(Paul Mattick und Walter Auerbach) Eine „marxistische” Annäherung zu der Judenfrage

Die folgenden Artikel von Paul Mattick und Walter Auerbach im ICC (1938), sowie wie die von Gato Mammone in BILAN (1936), erscheinen uns historisch und aktuell enorm wichtig und geeignet zu sein. Sowie es der Zufall will, handelt es sich in einem um eine Publikation (ICC, International Council Correspondence) die von hauptsächlich deutschsprachigen Kommunisten in den Vereinigten Staaten, im Exil, veröffentlicht wurde und im anderen um eine Publikation (BILAN), die auch von im Exil lebenden italienischen Kommunisten in Frankreich und Belgien veröffentlicht wurde.

In den Texten finden wir Kommunisten verschiedener Strömungen, wenn auch zu vielen Fragen gar nicht verschieden, die schon zu ihrer Zeit, bis zu unseren Zeit, sehr zutreffende Analysen machten. Beide Texte sind noch vor der Gründung des Staates Israel (1948) erschienen und dennoch kritisieren sie beide die nationalistischen Bestrebungen in den damaligen arabischen und jüdischen Lagern vor Ort, die den Konflikt aus der Klassenfrage verschiebten, damit Arbeiterinnen und Arbeiter aufeinander gehetzt werden könnten, was im Jahr 2024 noch wesentlich mehr an die Spitze getrieben worden ist.

Für uns als anarchistische Gruppe, dies haben wir sehr oft in Bezug auf den Krieg in der Ukraine gesagt, gibt es nur die Verteidigung des Internationalismus, anstatt sich auf irgendeine herrschende Partei sich einzureihen um deren Interessen zu verteidigen, egal wie diese dann geschmückt werden. BILAN wird es sehr klar ausdrücken, „Für echte Revolutionäre gibt es natürlich keine „palästinensische“ Frage, sondern nur den Kampf aller Ausgebeuteten des Nahen Ostens, Araber und Juden eingeschlossen, der Teil eines allgemeineren Kampfes aller Ausgebeuteten der ganzen Welt für die kommunistische Revolution ist.“

Mattick und Auerbach nehmen sich auch keinen Blatt vor dem Mund als sie sagen dass, „Die Verschärfung der kapitalistischen Widersprüche dient sicherlich den revolutionären Interessen der Arbeiterklasse, aber da das Proletariat eine internationale Revolution machen muss, kann es keine nationalistischen Fragen unterstützen, es kann weder die Araber noch die Juden fördern. Es muss immun bleiben gegen jede nationalistische Ansteckung und muss sich auf den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit konzentrieren, der durch die Produktionsverhältnisse bestimmt wird. Für die jüdischen Arbeiter gibt es keine nationale Lösung, so wie es auch keine Möglichkeit gibt, in den anderen Ländern jemals Frieden zu finden. Die jüdische Frage ist innerhalb der kapitalistischen Barbarei von heute unlösbar. Es ergibt keinen Sinn, die Augen vor der Realität zu verschließen: So schwierig, ja, so unmöglich es in vielen Fällen ist, die besonderen Gräueltaten gegen die jüdische Bevölkerung zu verhindern, Palästina ist keine Lösung. Der Kapitalismus bedeutet die Verlängerung dieser barbarischen Situation. Die Aufgabe der jüdischen Arbeiter ist die Aufgabe aller Arbeiter, das internationale System der kapitalistischen Ausbeutung zu beenden.“

Der Artikel kann hier auf Englisch gelesen werden, (International Council Correspondence, 1938, S. 153-156), die Übersetzung ist von uns.


(Paul Mattick und Walter Auerbach) Eine „marxistische” Annäherung zu der Judenfrage

Die Befürworter des Zionismus bzw. des jüdischen Nationalismus nähern sich den Arbeitern wie die Befürworter aller anderen nationalistischen Ideologien auf vielfältige Weise. Kürzlich hat die Poale Zion of America einige der Schriften von Ber Borochov1 neu veröffentlicht, der vor etwa 30 Jahren versuchte, den sozialistischen Ansatz des Zionismus zu vermitteln.

