Die Bosse haben kein Vaterland: Marxisten und das sogenannte Problem des Imperialismus

Hier gefunden, die Übersetzung ist von uns.


Die Bosse haben kein Vaterland: Marxisten und das sogenannte Problem des Imperialismus

Von Wildcat (1988)

Vorwort

Hier ist ein alter Wildcat-Text und die kurze Anmerkung, die letztes Jahr dazu auf intsdiscnet gepostet wurde. (Er sorgte für ziemliches Aufsehen.) Dieser Text wurde von einem Wildcat-Mitglied für eine Konferenz geschrieben, die 1988 in London stattfand. Er wurde ziemlich heftig kritisiert, nicht zuletzt von anderen Wildcat-Mitgliedern, vor allem wegen seiner Angriffe auf Marx‘ Methode. Trotzdem drückte das Hauptargument, dass die Theorien des Imperialismus für Kommunisten nicht nützlich sind und aufgegeben werden sollten, eine „allgemein” vertretene Position aus.

Einleitung

Dieser Aufsatz hat die üblichen Probleme, die durch den Mangel an Ressourcen von Wildcat verursacht werden. Es fehlen einige Teile, und er muss noch überarbeitet werden. Trotzdem ist er ein wichtiger Beitrag zur notwendigen theoretischen Arbeit der kommunistischen Bewegung. Er war ursprünglich als Diskussion über das Problem des Imperialismus gedacht. Wie der Aufsatz aber erklärt, bin ich beim Schreiben zu der Überzeugung gelangt, dass der Imperialismus ein Ablenkungsmanöver ist. Stattdessen geht es um das eigentliche Thema, Nationen und Nationalismus. Nebenbei werden andere wichtige Themen wie Dekadenz und die marxistische Methode angeschnitten. Der Zweck dieses Aufsatzes und der Versammlung, für die er geschrieben wurde, ist es, zu einer Diskussion über eine internationale Plattform beizutragen, die die theoretische Grundlage für eine Neuformierung der Revolutionäre bilden soll, mit dem Ziel, die Zentralisierung des internationalen Klassenkampfs zu unterstützen.

Marx und Engels

Marx und Engels haben sich kaum zum Thema Imperialismus geäußert. Ihre Bemerkungen zum Kolonialismus und Außenhandel, insbesondere der Abschnitt über Gegentendenzen zur Tendenz des fallenden Profitanteils in Kapital Band 31, wurden von ihren Epigonen gut erklärt und dazu benutzt, ihren eigenen Untersuchungen Autorität zu verleihen. Ihre Nachfolger im 20. Jahrhundert waren besser in der Lage, die Entwicklungen zu beleuchten, die zum August 1914 führten, daher konzentriere ich mich im nächsten Abschnitt auf sie. Bedeutender sind Marx‘ und Engels‘ Ansichten zur Methode, die vielen späteren Arbeiten zugrunde liegen. Die Fehler Lenins zum Beispiel lassen sich nicht immer einfach als Abweichung von der Methode Marx‘ wegdiskutieren. Wir wollen Marx nicht aus der Verantwortung nehmen. Bevor wir uns als „Marxisten” bezeichnen, müssen wir uns überlegen, wie viel von der Methode oder den Methoden von Marx und Engels wir übernehmen sollten. In „Die deutsche Ideologie” (1846) polemisierte Marx gegen seine Hegelschen Kommilitonen und skizzierte die materialistische Geschichtsauffassung. „Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigne Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar.“2

Aber Marx‘ Ideen sind oft sehr schwer, wenn nicht gar unmöglich auf diese Weise zu überprüfen. Nehmen wir die folgenden Auszüge aus dem Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie. „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. (…) und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. “3 Siehe auch Engels, „Die Dialektik der Natur“.

1846 schien Marx mit der Hegelschen Ideologie zu brechen. Aber während seines gesamten weiteren Schaffens schien ihm der Geist der Dialektik immer wieder ins Ohr zu flüstern. Es ist bedauerlich, dass Marx starb, bevor Hegel zu Beginn des 20. Jahrhunderts in England philosophisch vernichtend geschlagen wurde. Die obige Passage aus dem Vorwort zeigt gut die elegante Verführungskraft des dialektischen Denkens. Wir sollten uns davor genauso hüten wie vor modernen Physikern, die behaupten, ihre Theorien müssten wahr sein, weil sie elegant sind. Seht wohin das dialektische Denken Marx geführt hat. Die Aussage, dass sich die Menschheit nur Probleme stellt, die sie lösen kann, ist offensichtlich falsch. Das Problem, in kurzer Zeit zu fernen Galaxien zu reisen, wurde gestellt, kann aber nicht gelöst werden. Und es gibt keine empirischen Belege für die Ansicht, dass die Geschichte nach einem Muster von Formen und Fesseln verläuft. „Beziehungen” und „Kräfte” der Produktion sind willkürliche abstrakte Kategorien. Wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden, hat das dialektische Denken dazu beigetragen, Marx‘ Anhänger in die Irre zu führen.

Und ihre Anhänger.

