Hier eine weitere (historische) Kritik am Leninismus, weitere werden folgen. Von Helmut Wagner hatten wir auch Der Anarcho-Syndikalismus und die spanische Revolution veröffentlicht.
(1933) Helmut Wagner – Thesen über den Bolschewismus
Veröffentlicht: Persdienst van de groep van Internationale Communisten, Nr. 7, April 1934; Räte-Korrespondenz, Nr. 3, August 1934; International Council Correspondence, Nr. 3, Dezember 1934.
Die Bedeutung des Bolschewismus
1. Der Bolschewismus hat sich in Sowjet-Wirtschaft und Sowjet-Staat ein geschlossenes Feld gesellschaftlicher Praxis geschaffen. Er hat sich mit der III. Internationale ein Werkzeug der Lenkung und Beeinflussung der Arbeiterbewegung auf internationalem Wege organisiert. Er hat seine grundsätzlichen und taktischen Richtlinien im „Leninismus“ herausgestellt. Ist nun, wie Stalin sagt, die bolschewistische Theorie Marxismus im Zeitalter des Imperialismus und der proletarischen Revolution, ist sie demgemäß die Achse der internationalen revolutionären Klassenbewegung des Proletariats?
2. Der Bolschewismus hat seinen internationalen Ruf in der proletarischen Klassenbewegung erhalten, erstens durch seine konsequente Politik des revolutionären und internationalen Kampfes gegen den Weltkrieg 1914-1918, zweitens durch die russische Revolution von 1917. Seine weltgeschichtliche Bedeutung liegt darin, daß er unter der stets konsequenten Führung Lenins die jeweiligen Probleme der russischen Revolution erkannt und sich zugleich in der bolschewistischen Partei das Werkzeug geschaffen hat, die Probleme praktisch zu lösen. Die Anpassung des Bolschewismus an die Fragestellung der russischen Revolution, die in zwanzigjähriger, mühseliger und konsequenter Entwicklung erfolgte, wurde mit Hilfe der Einsicht in die grundlegenden Klassenfragen dieser Revolution erreicht.
3. Die Frage, ob die geglückte Bewältigung seiner Aufgaben den Bolschewismus in Theorie und Taktik und Organisation zur Führung und Bewältigung der Aufgaben der internationalen proletarischen Revolution befähigt und berechtigt, ist zunächst einerseits die Frage nach den gesellschaftlichen Grundlagen und Voraussetzungen der russischen Revolution – andererseits die Frage der internationalen proletarischen Revolution in den großen kapitalistischen Ländern.
Die Voraussetzungen der russischen Revolution
4. Die russische Gesellschaft wurde entscheidend von ihrer Lage zwischen Europa und Asien bestimmt. Während die fortgeschrittenere wirtschaftliche Kraft und die stärkere internationale Position des europäischen Westens die Ansätze einer organischen handelskapitalistischen Entwicklung in Rußland bereits im Ausgang des Mittelalters vernichtete, schuf die politische Überlegenheit fernasiatischer Despotien die Grundlagen für das absolutistische Staatsgefüge des russischen Reiches. Rußland stand so nicht nur geographisch, sondern auch wirtschaftlich und politisch zwischen zwei Kontinenten, deren verschiedene Wirtschaftsverfassungen und politische Ordnungen auf seinem Boden in eigenartiger Weise miteinander verschmolzen.
5. Die internationale Doppelstellung Rußlands hat nicht nur seine Vergangenheit, sie hat auch die Problemstellung seiner Revolution im ersten Fünftel des 20. Jahrhunderts entscheidend beeinflußt. Das kapitalistische System hat sich im Zeitalter des imperialistischen Aufstiegs zwei entgegengesetzte, aber stark verflochtene Zentren geschaffen: das hochkapitalistische Zentrum aktiv imperialistischen Vorstoßes in dem stark industriellen Raum Westeuropas und Nordamerikas und das koloniale Zentrum passiv imperialistischer Ausplünderung in den ostasiatischen Agrargebieten. Die Klassenbedrohung des weltimperialistischen Systems erfolgt demgemäß aus diesen beiden Zentren heraus: Die internationale proletarische Revolution findet ihren Drehpunkt im westeuropäisch-nordamerikanischen Raum des Hochkapitalismus. Die nationale Agrarrevolution findet ihren Drehpunkt im Raum der fernasiatischen Bauernländer. In Rußland, das im Schnittpunkt der Einflußkreise beider weltimperialistischen Zentren stand, überkreuzten sich auch die Tendenzen beider Revolutionen.
6. Die russische Wirtschaft stellte eine Kombination asiatisch rückständiger Agrarproduktion mit europäisch moderner Industriewirtschaft dar. Die Leibeigenschaft bestand praktisch für die ungeheure Mehrzahl der russischen Bauern in verschiedenen Formen weiter. Die geringen Ansätze kapitalistischer Landwirtschaft konnten darum nicht zum Durchbruch kommen. Sie bewirkten nur eine Zersetzung des russischen Dorfes, das in unbeschreiblichem Ausmaße verelendete, ohne die Fesselung des Bauern an den ihn nicht mehr ernährenden Boden aufzuheben. Die russische Agrarwirtschaft, die vier Fünftel der russischen Bevölkerung und mehr als die Hälfte der russischen Gesamtproduktion umfaßte, war bis 1917 von kapitalistischen Elementen durchsetzte Feudalwirtschaft. Die Industrie Rußlands war dem Land durch das Zarentum aufgepfropft worden, das vor allem in der Herstellung des Heeresbedarfs vom Ausland unabhängig sein wollte. Da Rußland aber die Grundlagen einer entwickelten handwerklichen Produktion und die Ansätze der Herausbildung einer Klasse „freier Arbeiter“ fehlten, so trat dieser staatliche Kapitalismus zwar sofort als Großproduktion ins Leben, kannte jedoch keine Lohnarbeiterschaft. Er war Leibeigenschaftskapitalismus und hat sich im Lohnzahlungssystem, in der Kasernierung der Arbeiter, in der Sozialgesetzgebung und anderen Erscheinungen, die starken Reste dieser Besonderheit bis 1917 gewahrt. Das russische Proletariat wies demgemäß nicht nur einen empfindlichen Grad mangelnder technischer Reife auf, es war weitgehend analphabetisch und zu sehr starken Teilen direkt oder indirekt an das Dorf gebunden. In vielen Industriezweigen waren die Arbeiter bäuerliche Saisonarbeiter ohne ständige Bindung an die Stadt. Die russische Industriewirtschaft war bis zur Revolution von 1917 eine von feudalen Elementen durchsetzte kapitalistische Produktion. Feudale Agrarproduktion und kapitalistische Industrieproduktion hatten sich also in ihren Grundelementen gegenseitig durchsetzt und waren miteinander zu einem Wirtschaftssystem verfilzt, das weder nach feudalen Wirtschaftsprinzipien beherrscht werden konnte, noch die Grundlage für eine organische Entwicklung der kapitalistischen Elemente darstellte.
7. Wirtschaftlich war die russische Revolution die Aufgabe gestellt, erstens den versteckten Agrar-Feudalismus und die fortbestehende leibeigenschaftliche Bauernausbeutung zu beseitigen und die Landwirtschaft zu industrialisieren und unter die Bedingungen moderner Warenproduktion zu stellen, zweitens die unbegrenzte Schaffung einer Klasse tatsächlich „freier Arbeiter“ zu ermöglichen und die industrielle Entwicklung von allen feudalen Fesseln zu befreien. Die wirtschaftlichen Aufgaben der russischen Revolution waren somit in ihren Grundzügen die Aufgaben der bürgerlichen Revolution.
8. Auf diesem Fundament erhob sich der Staat des zaristischen Absolutismus. Die Existenz dieses Staates beruhte auf dem Gleichgewicht beider besitzender Klassen Rußlands, von denen jede unfähig war, die andere zu verdrängen. Lieferte der russische Kapitalismus dem absoluten Zarenstaat das wirtschaftliche Rückgrat, so stellte der grundbesitzende Feudaladel seine politische Stütze dar. „Verfassung“, Wahl“recht“ und „Selbstverwaltungs“system konnten die politische Entrechtung aller Klassen des Zarenstaates nicht verdecken, der unter den Bedingungen der wirtschaftlichen Rückständigkeit des Landes in seinen Herrschaftsmethoden eine Mischung von europäischem Absolutismus und ostasiatischer Despotie darstellte.