Borochov entstammte der jüdischen Intelligenzija in Russland. Zur Zeit seiner Tätigkeit hatten jüdische Arbeiter in Russland eine Organisation (Bund) aufgebaut, die eine sozialdemokratische gewerkschaftliche/syndikalistische Organisation war und sich gegen Zionismus richtete. Sie bestand aus Arbeitern, die ihre Organisation nach dem Vorbild der westeuropäischen gewerkschaftlichen/syndikalistischen Bewegung gegründet hatten. Sie hatten aufgehört, sich sehr viel mit nationalen Problemen zu beschäftigen und waren der Meinung, dass die sozialistische Revolution auch die Judenfrage lösen würde. Borochov war jedoch der Meinung, dass „jemand, der keine nationale Würde hat, auch keine Klassenwürde haben kann.“ Er versuchte zu beweisen, dass der Zionismus nicht nur die einzige Lösung für das jüdische Volk ist, sondern auch die marxistische Lösung. Er beobachtete „den langsamen Übergang der jüdischen Massen von unproduktiven zu produktiven Beschäftigungen“ und war überzeugt, dass diese Tendenz nur in Palästina zu ihrer vollen Entfaltung kommen konnte. Er war der Meinung, dass die Juden weder auf den „Fortschritt der Menschheit“ warten noch sich auf die Assimilation verlassen können, sondern dass ihre Freiheit von Verfolgung und Diskriminierung in erster Linie von der nationalen Selbsthilfe der jüdischen Massen abhängt. „Der nationale Selbsterhaltungstrieb, der in der sozialistischen Arbeiterklasse schlummert“, schrieb er, „ist ein gesunder Nationalismus“. Obwohl er anfangs davon ausging, dass die Klasseninteressen der jüdischen Arbeiter dieselben waren wie die der anderen Arbeiter und der Sozialismus das Endziel war, war die unmittelbare Notwendigkeit der Zionismus, und der Klassenkampf sollte beides verwirklichen.

Im Produktionsprozess entstehen verschiedene Produktionsverhältnisse. Aber die Produktion selbst, so argumentierte Borochov, ist von bestimmten Bedingungen abhängig, die von Ort zu Ort unterschiedlich sind. Diese „Produktionsbedingungen“, die aus geografischen, anthropologischen und historischen Gründen unterschiedlich sind, bilden die Grundlage für seine Vorstellung, dass für die jüdischen Arbeiter Zionismus und Sozialismus identisch sind. Der Nationalismus unterdrückter Nationalitäten sei eigenartig, und das Produktionssystem unterdrückter Nationalitäten unterliege immer anormalen Bedingungen. „Die Produktionsbedingungen sind abnormal, wenn eine Nation ihres Territoriums und ihrer Organe zur Erhaltung der Nation beraubt wird. Solche anormalen Bedingungen tendieren dazu, die Interessen aller Mitglieder einer Nation zu harmonisieren. Dieser äußere Druck schwächt und zerstreut nicht nur den Einfluss der Produktionsbedingungen, sondern behindert auch die Entwicklung der Produktionsverhältnisse und des Klassenkampfes, weil die normale Entwicklung der Produktionsweise gehemmt wird. Im Zuge des Kampfes um die nationale Emanzipation manifestieren sich jedoch die Klassenstruktur und die Klassenpsychologie“. Und so behauptete er, dass ein „echter Nationalismus keineswegs das Klassenbewusstsein verdeckt“, dass der Aufbau Palästinas vielmehr eine echte Grundlage für die Entwicklung des Klassenkampfes der Juden mit dem Ziel einer sozialistischen Gesellschaft bieten würde.

In Palästina, das keineswegs ein leeres Land oder ein internationales Hotel war, wie Borochov und seine Zeitgenossen zu glauben versuchten, fanden die Juden eine arabische feudalistische Agrargesellschaft mit Handelskapital in den Städten und Häfen vor. Die einwandernden Juden waren Handwerker des osteuropäischen Typs, Kaufleute aus Westeuropa und Vertreter von Finanziers aus London, der Wall Street und Südamerika. Hinzu kam ein neu gebildetes Proletariat von Studenten, Fachleuten und Intellektuellen, die sich mit großem nationalen Enthusiasmus daran machten, unter primitivsten Bedingungen für den jüdischen Staat zu arbeiten.