Die radikaleren Elemente innerhalb der Zweiten Internationale hatten gute organisatorische und politische Gründe, sich als Nachfolger von Marx und Engels zu sehen. Um die Jahrhundertwende fanden unter diesen radikalen Sozialdemokraten verschiedene Debatten über Imperialismus und Nationalismus statt. Der berühmteste von ihnen ist Lenin. Das ist schade. Lenin argumentierte, dass der Imperialismus zum Teil eine bewusste Strategie sei, um die Arbeiterklasse in den imperialistischen Ländern zu bestechen. Sein Beweis ist ein Zitat von Cecil Rhodes.4 Aus Rhodes‘ Meinung, dass der Imperialismus dazu beitragen würde, eine Revolution in Großbritannien zu vermeiden, leitete Lenin seine Theorie der Arbeiteraristokratie ab, die seinen Moralismus in seiner krudesten Form zeigt. Er zitiert aber auch Engels, der meinte, dass die Arbeiter Englands „fröhlich am Festmahl“ der englischen Kolonien teilhaben. Er verurteilt den „ökonomischen Parasitismus“, mit dem die englische herrschende Klasse „die unteren Klassen zur Zustimmung besticht“. Was für ein kindischer, kleinbourgeoiser Unsinn! Die herrschende Klasse in allen Ländern bezahlt den Arbeitern so viel, wie sie für nötig hält, berechnet anhand (a) der Notwendigkeit, dass die Arbeiter am Leben und mehr oder weniger gesund bleiben, (b) des Mangels oder Nichtmangels an Arbeitern, die die Arbeit verrichten können, und (c) des Klassenkampfs. Wo hört eine durch Kampf errungene Lohnerhöhung auf und wo fängt Bestechung an? Wie können britische Arbeiter herausfinden, welcher Anteil ihres Lohns aus der Ausbeutung der Kolonien stammt, und sollten sie diesen Anteil an ihre Arbeitgeber zurückgeben und damit erklären, dass sie sich weigern, sich bestechen zu lassen? Wenn man die Idee akzeptiert, die Arbeiterklasse in mehr oder weniger ausgebeutete Gruppen zu teilen, ist es in Wirklichkeit nicht unbedingt richtig, dass „was das in den Kolonien usw. investierte Kapital betrifft, der Grund, warum dieses höhere Profitraten erzielen kann, darin liegt, dass die Profitrate dort aufgrund des geringeren Entwicklungsstands im Allgemeinen höher ist, ebenso wie die Ausbeutung der Arbeitskraft durch den Einsatz von Sklaven und Kulis usw.“.5

In Wirklichkeit machen Arbeiter in „fortgeschrittenen“ Ländern oft mehr Gewinn im Verhältnis zu ihren Löhnen als die in „rückständigen“ Ländern. Lenin stützt seine Ansichten auf beiläufige Bemerkungen von Marx und Engels und ignoriert die besser ausgearbeiteten Passagen, die man nutzen kann, um eine Analyse der Weltwirtschaft ohne das Konzept des Imperialismus zu entwickeln (siehe zum Beispiel6). Wir sollten keine Zeit mehr mit Lenin verschwenden.

Bukharin ist schwieriger. Obwohl er Lenins Theorie der Arbeiteraristokratie unterstützt, hat er ein tieferes Verständnis für die ernsteren Aspekte von Marx‘ Ideen. Tatsächlich verfolgt er einen dialektischen Ansatz und behauptet, einen Widerspruch zwischen Nationen-Staaten und internationalem Kapitalismus zu sehen.7

Der Kapitalismus hat die Weltwirtschaft geschaffen, die Grundlage des Kommunismus, aber „nationale Volkswirtschaften” und „staatskapitalistische Trusts” widersprechen dem und führen zu Imperialismus und Krieg. „Imperialismus” wurde 1915 geschrieben, und sein Wunsch, zu zeigen, dass Imperialismus unvermeidlich ist, ist offensichtlich das Ergebnis des Krieges und seiner Ablehnung der Möglichkeit einer reformistischen Lösung dafür. Der Grund, warum er einen dialektischen Widerspruch zwischen Nationen und der Weltwirtschaft aufzeigen muss, liegt darin, dass er die Theorie des Ultraimperialismus ablehnt, die davon ausging, dass sich der Kapitalismus allmählich zu einem einzigen großen Unternehmen entwickeln und damit den Krieg abschaffen könnte. Aber seine Ablehnung ist ungeschickt. „Die Entwicklung des Weltkapitalismus führt einerseits zu einer Internationalisierung des Wirtschaftslebens und andererseits zu einer Nivellierung der wirtschaftlichen Unterschiede – und in unendlich viel größerem Maße verstärkt derselbe Prozess der wirtschaftlichen Entwicklung die Tendenz zur „Nationalisierung” kapitalistischer Interessen, zur Bildung engstirniger „nationaler” Gruppen, die bis an die Zähne bewaffnet und bereit sind, sich jederzeit gegenseitig anzugreifen”.8 Das liegt daran, sagt er, dass der Staatskapitalismus der Kapitalismus der bestehenden Nationalstaaten ist. Obwohl die Wirtschaft zunehmend internationalisiert ist, „nimmt die Aneignung jedoch den Charakter einer ‚nationalen‘ (staatlichen) Aneignung an, bei der die Nutznießer riesige Staatsunternehmen der Bourgeoisie des Finanzkapitals sind“.9 Angesichts der zentralen Bedeutung dieses Begriffs für seine Theorie ist er verpflichtet, zu erklären, was er unter „national“ versteht, das er im gesamten Buch in Anführungszeichen setzt. Der Grund dafür wird in der Fußnote auf Seite 80 (A.d.Ü., englischsprachige Ausgabe) deutlich, der einzigen Stelle, an der er versucht, sein zentrales Konzept zu erklären. „Wenn wir von ‚nationalem‘ Kapital und ‚nationaler‘ Wirtschaft sprechen, meinen wir hier wie auch anderswo nicht das Element der Nationalität im engeren Sinne, sondern die territoriale staatliche Konzeption des Wirtschaftslebens.“ Klar ist auch, dass er nur eine sehr vage Vorstellung davon hat, was nationales Kapital ist. Das untergräbt seine Theorie ziemlich stark. Bucharin geht davon aus, dass Kapital in bestimmte „enge ‚nationale‘ Gruppen“ aufgeteilt ist, obwohl er genau das beweisen müsste, um den Ultraimperialismus zu widerlegen. Er unterschätzt die Flexibilität des Kapitalismus, seine Fähigkeit, die Produktivkräfte ständig zu revolutionieren. Gibt es einen Grund, warum einzelne kapitalistische Unternehmen an einen Staat gebunden sein sollten? Ist es unmöglich, dass Kapital bestimmte Nationalstaaten auflöst und durch größere Einheiten wie die Europäische Gemeinschaft ersetzt? Gibt es eine Grenze für die Größe solcher Einheiten? Bucharin sagt ja, erklärt aber nicht, warum.