9. Politisch war der russischen Revolution die Aufgabe gestellt, den absoluten Staat zu zertrümmern, die Bevorrechtung des Feudaladels als des I. Standes zu beseitigen, eine politische Verfassung und einen staatlichen Verwaltungsapparat zu schaffen, die die Lösung der wirtschaftlichen Aufgabe der Revolution politisch sicherten. Die politischen Aufgaben der russischen Revolution waren also durchaus entsprechend ihren wirtschaftlichen Voraussetzungen, die Aufgaben der bürgerlichen Revolution.
Die Klassengruppierung der russischen Revolution
10. Entsprechend der besonderen gesellschaftlichen Kombination von feudalen und kapitalistischen Elementen war auch die russische Revolution vor kombinierte und komplizierte Aufgaben gestellt. Sie war ihrem Wesen nach ebenso grundlegend von der klassischen bürgerlichen Revolution unterschieden, wie sich die Gesellschaft des russischen Absolutismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Gesellschaft etwa des französischen Absolutismus im 17. Jahrhundert unterschied.
11. Dieser dem andersartigen wirtschaftlichen Fundament entspringende Unterschied fand seinen politischen sichtbarsten Ausdruck in der Stellung der einzelnen Klassen Rußlands zum zaristischen System und zur Revolution. Ihrem ökonomischen Klasseninteresse nach mußten alle russischen Klassen grundlegend Gegner des Zarismus sein. In der politischen Praxis waren sie es jedoch nicht nur in verschiedenen Graden, sie waren es auch in ganz verschiedener Ziel- und Willensrichtung.
12. Der Feudaladel kämpfte grundlegend nur um die Erweiterung seines Einflusses auf den absoluten Staat, den er als Ganzes zur Sicherung seiner Privilegien durchaus erhalten wollte.
13. Die Bourgeoisie, die zahlenmäßig schwach, politisch unselbständig und durch den Protektionismus des Staates vielfach direkt an den Zarismus gebunden war, machte mehrfache Wandlungen in ihrer politischen Haltung durch. In der Dekabristenbewegung von 1825 führte sie ihren ersten und einzigen aktiv revolutionären Angriff auf das absolutistische System durch. Zur Zeit der Terroristenbewegung der Narodniki in den siebziger und achtziger Jahren unterstützte sie die revolutionäre Bewegung passiv, um den Druck auf das Zarentum zu verstärken. Die Rolle eines Druckmittels auf das absolutistische Regime gedachte sie auch den revolutionären Streitkämpfen bis zu den Oktoberkämpfen von 1905 zuschieben. Ihr Ziel war bereits nicht mehr die Beseitigung, sondern die Reform des Zarismus. Nach den Oktoberkämpfen von 1905 ging sie zur Politik der direkten Verständigung mit dem Zarismus in der parlamentarischen Periode von 1906 bis zum Frühjahr 1917 über. Schließlich gelangte die russische Bourgeoisie auf der Flucht vor den Konsequenzen des revolutionären Kampfes der proletarischen und bäuerlichen Massen zur bedingungslosen politischen Selbstaufgabe gegenüber der zaristischen Reaktion in der Periode des Kornilow-Putsches, der die alte Zarenmacht wieder herstellen sollte. Sie wurde konterrevolutionär bereits vor der Durchführung der Aufgaben ihrer eigenen Revolution. Das erste Klassenkennzeichen der russischen Revolution ist also die Tatsache, daß sie als bürgerliche Revolution nicht nur ohne, sondern direkt gegen die Bourgeoisie durchgeführt werden mußte. Damit ergab sich eine grundlegende Verschiebung ihres gesamten politischen Charakters.
14. Entsprechend ihrer ungeheuren Mehrheit wurden die Bauern zu der sozialen Schicht, die zumindest passiv die russische Revolution entscheiden. Die zahlenmäßig geringere kapitalistische Mittel- und Großbauernschaft vertrat zwar eine kleinbürgerliche liberalistische Politik, aber die überwiegende Zahl der hungernden und geknechteten Kleinbauern wurde mit elementarer Gewalt auf den Weg der gewaltsamen Enteignung des gutsherrlichen Grund und Bodens gedrängt. Zu eigener Klassenpolitik unfähig, fanden sich die russischen Bauernschichten stets in der Gefolgschaft anderer Klassengruppen. Bis zum Februar 1917 waren sie, wenn auch nur unter den Zuckungen wiederholter Aufstandsbewegungen, das im Ganzen unbewegliche Fundament des Zarismus gewesen. Ihrer massigen Unbeweglichkeit und ihrer Rückständigkeit zufolge scheiterte die Revolution von 1905. 1917 entschieden sie das Ende des Zarismus, der sie im Heer zu großen sozialen Einheiten zusammengefügt hatte, indem sie von sich aus passiv die Kriegsführung lahm legten. Indem sie im weiteren Verlauf der Revolution durch die primitive aber unwiderstehliche Erhebung im Dorfe den Großgrundbesitz ausrotteten, schufen sie die Voraussetzung für den Sieg der bolschewistischen Revolution, die sich in den Jahren des Bürgerkrieges allein, dank ihrer weiteren aktiven Hilfe halten konnte.
15. Das russische Proletariat war ungeachtet seiner Rückständigkeit, dank der erbarmungslosen Schule der verbündeten zaristischen und kapitalistischen Unterdrückung, von großer Kampfkraft. Es warf sich mit ungeheurer Zähigkeit in die Aktionen der russischen bürgerlichen Revolution hinein und wurde ihr schärfstes und verläßlichstes Werkzeug. Indem jede seiner Aktionen durch den Zusammenstoß mit dem Zarismus zur revolutionären Aktion wurde, entwickelte es ein primitives Klassenbewußtsein, das sich in Teilen an den Aktionen des Kampfes von 1917, vor allem in der elementaren Uebernahme maßgebender Betriebe, bis zur Höhe subjektiv kommunistischen Wollens erhob.
16. Die kleinbürgerliche Intelligenz spielte eine besondere Rolle in der russischen Revolution. Materiel und geistig unerträglich eingeengt, im beruflichen Aufstieg behindert, an den fortgeschrittensten Ideen des europäischen Wollens geschult, fanden auch die besten Kräfte der russischen Intellektuellentums sich in den vordersten Reihen der revolutionären Bewegung zusammen und prägten ihr führend ihren kleinbürgerlich jakobinischen Stempel auf. Vor allem ist die Bewegung der russischen Sozialdemokratie in ihrer berufsrevolutionären Führerschicht eine revolutionär-kleinbürgerliche Partei.
17. Für die klassenmäßige Bewältigung der Aufgaben der russischen Revolution ergab sich eine besondere Kräftegruppierung. Die ungeheuren Bauernmassen bildeten ihr passives Fundament, die ihnen gegenüber geringeren, aber revolutionär kampfstarken Proletariermassen stellten ihre aktive Kampfwaffe dar, die kleine Schicht der revolutionären Intellektuellen erhob sich zum führenden Kopf der Revolution.
18. Dieses Klassendreieck der russischen Revolution ergab sich zwangsläufig aus der Klassengruppierung der zaristisch absolutistischen Gesellschaft, die von dem absolutistisch selbständigen Staat politisch beherrscht wurde und deren Grundlagen die politisch beiderseits entmündigten besitzenden Klassen von Feudaladel und Bourgeoisie bildeten. Die eigenartige Aufgabenstellung der Durchführung der bürgerlichen Revolution ohne und gegen die Bourgeoisie ergab sich aus der Notwendigkeit für den Sturz des Zarismus den elementaren Interessenkampf des Proletariats und der Bauern zu mobilisieren und mit dem Zarismus zugleich die bestehenden Formen feudalistischer und kapitalistischer Ausbeutung zu sprengen. Die russischen Bauernmassen hätten ihrer Zahl nach allein die revolutionäre Aufgabe bewältigen können, sie waren aber dazu politisch außerstande, denn sie konnten ihr Klasseninteresse nur verwirklichen, indem sie sich der Führung einer anderen Klassenschicht unterwarfen, die in bestimmten Ausmaßen den Grad der Durchsetzung der Bauerninteressen bestimmte. Die russischen Arbeiter entwickelten 1917 die Ansätze selbständiger kommunistischer Klassenpolitik, aber ihnen fehlten die gesellschaftlichen Voraussetzungen ihres Sieges, der als Sieg der proletarischen Revolution zugleich Sieg über die Bauern hätte sein müssen. Das war den zehn Millionen proletarischen Schichten Rußlands unmöglich. So verfielen sie genau wie die Bauern der Führung einer ihren Interessen nicht organisch verbundenen Intellektuellenschicht.