Nach Palästina wanderten Arbeitskräfte und Kapital ein, allerdings in kleinem Umfang. Die zunehmend „normaleren“ Produktionsbedingungen führten jedoch nicht zu einer Entwicklung, die den Träumen der Linkszionisten entsprach. Der Nationalismus förderte den Klassenkampf nicht, im Gegenteil, dieser wurde den Bedürfnissen der Nation geopfert. Das Klassenbewusstsein nahm nicht zu, sondern verschwand tendenziell, und das „gemeinsame“ Interesse gegen die Araber schuf eine fast ideale Harmonie. Der Zionismus war in der Praxis nur in der Lage, die jüdischen Arbeiter an die Interessen ihrer Ausbeuter und darüber hinaus an die imperialistischen Pläne Englands zu binden, das die jüdischen Bestrebungen für seine eigenen imperialistischen – strategischen Bedürfnisse förderte.

Es stimmt, dass mit dem Wachstum des palästinensischen Kapitalismus auch die Arbeiterklasse wuchs. Der Arbeitskräftemangel führte im Baugewerbe und ähnlichen Berufen zu relativ hohen Löhnen für einige Arbeiter2. Andere Arbeiter gründeten Genossenschaften, die als Bauunternehmen und Transportunternehmen fungierten. Diese Bedingungen förderten jedoch nicht den Klassenkampf für den Sozialismus, sondern schlossen eine große Anzahl von Arbeitern mit kapitalistischer Ideologie ein und führten zur Entwicklung einer gewerkschaftlichen/syndikalistischen Bürokratie, die an der Ausbeutung der Arbeiter beteiligt war. Die jüdischen Arbeiter fanden im Heiligen Land nicht nur ihre alten Ausbeuter wieder, sondern gewannen im Tausch gegen die leeren Versprechungen des Reformismus auch neue hinzu.

Borochovs „Beitrag zum Marxismus“, d. h. die Anerkennung der Bedeutung der „Produktionsbedingungen“ für die Entwicklung des Klassenkampfes, hat bisher nur kapitalistischen und imperialistischen Interessen gedient. Indem sie auf Palästina verwiesen, hielten die Zionisten die jüdischen Arbeiter davon ab, sich am Klassenkampf zu beteiligen; in Palästina verweisen sie nun auf die andere Seite der Grenze. Die zionistische Lösung der jüdischen Frage liegt nur im Kampf mit den Arabern. Unter den Bedingungen in Palästina kann der Zionismus nur im kapitalistischen Gewand auftreten. Die Juden sind gezwungen, kapitalistisch zu sein, um nationalistisch zu sein, und sie müssen nationalistisch sein, um Zionisten zu sein. Sie sind gezwungen, nicht nur kapitalistisch zu sein, sondern kapitalistisch in einer extrem reaktionären Form. Als Minderheit können sie nicht demokratisch sein, ohne ihren eigenen Interessen zu schaden; und da sie landhungrig sind, müssen sie gegen die Agrarreform kämpfen und sich mit den arabischen Feudalisten gegen die Fellachen verbünden. Sie sind nicht nur selbst reaktionär, sondern geben auch der arabischen Reaktion Auftrieb.

Die letzten zwanzig Jahre der zionistischen Praxis haben hinreichend gezeigt, dass der jüdische Nationalismus nicht weniger als jeder andere Nationalismus die Entwicklung des Klassenkampfes behindert hat. Den Lebensstandard der jüdischen Arbeiter auf einem halbwegs zivilisierten Niveau zu halten, war nur auf Kosten der arabischen Arbeiter möglich. Die von den jüdischen Gewerkschaften/Syndikate und den jüdischen Bossen praktizierte Diskriminierung der arabischen Arbeiter führte nicht zu Solidarität, sondern zu nationalistischem Hass unter den Arbeitern. All die wohlklingenden Phrasen über die Solidarität mit den arabischen Arbeitern verpufften, als sie in den Streiks von 1936 auf die Probe gestellt wurden; stattdessen brachte die zionistische Gewerkschaftsbürokratie die jüdischen Arbeiter erfolgreich dazu, das Eigentum ihrer Chefs zu verteidigen. Die Gewerkschaftsbürokratie und die nationalen Eigenheiten hinderten die Arbeitslosen daran, für Entlastung zu kämpfen, weil die Briten sonst die Einwanderung stoppen könnten. Die Knappheit in der palästinensischen Landwirtschaft führte zur Gründung von Genossenschaften hungernder Pioniere, den so genannten „Kommunen“ (Kvutsot). Es war das Verdienst der Borochowisten, diese Genossenschaften den „sozialistischen Sektor“ der Ökonomie Palästinas zu nennen und sie als „Vorposten des Sozialismus“ zu bejubeln. Aber auch hier verstecken die Zionisten nur hinter attraktiven Slogans den kapitalistischen Charakter und die Ausbeutung dieser Institutionen.