Luxemburgs wichtigster Beitrag zur Debatte über den Imperialismus war, dass sie nicht glaubte, man könne dem Imperialismus durch die Unterstützung nationaler Befreiungsbewegungen entgegenwirken. Im Gegenteil, sie meinte, der Imperialismus mache nationale Befreiungsbewegungen eher reaktionär und unmöglich. Ihre Beobachtungen, wie sich die polnischen nationalen Befreiungsbewegungen auf den Klassenkampf im Russischen Reich auswirkten, zeigten eine Schwachstelle in Marx‘ Theorie. In ihrem „Vorwort zur Anthologie“ (1905) spricht sie sich gegen die Unterstützung dieser Bewegungen aus.10 Sie kritisiert Marx mutig dafür, dass er bis zu seinem Tod den polnischen Nationalismus unterstützt hat, und wirft ihm vor, seine eigene Theorie mechanisch angewendet zu haben! Wenn Marx seine eigene Methode nicht richtig anwenden kann, wie sollen wir das dann schaffen? Sie zeigt, dass er falsch lag, indem sie die Fakten der Integration Polens in das Russische Reich betrachtet, die dazu tendierte, die Arbeiterklasse Russlands und Polens zu vereinen, und wie der polnische Nationalismus während der Revolution von 1905 gegen diese Einheit vorging. Luxemburg lehnt „ewige Wahrheiten“ wie die Unterstützung der nationalen Befreiung zugunsten eines empirischen, fallbezogenen Ansatzes ab und behauptet, dies sei die marxistische Methode. Weit davon entfernt, zu folgern, dass nationale Befreiung immer antiproletarisch gewesen sei, behauptet sie, dass es im 19. Jahrhundert Gründe gab, bestimmte Befreiungsbewegungen zu unterstützen. Luxemburgs Argumente wurden damals ernsthaft diskutiert, und viele Sozialdemokraten, darunter ein bedeutender Teil der Bolschewiki, unterstützten ihre Ansichten gegen Lenins „Recht der Nationen auf Selbstbestimmung”. Letztendlich setzten sich Lenins Ansichten durch, und die Kommunistische Internationale unterstützte nationale Befreiungsbewegungen und damit das Massaker am Proletariat in China, Deutschland usw. Der offensichtlichste Grund für Lenins Erfolg war die Macht der Sowjetunion. Ein weiterer Grund für die Schwäche der Opposition gegen Lenins kleinbourgeois-liberale Position war die Unfähigkeit seiner Gegner, sich von den liberal-demokratischen Aspekten der marxistischen Tradition zu lösen. Marxisten, darunter Marx und Engels, neigten dazu, zu argumentieren, dass die Bourgeoisie die Ideale ihrer eigenen Revolution „verrät“. Am anderen Ende der Skala kennen wir die Überzeugungen bestimmter ehemaliger Mitglieder von Wildcat, dass die Bourgeoisie nicht wirklich demokratisch ist. Viele der Schwächen von Luxemburgs Positionen kommen von dieser Art von Irrtum. Sie verteidigt das Proletariat als den wahren Verteidiger der Demokratie gegen den Absolutismus und sogar als den Träger der westlichen Zivilisation gegen die zaristische Barbarei. Wir wissen, wohin diese Position geführt hat, aber wir vergessen manchmal gerne, wer sie erfunden hat. Die Bourgeoisie hat die Revolutionen des 19. Jahrhunderts nicht verraten. Sie hat einfach ihre Klasseninteressen gegen das Proletariat verteidigt und es als Kanonenfutter gegen unbequeme historische Instanzen benutzt. Wenn man sich die Berichte von Marx und Engels über die bourgeoisen Bewegungen des 19. Jahrhunderts ansieht, wird klar, dass sie falsch lagen, als sie diese Bewegungen unterstützt haben. Das ist keine „ewige Wahrheit”, aber sie ist mindestens 200 Jahre alt. Die Demokratie bringt Luxemburg dazu, große Zugeständnisse an die Idee der nationalen Selbstbestimmung zu machen, indem sie argumentiert, dass die Arbeiterklasse die „Mehrheit” der Nation bildet. Anstatt einfach zu zeigen, dass der Nationalismus der Feind der Arbeiterklasse ist, behauptet sie, dass die Bourgeoisie die Idee des Nationalismus verzerrt oder bedeutungslos macht. Dies führt zu ihrem schwächsten, aber berühmtesten Argument gegen Lenin – nationale Befreiung sei aufgrund der Herrschaft des Imperialismus über den Planeten unmöglich.11 Wir lehnen den Nationalismus als arbeiterfeindlich ab, nicht weil die Bourgeoisie ihn verrät, nicht weil er unmöglich ist, sondern weil er das Proletariat an seinen Klassenfeind bindet und es untereinander spaltet. Luxemburg geht nicht von einer internationalistischen Position aus, sondern von der Sehnsucht nach „der Harmonie der Interessen aller Nationalitäten“ als „der nationalen Politik des Proletariats“.12 Sie geht davon aus, dass Nationen real sind. Allerdings konnte sie Marx als Vorläuferin beanspruchen, auch wenn sie mit einigen seiner Schlussfolgerungen nicht einverstanden war. Die Idee des Fortschritts, die Idee, dass das Proletariat die revolutionäre Zerschlagung der alten feudalen Fesseln durch die Bourgeoisie unterstützen sollte, und ihre demokratische Konsequenz wurden von Marx besser als jeder andere verteidigt. Wir müssen diese Ideen vor der nagenden Kritik der Mäuse retten und sie der Katze geben.

