Zuckerrohrstalinismus: Staatskapitalismus und Entwicklung in Kuba

Gefunden auf vamos hacia la vida, die Übersetzung ist von uns. Hier ein weiterer Text, der im Kontext der Revolte in Kuba stattfand.


Zuckerrohrstalinismus: Staatskapitalismus und Entwicklung in Kuba

Ursprünglich am 17.07.2021 veröffentlicht.

Am Sonntag, den 11. dieses Monats, begann eine Protestwelle in verschiedenen kubanischen Städten. Die allgemeine Verarmung, der Mangel an Impfstoffen, die ständigen Stromausfälle, die Gesundheitssituation und der Umgang der Regierung mit der Coronavirus-Pandemie gehören zu den sichtbarsten Faktoren dieser Demonstrationstage. Rechte Kreise, vor allem außerhalb der Karibikinsel, versuchen, die Unzufriedenheit zu schüren. Ein großer Teil der Linken wiederum verurteilt entweder die Massen, die auf die Straße gegangen sind, und macht sich damit die Version der Rechten zu eigen, oder sie fordert mehr oder weniger zaghaft „mehr Demokratie“ und eine stärkere Liberalisierung der Ökonomie. Aber was in Kuba passiert, ist der Welt nicht fremd. Überall entstehen soziale Revolten, denn es sind die von der kapitalistischen Gesellschaft auferlegten Lebensbedingungen, die von diesen Bewegungen angefochten werden. Und natürlich ist Kuba genauso kapitalistisch wie jede andere Region der Welt.

Der folgende Text, der ursprünglich in englischer Sprache auf der „Ritual“-Website (nicht mehr verfügbar) veröffentlicht wurde und später auch in anderen Medien nachgedruckt wurde (siehe: https://mcmxix.org/2018/07/09/sugarcane-stalinism/), befasst sich mit dem kapitalistischen Charakter des in Kuba herrschenden Regimes und demontiert die linke Mythologie, die in der Geschichte des Landes die Entwicklung einer Form des Sozialismus sehen will.

Sein Autor, der in Havanna geborene Kubaner Emanuel Santos, hat uns diese spanische Version zur Verfügung gestellt, die wir in einigen kleinen Details leicht verändert haben. Emanuels politischer Werdegang führt von einer ersten Annäherung an den Anarchismus zu einem wachsenden Interesse an Marx‘ Werk, das gerade durch die Debatte in sozialen Initiativen und anarchistischen Gruppen motiviert wurde. Später näherte er sich Positionen und Gruppen der kommunistischen Linken mit „bordiguistischer“ und „rätekommunistischeer“ Ausrichtung an. Es gibt auch eine portugiesische Version dieses Materials auf der Website „Critica Desapiedada“ (https://criticadesapiedada.com.br/2020/08/19/estalinismo-canavieiro-capitalismo-de-estado-e-desenvolvimento-em-cuba-intransigence/), der wir genau diese biografischen Elemente des Autors entnommen haben, die auf dieser Website ausführlicher dargestellt werden.

Vamos Hacia la Vida


Zuckerrohrstalinismus: Staatskapitalismus und Entwicklung in Kuba

Nationen können sich ebenso wenig wie Individuen den Imperativen der Kapitalakkumulation entziehen, ohne das Kapital zu unterdrücken.“ Grandizo Munis, Pro Zweites Kommunistisches Manifest1.