19. Die Schaffung der Führerorganisation der russischen Revolution und die Entwicklung der ihr gemäßen Taktik ist das Verdienst der Bolschewiki. Sie haben sich der aussichtslosen Durchführung der Politik der Schaffung des widerspruchsvollen Bündnisses zwischen der um Privateigentum kämpfenden Bauernmasse und den um Kommunismus kämpfenden Arbeitern gestellt, die Revolution unter ihren schweren Bedingungen ermöglicht und ihren Erfolg durch die Verklammerung der entgegengesetzten Interessengruppierungen Bauern-Arbeiter mit den Klammern ihrer eisernen Parteidiktatur gesichert. Die Bolschewiki sind die Führerpartei der revolutionären kleinbürgerlichen Intelligenz Rußlands, die die historische Aufgabe der russischen Revolution Geschichtsanpassung auf dem Rücken der von ihnen zusammengefügten bürgerlich-revolutionären Bauernschicht und der proletarisch-revolutionären Arbeiterklasse zuführten.
Das Wesen des Bolschewismus
20. Der Bolschewismus zeigt alle grundlegenden Wesenszüge bürgerlich revolutionärer Politik, gesteigert durch die vom Marxismus übernommene Einsicht in die Gesetze der Bewegung der gesellschaftlichen Klassen. Lenins Satz: „Der revolutionäre Sozialdemokrat ist der mit der Masse verbundene Jakobiner“ ist mehr als äußerlicher Vergleich. Er verkündet vielmehr die innere technisch-politische Wesensverwandtschaft mit der Bewegung des revolutionären Kleinbürgertums der französischen Revolution.
21. Das tragende Prinzip der Politik des Bolschewismus ist jakobinisch: Machtergreifung und Machtausübung der Organisation. Das Richtmaß der großen politischen Perspektive und ihrer Verwirklichung durch die Taktik der um die Macht kämpfenden bolschewistischen Organisationen ist jakobinisch: Mobilisierung aller gesellschaftlich geeigneten Mittel und Kräfte zum Sturz des absolutistischen Gegners unter Anwendung sämtlicher Methoden, die Erfolg versprechen: Lavieren und Paktieren mit jeder gesellschaftlichen Kraft, die selbst für die geringste Zeitspanne und den unbedeutendsten Kampfabschnitt ausgenutzt werden kann. Der Grundgedanke der Organisation des Bolschewismus endlich ist jakobinisch: Schaffung einer straffen Organisation von Berufsrevolutionären, die ein militärisch diszipliniertes und gefügiges Werkzeug eines allmächtigen Führertums ist und bleibt.
22. Theoretisch hat der Bolschewismus keineswegs ein eigenes Gedankengebäude, das als abgeschlossenes System zu betrachten wäre, entwickelt. Er hat vielmehr die Klassenbetrachtungsmethode des Marxismus übernommen und der Situation der russischen Revolution angepaßt, d.h. ihren Inhalt unter der Beibehaltung der marxistischen Begriffe grundlegend verändert.
23. Als ideologische Eigenleistung des Bolschewismus ist die Verknüpfung seiner politischen Theorie als Gesamtheit mit dem philosophischen Materialismus zu betrachten. Als radikaler Vorkämpfer der bürgerlichen Revolution stößt der Bolschewismus auf die radikale philosophische Ideologie der bürgerlichen Revolution zu und macht sie zum Dogma seiner weltanschaulichen Orientierung. Die Festlegung auf den philosophischen Materialismus ist begleitet von einem fortgesetzten Rückfall in den philosophischen Idealismus, der die politische Praxis zuletzt als Ausfluß des Handelns von Führern betrachtet. (Verrat des Reformismus – Vergötterung Lenins und Stalins.)
24. Die Organisation des Bolschewismus entstand aus den sozialdemokratischen Zirkeln intellektueller Revolutionäre und entwickelte sich durch fraktionelle Kämpfe, Spaltungen und Niederlagen hindurch zu einer Führerorganisation, deren entscheidende Positionen in den Händen der kleinbürgerlichen Intelligenz verblieben. Ihr Aufbau festigte sie, gefördert durch die fortdauernde illegale Situation, zu einer politischen Organisation militaristischen Charakters, deren tragendes Gerüst von den Berufsrevolutionären gebildet wurde. Allein mit einem solchen straffen Führerinstrument konnte die bolschewistische Taktik umgesetzt und die geschichtliche Aufgabe der revolutionären Intelligenz Rußlands erfüllt werden.
25. Die Taktik des Bolschewismus, die der Umsetzung der Aufgabe der Machteroberung durch die Organisation diente, wies insbesondere bis zum Oktober 1917 eine gewaltige innere Geschlossenheit auf. Ihre fortgesetzten äußeren Schwankungen waren im wesentlichen nur die jeweiligen Anpassungen an geänderte Situationen und geänderte Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen. Nach dem Prinzip der absoluten Unterordnung der Mittel unter den Zweck wurde ohne jede Rücksicht auf die ideologische Wirkung auf die von ihnen geführten Klassen die Taktik selbst in den scheinbar grundlegenden Parolen dauernd herumgeworfen. Es war die jeweilige Aufgabe der Funktionäre, den „Massen“ jede der Schwankungen begreiflich zu machen. Umgekehrt nutzte der Bolschewismus jede ideologische Regung der Massen aus, selbst wenn sie grundlegend im Widerspruch zu den politischen Prinzipien des Parteiprogramms standen. Er konnte das, weil es ihm nur auf unbedingten Fang von Massen für seine Politik ankam. Er mußte das, weil diese Massen selbst – Arbeiter und Bauern – gegensätzliche Interessen und ein vollkommen unterschiedliches Bewußtsein hatten. In der taktischen Methode des Bolschewismus offenbart sich aber eben gerade deshalb seine Bindung an revolutionär-bürgerliche Politik, ist es doch deren Methode, die er verwirklicht.
Richtpunkte der bolschewistischen Politik
26. Die Zielsetzung, von welcher der Bolschewismus ausgeht, ist der Sturz des zaristischen Systems. Sie ist als Stoß gegen den Absolutismus von revolutionär-bürgerlichem Charakter. Dieser Zielsetzung ist das Ringen um die taktische Linie der russischen Sozialdemokratie unterworfen. Der Bolschewismus entwickelt in diesem Ringen seine Methoden und seine Losungen.
27. Die historische Aufgabe des Bolschewismus war es, die Rebellion des Proletariats und der Bauernmassen, die auf ganz verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen standen, durch ihre Führertaktik zur gemeinsamen Aktion gegen den feudalen Staat zusammenzuschweißen. Sie mußte die Bauernerhebung, die Aktion der bürgerlichen Revolution am Beginn der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, mit der Erhebung des Proletariats, der Aktion der proletarischen Revolution am Ausgang der Entwicklung der bürgerliche Gesellschaft, zu einer einheitlichen Aktion zusammenfügen. Sie konnte das nur, indem sie eine großzügige Strategie der Ausnutzung der verschiedensten Klassenregungen und -strömungen entfalteten.
28. Diese Ausnutzungsstrategie beginnt mit der Bereitschaft, die kleinsten Risse und Sprünge im gegnerischen Lager auszuwerten. Demgemäß begrüßt Lenin einmal die liberalen Gutsbesitzer als „Verbündete von morgen“, während er ein anderes Mal für die Unterstützung der Pfaffen eintrat, die sich wegen ihrer materiellen Zurücksetzung gegen die Regierung wandten. Ebenso war er bereit, die religiösen Sekten zu stützen, die vom Zarismus verfolgt wurden.
29. Die Klarheit der Taktik Lenins zeigt sich indes darin, daß er, vor allem infolge der Erfahrungen von 1905, die Frage der „Verbündeten der Revolution“ auf die richtige Linie stellt, indem er schärfer gegen alle Kompromisse mit den entscheidenden kapitalistischen Gruppen Front macht und die Politik des „Bündnisses“ und der Kompromisse auf die kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Schichten beschränkt, d.h. auf die Schichten, die allein geschichtlich für die bürgerliche Revolution in Rußland mobilisiert werden konnten.
30. Die Zweiklassenbasis der bolschewistischen Politik äußert sich auf breiter Front in der taktischen Parole der „demokratischen Diktatur der Arbeiterschaft und des Bauerntums“, die 1905 zur allgemeinen Richtschnur der bolschewistischen Politik gemacht wurde und die in sich noch die illusionäre Vorstellung einer Art Parlamentarismus ohne Bourgeoisie trug. Sie wurde später ersetzt durch die Parolen des „Klassenbündnisses zwischen Arbeiterschaft und Bauerntum“. Hinter dieser Formel verbarg sich nichts als die Notwendigkeit, diese beiden Klassen für die Machtpolitik des Bolschewismus in Bewegung zu setzen.
