MOTHER EARTH, Band IX. Oktober 1914 Nr. 8 (von uns übersetzt)
Die Gesellschaft ist in einen weltweiten Krieg gestürzt, aber wir Anarchisten können nicht wie die Sozialisten und andere sogenannte Menschenfreunde Tränen über seine Schrecken vergießen. Wir wissen, wie fleißig dieselben Heuchler den Brennstoff aufgeschichtet haben, der diesen Brand sicher gemacht hat.
Regierungen haben diesen Krieg gemacht. Die österreichische Regierung hat ihren Sklaven befohlen, Serbien mit Feuer und Schwert zu überziehen. Die deutsche Regierung hat den über vier Millionen sozialistischen Wählern eine lange Nase gezeigt und ihren Sklaven befohlen, in Belgien einzumarschieren. Die amerikanische Regierung hat mit heuchlerischen Schluchzern und Seufzern ihren Sklaven befohlen, Vera Cruz zu besetzen und hilflose Mexikaner abzuschlachten. Überall ist es dasselbe. Überall ziehen skrupellose Manipulatoren, denen nur Profit, Macht und Posten wichtig sind, an den Fäden, und das Volk muss tanzen.
Das demokratische Amerika und England sind kein bisschen besser als das autokratische Russland. Das republikanische Frankreich zeigt uns genau das gleiche Bild wie das kaiserliche Deutschland. Jedes treibt seine Untertanen in den Abgrund, wenn es den Zwecken einiger weniger dient. Es kann gar nicht anders sein, denn überall sind die Massen völlig hilflos. Überall ist die Macht in den Händen derer konzentriert, die die Regierungsmaschinerie betreiben.
Überall ist die Regierung eine Maschine, die von Politikern zu ihrem eigenen egoistischen Vorteil betrieben wird. In den Händen derer, die sie betreiben, sind die Massen wie Knetmasse, die nach Belieben geformt werden kann. Vergeblich stammeln wir in unseren Gewerkschaften. Vergeblich gründen wir neue Parteien, halten Massenversammlungen ab und registrieren unsere nutzlosen Proteste. Die Maschine arbeitet unerbittlich weiter und kümmert sich nicht im Geringsten darum.
Wer sind wir überhaupt? Niemande, denn wir sind hilflos. Nur Geld und Macht haben Einfluss, und wir haben beides nicht. Sonderrechte und Monopole, die von der Regierung geschaffen und geschützt werden, haben uns bis auf die Haut ausgebeutet. Wir sind hilflose Opfer, gefesselt und bereit, gebraten zu werden, wann immer die Herrscher Hunger haben.
Proletariat der Welt! Denkende Männer und Frauen, wo immer ihr seid, wir rufen euch auf, euch dem schrecklichen Bild zu stellen, das die Welt heute bietet! Wir bitten euch, die allgemeine Hilflosigkeit der Menschen zu beachten. Diese Hilflosigkeit muss beseitigt werden, und wir sagen euch, dass dies nur durch den vollständigen Sturz des Monopols und der Sonderprivilegien möglich ist. Wir sagen euch, dass das Individuum hilflos bleiben wird, bis diese riesigen Regierungen mit ihren Armeen und Marinen, ihren Schafotts und Gefängnissen und all ihren anderen brutalen Instrumenten zur gewaltsamen Aufrechterhaltung der Sonderprivilegien vollständig abgeschafft sind.
Tränen ändern nichts. Hysterische Proteste zehren nur an unseren Kräften. Dies ist nicht die Zeit, um verwirrt herumzulaufen und sich zu fragen, was das alles bedeutet. Die Tatsache ist so klar, dass Worte darüber verschwendet sind. Die wenigen Mächtigen haben für ihre eigenen privaten Zwecke das Schwert gezogen, und die vielen werden gezwungen, sich gegenseitig die Kehlen durchzuschneiden.
Mit Blut geschrieben, das jeder lesen kann, ist die Lektion geschrieben, und wir müssen sie lernen. Wir müssen eine zentrale Tatsache begreifen, nämlich dass die wenigen Mächtigen den vielen Machtlosen Mordbefehle erteilt haben und dass die vielen diese ausführen mussten. Wir müssen diese Ordnung beseitigen. Wir müssen die staatlichen Verhältnisse beseitigen, die sie hervorgebracht haben.