Das offizielle Narrativ über die Art der Veränderungen in der Ökonomie und der Gesellschaft im Allgemeinen, die von der kubanischen Regierung nach der sogenannten „Revolution“ von 1959 eingeführt wurden, lautet, dass die Agrarreform und die anschließende Verstaatlichung der Ökonomie – d.h. die Übertragung des Eigentums an den Produktionsmitteln von privaten Kapitalisten auf den Staat – Kuba auf den Weg zum Sozialismus gebracht haben. Diese Ansicht vertrat der französische Agrarwissenschaftler Rene Dumont, der als Berater der neu gebildeten „sozialistischen“ Regierung in Fragen der ökonomischen Entwicklung fungierte. Seitdem haben sich auch andere linke Akademiker ernsthaft mit der kubanischen Ökonomie beschäftigt. Samuel Farber sticht unter denjenigen, die sich kritisch mit der kubanischen Ökonomie auseinandergesetzt haben, als der intellektuell rigoroseste und konsequenteste heraus. Sein Buch über die kubanische Gesellschaft nach dem Triumph der Barbudos über die Batista-Diktatur ist zwar nicht unproblematisch, bietet aber einen wertvollen Einblick in das Innenleben des stalinistischen Systems in seiner kubanischen Ausprägung. Farber verteidigt die Theorie des „bürokratischen Kollektivismus“ und argumentiert, dass Kuba zwar nicht sozialistisch ist, weil die arbeitenden Massen keine wirkliche Kontrolle über die Ökonomie haben, dass es aber auch nicht als kapitalistisch bezeichnet werden kann, weil die Verstaatlichung der Produktionsmittel den Wettbewerb zwischen den Unternehmen angeblich unmöglich macht. Stattdessen argumentiert er, dass es sich in Kuba um eine qualitativ neue Klassengesellschaft handelt, die auf der autokratischen Herrschaft einer parasitären, in den Staatsapparat eingebetteten Bürokratie beruht, deren Beherrschung von Ökonomie und Gesellschaft generell jeden Versuch der Unternehmen vereitelt, ihre eigenen ökonomischen Interessen zu verfolgen2.

Obwohl seine Schlussfolgerungen grundverschieden sind, sind sich die Verfechter „sozialistischer“ und „nicht-sozialistischer, nicht-kapitalistischer“ (im Folgenden NS-NK) Theorien über Kuba und andere verstaatlichte Gesellschaften darin einig, dass die Verstaatlichung privater Unternehmen eine teilweise oder sogar absolute Negation des Kapitalismus und seiner Antriebsgesetze darstellt. Diese Auffassung, deren unglückliche Genealogie auf die „sozialistisch-staatlichen“ Ideen von Ferdinand Lassalle und seinen Anhängern in der Ersten Internationale zurückgeht, hat keine Grundlage in der von Marx und Engels ausgearbeiteten Theorie des Sozialismus. Für letztere bedeuteten Staatsmonopole nicht die Negation der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, sondern deren Verschärfung3. Sie bestanden sogar darauf, dass der Übergang zum Sozialismus zwangsläufig eine fortschreitende Schwächung oder „Auslöschung“ des Staatsapparats mit sich bringen würde. Im Folgenden wird eine kritische Analyse der oben genannten Theorien versucht, die sich auf einen methodisch marxistischen Ansatz stützt und sich offen für die Selbstemanzipation der Arbeiterinnen und Arbeiter einsetzt. Außerdem wird dargelegt, dass das „sozialistische“ Kuba in Wirklichkeit eine Gesellschaft ist, die auf Lohnarbeit und Kapitalakkumulation basiert. Die charakteristischen Merkmale dieser Gesellschaft, die wir als „Staatskapitalismus“ bezeichnen werden, sind die übermäßige Konzentration des Kapitals im Staat und die kollektive Ausübung der Kontrolle über die Produktionsmittel durch eine Staatsbourgeoisie.

Wie bei so vielen Intellektuellen der Neuen Linken ist auch bei Dumont nicht ganz klar, was er mit „Sozialismus“ meint. Wenn das Gesindel der Monthly Review, mit dem er verkehrte, ein Anhaltspunkt ist, dann können wir sicher davon ausgehen, dass der Staat in seiner Vorstellung eine zentrale Rolle spielt. Da er uns jedoch nicht einmal einen kurzen Abriss oder eine Arbeitsdefinition liefert, müssen wir seine Sichtweise anhand einiger Beobachtungen entschlüsseln, die in seinem Bericht über die Umgestaltung der kubanischen Ökonomie in Richtung des sowjetischen Modells verstreut sind. So stellt er beispielsweise die „sozialistische Planung“ der „unsichtbaren Hand des Profits“ gegenüber, die das Kapital dort verteilt, wo die Profitrate am höchsten ist. Im Gegensatz dazu sagt er, dass eine sozialistische Ökonomie das anarchische „Gesetz des Marktes“ durch den Willen des zentralen Planers ersetzen wird, obwohl er nirgends spezifiziert, was das Wirken eines solchen Gesetzes bedeutet oder wie es sich konkret in der gesellschaftlichen Produktion manifestiert4. Stattdessen langweilt Dumont seine Leser mit unaufhörlichen und ermüdenden Anekdoten, in denen er Unternehmensmanagern und staatlichen Buchhaltern vorwirft, dass sie ihre Pläne improvisiert und Produktionsziele auf der Grundlage falscher oder sogar erfundener Zahlen festgelegt haben. All das, so erklärt er, verhindert, dass eine Planwirtschaft richtig funktioniert5. Leider endete seine Untersuchung über das Scheitern der Wirtschaftsplanung in Kuba genau hier. Farber beweist ein hervorragendes Verständnis für die wahre Tiefe des Problems, indem er Ineffizienz, mechanische Pannen und Verschwendung im System als logische Folge der hierarchischen Organisation der Produktion identifiziert. So argumentiert er, dass das Fehlen einer echten Rückkopplung, die für die ökonomische Planung in jedem System unabdingbar ist, und die mittelmäßige Produktivität trotz chronischer Überbesetzung auf unzureichende oder nicht vorhandene materielle Anreize und die transparente Trennung von Produzenten und Arbeitsinstrumenten zurückzuführen sind6.