31. Die jeweiligen Parolen, unter denen die beiden für die russische Revolution ausschlaggebenden Klassen von ihren entgegengesetzten ökonomischen Interessen aus mobilisiert werden sollten, waren rücksichtslos nur dem Zweck der Ausnutzung der Kräfte dieser Klassen untergeordnet. Um die Bauern zu mobilisieren, stellten die Bolschewiki bereits un 1905 herum die Losung der „radikalen Enteignung des Großgrundbesitzes durch die Bauern“ auf. Diese Losung konnte von den Bauern aus als Aufforderung zur Aufteilung des Großgrundbesitzes unter die Kleinbauernschaft aufgefaßt werden. Als die Menschewiki auf diesen reaktionären Inhalt der bolschewistischen Agrarparole hinwiesen, bedeutete ihnen Lenin, daß die Bolschewiki sich gar nicht im geringsten in der Frage festgelegt hätten, was mit dem enteigneten Boden zu geschehen habe. Das zu regeln, soll Angelegenheit der sozialdemokratischen Politik in der betreffenden Situation sein. Die Forderung der Uebernahme des Bodens der Großgrundbesitzer durch die Bauern trug also einen ausgesprochen demagogischen Charakter, packte die Bauern aber an dem entscheidenden Punkt ihres Interesses. In ähnlicher Weise haben die Bolschewiki auch Parolen in die Arbeiterschaft hineingeschleudert, wie z.B. die Räteparole. Entscheidend für ihre Taktik war lediglich der momentane Erfolg einer Parole, die durchaus nicht als prinzipielle Verpflichtung der Partei gegenüber den Massen betrachtet wurde, sondern als propagandistisches Mittel einer Politik, die die Machtergreifung der Organisation zum letzten Inhalt erhebt.
32. In der Periode von 1906-14 hat der Bolschewismus in der Verbindung von Legaler und illegaler Arbeit die Taktik des „revolutionären Parlamentarismus“ entwickelt. Diese Taktik entsprach der Situation von der bürgerlichen Revolution in Rußland. Mit ihrer Hilfe gelang es, den täglichen Kleinkrieg zwischen Arbeiterschaft und Zarismus und Bauerntum und Zarismus in die große Linie der Vorbereitung der bürgerlichen Revolution unter den russischen Bedingungen einzugliedern, zumal jeder Schritt parlamentarischer Betätigung der russischen Sozialdemokratie infolge der zaristischen Diktaturpolitik einen bürgerlich-revolutionären Charakter trug. In ihrer Taktik des „revolutionären Parlamentarismus“ haben die Bolschewiki die Politik der Mobilisierung der beiden entscheidenden Klassen der russischen Revolution in der veränderten Situation zwischen der Revolution von 1905 bis zum Weltkrieg fortgesetzt und die Duma als Tribüne ihrer Propaganda unter den Arbeitern und den Bauern benutzt.
Der Bolschewismus und die Arbeiterklasse
33. Der Bolschewismus hat die historische Aufgabe der bürgerlichen Revolution im feudalistisch-kapitalistischen Rußland mit Hilfe der aktiven Kampfwaffe Proletariat gelöst. Er hat zugleich die revolutionäre Theorie der Arbeiterklasse angeeignet und seinen Zwecken entsprechend umgeformt. Der „Marxismus-Leninismus“ ist nicht Marxismus, sondern Füllung der den Zwecken der bürgerlichen Revolution in Rußland angepaßten marxistischen Terminologie mit dem sozialen Inhalt der russischen Revolution. Diese Theorie wird in den Händen der Bolschewismus, trotzdem sie Mittel der Erkenntnis der Klassenstruktur und Klassentendenzen Rußlands ist, zugleich zum Mittel der objektiven Verschleierung des tatsächlichen Klasseninhalts der bolschewistischen Revolution. Hinter den marxistischen Begriffen und Parolen verbirgt sich der Inhalt einer bürgerlichen Revolution, die durch den vereinten Ansatz von sozialistisch orientiertem Proletariat und privatbesitzgebundener Bauernschaft unter Führung der revolutionären kleinbürgerlichen Intelligenz gegen Zarenabsolutismus, Grundbesitzadel und Bourgeoisie durchgeführt werden mußte.
34. Der absolute Führeranspruch der revolutionären, kleinbürgerlichen jakobinischen Intelligenz verbirgt sich hinter der bolschewistischen Auffassung von der Rolle der Partei in der Arbeiterklasse. Die kleinbürgerliche Intelligenz konnte ihre Organisation nur unter Heranziehung und Benutzung proletarischer Kräfte zur aktiv revolutionären Kampfwaffe ausbauen. Darum nannte sie ihre Partei des Jakobinismus proletarisch. Die Unterordnung der kämpfenden Arbeiterklasse unter die kleinbürgerliche Führung begründete der Bolschewismus mit der Theorie von der „Avantgarde“ des Proletariats, die er in seiner Praxis bis zu dem Grundsatz ausbaute: die Partei verkörpert die Klasse. Sie ist also nicht Werkzeug der Arbeiterschaft, sondern die Arbeiterschaft ist ihr Werkzeug.
35. Die Notwendigkeit der Stützung der bolschewistischen Politik auf die unteren Klassen der russischen Gesellschaft umschreibt der Bolschewismus mit dem Satz von dem „Klassenbündnis zwischen Proletariat und Bauernschaft“, in dem konsequent entgegengesetzte Klasseninteressen bewußt auf eine Linie gestellt werden.
36. Den Anspruch auf die unbedingte Führung des Bauerntums verkleidet der Bolschewismus mit dem Satz von der „Hegemonie des Proletariats in der Revolution“. Da das Proletariat seinerseits von der bolschewistischen Partei beherrscht ist, so bedeutet die „Hegemonie des Proletariats“ die Hegemonie der bolschewistischen Partei und ihren Anspruch auf Beherrschung der beiden Klassen der russischen Revolution.
37. Seinen höchsten Ausdruck findet der bolschewistische Anspruch auf dem Rücken zweier Klassen die gesellschaftliche Macht an sich zu reißen in der bolschewistischen Auffassung von „Diktatur des Proletariats“. In Verbindung mit der Auffassung der bolschewistischen Partei als der absoluten Führerorganisation der Klasse, bedeutet die Formel der proletarischen Diktatur von vornherein die Formel der Herrschaft der jakobinisch-bolschewistischen Organisation. Ihr Klasseninhalt wird weiterhin durch die bolschewistische Definition der Diktatur des Proletariats als des „Klassenbündnisses zwischen Proletariat und Bauerntum unter der Hegemonie des Proletariats“ (Stalin und das Programm der Komintern) vollkommen aufgehoben. Der Marxsche Grundsatz der Diktatur der Arbeiterklasse wird vom Bolschewismus zum Grundsatz der Beherrschung zweier in ihrem Interesse entgegengesetzter Klassen durch die jakobinische Partei umgedreht.
38. Der bürgerliche Charakter der bolschewistischen Revolution wird von ihm selbst unterstrichen in der von ihrem wiederbelebten Losung der „Volksrevolution“, d.h. des gemeinsamen Kampfes verschiedener Klassen eines Volkes in einer Revolution; sie ist die typische Losung jeder bürgerlichen Revolution, die hinter eine bürgerliche Führung kleinbürgerlich-bäuerliche und proletarische Massen zum Einsatz für ihre Klassenziele bringt.
