Fuani Marino: „Wir sind dabei, wesentliche Dinge wie das Recht auf Bildung, die Sozialität und schliesslich die Wirtschaft im Namen jener Leute zu opfern, welche älter als 75 Jahre sind.“; Giorgio Agamben: „Der Ausnahmezustand ausgelöst von einer ungerechtfertigten Dringlichkeit.“)
Sowohl von einem theoretischen als auch von einem praktischen Standpunkt stellt die Notsituation von Covid-19 ein viel tiefergehendes Problem dar als die individuelle Moral oder die Solidarität zwischen Generationen, das – wenn man genau hinschaut – die Grundlage sowohl der einen als auch der anderen ist: Was ist die Gesellschaft? Diese Frage ist alles andere als unerheblich und zwingt uns, die Wurzel der Dinge zu betrachten. In dieser Hinsicht hat der gute alte Karl einige aufschlussreiche Passagen hinterlassen. Hier einige davon:
„Daß der gesellschaftliche Zusammenhang, der durch den Zusammenstoß der unabhängigen Individuen entsteht, zugleich als sachliche Notwendigkeit, und zugleich als ein äußerliches Band gegenüber ihnen erscheint, stellt eben ihre Unabhängigkeit dar, für die das gesellschaftliche Dasein zwar Notwendigkeit, aber nur Mittel ist, also den Individuen selbst als ein Äußerliches erscheint, im Geld sogar als ein handgreifliches Ding. Sie produzieren in und für die Gesellschaft, als gesellschaftliche, aber zugleich erscheint dies als bloßes Mittel ihre Individualität zu vergegenständlichen. Da sie weder subsumiert sind unter ein naturwüchsiges Gemeinwesen, noch andrerseits als bewußt Gemeinschaftliche das Gemeinwesen unter sich subsumieren, muß es ihnen als den Unabhängigen Subjekten gegenüber als ein ebenfalls unabhängiges, äußerliches, zufälliges, Sachliches ihnen gegenüber existieren.“9
„Je tiefer wir in der Geschichte zurückgehen, je mehr erscheint das Individuum, daher auch das produzierende Individuum, als unselbständig, einem größren Ganzen angehörig: erst noch in ganz natürlicher Weise in der Familie und in der zum Stamm erweiterten Familie; später in dem aus dem Gegensatz und Verschmelzung der Stamme hervorgehenden Gemeinwesen in seinen verschiednen Formen. Erst in dem 18. Jahrhundert, in der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘, treten die verschiednen Formen des gesellschaftlichen Zusammenhangs dem Einzelnen als bloßes Mittel für seine Privatzwecke entgegen, als äußerliche Notwendigkeit. Aber die Epoche, die diesen Standpunkt erzeugt, den des vereinzelten Einzelnen, ist gerade die der bisher entwickeltsten gesellschaftlichen (allgemeinen von diesem Standpunkt aus) Verhältnisse. Der Mensch ist im wörtlichsten Sinn ein ζῷον πολιτικόν, nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann.“10
Was wir „Gesellschaft“ nennen, ist nichts anderes als der gegenseitige Zusammenhang zwischen Individuen als von den Individuen selbst autonomer Zusammenhang, es ist ihre eigene Gemeinschaft, die ausserhalb von ihnen selbst hervorgebracht und reproduziert wird und die fähig ist, sich jedem als äussere Zwangsmacht aufzudrängen. Diese von den Individuen unabhängige Gesellschaft findet ihre Verlängerung im Staat, ohne sich auf denselben zu beschränken. Letzterer artikuliert sich nicht gegenüber der Gesellschaft als äusserer Körper, als Parasit: Er macht nichts anderes, als die Entfremdung zu vergegenständlichen – hier verstanden ohne jegliche humanistische, essentialistische oder psychologische Konnotation – d.h. die Diskrepanz zwischen individueller und global gesellschaftlicher Tätigkeit. Eine Diskrepanz, welche die grossen modernen bürgerlichen Denker unaufhörlich thematisierten, von Mandeville bis Max Weber, und dazwischen Hobbes, Vico, Smith und Hegel, einerseits in ihrer optimistischen Form der privaten Laster, die zu öffentlichen Tugenden werden, andererseits in der pessimistischen Form der guten Vorsätze, welche den Weg zur Hölle pflastern.