Was ist Imperialismus?

In diesem Abschnitt gehe ich kurz auf einige der wichtigsten Definitionen des Imperialismus ein, um zu sehen, ob sie für unsere Analyse der modernen kapitalistischen Welt von Nutzen sind.

Imperialismus = Imperien

Dieses nominalistische Verständnis von Imperialismus ist eindeutig nutzlos, da es Nationen mit klar definierten Imperien wie die UdSSR imperialistischer macht als solche mit wenigen formal definierten Kolonien wie die USA. Es würde Portugal bis 1974 zum Imperialisten machen, Spanien jedoch nicht. Wenn wir das bourgeoise Bild einer in Nationen geteilten Welt akzeptieren, können wir natürlich leicht erkennen, dass einige Nationen andere mit anderen Mitteln als dem rohen militärischen Kolonialismus dominieren.

Nationen neigen dazu, andere zu dominieren

Selbst wenn wir wieder von der Realität der Nationen-Staaten ausgehen (obwohl ich diese Annahme im Gegensatz zu Bucharin in den folgenden Abschnitten eingehend untersuche), ist auch diese Definition nicht hilfreich. Fast jedes Land ist mächtiger als andere und versucht, diese zu dominieren. Russland neigt dazu, Vietnam zu dominieren, das wiederum dazu neigt, Kambodscha zu dominieren. Indien, das offenbar Marx‘ Ratschlag ignoriert, dass eine Nation, die eine andere beherrscht, selbst niemals frei sein kann, übt starken Druck auf Bhutan, Sikkim, Nepal, Bangladesch, Sri Lanka und die Malediven aus und würde dies auch auf Pakistan tun, wenn dieses nicht von den USA dominiert würde. Selbst die kleinsten Länder hegen imperialistische Absichten gegenüber ihren Nachbarn, z. B. hätte Albanien nichts gegen Kosovo, das derzeit zu Jugoslawien gehört. „Nationen neigen dazu, andere zu dominieren“ führt zu der Ansicht, dass fast alle Länder imperialistisch sind, und ist daher nicht gut.