39. Gegenüber dem Kampf um die Macht der Organisation über die revolutionären Klassen wird jede demokratische Haltung des Bolschewismus zum bloßen taktischen Schachzug. Bewiesen hat er das vor allem anderen in der Frage der Arbeiterdemokratie der Räte. Zunächst trägt die leninsche Parole vom März 1917: „Alle Macht den Räten“ das typische Zweiklassengesicht der russischen Revolution, denn die Räte waren „Arbeiter-, Bauern- und Soldaten- (d.h. wieder Bauern-) Räte“. Weiterhin aber war die Parole nur Taktik. Sie wurde von Lenin auf der Februarrevolution aufgestellt, weil sie den „friedlichen“ Übergang der Herrschaft von der sozialrevolutionären menschewistischen Koalition auf die Bolschewiki durch das Wachstum ihres Einflusses auf die Räte zu gewährleisten schien. Als nach der Niederlage der Julidemonstration der Einfluß der Bolschewiki auf die Räte sank, gab Lenin die Räteparole vorübergehend preis und forderte die Organisierung anderer Aufstandsorgane durch die bolschewistische Partei. Erst als im Gefolge des Kornilowputsches der bolschewistische Einfluß in den Räten wieder stark anstieg, griff die Partei Lenins die Räteparole wieder auf. Indem die Bolschewiki die Räte vorwiegend als Aufstandsorgane betrachteten, statt als die Organe der Selbstverwaltung der proletarischen Klasse, zeigen sie um ein übriges, daß es sich für sie in den Räten nur um ein Werkzeug handelt, mit dessen Hilfe ihre Partei die Macht an sich zieht. Praktisch hat der Bolschewismus das nicht nur mit der Organisierung des Sowjetstaates nach der Machteroberung allgemein bewiesen, sondern auch im speziellen Fall der blutigen Niederschlagung der Kronstadtrebellion. Die bäuerlich-kapitalistischen Forderungen dieses Aufstandes wurden durch die Neppolitik erfüllt, seine proletarisch-demokratischen aber in Strömen von Arbeiterblut erstickt.
40. Der Kampf um den Inhalt der russischen Räte führte bereits im Jahre 1920 zur Herausbildung einer im ganzen noch schwachen echten kommunistischen Strömung in der russischen Partei. Die Arbeiteropposition (Utjanikow) vertrat den Gedanken der Durchführung der Rätedemokratie für die Arbeiterklasse. Sie wurde, so wie später eine jede ernstliche Opposition dieser Richtung, mit Zuchthaus, Verbannung und Erschießung ausgerottet. Ihre Plattform aber bleibt der historische Ausgangspunkt einer selbständigen proletarisch-kommunistischen Bewegung gegen das bolschewistische Regime.
41. Vom Gesichtspunkt der Beherrschung und Führung der Arbeiterschaft durch die bolschewistische Partei ist ebenfalls die Haltung der Bolschewiki zur Gewerkschaftsfrage bestimmt. In Rußland haben sie den Gewerkschaften durch ihre praktische Verstaatlichung und Militarisierung wie durch ihren Zwangscharakter nach der Machteroberung den Charakter von Arbeiterorganisationen vollständig genommen. In den anderen Ländern haben sie im Endeffekt schützend vor den bürokratischen reformistischen Gewerkschaftsorganisationen gestanden und anstelle ihrer Zerschlagung die „Eroberung“ ihres Apparates propagiert. Sie waren erbitterte Gegner des Gedankens der revolutionären Betriebsorganisationen, weil diese die proletarische Demokratie verkörperten. Sie kämpften um die Eroberung oder Neuschaffung von Organisationen der zentralistischen Bürokratie, die sie von ihren Kommandostellen aus zu beherrschen gedachten.
42. Als Führerbewegung der jakobinischen Diktatur hat der Bolschewismus in allen seinen Phasen konsequent den Gedanken der Selbstbestimmung der Arbeiterklasse bekämpft und die Unterwerfung des Proletariats unter die bürokratisierte Organisation verlangt. In den Auseinandersetzungen, die in der Vorkriegszeit in die Organisationsfrage innerhalb der 2. Internationale geflochten wurden, war Lenin ein heftiger und gehässiger Gegner der Kommunistin Rosa Luxemburg und stützte sich ausdrücklich auf den zentristischen Kautsky, der seine klassenverräterische Linie in und nach dem Weltkriege vollkommen demaskierte. Der Bolschewismus hat bereits damals wie in der ganzen Folgezeit bewiesen, daß er für die Fragen der Entwicklung des Bewußtseins und der klassenmäßigen Organisation des Proletariats nicht nur kein Verständnis hat, sondern alle theoretischen und praktischen Ansätze tatsächlicher Klassenorganisation und Klassenpolitik mit allen Mitteln bekämpf.
Die bolschewistische Revolution
43. Der Bolschewismus hat die Revolution vom Februar 1917 als die bürgerliche und die vom Oktober 1917 als die proletarische Revolution Rußlands bezeichnet, um sein späteres Regime als proletarische Klassenherrschaft und seine Wirtschaftspolitik als Sozialismus ausgeben zu können. Die Unsinnigkeit dieser Zertrennung der Revolution von 1917 wird allein aus der Ueberlegung klar, daß dann eine Entwicklung von 7 Monaten genügt hätte, um die wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen der proletarischen Revolution in einem Lande zu schaffen, das eben in den Prozeß seiner bürgerlichen Revolution eingetreten war, d.h. eine ganze ökonomische und soziale Entwicklungsstufe von zumindestens Jahrzehnten einfach zu überspringen. In Wirklichkeit ist die Revolution von 1917 ein durchaus einheitlicher und sozialer Umschichtungsprozeß, der mit dem Zusammenbruch des Zarismus im äußeren Verlauf beginnt und mit dem bewaffneten, siegreichen Aufstand der Bolschewiki am 7. November seinen entscheidenden Höhepunkt erreicht. Dieser gewaltige Umschichtungsprozeß ist der Prozeß der bürgerlichen Revolution Rußlands unter den historisch gewachsenen, besonderen russischen Bedingungen.
44. In diesem Prozeß ergreift die Partei der revolutionären jakobinischen Intelligenz auf den beiden sozialen Wellen der bäuerlichen und der proletarischen Massenerhebung die Macht und schafft an der Stelle des geborstenen Herrschaftsdreiecks Zarismus-Feudaladel-Bourgeoisie das neue Herrschaftsdreieck Bolschewismus-Bauerntum-Arbeiterklasse. Wie der Staatsapparat des Zarismus über den beiden besitzenden Klassen verselbständigt herrschte, so begann sich der neue Staatsapparat des Bolschewismus über seiner Doppelklassenbasis zu verselbständigen. Rußland trat aus dem Zustand des zaristischen Absolutismus in den Zustand des bolschewistischen Absolutismus hinein.
45. Die Politik der Bolschewiki selbst erhebt sich in der Revolutionsperiode zur höchsten Höhe der Erfassung und Bewältigung der gesellschaftlichen Kräfte der russischen Revolution. Den Gipfelpunkt ihrer revolutionären Taktik erklimmt sie in der Vorbereitung und Durchführung des bewaffneten Aufstandes. Die Frage der gewaltsamen Erhebung wird für die Bolschewiki zur Frage der exakten, bis auf den Termin festgelegten, planmäßigen militärischen Aktion, deren Haupt sowie treibende und bestimmende Kraft die bolschewistische Partei mit ihren Militärformationen ist. Auffassung, Vorbereitung und Durchführung des bewaffneten Aufstandes durch die Bolschewiki tragen die deutlichen Stempel der in der russischen Revolution wiederum einzig möglichen Politik der jakobinischen Verschwörung, d.h. des Aufstandes unter den besonderen Bedingungen der Durchführung der bürgerlichen Revolution gegen die Bourgeoisie.
46. Der innere Charakter der bolschewistischen Revolution als bürgerliche Revolution offenbart sich in den wirtschaftlichen Parolen dieser Revolution selbst. Den Bauernmassen gegenüber vertraten die Bolschewiken in der radikalsten Weise die Forderung der gewaltsamen Aneignung der gutsherrlichen Guts und Bodens durch die spontane Aktion der landhungrigen Kleinbauernschaft. Sie drückten in ihrer Agrarpraxis und ihren Bauernlosungen (Friede und Land) vollkommen das Interesse der um Sicherung von Kleinprivatbesitz, also auf kapitalistischer Linie kämpfenden Bauern aus und waren so in der Agrarfrage rückhaltlos Verfechter des kleinkapitalistischen, also nicht des sozialistisch-proletarischen Interesses gegen den feudalen und kapitalistischen Großgrundbesitz.
47. Die wirtschaftlichen Forderungen der bolschewistischen Revolution waren aber auch gegenüber den Arbeitern nicht mit sozialistischem Inhalt gefüllt. Lenin wies mehrfach mit besonderer Schärfe den menschewistischen Vorwurf zurück, der Bolschewismus vertrete eine utopische Politik der Sozialisierung der Produktion in einem Lande, das hierfür die Bedingungen nicht aufzuweisen habe. Die Bolschewiken erklärten, daß es sich in der Revolution überhaupt nicht um die Sozialisierung der Betriebe handele, sondern um die Kontrolle der Produktion durch die Arbeiter. Die Losung der Produktionskontrolle diente dem Versuch, den Kapitalismus als Kraft technischer und wirtschaftlicher Organisierung der Produktion aufrecht zu erhalten, ihm aber seinen Ausbeutercharakter zu nehmen. Deutlicher als in der Losung der Kontrolle der Produktion konnte der bürgerliche Charakter der bolschewistischen Revolution und die bolschewistische Selbstbeschränkung auf diesen bürgerlichen ökonomischen Charakter im Gegensatz zu der bolschewistischen Firmierung der Resultate der Umwälzung von 1917 überhaupt nicht dargelegt werden.