Im Gegensatz zum Verhältnis zwischen Proletariat und Kapital ist der Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft kein Widerspruch, er ist der Motor von nichts und untergräbt nicht die Grundlagen seiner eigenen Reproduktion; doch das bedeutet nicht, dass er nicht konkrete Auswirkungen hervorbringt. Bezüglich diesem die Individuen transzendierenden Zusammenhang zwischen Individuen muss allen voran der unabwendbare Druck unterstrichen werden, welche er unmittelbar auf die Individuen selbst ausübt. Der verbindliche Zwang der Gesellschaft könnte nicht besser dargestellt werden als im berühmten Bild des Leviathans, dessen Körper eben genau aus einer Vielzahl von Individuen besteht. Gemäss Hobbes ist der Leviathan der grösste Zwang, denn er „kommt von allen“, und niemand kann sich ihm entziehen, denn jeder ist ungewollt daran beteiligt. Im Gegensatz zu den verworrenen Konzeptionen der Vertragstheorie, die auf ihn folgen, ist der (komplett fiktive) Gesellschaftsvertrag von Hobbes nicht ein Vertrag zwischen dem Staat und den Individuen, sondern ein Vertrag zwischen den Individuen, der logischerweise dem Staat vorausgeht und seine Existenz gründet. Was ist dieser imaginäre Vertrag, wenn nicht die ideologische Übertragung – der Vertrag als Resultat einer „freien Entscheidung“ – eines objektiven Zusammenhanges, den das Individuum als immer schon vorhanden vorfindet? Obwohl letzteres ihn – wie es Marx formuliert – als reines Mittel benutzen kann, um seine eigene Individualität zu vergegenständlichen, erweist sich dieser instrumentale Gebrauch jenseits einer gewissen Schwelle als konterproduktiv. Das ist der wahre Kern, der im an uns als Teenager von unseren Eltern gerichteten Vorwurf enthalten ist: „…und wenn es alle so machen würden wie du?“ Wir zuckten natürlich mit den Schultern und sahen – unter Androhung von lauten Ohrfeigen – von der einzigen Antwort ab, die uns in den Sinn kam („Das ist uns scheissegal!“). Aber wenn man die Frage ernst nehmen möchte, müsste man antworten, dass die Gesellschaft fähig ist, sich zu verteidigen. Dort, wo sich der gesellschaftliche Druck auf das Individuum (durch Verbote, Bräuche, Normen usw.) lockert, verkehrt sich der anfängliche Gewinn an individueller Autonomie, wenn er dazu tendiert, sich zu verallgemeinern, in sein Gegenteil, denn das Zusammenleben verschlechtert sich dermassen, dass die privaten Ziele aller kompromittiert sind. Und zu diesem Zeitpunkt wird ein Verteidigungsmechanismus aktiviert, der zum Ziel hat, ein Umfeld wieder herzustellen, in welchem die Ermächtigung des Individuums wieder möglich wird. Diesbezüglich geht es selbstverständlich nur um die Grenzen, innerhalb welcher sich die – stets partielle – Hervorbringung des gesellschaftlichen Individuums innerhalb gesellschaftlicher und besonders kapitalistischer Klassenformationen in einem Kontext des relativen zivilen Friedens bewegt. Dieser Diskurs stellt weder die Unterteilung der Gesellschaft in Klassen, noch den Klassencharakter des Staates in Frage. Doch er erklärt, weshalb sich die Individuen und besonders die proletarischen Individuen unter gewissen Bedingungen veranlasst sehen, den gesellschaftlichen Druck zu verstärken, d.h. den Spielraum der individuellen (gesellschaftlich akzeptierten und/oder juristisch erlaubten) Autonomie als Anerkennung der Effizienz ihres gegenseitigen Zusammenhanges zu reduzieren. Gibt es für die Schwächsten eine andere Art und Weise, gegen den Neomalthusianismus zu kämpfen, wenn die persönliche Freiheit die Freiheit des Virus im freien Hühnerstall ist?