Internationaler Kapitalismus in der Epoche der Dekadenz

Imperialismus als internationalen Kapitalismus zu definieren, ist auch nicht wirklich hilfreich. Als die linkskommunistische Zeitung Teachers Voice „Imperialismus raus aus dem Golf“ forderte, meinte sie damit nicht den internationalen Kapitalismus raus aus dem Golf. Sie meinte eine bestimmte Politik eines bestimmten Teils des Weltkapitals, oder anders gesagt: „Yankee Go Home“. Imperialismus ist nur dann als Definition nützlich, wenn er eine bestimmte Art von Kapitalismus bezeichnet. Wenn es sich lohnt, dagegen mehr zu kämpfen als gegen den gewöhnlichen Kapitalismus (d. h. mehr als nur einen permanenten und totalen Krieg zu führen), dann haben wir eine nützliche Definition gefunden. Die einzige Möglichkeit, Imperialismus als internationalen Kapitalismus zu definieren, besteht darin, ihn als Synonym für kapitalistische Dekadenz zu verwenden. Diese Theorie basiert auf Marx‘ teleologischer Sicht der Geschichte als einer Abfolge von Stadien, von Produktionsweisen, von denen jede ihre Nachfolgerin hervorbringt und jede eine bestimmte historische „Aufgabe“ hat. Wir können die Idee der Widerlegbarkeit als Kriterium für die Bedeutung entweder akzeptieren oder ablehnen – die Idee, dass eine Aussage sinnvoll ist, wenn man sagen kann, wie man sie beweisen oder widerlegen kann. Wenn wir sie ablehnen, aus welchen Gründen könnten wir dann Marx‘ Teleologie akzeptieren oder ablehnen? Warum nicht stattdessen zum Beispiel das römische Paradigma der Geschichte akzeptieren? Die alten Römer waren ziemlich überzeugt davon, dass die Geschichte eine Abfolge von immer degenerierteren Stadien war. Aber wenn wir die Widerlegbarkeit akzeptieren, wie könnten wir dann Marx‘ Geschichtsauffassung widerlegen oder bestätigen? Es ist schwierig, die Dekadenz mit der materialistischen Konzeption, wie sie in „Die deutsche Ideologie“ definiert ist (siehe Abschnitt 1), in Einklang zu bringen. Das schlüssigste Argument für die Dekadenz leitet sich aus der Ansicht ab, dass der Kapitalismus die Weltwirtschaft geschaffen und damit seine historische Aufgabe erfüllt hat. Dies ist jedoch schwer zu messen. Der Kapitalismus baut seine Vorherrschaft in der Welt immer noch aus. Pannekoek nutzte die Theorie der Dekadenz, um seine Beteiligung an der parlamentarischen Sozialdemokratie bis 1914 zu rechtfertigen. Dies verdeutlicht eines der Hauptprobleme der Dekadenz – wenn man das Datum der kapitalistischen Dekadenz nur geringfügig zu spät ansetzt, könnte man am Ende eine Fraktion der Bourgeoisie gegen eine andere unterstützen. Für Pannekoek und die deutsche und niederländische Linke war die Dekadenz ohnehin wenig nützlich – sie unterstützten nationale Kämpfe bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Wie kann man feststellen, ob die eigene Produktionsweise dekadent ist? Ganz einfach – man muss sich nur die Produktionsverhältnisse ansehen. Sind sie Formen für die Entwicklung der Produktivkräfte oder Fesseln für diese Entwicklung? Im letzteren Fall ist die Produktionsweise dekadent. So einfach ist das! Der Kapitalismus entwickelt unter anderem das Proletariat. Man könnte argumentieren, dass er aus diesem Grund in bestimmten Phasen unterstützenswert ist. Aber ein Proletariat, das in der Lage ist, den Kapitalismus zu unterstützen, um sich selbst weiterzuentwickeln, wäre bewusst genug, um den Kapitalismus zu stürzen und sich selbst abzuschaffen. Der Kapitalismus entwickelt die Produktivkräfte ohnehin, ohne bewusste Unterstützung durch das Proletariat. Alte Dynastien mussten nicht von der Bourgeoisie gestürzt werden, um die Produktivkräfte zu entwickeln – sie wurden einfach selbst zur Bourgeoisie. Japan ist ein leuchtendes Beispiel dafür. Es mag eine Zeit gegeben haben, in der es im Interesse des Proletariats lag, die Bourgeoisie zu unterstützen. Dies ist ein Thema für empirische Forschung. Es war sicherlich vor der Französischen Revolution von 1789. Seitdem war kein bourgeoiser Kampf mehr unterstützenswert. Marx‘ dialektisches Geschwafel war eine Verschleierung der viktorianischen Fortschrittsideologie. Die Theorie der Dekadenz ist ein Versuch, Marx‘ Fehler in die kommunistische Plattform zu integrieren. Wir wollen sie nicht in unserer haben.

Die Ideologie des Imperialismus

Ende des letzten Jahrhunderts haben einige der Herrscher der mächtigsten kapitalistischen Staaten bewusst beschlossen, ihre Arbeiterklasse durch die Ideologie des Imperialismus an den Klassenfeind zu binden. Die Eroberung Afrikas und Asiens durch das Mutterland sollte die Proletarier zu gefügigeren Untertanen machen, vor allem wenn sie das Gefühl hatten, materielle Interessen am Kolonialismus zu haben. Diese Ideologie war erfolgreich. Britische und französische Arbeiter sind zum Beispiel seit etwa einem Jahrhundert ziemlich von den Ideen des Imperialismus durchdrungen, und das hat der Bourgeoisie geholfen, sie zu Millionen für „ihre“ jeweiligen Nationen-Staaten sterben zu lassen und die Möglichkeit einer Revolution zu unterdrücken. Der Falklandkrieg war eine ernüchternde Erinnerung daran, wie leicht es für die Bourgeoisie ist, den Patriotismus unter den Massen der imperialistischen Kernländer zu schüren. Aber so schädlich und effektiv sie auch sein mag, sie ist nicht schädlicher als jede andere Form des Nationalismus. Zum Beispiel hat der Antiimperialismus, der Glaube der Arbeiter an den Kampf der unterdrückten Nationen, der vietnamesischen Bourgeoisie nach dem Vietnamkrieg sehr dabei geholfen, in Kambodscha einzumarschieren. Die amerikanische Arbeiterklasse hingegen, die laut der leninistischen Mythologie ein Opfer der imperialistischen Ideologie ist, hat die Idee eines weiteren Krieges immer noch nicht akzeptiert, nachdem ihr Widerstand dazu beigetragen hat, den Krieg in Vietnam zu beenden. Die imperialistische Ideologie ist nicht schlimmer als jede andere nationalistische Ideologie. Ein klares Beispiel für die Irrelevanz der Unterscheidung zwischen Imperialismus, Antiimperialismus und Nationalismus ist der Fall Deutschland.