48. Die elementare Wucht des Vorstoßes der Arbeitermassen auf der einen, die Sabotage des entthronten Unternehmertums auf der anderen Seite trieben indes die industrielle Wirtschaftspolitik des Bolschewismus weiter bis zur Uebernahme der industriellen Produktionsstätten durch die neue staatliche Bürokratie. Lenin bezeichnete die Staatswirtschaft, die zunächst in der ganzen Periode des Kriegskommunismus, vor lauter Organisation erstickte (Glavkismus), als Staatskapitalismus. Die Bezeichnung der bolschewistischen Staatswirtschaft als sozialistisch ist das Produkt der stalinschen Aera.
49. Lenin selbst hatte jedoch von der Sozialisierung der Produktion keine grundlegend andere Vorstellung als die einer bürokratisch geleiteten Staatswirtschaft gehabt. Vorbild für sozialistische Organisierung der Produktion waren ihm z.B. die deutsche Kreigsplanwirtschaft oder die Post, d.h. ausgesprochen bürokratisch zentralistisch von oben herunter geleitete Wirtschaftsorganisationen. Er sah nur die technische, nicht aber die proletarische gesellschaftliche Seite des Sozialisierungsproblems. Ebenso stützte sich Lenin und mit ihm der Bolschewismus überhaupt auf die Sozialisierungsvorstellungen des zentristischen Hilferding, der in seinem „Finanzkapital“ das idealisierte Bild eines durchorganisierten Kapitalismus aufgezeichnet hatte. An dem tatsächlichen Problem der Sozialisierung der Produktion, d.h. der Uebernahme der Betriebe und Organisierung der Wirtschaft durch die Arbeiterklasse und ihre Klassenorgane, die Wirtschaftlichen Räte, ist der Bolschewismus vollkommen vorbeigegangen. Er mußte daran vorbeigehen, weil der Marxsche Gedanke der Assoziation freier und gleicher Produzenten dem Wesen der Herrschaft der jakobinischen Organisation direkt entgegengesetzt ist, und weil Rußland die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen für den Sozialismus nicht aufzuweisen hatte. Der Sozialisierungsbegriff der Bolschewiki ist darum nichts als der Begriff einer vom Staat übernommenen und von seiner Bürokratie von außen und von oben geleiteten kapitalistischen Wirtschaft. Der bolschewistische Sozialismus ist staatlich organisierter Kapitalismus.
Der Internationalismus der Bolschewiken und die nationale Frage
50. Die Bolschewiken haben während des Weltkrieges einen konsequent internationalistischen Standpunkt unter der Parole der „Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg“ vertreten, sich dem Anschein nach als konsequente Marxisten verhalten. Ihr revolutionärer Internationalismus war jedoch ganz ebenso von ihrer Taktik im Kampf um die russische Revolution bestimmt, wie etwa später ihre Umstellung zur NEP-Politik in Russland selbst. Der Appell des Bolschewismus an die internationale Arbeiterschaft war nur eine Seite einer großangelegten Politik der internationalen Stützung der russischen Revolution. Die andere Seite war die Politik und Propaganda der „nationalen Selbstbestimmung“ der Völker, in der der Klassenanschauung noch stärker als im Begriff der „Volksrevolution“ zu Gunsten eines allgemeinen Appells an alle Klassen bestimmter Völker aufgegeben wurde.
51. Dieser doppelseitige „Zweiklasseninternationalismus“ der Bolschewiken entspringt der internationalen Situation Rußlands und seiner Revolution. Es steht zwischen den beiden Zentren des imperialistischen Weltsystems, geographisch und soziologisch. In Rußland, dem Schnittpunkt der aktiv imperialistischen und passiv kolonialen Tendenzen des Weltkapitals, brach dieses System auseinander. Die reaktionären Klassen Rußlands erwiesen sich als unfähig, es wieder zusammenzufügen, wie ihre entscheidende Niederlage im Kornilowputsch und später in der Periode des Bürgerkrieges bewiesen hat. Die einzige wirkliche Gefahr, die der russischen Revolution drohte, war die Gefahr des Eingriffs der imperialistischen Mächte. Nur die militärische Invasion des imperialistischen Kapitals konnte den Bolschewismus niederschlagen und den in das Weltsystem der imperialistischen Ausbeutung als Werkzeug und Material zugleich eingebauten Zarismus wiederherstellen. Das Problem der aktiven Gegenwehr des Bolschewismus gegen den Weltimperialismus bestand also darin, den Angriff auf ihn in den Zentren seiner Macht selbst vorzutragen. Das geschah durch die doppelseitige internationale Politik des Bolschewismus.
52. Mit dem Standpunkt der internationalen proletarischen Revolution propagierte der Bolschewismus den Angriff des mit seiner Revolution zu verbindenden internationalen Proletariats auf das Mittelpunkt des Weltimperialismus in den hochkapitalistischen Ländern. Durch die Politik des „Rechtes der Selbstbestimmung der Nationen“ propagierte der Bolschewismus den Angriff der unterdrückten Bauernvölker des fernen Ostens auf das koloniale Zentrum des Weltimperialismus. In einer auf gewaltige Perspektiven eingestellten zweiseitigen internationalen Politik versuchte der Bolschewismus den proletarischen und den bäuerlichen Arm seiner Revolution in den internationalen Raum des Weltkapitalismus hinein zu verlängern.
53. Die Stellung des Bolschewismus zur „nationalen Frage“ ist praktisch, also nicht allein ein Hilfsmittel der bürgerlichen Revolution seines Landes, die mit Hilfe der aufgespürten nationalen Instinkte der vielfältig unterdrückten Bauernschichten und Völkerschaften des russischen Reiches den Zarismus schlagen wollte. Sie ist zugleich der Bauerninternationalismus einer bürgerlichen Revolution, die im Zeitalter des Weltimperialismus vollzogen wurde und sich aus den Maschen des internationalen, imperialistisch hochkapitalistischen Netzes nur mit einer international orientierten und aktivierten Gegenpolitik heraushalten konnte.
54. Als Werkzeug der bolschewistischen Leitung dieser internationalistischen Stützungspolitik der auf nationalem russischen Boden vollzogenen bürgerlichen Revolution hat der Bolschewismus versucht, zwei internationale Organisationen zu schaffen: die III. Internationale als Organisation des Einsatzes der Arbeitermassen der hochkapitalistischen Länder und die Bauerninternationale als die Organisation des bolschewistischen Einsatzes der ostasiatischen Bauernvölker. Als letzter Leitgedanke dieser internationalen Doppelklassenpolitik des Bolschewismus erschien der Gedanke der Weltrevolution, in der die internationale europäisch-amerikanische proletarische und die nationale, in erster Linie ostasiatische bäuerliche Revolution unter der straffen Leitung Moskaus zu einer neuen internationalen Einheit bolschewistischer Weltpolitik zusammengeklammert werden sollte. Der Begriff der „Weltrevolution“ hat für die Bolschewiken also einen ganz anderen Klasseninhalt. Er hat nichts mehr mit dem Gedanken der internationalen proletarischen Revolution gemein.