Betreffend dieser Verbindung muss die aussergewöhnliche Widerstandsfähigkeit unterstrichen werden. Die Anhänger „des Zusammenbruches des Kapitalismus“ und andere Kollapsologen haben nicht nur ein kurzes Gedächtnis, sondern auch eine total verdinglichte Sichtweise der gesellschaftlichen Verhältnisse. In China hat der Zusammenbruch der industriellen Produktion 1961 fast 40% erreicht; in Russland 1992 25%. In den USA betrug er zwischen Juli 1929 und März 1933 insgesamt 52%. Wieso haben solche Katastrophen, die allenfalls Hungersnöte oder demographischen Zusammenbruch zur Folge haben, nie gereicht, um zum Verfall der bestehenden Produktionsverhältnisse zu führen? Schlicht und einfach, weil die Gesellschaft nicht eine Addition von Individuen und/oder Gegenständen (seien es Fabriken) ist. Das dürfte reichen, um sich von zwei alles in allem ziemlich banalen Dingen zu überzeugen:
• Erstens sind die gesellschaftlichen Verhältnisse etwas vom unergründlichsten und unentzifferbarsten und die Reproduktion der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse erfordert manchmal immense Opfer unter ihren materiellen Trägern (Dinge und Personen);
• zweitens und aus dem gleichen Grund können diese Verhältnisse weder absichtlich modifiziert, noch von einem Automatismus der Geschichte (einem „Zusammenbruch“ zum Beispiel) aufgelöst werden. Das bedeutet nicht, dass die kapitalistische Produktionsweise ewig ist, aber dass die Frage, wie sie überwunden werden kann, eine theoretische Frage im wahrsten Sinne des Wortes ist, die ernst genommen und systematisch behandelt werden muss. Jene, welche sich damit begnügen, Parolen zu brüllen, machen sich nicht nur lächerlich, sondern umgehen auch die Frage, statt sie zu beantworten.
Es sollte schliesslich angemerkt werden, dass die Demontage der Globalisierung sehr wahrscheinlich einen Widerruf jener Postulate implizieren wird, bezüglich welchen sich die heftigsten Kritiker des Kapitalismus und seine Apologeten eine Zeit lang einig sein konnten, besonders der antidialektischen Überzeugung, die Ära des Staatskapitalismus und der damit verbundenen Problematiken sei definitiv überwunden. Die Überwindung der Globalisierung, sollte sie gelingen, wird gewiss keine Rückkehr zum alten Keynesianismus sein. Sind wir allerdings nicht schon dabei, ein neues Ende des laisser-faire zu erleben? In diesem Sinne sollte angemerkt werden, dass, entgegen unserer eigenen Prognosen11, die big bazooka weiterhin schiesst. Und nicht nur ein bisschen! Man kann jedoch jetzt schon bekräftigen, dass ihre zukünftigen Auswirkungen und Modalitäten im Verlauf der Monate immer weniger jenen der vorhergehenden Schüsse ähneln werden. Trotz den wiederholten Versuchen, eine Kettenreaktion der Konkurse zu verhindern und verfaulte Banken durch eine massive Injektion von Geldflüssigkeit und einfachen Krediten zu retten, besteht der Graben zwischen rentablen Unternehmen mit wirklichen Kapazitäten der Selbstfinanzierung und Investition – die nicht zahlreich sind, aber sie existieren sehr wohl – und den untergehenden Unternehmen fort und vertieft sich. Nur erstere werden sich auf autonome Art und Weise dem aus dem aktuellen Schlamassel hervorgehenden wirtschaftlichen und produktiven Ökosystem anpassen können. Wahrscheinlich werden viele andere gerettet und eventuell verstaatlicht werden müssen, doch das wird nur unter gewissen Bedingungen geschehen und nur wenn sie als strategisch betrachtet werden. Donald Trump hat schon seine Unterstützung für die Idee eines Verbots der buybacks – d.h. des