Diese Erklärung mag auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen. Schließlich sind die Arbeiterinnen und Arbeiter in den traditionellen kapitalistischen Ländern auch über die Produktionsmittel enteignet. Dennoch stehen den Unternehmensmanagern in beiden Systemen unterschiedliche Instrumente zur Verfügung, um ihre Untergebenen zu disziplinieren. Während Arbeiterinnen und Arbeiter in traditionellen kapitalistischen Ländern unter Androhung von Arbeitslosigkeit gezwungen werden können, ein bestimmtes Produktivitätsniveau aufrechtzuerhalten, sind ihre Kolleginnen und Kollegen in Kuba durch eine Bestimmung in der kubanischen Verfassung vor Langzeitarbeitslosigkeit geschützt, die Beschäftigung als ein Grundrecht der Staatsbürgerschaft festschreibt7. Infolgedessen sind die Unternehmensmanager oft gezwungen, ein gewisses Maß an Faulheit und sogar Fehlzeiten bei ihren Beschäftigten zu tolerieren, um die Produktionsquoten zu erfüllen, die ihnen von ihren Vorgesetzten in der bürokratischen Befehlskette auferlegt werden. Soweit es in Kuba eine ökonomische Planung gibt, hat sie also immer schlecht und uneinheitlich funktioniert. Tatsächlich werden die endgültigen Produktionsziele in den verschiedenen Industriezweigen und Unternehmen so häufig revidiert, dass es so etwas wie einen „Plan“ eigentlich gar nicht gibt. Diejenigen, die eine „sozialistische“ oder „NS-NK“-Perspektive vertreten, verweisen häufig auf die Beschäftigungsgarantie als unwiderlegbaren Beweis für die Nichtexistenz eines Arbeitsmarktes in Kuba. Manche argumentieren sogar, dass es in Kuba und ähnlichen Ländern keine Arbeiterklasse gibt, da die Arbeiterinnen und Arbeiter angeblich nicht die von Marx beschriebene doppelte Freiheit genießen – d.h. die „Freiheit“, ihre Arbeitskraft an einen Arbeitgeber zu verkaufen, und die „Freiheit“ aller Produktionsmittel -. Es ist unmöglich, diese Interpretation mit den Tatsachen in Einklang zu bringen. Erstens kann ein Arbeiter oder eine Arbeiterin in Kuba entlassen werden, wenn er oder sie wiederholt geringfügige Vergehen begeht oder sich an Aktivitäten beteiligt, die als subversiv gelten8. Dies ist jedoch unüblich, da ein Verstoß dieser Größenordnung in der Personalakte erscheint und zukünftige Beschäftigungsmöglichkeiten einschränkt9. Es ist auch bekannt, dass die Fluktuationsrate in staatskapitalistischen Ländern wie Kuba höher ist als in traditionellen kapitalistischen Ländern, was zeigt, dass Arbeit in Kuba gekauft und verkauft werden kann10.