55. Die internationale Politik des Bolschewismus lief also darauf hinaus, unter gleichzeitiger Ausnutzung der proletarischen und der bäuerlich-bürgerlichen Revolution die russische Revolution im Weltmaßstab zu wiederholen und die Leitung der bolschewistischen Partei Rußlands zum Kommandeur eines weltbolschewistischen Systems der Verkoppelung der kommunistisch-proletarischen und kapitalistisch-bäuerlichen Interessen zu machen. Diese Politik war insofern positiv, als sie den bolschewistischen Staat durch die dauernde Beunruhigung der kapitalistischen Staaten vor der imperialistischen Invasion geschützt und ihm Zeit gegeben hat, sich allmählich den kapitalistischen Methoden von Handelsbeziehungen, Wirtschaftsverträgen und militärischen Nichtangriffspakten neu in das weltimperialistische System einzubauen. Sie hat Rußland die Möglichkeit des ungehemmten nationalen Auf- und Ausbaus seiner eigenen inneren Position gegeben. Negativ war die internationale Zweifrontenpolitik des Bolschewismus insofern, als sie auf beiden Seiten zum Zusammenbruch des Versuchs der Uebertragung der aktiv-bolschewistischen Politik auf den Weltmaßstab geführt hat. Das Experiment der Bauerninternationale ist unter den Schlägen der Niederlagen der bolschewistischen Politik in China vollkommen zusammengebrochen. Die III. Internationale ist nach dem erbärmlichen Zusammenbruch der deutschen kommunistischen Partei kein Faktor der bolschewistischen Weltpolitik mehr. Der gigantische Versuch der Übertragung der bolschewistisch-russischen Politik auf den Weltmaßstab ist historisch gescheitert. Damit ist die national-russische Begrenzung des Bolschewismus historisch ebenfalls erwiesen. Immerhin hat das Experiment der internationalen bolschewistischen Machtpolitik Raum und Zeit für den Rückzug des Bolschewismus auf seine national-russische Position und die Umstellung auf die kapitalistisch-imperialistischen Methoden internationaler Politik geschaffen. Theoretisch fand dieser Rückzug seinen Ausdruck in der Formel vom „Sozialismus in einem Lande“, der den Begriff „Sozialismus“ seine internationale Bindung nahm, nachdem die russische Wirtschaftspraxis ihn bereits vorher seines proletarisch-klassenmäßigen Inhaltes beraubt und zu einer beim Reformismus und in den Bewegungen des kleinbürgerlichen Faschismus ebenso zu findendende Verkleidung staatskapitalistischer Tendenzen gemacht hatte.
56. Es ist sachlich nach dem Vorliegen der praktischen Resultate von 15 Jahren Politik des bolschewistischen Staates und der bolschewistischen Internationale unwesentlich, ob Lenin im Monat der Gründung der Komintern und vorher noch eine andere Vorstellung von der Wirksamkeit dieser bolschewistischen Internationale gehabt hat oder nicht. Praktisch hat der Bolschewismus mit seinem Begriff des Rechtes der „Selbstbestimmung der Nationen“ die Tendenzen einer weltbolschewistischen Machtpolitik entwickelt. Er hat zudem durch die Komintern entscheidend mit dazu beigetragen, daß sich das europäische Proletariat nicht zur Höhe revolutionärer kommunistischer Einsicht erheben konnte, sondern im Sumpf seiner vom Bolschewismus neu belebten und mit revolutionären Phrasen verbrämten reformistischen Vorstellungen gefangen blieb. So ist es dazu gekommen, daß der Begriff des „Russischen Vaterlandes“ zum Angelpunkt aller Politik der bolschewistischen Parteien wurde, während für den proletarischen Kommunismus die internationale Arbeiterklasse im Zentrum aller internationalen Orientierung steht.
Der verstaatlichte Bolschewismus und die Komintern
57. Die Aufrichtung des Sowjet-Staates war die Aufrichtung der Herrschaft der Partei des bolschewistischen Macchiavellismus. Die soziologische Basis der über den Klassen verselbständigten und die neue soziale Schicht der bolschewistischen Bürokratie bolschewistische Staatsgewalt, bildeten das russische Proletariat und das russische Bauerntum. Das russische Proletariat, mit den Methoden der Zwangsgewerkschaften und des tschekistischen Terrors gefesselt, bildete die Basis der bolschewistischen bürokratisch geleiteten Staatswirtschaft. Das Bauerntum hingegen verbarg und verbirgt heute noch in seinen Reihen die privatkapitalistischen Tendenzen der Sowjetwirtschaft. Der Sowjetstaat wurde in seiner inneren Politik fortgesetzt zwischen den beiden Tendenzen hin- und hergestoßen. Er hat sie durch organisatorische Gewaltmethoden, wie die Fünfjahresplanpolitik und die Zwangskollektivierung, zu meistern versucht. Praktisch hat er jedoch nur unter der unerträglichen Ueberspannung der Kräfte der Arbeiter und der Bauern die ökonomischen Schwierigkeiten bis zur Gefahr der Explosion der wirtschaftlichen Widersprüche gesteigert. Das Experiment der bürokratischen Staatsplanwirtschaft des Bolschewismus kann durchaus nicht als endgültig gelungen bezeichnet werden. Die Rußland bedrohenden großen internationalen Erschütterungen müssen die Widersprüche seines Wirtschaftssystems ins Unerträgliche steigern und können den Zusammenbruch des bisher gigantischen Wirtschaftsversuchs ungemein beschleunigen.
58. Der innere Charakter der russischen Wirtschaft wird durch die folgenden Umstände bestimmt: Sie beruht auf der Grundlage der Warenproduktion. Sie wird nach den Gesichtspunkten kapitalistischer Rentabilität geleitet. Sie weist ein ausgesprochen kapitalistisches Entlohnungs- und Antreibersystem auf. Sie hat die Raffinessen kapitalistischer Rationalisierung auf die Spitze getrieben. Die bolschewistische Wirtschaft ist Staatsproduktion mit kapitalistischen Methoden.
59. Diese Staatsproduktion produziert mit der Produktion Mehrwert, der im Höchstmaß aus den Arbeitern herausgepreßt wird. Der russische Staat hat zwar keine Klasse von Menschen auf, die individuell und direkt Nutznießer dieser Mehrwertproduktion sind, aber bezieht diesen Mehrwert als bürokratischer Schmarotzerapparat im Ganzen. Außer seiner eigenen, recht kostspieligen Erhaltung dient der erzeugte Mehrwert der Erweiterung der Produktion, der Stützung der Bauernklasse und der Begleichung der Auslandsverpflichtungen des Staates. Außer der ökonomischen Schmarotzerschicht der herrschenden Bürokratie sind also die russischen Bauern als ganze Schicht und Teil des internationalen Kapitals Nutznießer des von den russischen Arbeitern erzeugten Mehrwerts. Die russische Staatswirtschaft ist darum Profitproduktion und Ausbeutungswirtschaft. Sie ist Staatskapitalismus unter den historisch einzigartigen Bedingungen des bolschewistischen Regimes und stellt darum einen anderen und höheren Typus der kapitalistischen Produktion dar, als ihn die größten und fortgeschrittensten Länder aufzuweisen haben.
60. Diese Tatsache des bolschewistischen Staatskapitalismuns stellt das Problem der Befreiung des russischen Proletariats erneut auf die Tagesordnung. Die neue proletarische Revolution in Russland gegen die bolschewistische Bürokratie und ihren Staat, wie gegen die kapitalistischen in den Kollektiven politisch gestärkten Buernschaft kann nur in Anschluss an eine neue proletarische Revolution in den grossen kapitalistischen Staaten erfolgen. Sie ist eben so unvermeidlich wie diese selbst, zumal die Periode des bolschewistischen Staatskapitalismus und ihrer starken Industrialisierungspolitik ihre Aussichten stark gebessert haben.
61. Die Außenpolitik der Sowjetunion wurde den Gesichtspunkten der Sicherung der Machtposition der bolschewistischen Partei und des von ihr beherrschten Staatsapparates untergeordnet. Wirtschaftlich kämpfte die russische Regierung um Stützung ihres unter den größten Anstrengungen vorangetriebenen industriellen Aufbaues. Die Isolierung der Wirtschaft Sowjetrußlands erzeugte eine angestrengte Politik der Aufhebung der Zwangsautarkie des Landes unter Aufrechterhaltung der Kontrolleinrichtung des Außenhandelsmonopols. Wirtschafts- und Lieferungsverträge, Konzessionsabmachungen sowie umfangreiche Kreditabkommen stellten den Anschluß der russischen Staatswirtschaft an die kapitalistische Weltproduktion und ihre Märkte wieder her, in die sich Rußland teilweise als umworbener Abnehmer einschaltete, teilweise als empfindlicher Konkurrent. Auf der anderen Seite zwang die Politik des wirtschaftlichen Anschlusses an das Weltkapital die Sowjetregierung zur Pflege freundschaftlicher und friedlicher Beziehungen zu den kapitalistischen Mächten. Die immer noch propagierten Prinzipien von einer bolschewistischen Weltpolitik wurden opportunistisch dem nackten Handelsvertrag untergeordnet. Die gesamte Außenpolitik der russischen Regierungen erhielt das Gepräge typisch kapitalistischer Diplomatie und riß damit endgültig auf internationalem Felde die bolschewistische Theorie von der Praxis los.