Kaufs der eigenen Titel, um ihren Wert an der Börse zu steigern – für die geretteten Unternehmen ausgedrückt12: Dies würde schon ein erstes Kriterium der Konditionalität (die Wiederbelebung der Investitionen) für den bailout setzen. Zudem drohen die Entwicklungen der nächsten Monate, in Anbetracht des von den amerikanischen Unternehmen Ende 2019 erreichten Verschuldungsgrades (15.5 Billionen Dollar sowohl grosser als auch kleiner und mittlerer Unternehmen), die alte Frage des Beginns des letzten Jahrhunderts zum Verschwinden zu bringen: Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?13 Es versteht sich von selbst, dass das nicht ohne eine Umstellung einer beträchtlichen Fraktion der amerikanischen und – indirekt – internationalen kapitalistischen Klasse weg von der Verteidigung des ultraliberalen Status Quo hin zu einer offenen Haltung gegenüber hohen Dosen an gelenkter Volkswirtschaft und Dirigismus geschehen wird.
Und auf der anderen Seite des Pazifiks? China ist selbstverständlich weder in keiner Weise geschützt vor der ausbrechenden allgemeinen Krise, noch unbeteiligt an den wirtschaftlichen Pathologien, die den Rest der Welt heimsuchen (besonders die Überverschuldung). Die von der Wirtschaftspresse veröffentlichten Zahlen sprechen von einer Senkung von 13.5% der industriellen Produktion Chinas zwischen Januar und Februar. Das ist kein Pappenstiel und es ist auch möglich, dass die Zahl zu tief geschätzt ist, doch führen wir uns vor Augen, dass es sich in diesem Fall nur um zwei Monate handelt, während die Daten sich in den weiter oben zitierten Beispielen auf viel längere Zeiträume beziehen. Fortsetzung folgt. Die grundlegende Unbekannte ergibt sich aus der auf chinesischem Boden gültigen Dreiteilung der Kapitale (Staatsunternehmen, chinesische Privatunternehmen, ausländische oder hybride Unternehmen), die in den Auslegungen in Begriffen der nationalen Buchhaltung (BIP usw.) regelmässig verschleiert werden: Wie werden die Verluste unter diesen drei Fraktionen aufgeteilt werden? Die chinesische Wirtschaft ist nicht im Block gegossen, sie ist eine Cremeschnitte. Kann man dennoch die Tatsache vernachlässigen, dass der chinesische Staat im Moment bezüglich internationaler Beziehungen die einzige Macht ist, die eine Anziehung, eine Zentripetalkraft ausübt?
„Im Verlauf der letzten Wochen hat China die Erzählung der Epidemie neu geschrieben und sie von einer Geschichte der Skandale, der Verschleierung und der schlechten Verwaltung der chinesischen Regierung in eine Geschichte des Triumphs, der Kraft und der Grosszügigkeit der Chinesen, oder gar der Überlegenheit ihres Regierungssystems verwandelt. Die Funktionsstörungen des Weissen Hauses, und vielleicht bis zu einem gewissen Grad auch jene von Downing Street, haben der chinesischen Regierung gewiss geholfen, diese Erzählung zu konsolidieren.“14
„Es gibt keine Solidarität Europas. Es ist ein Märchen auf Papier. Ich glaube an meinen Bruder und Freund Xi Jinping und an die Hilfe Chinas. Was alle anderen betrifft, danke, dass ihr nichts getan habt.“15
„Die Afrikanische Union hat schon 2‘000 Test-Kits von der chinesischen Regierung bekommen und rechnet mit 10‘000 weiteren sowie anderen dringend notwendigen medizinischen Lieferungen, die gebraucht werden, um die Ausbreitung von Covid-19 auf dem Kontinent zu bekämpfen. Die Verteilung der gespendeten medizinischen Ausrüstung ist von den Afrikanischen Zentren für Krankheitsbekämpfung und Schutzmassnahmen der Afrikanischen Union in Äthiopien zentralisiert worden. Jack Ma, ein chinesischer Tech-Milliardär und Mitgründer der Online Shopping Plattform Alibaba, versprach, mithilfe seiner Stiftungen 20‘000 Test-Kits, 100‘000 Masken und 1‘000 Schutzanzüge an jeden der 54 afrikanischen Staaten zu spenden.“16