Die konventionelle Weisheit der Linken behauptet, dass staatliche Planung in die unbewussten Marktkräfte eingreift, die die Produktion im Kapitalismus steuern. Der intellektuelle Erstgeborene dieser Idee ist der heterodoxe Stalinist Paul Sweezy. Obwohl sein Konzept alles andere als originell war, war Sweezy sicherlich einer der ersten, der dieses Sakrileg gegen den Marxismus systematisierte und es einem Publikum von selbsternannten „Radikalen“ und Intellektuellen in der englischsprachigen Welt präsentierte. Seine Theorie bildet einen Großteil des konzeptionellen Rahmens, der die „sozialistischen“ und „NS-NK“-Interpretationen untermauert, daher müssen wir seine Grundannahmen untersuchen. Laut Sweezy ist alles, was nötig ist, um das „Wertgesetz“ zu beseitigen – d. h. den sozialen Mechanismus, der den Austausch von Waren im Kapitalismus entsprechend der durchschnittlich für ihre Produktion benötigten Zeit regelt -, dass die staatliche Planung die Marktkräfte als wichtigstes Mittel zur Mobilisierung der Produktionsfaktoren ablöst11. Die Funktionsweise der heutigen kapitalistischen Gesellschaft reicht aus, um die Falschheit dieser These zu beweisen. Das Wertgesetz koexistiert heute mit staatlicher Planung in Form von importsubstituierender Industrialisierung, Investitionsanreizen und Subventionen für private Unternehmen, staatlicher Verwaltung von öffentlichen Versorgungsbetrieben und Großindustrien, Managementplanung (vgl. französischer Dirigismus) und Kontrolle des Geld-Kapitalflusses durch zentralisierte Banken. Die „entwicklungsorientierten“ Regierungen der Dritten Welt haben mehrere dieser Strategien angewandt, um sich Vorteile gegenüber ihren Konkurrenten auf dem Weltmarkt zu verschaffen und so die einheimischen Industrien zu stärken, bis sie in der Lage sind, international zu konkurrieren12. Der Zweck staatlicher Planung ist überall derselbe: Es geht darum, ein gewisses Maß an Regelmäßigkeit und Einheitlichkeit in die Ökonomie einzubringen, wo dies sonst nicht der Fall wäre, um das Erreichen bestimmter Ziele zu erleichtern und die Auswirkungen konjunktureller Krisen abzumildern. Die Notwendigkeit, die anämische Profitrate in den traditionellen kapitalistischen Ländern wiederherzustellen, führte zum Beispiel zu einem institutionellen Arrangement, das als „gemischte Ökonomie“ bekannt ist und bei dem der Staat mit einer Kombination aus „Zuckerbrot und Peitsche“, fiskalischen Anreizen und sogar direkten ökonomischen Interventionen die Kapitalinvestitionen und die Produktion auf die gewünschten Ziele ausrichtet. In den Vereinigten Staaten, dem Land des marktwirtschaftlichen Kapitalismus schlechthin, sind die Staatsausgaben als Prozentsatz des BIP seit 1970 auf 43 % gestiegen, während dieser Wert im gleichen Zeitraum nie unter 34 % gefallen ist, was darauf hindeutet, dass der Staat zu jeder Zeit zwischen einem Drittel und zwei Fünfteln der Ökonomie kontrolliert13. Auch wenn die US-Regierung den Unternehmen nicht vorschreibt, wie viel oder was sie produzieren sollen, so betreibt sie doch eine Form der Planung, bei der bestimmte Produktionsformen gegenüber anderen bevorzugt werden, indem sie die Gewinne aus den profitableren Wirtschaftssektoren durch Besteuerung und Defizitfinanzierung (d. h. Steuerstundungen) an die Bedürftigen umverteilt. Wir sehen also, dass die staatliche Planung die Märkte nicht zerstört, sondern zu ihrem Erhalt unerlässlich geworden ist.