Wie Chris Harman von der Socialist Workers Party in seiner Geschichte der deutschen Revolution zugibt, hat die Komintern die Nazis in den 20er Jahren als nationalen Befreiungskampf und antiimperialistischen Kampf in der unterdrückten Nation Deutschland unterstützt. Diese war von Frankreich und Großbritannien besetzt und unterdrückt worden. Kominternisten und Nationalsozialisten haben Seite an Seite gegen den Imperialismus gekämpft. Innerhalb eines Jahrzehnts wurde aus diesem Antiimperialismus der deutsche Imperialismus. Daher ist die Ideologie des Imperialismus für uns nutzlos, wenn nicht sogar für die Bourgeoisie. In einem veröffentlichten Text oder Programm würde dieser Abschnitt erweitert werden, um das Erbe des Antiimperialismus zu diskutieren und zu zeigen, wie er von der internationalen Bourgeoisie genutzt wurde, um den Klassenkampf in Ländern von Argentinien bis Algerien, Simbabwe und Zaire zu unterdrücken. In einer Versammlung von Kommunisten ist das aber kaum nötig. Ich möchte hier kurz erwähnen, dass ich auch sagen würde, dass der Antiimperialismus an den Rändern ausfranst, vor allem weil man nationale Befreiung nicht essen kann. Das erste Beispiel, das mir einfällt, wo eine bestimmte nationalistische Ideologie bewusst abgelehnt wurde, ist das aktuelle Geschehen in Algerien. Die Aufständischen haben sich klar mit der Intifada der palästinensischen Arbeiter gegen den zionistischen Staat identifiziert. Das ist nicht weit davon entfernt, die arabisch-nationalistische Bourgeoisie und die Zionisten als denselben Feind zu sehen. Kein Wunder, dass Arafat in letzter Zeit in den Hauptstädten des Nahen Ostens unterwegs ist.

Hilferdings Definition des Imperialismus

„Die Politik des Finanzkapitals verfolgt ein dreifaches Ziel: erstens die Schaffung eines möglichst großen Wirtschaftsraums, der zweitens durch Zollschranken vor ausländischer Konkurrenz geschützt werden muss und somit drittens zu einem Ausbeutungsgebiet für die nationalen Monopolunternehmen werden muss“.13 Hilferdings Definition, auf die sich die meisten seiner Nachfolger stützten, basiert auf dem Konzept der Nationen-Staaten. Anstatt das Kapital auf der Suche nach Profiten um die Welt wandern zu sehen, definiert er Imperialismus anhand nationaler Monopole, die Kapital und Waren exportieren. Nationen sind grundlegender als Kapital. Aber Imperialismus wurde nicht immer von Nationen betrieben: „Indien“ und die Kolonie, aus der Indonesien hervorging, wurden von Unternehmen gegründet. Aber ich greife der Argumentation vor. Wie wir bei Bucharin gesehen haben, sind Nationen schwer zu definieren. Er bietet hastig „das territoriale Staatskonzept des Wirtschaftslebens“ an.14 Meint er damit, dass Nationen das sind, was die Bourgeoisie für sie hält, und dass sie auf der Grundlage ihrer „Konzepte“ Kriege führen? Nationen-Staaten beginnen Kriege, und Hilferdings Definition kann nur als die Politik von Staaten verstanden werden, also bestimmten Koalitionen kapitalistischer Gruppen mit Souveränität (dem Monopol der Streitmacht) über eine bestimmte Fläche der Erdoberfläche. Ich will nicht leugnen, dass diese Koalitionen existieren. Aber ich möchte die Frage ansprechen, wie grundlegend diese bestimmten Formationen im Gegensatz zu anderen sind. Ist die Bourgeoisie vor allem in nationale Sektionen gespalten? Wenn nicht, ist die obige Definition des Imperialismus, obwohl sie bei weitem die beste ist, genauso unbrauchbar wie alle anderen.

Der internationalistische Ansatz

Unter Marxisten ist die Annahme weit verbreitet, dass die kapitalistische Organisation auf der Nation-Staat basiert. Die feudale Welt kannte kein Konzept von Nationen, weil sie von einer globalen religiösen Hierarchie regiert wurde, die keine intrinsischen territorialen Beschränkungen hatte. Die herrschenden Klassen des Ancien Régime hatten keine Nationalität – weder der Papst noch die Bourbonen noch die Habsburger. Diese miteinander verbundenen, von Gott eingesetzten Herrscher gehörten nicht zu bestimmten Teilen der Welt. England hat seit dem 11. Jahrhundert keine englischen Monarchen mehr gehabt.

Das Entstehen von Nationen erklärt B. Anderson in „Imagined Communities“ (A.d.Ü., Die Erfindung der Nation) als Ergebnis von drei Hauptfaktoren.15 Einer davon ist der Zusammenbruch der Religion. Laut Anderson erklärt die durch den Niedergang der Religion verursachte existenzielle Angst teilweise den Aufstieg des Nationalismus als Ersatzgemeinschaft. Die Zerstörung von Gemeinschaften im Allgemeinen durch den Kapitalismus erklärt teilweise den Nationalismus. Das Kapital ersetzt verschiedene Arten von Gemeinschaften durch seine eigene Erfindung, die nationale Gemeinschaft. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Druckindustrie. Der lateinische Markt war gesättigt, und für Drucker war es ökonomisch sinnvoll, ziemlich große Lesergruppen zu schaffen, indem sie zahlreiche Dialekte zu Sprachen verschmolzen: Englisch, Deutsch, Französisch. Luthers Übersetzungen aus dem frühen 16. Jahrhundert trugen mehr zur Schaffung der „deutschen Nation“ bei als alle Politiker, die nach ihm kamen, zusammen. Der interessanteste Faktor, den Anderson erwähnt, ist aber die bewusste Schaffung von Nationalismen durch die herrschende Klasse. Vornationale Dynastien haben den Nationalismus bewusst gefördert. Anderson liefert zahlreiche empirische Beispiele für seine These – die Romanows, die Habsburger, Chulalongkorn – alle förderten den „offiziellen Nationalismus”, um ihre Macht über die Arbeiterklasse und andere Klassen zu erhalten. Die Nationalismen des 19. Jahrhunderts wurden zu Vorbildern. Seit 1918 wurden diese Vorbilder von bourgeoisen Studenten aus aller Welt an europäischen Universitäten adaptiert und „nach Hause” gebracht, um Nationen zu schaffen. Dies hat zur Gründung einiger ziemlich willkürlicher Nationen geführt. Anderson weist darauf hin, dass Indonesien „keinerlei Ähnlichkeit mit einem vorkolonialen Herrschaftsgebiet hat”, und beschreibt die enorme Vielfalt an Völkern, Kulturen, Sprachen und Religionen, wie die Menschen an einem Ende des Landes viel mehr mit ihren Nachbarn jenseits der Landesgrenze gemeinsam haben als mit ihren „indonesischen” Mitbürgern, und wie die Form des Landes durch die letzten Eroberungen der Niederländer bestimmt wurde.16