Der Sozialismus, die Sozialisten, die ganze sozialistische Philosophie haben uns getäuscht, wie diese Welt wahrscheinlich noch nie zuvor getäuscht wurde. Anstatt uns zu lehren, auf uns selbst zu vertrauen und individuell und kollektiv auf Chancengleichheit und faire Behandlung zu bestehen, haben sie uns gesagt, dass Regierungen unsere Freunde sind, dass wir sie stärken müssen, dass wir sie mit Macht ausstatten müssen, dass wir sie unsere Eisenbahnen und Telegrafen betreiben lassen müssen, dass wir ihnen das Eigentum an diesem und die Verwaltung von jenem übertragen müssen, dass wir in immer größerer Zahl für sie arbeiten müssen, dass wir auf sie hoffen müssen, um all die Sonderprivilegien zu stürzen, die wenige in Purpur kleiden und die Menge in Lumpen. Nie gab es eine grausamere Lüge. Nie wurden die Menschen durch schöne Worte und subtile Theorien so fatal in den Untergang gelockt.
Es ist die Regierung, die unser unschätzbares Erbe, die Erde, unter wenige aufteilt und mit all ihrer militärischen und rechtlichen Macht die so gewährten Privilegien verteidigt. Es ist die Regierung, die Millionäre schafft, und es ist die Regierung, die den hilflosen Armen, den sie geschaffen hat, ins Gefängnis wirft, wenn er es wagt, sich ein Stück Brot zu nehmen. Es ist die Regierung, die die Armee der Monopolisten schafft und erhält, die uns ausbeuten, und die Schar der offiziellen Blutsauger, die unser Blut saugen. Jeder neue Beamte ist ein weiterer Stein, der zu dieser Regierungsfestung hinzugefügt wird, hinter der Monopole und Sonderprivilegien sicher stehen, während von dort ein verheerendes Feuer auf diejenigen geschleppt wird, die das Recht des Parasiten, sich vollzustopfen, in Frage stellen. Es ist die Regierung, die den friedlichen deutschen Arbeiter anweist, den friedlichen französischen Arbeiter zu erschießen, mit dem er nur gemeinsame Interessen hat; Interessen, die denen der herzlosen Wenigen, die die Kriegsmaschinerie in Gang gesetzt haben, diametral entgegenstehen.
Jetzt ist es an der Zeit, dass ihr euch den Kopf zerbrecht, dass ihr das erschreckende Bild der Gesellschaft studiert und euch fragt, was es bedeutet. Wenn ihr dieses Bild versteht, wenn ihr seine klaren und einfachen Umrisse erfasst, werdet ihr sofort die ganze Regierung in die Hölle schicken wollen, wo sie hingehört. Ihr werdet all diese Faulenzer loswerden wollen, vom Kaiser und Zaren bis hin zum Regierungsbeamten, der sein Leben damit verbringt, Befehle seiner Vorgesetzten in der offiziellen Hierarchie zu kopieren. Ihr werdet all diese Stützen der Regierung, die das Haus der Sonderprivilegien stützen, sofort wegfegen wollen. Ihr werdet handeln wollen, und zwar effektiv. Ihr werdet sehen, dass halbherzige Maßnahmen schlimmer sind als nutzlos.
Macht euch nichts vor! Indem ihr um dieses soziale Problem herumredet, macht ihr alles nur noch schlimmer. Ihr habt euch nicht getraut, es direkt anzugehen. Ihr habt euch nicht getraut zu sagen: „Ich bin arm, weil der andere alles hat. Ich bin machtlos, weil ein paar wenige alle Macht haben.“ Und vor allem, was unendlich wichtiger ist als alles andere, habt ihr euch nicht getraut zu sagen: „Der andere hat den ganzen Reichtum und die ganze Macht, weil unsere Regierung ihm hilft und ihn schützt.“ Diese mentale Feigheit ist euch höchst unwürdig.
Heute prophezeit die Presse, dass infolge dieses Krieges Königsköpfe fallen und Europa zu der Republik werden wird, die dieses Land zu sein vorgibt. Macht euch nichts vor! Krieg ist die grausamste aller Realitäten und der strengste Aufdecker aller Heucheleien. Dieser Krieg entlarvt die Lüge, dass Wahlen Macht geben. Was kümmerten den Kaiser die 5.000.000 Stimmen der Sozialisten? Was kümmerte Diaz die Verfassung Mexikos, die 1856 verabschiedet wurde und noch liberaler ist als die, unter der wir leben?
Der Franzose muss marschieren, wenn die Regierungsmaschinerie Befehle erteilt, obwohl Frankreich eine Republik ist. England ist theoretisch eine Demokratie, und nirgendwo gibt es so viel Redefreiheit, doch die Massen sind dort hilfloser denn je. Überall ist es rapide bergab gegangen, denn überall haben wir diese allmächtigen Regierungsapparate aufgebaut, die unsere Todfeinde sind. Wir müssen uns dieser alles entscheidenden, zentralen Tatsache stellen.