Als soziales Gebilde hat das Kapital eine doppelte Existenz: eine phänomenale Existenz als eine Vielzahl unabhängiger ökonomischer Einheiten und eine essentielle Existenz als soziales Gesamtkapital, d. h. die Summe der Kapitalien in ihren dynamischen Wechselbeziehungen. Das gesamte Sozialkapital manifestiert sich ausschließlich durch seine einzelnen Fragmente. Diese Fragmente sind jedoch nur in einem relativen Sinne unabhängig voneinander und vom Gesamtsozialkapital, denn ihre Existenz setzt die Existenz beider voraus14. Stellen wir uns vor, dass das Kapital ein elektronischer Schaltkreis ist, während die einzelnen Fragmente die Knotenpunkte sind. Die Knotenpunkte sind ein integraler Bestandteil des Schaltkreises: Ohne sie gibt es keinen Schaltkreis und umgekehrt. Jeder Knotenpunkt ist Teil des gesamten Stromkreises und damit abhängig von ihm. Die einzelnen Knoten können näher oder weiter voneinander entfernt sein – oder, im Falle des Kapitals, mehr oder weniger konzentriert – aber sie können nicht außerhalb des Kreislaufs, außerhalb des Ganzen, existieren. Wendet man das gleiche Konzept auf die Lohnarbeit an, erhält man wichtige Erkenntnisse. Arbeiterinnen und Arbeiter in einer kapitalistischen Gesellschaft sind „frei“ in Bezug auf die einzelnen Kapitale, an die sie ihre Arbeitskraft verkaufen, während sie an das gesamte gesellschaftliche Kapital als dessen Zubehör gebunden sind. Tatsächlich bedeutet allein das Vorhandensein von Lohnarbeit, dass es einen Wettbewerb zwischen Unternehmen gibt, denn dies setzt ökonomische Einheiten voraus, die über genügend Autonomie verfügen, um unabhängige Entscheidungen über die Beschäftigung zu treffen15. Die Übertragung der Produktionsmittel auf eine einzige Einheit – was wir oben als „Hyper-Konzentration“ des Kapitals bezeichnet haben – hat den Wettbewerb in Kuba nicht ausgelöscht. Sie hat lediglich die juristisch-rechtliche Form des Privateigentums vom individuellen (privaten) Eigentum zum Staatseigentum verändert. Die Produktionsmittel bleiben das Klasseneigentum der Staatsbourgeoisie und das Nichteigentum der Arbeiterinnen und Arbeiter. Erklären wir es mit unserer Metapher des elektronischen Schaltkreises: Die Verstaatlichung der Unternehmen in Kuba hat die einzelnen Knotenpunkte des Schaltkreises, d. h. die Fragmente des gesamten gesellschaftlichen Kapitals, näher zusammengebracht, aber der Schaltkreis als solcher bleibt intakt. Die Gegner der Staatskapitalismustheorie und auch einige Befürworter, wie die Cliffites, behandeln Kuba und die anderen verstaatlichten Länder als eine einzige Produktionseinheit16. Die These von der „Riesenfabrik“ ist vor allem deshalb attraktiv, weil sie die Analyse dieser Gesellschaften überschaubarer macht, indem sie mehrere komplexe Phänomene zu einem einzigen Untersuchungsgegenstand verdichtet. Dabei wird von einem funktionalen Monolithismus ausgegangen, bei dem sich die einzelnen Elemente der gesellschaftlichen Gesamtheit wie Teile eines harmonischen und undifferenzierten Ganzen verhalten. Eine genauere Betrachtung unsererseits wird zeigen, dass diese Annahme völlig ungerechtfertigt ist.