Die Bourgeoisie ist eine globale Klasse. Nationen sind nicht vor dem Kapitalismus entstanden. Vor dem Kapitalismus gab es überall auf der Welt Bourgeoisie. Bewusst oder unbewusst (und es gibt viele Beispiele für bewusste Verschwörungen) hat der Kapitalismus Nationen geschaffen. Das deutet darauf hin, beweist aber nicht, dass sie für den Kapitalismus unverzichtbar sind. Einige Nationen sind weniger willkürlich als andere. Die Form Chiles zum Beispiel ist das Ergebnis der Kommunikationswege in den verschiedenen Provinzen des spanischen Reiches. Aber die heutigen Nationen Lateinamerikas sind nach mehreren Versuchen entstanden, größere Nationen zu schaffen. Als einziger der in diesem Artikel erwähnten Autoren stellt Anderson die richtige Frage: Was sind Nationen und woher kommen sie? Bucharin geht in Anlehnung an Marx und Hilferding von ihrer Realität aus, also von der „weltweiten Arbeitsteilung” zwischen ihnen, und kann so den Mythos des Imperialismus erfinden.

Zum Teil ist es eine spontane falsche Gemeinschaft, die durch den Niedergang anderer Gemeinschaften entstanden ist (obwohl „Bash the Argies“ nicht wie Religion das Herz einer herzlosen Welt ausdrückt), teils das Ergebnis der sprachlichen Zentralisierung durch die Massenproduktion von Büchern in Volkssprachen (nicht-lateinischen Sprachen) im 16. und 17. Jahrhundert und teils das Ergebnis bewusster Entscheidungen a) der alten nicht-nationalen Dynastien und b) der modernen internationalen bourgeoisen Intelligenz. „Nationalismus ist nicht das Erwachen der Nationen zum Selbstbewusstsein: Er erfindet Nationen, wo sie nicht existieren”.17 Anderson zeigt zunächst, dass Nationen imaginäre Gemeinschaften sind (wir neigen dazu zu glauben, dass wir etwas mit unseren Landsleuten gemeinsam haben, von denen wir die meisten nie treffen werden), und versucht dann herauszufinden, wie sie entstanden sind und von wem. Die Konsequenzen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Bosse haben kein Land. Wenn Nationen imaginär sind und die Bosse kein Land haben, folgt daraus dann, dass die nationalen Spaltungen der Welt und ihre Konflikte, einschließlich massiver Kriege und der nuklearen Arsenale, das Ergebnis einer groß angelegten Verschwörung sind? Inszeniert die internationale Kapitalistenklasse Kriege, um den Klassenkampf zu bekämpfen, das Kapital zu entwerten, und weiß dabei die ganze Zeit, dass sie gegen uns vereint ist? Geht sie Weltkriege wie ein Cricket-Spiel an? Die Frage ist nicht, ob die Bourgeoisie glaubt, dass sie in Nationen aufgeteilt ist. Aber bis zu einem gewissen Grad würden wir erwarten, dass ihr Bewusstsein einen gewissen Bezug zur Realität hat, wenn Nationen wirklich Fiktionen sind. Es gibt Beispiele für internationale Verschwörungen, die Kämpfe zwischen bourgeoisen Fraktionen offenbaren, die keine nationalen Kämpfe sind. Da ist die Zusammenarbeit zwischen dem Haus Windsor und Hitler vor dem Zweiten Weltkrieg. Höchstwahrscheinlich gab es während des Krieges eine gewisse Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen „Bourgeoisien”. Hess ist sicherlich nicht aus eigenem Antrieb nach Großbritannien geflogen. Andererseits haben die Alliierten nach dem Krieg einige der führenden Nazis hängen lassen, obwohl dies eine Ausnahme darstellt. Unser Ansatz hängt nicht vom Bewusstsein der Bourgeoisie für ihre eigenen internationalen Interessen ab. Einige sind sich dessen bewusster als andere. George V. und Jacques Delors sind internationalistischer als Galtieri. Ob Galtieri nun wusste, dass er mit seinem Angriff auf die Falklandinseln im Interesse des britischen und internationalen Kapitals handelte oder nicht, ist dies die Realität. Die besten Beispiele für machiavellistischen Nationalismus finden sich in Russland. Die Romanows entschieden sich bewusst dafür, russische Nationalisten zu sein. Stalin führte den russischen Nationalismus in der Sowjetunion wieder ein, um den Klassenkampf zu bekämpfen und den Krieg zu gewinnen. Stalin war ein Internationalist, der bewusst den Nationalismus förderte, weil dies im Interesse des Kapitalismus lag. Warum sollten wir glauben, dass die meisten Bourgeoisien der Welt weniger machiavellistisch sind?