62. In den Mittelpunkt der außenpolitischen Propaganda der Komintern stellte der Bolschewismus die den komplizierten Linien der imperialistischen Interessengegensätze mit ihren fortgesetzten wechselnden Gruppierungen nicht im entferntesten gerecht werdende These von der „imperialistischen Einkreisung der Sowjetunion“ auf. Er versuchte das internationale Proletariat für seine Außenpolitik zu mobilisieren, durch eine teilweise parlamentarische und putschistische Politik der kommunistischen Parteien die kapitalistischen Staaten von innen her zu beunruhigen und dadurch die diplomatische und wirtschaftliche Position der Sowjetunion zu stärken.
63. Die Gegensätze der Sowjetunion zu den imperialistischen Weltmächten führten zur ideologischen Gegenpropaganda der Komintern unter den Parolen: „Drohender Krieg gegen die UdSSR!“ „Schützt die Sowjetunion!“ Indem den Arbeitern diese Gegensätze als die einzigen und entscheidenden der Weltpolitik schlechthin immer wieder dargestellt wurden, wurde ihnen der Blick für die tatsächliche außenpolitische Wirklichkeit genommen. Die Anhänger der kommunistischen Parteien wurden vor allem zu blinden und opportunistischen Verteidigern der Sowjetunion gemacht und über die Tatsache hinweggetäuscht, daß die Sowjetunion längst zu einem ebenbürtigen Faktor der imperialistischen Weltpolitik geworden war
64. Die fortdauernde Verkündung der Schreckparole des bevorstehenden Krieges der vereinigten imperialistischen Staaten gegen die UdSSR diente innenpolitisch der Rechtfertigung der verstärkten Militarisierung der Arbeit und der erhöhten Anspannung des Druckes auf das russische Proletariat. Zugleich aber hatte und hat die Sowjetunion seit jeher das allergrößte Interesse an der unbedingten Vermeidung jedes kriegerischen Konfliktes mit anderen Staaten. Die Existenz der bolschewistischen Regierung hängt innenpolitisch in weitem Maße von der Fernhaltung aller außenpolitischen Erschütterungen ab, und zwar sowohl kriegerischer als auch revolutionärer. Die Komintern hat darum in ihrer Praxis und im schreienden Widerspruch zu ihrer alten Theorie und Propaganda eine Politik der Sabotage aller wirklich revolutionären proletarischen Entwicklung getrieben und in den kommunistischen Parteien ziemlich offen die Auffassung verbreitet, daß erst der Aufbau der Sowjetunion gesichert sein müsse, ehe die proletarische Revolution in Europa weitergetrieben werden könne. Auf der Gegenseite hat die russische Regierung zwar starke Prestigegesten gegenüber imperialistischen Mächten gebraucht, aber praktisch immer vor ihnen kapituliert. Der „Verkauf“ der manschurischen Bahn an den japanischen Imperialismus ist ein Beispiel der kampflosen Kapitulation der UdSSR vor dem kapitalistischen und imperialistischen Gegner. Die übereilige faktische Anerkennung der Sowjetunion durch die Vereinigten Staaten von Amerika zum gleichen Zeitpunkt ist umgekehrt Beweis dafür, daß die imperialistischen Mächte im Rahmen ihrer gegensätzlichen Interessenpolitik den Faktor Sowjetunion auch positiv einzuschätzen wissen. Vor allem aber hat die russische Regierung ihre Verbundenheit mit dem Kapitalismus dokumentiert, indem sie besonders feste Wirtschaftsbeziehungen mit dem italienischen Faschismus und mit Hitlerdeutschland angebahnt und ausgebaut hat. Die Sowjetunion erscheint als verläßliche wirtschaftliche und damit auch als politische Stütze der reaktionärsten Staaten der faschistischen Diktatur in Europa.
65. Die Politik der unbedingten Verständigung der UdSSR mit den kapitalistischen und imperialistischen Staaten hat nicht nur wirtschaftliche Gründe. Sie ist auch nicht nur Ausdruck einer militärischen Unterlegenheit. Die „Friedenspolitik“ der UdSSR ist vielmehr ganz entscheidend von der inneren Situation des Bolschewismus garantiert. Seine Existenz als verselbständigte Staatsmacht in Rußland selbst hängt davon ab, ob es ihr gelingt das Gleichgewicht zwischen der beherrschten Arbeiterklasse und dem Bauerntum zu wahren. Trotz des Fortschrittes der Industrialisierung des Landes ist die Position des russischen Bauerntums noch äußerst stark. Einmal ruht in ihren Händen trotz aller Zwangspolitik von oben immer noch weitgehend die Entscheidung über die Ernährung des Landes. Zweitens hat die Kollektivierung nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die politischn Kraft des nach wie vor um privatkapitalistische Interessen kämpfenden Bauerntums vermehrt. Denn „Kollektivierung“ heißt in Rußland kollektiver Zusammenschluß privatbesitzender Bauern unter Aufrechterhaltung privatkapitalistischer Rechnungs- und Verteilungsmethoden. Zum dritten endlich würde ein Krieg mit neuer massenhafter Bewaffnung der Bauern die Voraussetzung für eine neuerliche gewaltige Bauernerhebung gegen das bolschewistische System schaffen, ganz wie umgekehrt, eine Revolution des europäischen Proletariats eine offene Rebellion auch der russischen Arbeiterschaft wahrscheinlich macht: Aus diesen Gründen ist die Politik der Verständigung der Sowjetregierung mit den imperialistischen Mächten eine Lebensnotwendigkeit des bolschewistischen Absolutismus.
66. Die Komintern selbst wurde zum Werkzeug des Mißbrauchs der internationalen Arbeiterklasse für die opportunistischen Zwecke der nationalen Aufhebung und der internationalen Sicherungspolitik des russischen Staates. Sie entstand in ihren außerrussischen Teilen aus der Zusammenfassung der revolutionären Kaders des europäischen Proletariats. Unter Ausnutzung der Autorität der bolschewistischen Revolution wurde ihr das Organisationsprinzip und die Taktik des Bolschewismus mit der brutalsten Rücksichtslosigkeit und unter sofortiger Spaltungen aufgepresst. Die EKKI-Zentrale ihrerseits, ein Werkzeug der Führung der staatlichen Bürokratie Rußlands, wurde zum unbeschränkten Kommandeur sämtlicher kommunistischer Parteien gemacht, und deren Politik restlos von den tatsächlichen revolutionären Interessen der internationalen Arbeiterklasse abgetrennt. Revolutionäre Phrasen und Resolutionen dienten der Verschleierung der konterrevolutionären Politik der Komintern und ihrer Parteien, die in ihrer bolschewistischen Art zu Parteien des gleichen Arbeiterbetrugs und der hemmungslosen Demagogie gemacht wurden, wie sie die sozialdemokratischen Parteien geworden waren. Ging der Reformismus im historischen Sinne an seiner apparatmässigen Verschmelzung mit dem Kapitalismus zugrunde, so scheiterte die Komintern an ihrer apparatmässigen Bindung an die kapitalistische Politik der Sowjetunion.
Der Bolschewismus und die internationale Arbeiterklasse
67. Der Bolschewismus ist im Prinzip, Taktik und Organisation, die Bewegung und Methode der bürgerlichen Revolution in einem vorwiegenden Bauernlande, das zur Zerschlagung des feudalistisch-kapitalistischen Absolutismus das sozialistisch orientierte Proletariat und das privateigentumsgebundene kapitalistisch orientierte Bauerntum unter der diktatorischen Führung der jakobinischen Intelligenz zur revolutionären Erhebung gegen absoluten Staat, Feudalität und Bourgeoisie brachte, und in einer großen Ausnutzungsstrategie die entgegengesetzten proletarischen und bäuerlichen Klasseninteressen mit Hilfe klassenmäßiger Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung zusammenkoppelte.
68. Der Bolschewismus ist darum als Richtpunkt der revolutionären Politik des internationalen Proletariats nicht nur untauglich, sondern er ist eines ihrer schwersten und gefährlichsten Hemmnisse. Der Kampf gegen die bolschewistische Ideologie, gegen die bolschewistischen Praktiken und demnach gegen alle politischen Gruppen, die ihn erneut im Proletariat verankern wollen, ist eine der ersten Aufgaben im Kampf um die revolutionäre Neuorientierung der Arbeiterklasse. Proletarische Politik kann nur vom Boden der proletarischen Klasse aus und mit den ihr gemäßen Methoden und Organisationsformen entwickelt werden.