Solange die gesamte gesellschaftliche Produktion funktional in eine Vielzahl von wechselseitig autonomen und konkurrierenden Unternehmen aufgespalten ist, besteht Wettbewerb. Zwei Kriterien sind nötig, um die relative organisatorische Trennung der Unternehmen nachzuweisen, und sie kann nur relativ sein. Das erste ist das Vorhandensein eines Arbeitsmarktes. Das zweite ist der Austausch von Produkten zwischen diesen Unternehmen in Form von Geld- und Handelswaren17. Es wurde bereits festgestellt, dass die Unternehmen in Kuba unabhängige Arbeitgeber von Arbeitskräften sind. Aber sie konkurrieren auch im marxistischen Sinne miteinander, d. h. sie konkurrieren als Käufer und Verkäufer von Waren miteinander. Wir wissen, dass dies der Fall ist, weil ihre Produkte gegen Geld getauscht werden, anstatt direkt angeeignet und physisch verteilt zu werden. In einem Bericht der CEPAL (Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik – eine regionale Unterabteilung der UN) über den Zustand der kubanischen Ökonomie während der Sonderperiode vor den Marktreformen Ende der 1990er Jahre heißt es: „Die Unternehmen des traditionellen Sektors verkaufen zu regulierten Preisen, werden häufig steuerlich und zolltechnisch bevorzugt behandelt und kaufen einen Großteil ihrer Vorleistungen mit Subventionen ein, um die Defizite zu decken, die durch den Verkauf zu subventionierten Preisen entstehen“. Weiter heißt es in dem Bericht: „Der Hersteller handelbarer Güter agiert auf internationalen oder nationalen Märkten und ist nicht verpflichtet, Vorleistungen auf dem heimischen Markt zu kaufen.“18 Mit anderen Worten, kubanische Unternehmen produzieren Waren, die sie dann auf inländischen und/oder ausländischen Märkten verkaufen; sie kaufen Rohstoffe sowie Zwischen- oder Halbfertigwaren untereinander und von ausländischen Unternehmen; und schließlich sind ihre Transaktionen, ob schriftlich oder in bar, Tauschgeschäfte, bei denen Geld als Wertmaßstab und Zirkulationsmittel fungiert. Man könnte argumentieren, dass diese Transaktionen reine Formalitäten sind, weil der Staat die Produktionsmittel besitzt. Eine andere Möglichkeit, diese These zu bekräftigen, wäre, dass der Prozess, den wir gerade beschrieben haben, zwar die Form eines Warentauschs hat, aber inhaltlich anders ist, weil der rechtliche Rahmen des Staatseigentums die Unternehmen in Kuba daran hindert, sich autonom zu verhalten. Das wirft jedoch die Frage auf, warum die Produkte menschlicher Arbeit überhaupt gegen Geld getauscht werden müssen bzw. den Anschein erwecken, dass sie getauscht werden. Die Antwort ist natürlich, dass der Staat von der Rentabilität der gesamten Ökonomie abhängt und damit die Unternehmen dazu zwingt, für ihre eigenen Finanzen verantwortlich zu sein, was sie zu unabhängigen Einheiten mit konkurrierenden ökonomischen Interessen macht. Die Befürworter der „sozialistischen“ und „NS-NK“-Theorien bestreiten auch, dass es in Kuba Wettbewerb gibt, weil der Staat unrentable Unternehmen zulässt. Es ist zwar üblich, dass Staaten einheimische Unternehmen – sogar ganze Branchen – unterstützen, indem sie deren Verluste übernehmen, aber nichts an dieser Regelung ist unvereinbar mit der Existenz von Wettbewerb und Warenaustausch. Die idealisierte Version des Kapitalismus als rein freier Markt mit nur den geringsten Eingriffen des Staates, die diese Menschen als Vergleichsmaßstab heranziehen, gibt es nur in Büchern. Sie widerspricht auch den Erfahrungen, die der Kapitalismus in den letzten anderthalb Jahrhunderten gemacht hat und die voll von Beispielen für staatliche Eingriffe in das „normale“ Funktionieren der Märkte sind. Das Ungewöhnlichste an der Art von Kapitalismus, die sich in Kuba etabliert hat, ist, dass alle Gewinne und Verluste an den Staat zurückfließen, der den Restbetrag unter den verschiedenen Branchen umverteilt. Auf diese Weise werden viele nicht lebensfähige Sektoren und Unternehmen künstlich am Leben erhalten. Allerdings können die zentralen Planer die Insolvenz nur bis zu einem gewissen Punkt tolerieren. Sie haben keinen Freibrief, Geld nach Belieben umzuverteilen, zumindest nicht unbegrenzt, da dies die Gesamtmenge des für die Kapitalbildung verfügbaren Geldes verringern und Kubas Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt untergraben würde. Das Gleiche könnte man über die Rohstoffpreise in Kuba sagen, denn sie müssen die Weltmarktpreise für Rohstoffe widerspiegeln, sonst kosten sie den kubanischen Staat Geld, wenn sie sich zu weit oder zu lange entfernen. Kurz gesagt, dieselben Mechanismen, die in den traditionellen kapitalistischen Ländern Arbeit und Kapital entsprechend den Erfordernissen der Verwertung mobilisieren, treten auch im Staatskapitalismus in Erscheinung, wenn auch in einer sehr verzerrten Form. Anstatt diese Mechanismen ganz abzuschaffen, zwingt der globale Wettbewerb den Staat dazu, eigene Mechanismen einzuführen, um bewusst (und weniger effizient) zu versuchen, das zu tun, was der Markt unbewusst tut19.