Aber unabhängig von ihren Ursprüngen haben Nationen eine gewisse Solidität. Staatskapitalistische Trusts existieren tatsächlich. Es gibt eine Fraktion der internationalen Bourgeoisie, die sich um den Brush-Staat zusammengeschlossen hat. Dieser „Trust” ist solider als ein Unternehmen wie IBM. IBM-Manager können das Unternehmen verlassen und neue Unternehmen gründen oder sich ihnen anschließen. Thatcher kann kaum Premierministerin eines anderen Landes werden. Aber neben dieser Solidität gibt es auch eine beträchtliche Flexibilität. Die EG entwickelt sich langsam aber sicher zu einer neuen kapitalistischen Einheit, die mächtiger ist als jede ihrer Mitgliedsnationen. Wenn Anderson rhetorisch fragt: „Würde jemand bereitwillig für den Comecon oder die EWG sterben?“, impliziert er, dass nur die Nation die selbstaufopfernde Dummheit hervorbringen kann, die der Kapitalismus verlangt. Aber Menschen starben für die Sowjetunion, bevor sie sich offiziell zu einer Nation formierte, und einige starben wahrscheinlich in Afghanistan für den Comecon, unter dem Namen „sozialistische Bruderschaft der Nationen“. Wir sollten uns nicht mit der Entstehung des EG-ismus zufrieden geben. Wenn Menschen für das Recht der Falklandinsulaner sterben können, britisch zu bleiben, werden sie alles schlucken. Die Bourgeoisie ist in allen möglichen supranationalen Einheiten organisiert. Die Zeitung „The Guardian“ hatte kürzlich Alpträume, als sie versuchte herauszufinden, zu welcher „Nation“ ConsGold gehörte – Großbritannien oder Südafrika? (Siehe Diagramm auf der folgenden Seite). Wie andere kapitalistische Einheiten haben auch Nationen eine gewisse Realität. Aber interne Kämpfe innerhalb der Bourgeoisie können wichtiger sein als Nationen, und das gemeinsame Interesse der Bourgeoisie gegen unseren Kampf ist immer wichtiger.

Konsequenzen

Der Kapitalismus ist kein Widerspruch zwischen einer sozialisierten internationalen Ökonomie und nationalen Formen, die ihr widersprechen. Er kann diesen Widerspruch aufheben. Unser Ziel ist es nicht, die Produktivkräfte von ihren Fesseln zu befreien, sondern sie zu zerstören und den Kommunismus aufzubauen. Aus diesem Grund sollten wir die Theorie der Dekadenz und wesentliche Aspekte der ihr zugrunde liegenden Methode von Marx ablehnen, wobei wir die Frage offen lassen, ob es vor der Französischen Revolution jemals die Möglichkeit eines gemeinsamen Kampfes zwischen Kapitalisten und Arbeitern gab, bis weitere empirische Belege vorliegen. Imperialismus ist kein Thema. Nationalstaaten existieren und haben eine gewisse Bedeutung unter den Koalitionen bourgeoiser Interessengruppen gegeneinander und gegen das Proletariat, aber Nationen gab es nicht vor dem Kapitalismus, sie sind für ihn nicht essenziell und wurden vom Kapital geschaffen und können auch wieder abgeschafft werden. Andere Gebilde könnten in Zukunft wichtigere kapitalistische Koalitionen sein. Machiavellismus ist ein wichtiges Merkmal der Arbeitsweise der Bourgeoisie. Nachdem wir verschiedene Schreckgespenster in den Mülleimer der Geschichte geworfen haben – Nationen, Fortschritt, Dekadenz und Imperialismus –, bleibt uns nur noch ein grundlegender Widerspruch: der unveränderliche Klassenantagonismus zwischen internationaler Arbeit und internationalem Kapital. Das muss unser Bezugspunkt bei der Analyse der sich verändernden Welt um uns herum bleiben.

RB.

London, 25.11.88.


1Economic Foundations of Capitalist Decadence. CWO London 1985. S. 15.

2Selected Writings. Karl Marx. ed. D. McLellan, OUP 1977. S. 160.

3Selected Writings. Karl Marx. ed. D. McLellan, OUP 1977. S. 389-390

4Imperialism, the Highest Stage of Capitalism. V.I. Lenin. Peking 1973. p. 93.

5Capital, Volume 3. Karl Marx. Penguin Books 1981. S. 345.

6Development and Underdevelopment. G. Kay. MacMillan 1975.

7Imperialism and World Economy. N. Bukharin. Merlin, London 1976.

8Imperialism and World Economy. N. Bukharin. Merlin, London 1976. S. 106-107.

9Imperialism and World Economy. N. Bukharin. Merlin, London 1976. S. 106.

10The National Question. R. Luxemburg. Monthly Review Press 1977. S. 95.

11“The National Question and Autonomy,” in The National Question. R. Luxemburg. Monthly Review Press 1977. S. 130-131.

12The National Question. R. Luxemburg. Monthly Review Press 1977. S. 168.

13Hilferding, Finance Capital, cited in N. Bukharin, Imperialism and World Economy, S. 107.

14Imperialism and World Economy. N. Bukharin. Merlin, London 1976. S. 80.

15Imagined Communities. B. Anderson. Verso London 1983.

16Imagined Communities, S. 110.

17Gellner, Thought and Change, cited in B. Anderson, Imagined Communities, S. 15.

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