Alle Regierungen halten zusammen. Sie sind bestrebt, die Menschen gegeneinander aufzuhetzen, aber sie haben Todesangst, dass sich die Menschen gegen sie wenden und gegen sie kämpfen könnten. Deshalb werden Sie feststellen, dass unsere eigene Regierungsmaschinerie – vom Weißen Haus bis zu den Rathäusern – die Öffentlichkeit ermahnt, nicht über den Krieg zu diskutieren, sich daran zu erinnern, dass dieses Land neutral ist, und die natürlichen Gefühle zu unterdrücken.
Nicht diskutieren! Dabei ist das doch das Thema, über das am meisten diskutiert werden muss, denn noch nie in der Geschichte wurde uns eine so harte Lektion erteilt. Wir MÜSSEN sie lernen. Leidenschaft unterdrücken! Dabei wird UNSERE Klasse zu Zehntausenden abgeschlachtet, und UNSERE Ehemänner, Liebsten, Brüder und Ernährer werden ausgelöscht.
Es ist schon schlimm genug, dass unsere Regierungen uns als Kanonenfutter opfern. Es ist schon schlimm genug, dass sie uns hilflos machen. Aber unsere Intelligenz zu zerstören, uns daran zu hindern, eine für uns so wichtige Frage zu untersuchen, uns daran zu hindern, die Wahrheit herauszufinden und die wahren Ursachen des Übels zu entdecken, das uns bedrängt – das zu versuchen, ist ein unverzeihliches Verbrechen.
Und das geschieht auf Befehl eines professionellen Erziehers – Woodrow Wilson!
Wir Anarchisten stellen euch diese Frage mutig. Wir sagen, ihr müsst die Ursachen dieses Krieges diskutieren und zu einem Verständnis gelangen; ihr müsst die wahre Bedeutung des tragischen Bildes begreifen, das euch vor Augen geführt wird. Wir rufen euch auf, alle Kräfte für die Lösung dieses sozialen Problems einzusetzen, das für uns alle über Leben und Tod entscheidet.
Wir behaupten mit tiefer Überzeugung, dass ihr keine dauerhafte Sicherheit vor dem militärischen Schlachtfeld oder dem noch schrecklicheren Schlachtfeld des Krieges um Profite haben werdet, solange ihr nicht mit diesen Regierungen fertig seid, denn sie sind die Anstifter und Zwinger aller Kriege. Wir bestehen darauf, dass eine vollständige soziale Umgestaltung stattfinden muss und dass die Gesellschaft sich so neu organisieren muss, dass die Parasiten und die Regierungen, die sie schaffen und verteidigen, nicht mehr existieren.
Wir haben keine Allheilmittel außer Intelligenz und Mut.
Wir sagen euch nicht, dass ihr eine andere und bessere Regierung bilden könnt, denn ihr habt euch schon seit Jahrhunderten mit dieser hoffnungslosen Aufgabe herumgeschlagen.
Wir sagen euch, dass ihr, wenn ihr die wahre Lehre aus diesem Krieg versteht, von derselben Empörung erfasst werdet, die uns erfasst hat; dass eure Empörung euch Mut geben wird und dass, wenn Intelligenz und Mut Hand in Hand gehen, spontan Aktionen entstehen werden und die Totenglocke für die Sklaverei der Menschheit läuten wird.
Lasst sie laut und deutlich läuten!
Verkündet allen Menschenkindern, dass sie als Individuen frei geboren sind, dass sie gleiche Chancen haben, dass sie sich durch gegenseitige Vereinbarung selbst regieren sollen, dass sie Brüder sind und nicht dazu geboren, Befehle zu erteilen oder zu befolgen.
Beides ist der Würde des Menschen unwürdig, und was seiner Würde unwürdig ist, muss vernichtet werden. Dann, und nur dann, werden wir den Frieden haben, von dem zu reden sinnlos ist, solange Regierungen bestehen.
Dieser Krieg ist nur die erste Geburtswehe jener großen sozialen Revolution, mit der diese Zeit schwanger ist. Lasst uns die Geburt beschleunigen und vollenden. Zu dieser heiligsten aller Aufgaben ist jeder von uns berufen, und in dieser größten aller Krisen vor unserer Pflicht zurückzuschrecken, bedeutet, den Verräter zu spielen.