Die im letzten Zitat erwähnten Spenden mögen peanuts sein, doch was taten die anderen Riesen der Welt in der Zwischenzeit? Nichts. Grossbritannien, Frankreich und Japan schickten im Januar einige Masken nach China, um den Schein zu wahren, sie hofften tief im Herzen, dass die Epidemie der Welt alle Probleme und Rückstände dessen ans Licht bringen würde, was in ihren Augen grundsätzlich nie aufgehört hat, the sick man of Asia zu sein. Jetzt zeigt sich: Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Dies bringt uns zum chinesisch-amerikanischen decoupling und zur Thukydides-Falle zurück. Vor genau 160 Jahren prophezeite Marx:
„Dann wird der Stille Ozean dieselbe Rolle spielen wie jetzt das Atlantische und im Altertum und Mittelalter das Mittelländische Meer – die Rolle der großen Wasserstraße des Weltverkehrs; und der Atlantische Ozean wird herabsinken zu der Rolle eines Binnensees, wie sie jetzt das Mittelmeer spielt.“17
Das ist unsere jüngste Vergangenheit und unsere Gegenwart. Vielleicht nicht mehr lange. Es ist unmöglich, zu wissen, was darauf folgen wird. Um einen anderen berühmten und kontroversen Deutschen zu paraphrasieren: Das Schicksal der Weltgeschichte wird einmal mehr eine Geschichte des Kampfes von Seemächten gegen Landmächte und von Landmächten gegen Seemächte sein – ein Kampf, wovon der kriegerische Ausgang immer noch der wahrscheinlichste ist.
Eben genau betreffend der militärischen Frage zeigt die jüngste Exhumierung des Themas der „Aufstandsbekämpfung“18 einmal mehr die Kluft zwischen einem gewissen aktivistischen oder „radikalen“ storytelling und der Wirklichkeit. Dass die Doktrinen und die Praktiken der Aufstandsbekämpfung zum Ziel haben, Massenbewegungen niederzuschlagen oder in Schach zu halten, ist schlicht und einfach absurd. In Wirklichkeit betreffen sie Kontexte der militärischen Intervention im Ausland, in welchen die Feinde minoritäre kriegführende Subjekte sind, die jedoch unübersichtlich und innerhalb einer bunt gemischten, mehrheitlich feindlichen Zivilgesellschaft zerstreut sind, welche von der Besatzungsmacht so gut wie möglich kooptiert werden muss. Die insurgency gegen die counterinsurgency ist der Bandenkrieg, die Guerilla, die Handlung der Partisanen. Es handelt sich nicht um riot, insurrection, uprising oder upheaval. Es ist natürlich möglich, dass diese Doktrinen und Praktiken gegen Bevölkerungen des gleichen Staates benutzt werden können wie jener, welchem die sie anwendende Armee angehört – obwohl es nicht ihr ursprünglicher oder vorherrschender Zweck ist. Doch das setzt einen ähnlichen Kontext voraus wie jener einer Intervention im Ausland, so wie wir sie eben beschrieben haben, zum Beispiel ein Sezessionsversuch nationaler Minderheiten. Was den Rest betrifft, kann der – wie auch immer geartete – Einsatz der Armee nie etwas anderes als ergänzend zu jenem der Polizei sein, aus dem einfachen Grund, dass der Kontext nicht undurchsichtig ist und die Funktionen der intelligence und der Kontrolle des Territoriums – auf eine mit den verfügbaren Mitteln kompatible Art und Weise – schon abgedeckt sind. Somit kommt Zweifel auf: War die berühmte „Militarisierung der Territorien“ – in Italien und anderswo – nur ein Projektionsschirm, hinter welchem sich die Unterfinanzierung der Bullen versteckte?