Der Zionismus kann nur dem Kapitalismus dienen. Borochov selbst, der sich anfangs nur für die zionistische Bewegung interessierte, um den Klassenkampf zu fördern, vergaß später seine ursprünglichen Absichten und sprach sich für die Klassenkollaboration aus. Er wandte sich nicht mehr an das Proletariat, sondern an „die gesamte jüdische Bevölkerung“, die „nicht der Vorstellung nachgeben sollte, dass die Juden unter den Nationen und fremden Kulturen verschwinden“. Ungeachtet dessen, dass selbst ein „Internationalist“ wie Leo Trotzki heute erklärt, „dass das jüdische Problem durch territoriale Konzentration gelöst werden muss“, kann der Nationalismus heute nur chauvinistisch sein, kann nur zu einem jüdischen Faschismus führen, der den Kampf gegen die Araber offen befürwortet. Und die Nicht-Faschisten akzeptieren diesen Kampf, indem sie schweigen oder heuchlerische Phrasen dreschen. Und nur die Anerkennung ihrer schwachen Position hindert sie daran, einen Platz unter den „Aggressor-Nationen“ zu finden, und zwingt sie dazu, den Diener des englischen Imperialismus zu spielen. Heute gibt es einen Bericht einer königlichen Kommission, der die Teilung Palästinas und die Gründung eines autonomen jüdischen Staates empfiehlt. Unabhängig davon, ob dieser Vorschlag jemals umgesetzt wird, bleibt die Tatsache bestehen, dass die Juden selbst die Wünsche der Zionisten nicht erfüllen können, sondern gezwungen sind, Verbündete des englischen Imperialismus zu bleiben.

Es stimmt zwar, dass die Förderung des Kapitalismus in Palästina durch den Zionismus und die Verschärfung der kapitalistischen Antagonismen „revolutionär“ sind, aber nur, weil der gesamte Kapitalismus revolutionär ist; für die Arbeiterklasse ist das nicht von Belang. Die Verschärfung der kapitalistischen Widersprüche dient sicherlich den revolutionären Interessen der Arbeiterklasse, aber da das Proletariat eine internationale Revolution machen muss, kann es keine nationalistischen Fragen unterstützen, es kann weder die Araber noch die Juden fördern. Es muss immun bleiben gegen jede nationalistische Ansteckung und muss sich auf den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit konzentrieren, der durch die Produktionsverhältnisse bestimmt wird. Für die jüdischen Arbeiter gibt es keine nationale Lösung, so wie es auch keine Möglichkeit gibt, in den anderen Ländern jemals Frieden zu finden. Die jüdische Frage ist innerhalb der kapitalistischen Barbarei von heute unlösbar. Es ergibt keinen Sinn, die Augen vor der Realität zu verschließen: So schwierig, ja, so unmöglich es in vielen Fällen ist, die besonderen Gräueltaten gegen die jüdische Bevölkerung zu verhindern, Palästina ist keine Lösung. Der Kapitalismus bedeutet die Verlängerung dieser barbarischen Situation. Die Aufgabe der jüdischen Arbeiter ist die Aufgabe aller Arbeiter, das internationale System der kapitalistischen Ausbeutung zu beenden.


1Nationalism and the Class Struggle. A Marxian Approach to the Jewish Problem. By Ber Borochov. Poale Zion-Zeire of America. New York, 205 pp., $1.50.

2Die an den Lebenshaltungskostenindex angepassten Wochenlöhne von neun Klassen städtischer Arbeiter im Oktober 1937 lassen den Schluss zu, dass die Reallöhne der jüdischen Arbeiter in Tel-Aviv 68 Prozent der Löhne der Arbeiter in London betrugen und dass die Löhne der Araber etwa 10 Prozent unter den Löhnen für jüdische Arbeiter lagen. Diese neun Klassen von städtischen Arbeitern, die für den oben genannten Lohnindex verantwortlich sind, gehören jedoch alle dem Baugewerbe an und sind nicht, wie oft angenommen, repräsentativ für die Löhne der Arbeiterklasse insgesamt. Der oft mit Stolz vorgetragene Index stimmt auch insofern nicht, als er bei den Lebenshaltungskosten den Faktor Miete ausklammert, der in Palästina aufgrund des gravierenden Wohnungsmangels sehr hoch ist.

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