Doch das ist nicht alles. Wenn es, wie es der Fall ist, wahr ist, dass die Doktrinen der Aufstandsbekämpfung Gegenstand zahlreicher, vom Ort ihrer Herkunft selbst (der amerikanischen Armee) kommender Kritiken waren und eine – freilich nicht einheitliche – Gegenbewegung der „Rückkehr zu den Grundlagen“19 auslösten, so hängt das nicht nur mit den unglücklichen Resultaten der Missionen im Irak, in Afghanistan usw. zusammen – vor allem, wenn man sie mit den Kosten und der banalen Feststellung vergleicht, dass „vollständig reguläre bewaffnete Kräfte, ohne Doktrin der Aufstandsbekämpfung oder besonderem Training, in der Vergangenheit regelmässig Aufständische besiegten, indem sie einige bewährte Methoden benutzten“20. Denn der Ansatz der Aufstandsbekämpfung ist gleichwesentlich mit dem unipolaren amerikanischen Moment: Eine Welt, in welcher die militärische Intervention und Besatzung als etwas konzipiert werden konnten, das losgelöst von einem konsequenten Einsatz von Bodentruppen und der Einsetzung einer Regierung oder Verwaltung im besetzten Territorium war; eine Welt, in welcher man glauben konnte, dass es keine grossen Kriege mehr geben würde, ausser gegen das Proletariat oder die „Verdammten dieser Erde“ in den peripheren Ländern. Das Problem ist, dass sich diese Welt in Benghasi und Aleppo in Schall und Rauch verwandelt hat. Jene, welche beim Bericht der NATO von 2003 („Urban Operations in the Year 2020“21) stehen geblieben sind, haben womöglich einige Episoden im Verlauf der letzten 17 Jahre verpasst.
Das Vorhergehende ändert nichts oder fast nichts an der Gesamtlage: Das Eintreten in eine besonders krampfhafte und entscheidende historische Phase, deren Ausgang offen ist und in letzter Instanz vom Klassenkampf abhängen wird (und dies vor allem auf beiden Seiten des Pazifiks). Je weiter wir im Unwetter fortschreiten, desto geringer wird die „Sichtweite“. Und insoweit als akkumulierte/übermittelte „revolutionäre“ Gewissheiten der alltäglichen Erkundung Platz machen werden müssen, werden Überlegungen wie diese und die Existenz theoretischer „Pole“ selbst wie unserem ihre Daseinsberechtigung verlieren. Es ist weniger eine Frage der Wahl, denn eine Frage einer allgemeinen Änderung der „Atmosphäre“: Die ruhigen Zeiten sind vorbei.
1Elias Canetti
2Die Auslösung der gegenwärtigen Pandemie selbst – genau wie jene der notorischsten Epidemien der jüngsten Vergangenheit (Ebola, SARS, MERS, Zika usw.) – kann nicht als ein strikt „natürliches“ Ereignis betrachtet werden, da der sogenannte spillover, d.h. die Übertragung „neuer“ Virenarten von den Tieren auf die Menschen, durch den Druck der kapitalistischen Produktionsweise auf die Umwelt begünstigt wird. Siehe Laura Scillitani, „Aids, Hendra, Nipah, Ebola, Lyme, Sars, Mers, Covid…“, 18. März 2020.
3Vor mehr als einem Jahr machten wir eine Bestandesaufnahme der Überverschuldung, sowohl corporate als auch non-financial. Siehe Il lato cattivo, „Il demos, il Duce, la crisi“, Januar 2019.
4„Heute ist [in Grossbritannien] ein Hektar Land hundertmal rentabler, wenn auf ihm gebaut, als wenn er für die Landwirtschaft genutzt wird.“ Michael Roberts, „Land and the Rentier Economy“, 15. Dezember 2019.
5Observatorium GIMBE, „Il definanziamento 2010-2019 del Sistema sanitario nazionale“, September 2019.
6Il lato cattivo, „Foto dal finestrino“, September 2017.
7AdÜ: Behelfsmässige Übersetzung des Begriffs stato minchione, den Bordiga im Text „Struttura economica e sociale della Russia d‘oggi“ verwendete. Eine deutsche Übersetzung davon scheint nicht zu existieren.
8Präzisieren wir, falls es notwendig ist, dass das Recht auf Abtreibung oder die Verhütungspille – die wir ohne zu zögern als aussergewöhnliche Errungenschaften hinsichtlich der bewussten Regulierung seiner eigenen Reproduktion durch das menschliche Geschlecht definieren – hier nicht in Frage gestellt werden.
9Urtext von „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ in Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin, Dietz Verlag, 1953, S. 909.
10Einleitung von 1857 in MEW, Bd. 13, S. 615.
11Siehe Il lato cattivo, „Il demos, il Duce, la crisi“, op. cit.
12Siehe „Trump Says He Wants Stock Buybacks Prohibited in Virus Stimulus“ in Bloomberg, 20. März 2020.
13Werner Sombart.
14Yangyang Cheng, Cornell University.
15Aleksandar Vučić, Präsident der Republik Serbiens, 17. März 2020
16Zeenat Hansrod, „China Makes Massive Donations of Medical Supplies to Fight Coronavirus in Africa“, RFI, 23. März 2020.
17Karl Marx, Friedrich Engels, „Revue“ in Neue Rheinische Zeitung, Januar/Februar 1850 in MEW, Bd. 7, S. 221.
18Siehe Chuang, „Soziale Ansteckung. Mikrobiologischer Klassenkampf in China“, Februar 2020, mehrere Übersetzungen davon zirkulieren online. Ein freilich sehr interessanter Text, der jedoch mit Vorbehalt gelesen werden muss. Abgesehen von einigen mehr als zweifelhaften Irrungen bezüglich der Aufstandsbekämpfung und einer gewissen Ambivalenz über das gesellschaftliche Wesen des maoistischen Chinas, ist die Einschätzung der Massnahmen gegen Covid-19 in der Region Hubei klar durch eine Unterschätzung der Reaktionsfähigkeit des Zentralstaats verzerrt. Der gewiss stimulierendste Vorschlag des Textes, der am ehesten geteilt werden kann, ist folgender: „Auf theoretischer Ebene bedeutet dies, zu verstehen, dass die Kapitalismuskritik verarmt, wenn sie von den harten Wissenschaften abgetrennt wird.“ (AdÜ: Der letzte Teil des Textes wurde in der Übersetzung von Wildcat kommentarlos weggelassen, während die Passage in einer anderen Übersetzung fälschlicherweise als eine „Kritik an den ‚harten Wissenschaften‘“ dargestellt wird. Wer des Englischen mächtig ist, liest am besten die Originalversion.)
19Für jene, welche das Thema vertiefen möchten, gibt es eine ausschweifende Bibliographie. Der heftigste Kritiker der Aufstandsbekämpfung innerhalb der amerikanischen Armee ist der Oberst Gentile. Siehe Gian P. Gentile, „A Strategy of Tactics: Population-Centric COIN and the Army“ in Parameters, Nr. 39, Herbst 2009; Gian P. Gentile, „Les mythes de la contre-insurrection et leurs dangers: une vision critique de l‘US Army“ in Sécurité globale, Nr. 10, 2009, S. 21-34; Gian P. Gentile, Wrong Turn: America‘s Deadly Embrace of Counterinsurgency, The New Press, 2013.
20Edward N. Luttwak, „Modern War: Counterinsurgency as Malpractise“ in Politique étrangère, 2006/4, S. 859-861.
21Link zum Buch: https://translationcollective.wordpress.com/2012/08/17/militar-in-den-strasen-einige-fragen-zum-nato-bericht-urban-operations-in-the-year-2020/]