Die Kapitalakkumulation bzw. die erweiterte Reproduktion der Produktionsmittel ist das einzige Ziel der Produktion im Kapitalismus. Das liegt daran, dass, wie Marx erklärte, „die Entwicklung der kapitalistischen Produktion die ständige Vermehrung des in einem Industrieunternehmen angelegten Kapitals zu einem Gesetz der Notwendigkeit macht … sie zwingt [den Kapitalisten], sein Kapital ständig zu vermehren, um es zu erhalten, und er hat kein anderes Mittel, es zu vermehren, als die fortschreitende Akkumulation“20. Im Kapital gab Marx die Formel für die kapitalistische Reproduktion an: c + v + m, wobei c für das konstante Kapital oder Sachkapital, v für das variable Kapital oder den Lohn und m für den Mehrwert oder den Profit steht21. Die Masse des Mehrwerts lässt sich in zwei Teile aufteilen, von denen einer für den kapitalistischen Konsum und der andere für die Akkumulation bestimmt ist. Bezeichnen wir sie als k (kapitalistischer Konsumfonds) und a (Akkumulationsfonds), so dass die Masse des Mehrwerts M = k + a ist. Im Kapitalismus hängt das Wachstum von c direkt von der Menge von a ab, während v nicht zunimmt, außer in dem Maße, in dem es notwendig wird, zusätzliche Arbeitskräfte zu beschäftigen, um die erweiterte Kapitalmasse c in Betrieb zu nehmen. Im Gegensatz dazu würde in einer sozialistischen Gesellschaft das Wachstum von c ausschließlich von den Bedürfnissen von v, dem Reproduktionsbedarf der Bevölkerung, abhängen, während M und seine Bestandteile k und a denjenigen, die sie benötigen, in Form zusätzlicher konsumfähiger Produkte zur Verfügung stehen würden22. In Kuba, wie auch in allen anderen staatskapitalistischen Ländern, hängt jede Erhöhung des Arbeitsfonds, der die gesamte Arbeiterklasse unterstützt, v, direkt von der Vergrößerung von c, der Masse der Produktionsmittel, und des Akkumulationsfonds, a, ab, der sein Wachstum speist23. Die Nationalisierung von Industrien beseitigt nicht das Kapital und seine Akkumulation. Vielmehr beschleunigt sie die dem Prozess der Kapitalakkumulation bereits innewohnenden Tendenzen: 1) die Konzentration des Kapitals, die Marx als „Enteignung einiger Kapitalisten durch andere“ bezeichnete, und 2) die „Vergesellschaftung“ der Produktion, d. h. die Tendenz, dass die verschiedenen Industriezweige voneinander abhängig werden24. Beide dienen dazu, die Produktivität der Arbeit – also die Rate, mit der der Mehrwert aus der Arbeiterklasse herausgezogen wird – zu erhöhen, indem die organische Zusammensetzung des Kapitals (Verhältnis von c zu v) gesteigert wird. Die Nationalisierung von Industrien erreicht dies durch die Konzentration von Kapital in größeren und effizienteren Unternehmen aufgrund von Skaleneffekten, eine Dynamik, die die Produktionskosten pro Einheit senkt, wenn die industrielle Produktion expandiert. Andererseits harmonisiert die Vergesellschaftung der Produktion die verschiedenen Industriezweige und minimiert „Engpässe“, d.h. Ungleichgewichte in der Produktion entlang der einzelnen „Glieder“ der Produktionskette. Kurz gesagt, das Ziel der Produktion in Kuba bleibt die Kapitalakkumulation durch Profit. Das gesetzliche Monopol, das der kubanische Staat über die Arbeitsinstrumente ausübt, hat die gesellschaftliche Organisation der Produktion in keiner Weise verändert, denn „das Recht kann niemals über der ökonomischen Struktur der Gesellschaft stehen“25.

Die Anführer der Regierung, die 1959 an die Macht kam, waren zumindest anfangs optimistisch, dass Kuba in der Lage sein würde, sich von seiner Abhängigkeit vom Zucker zu befreien und seine Ökonomie zu diversifizieren. Sie stellten Marx auf den Kopf und argumentierten, dass es für den Aufbau des Sozialismus notwendig sei, die ökonomische Basis Kubas zu entwickeln, d.h. das Kapital schneller zu akkumulieren, indem man die Arbeiterinnen und Arbeiter einer verstärkten Ausbeutung aussetzt. Die US-Wirtschaftsblockade gegen Kuba führte zu einem Mangel an grundlegenden Konsumgütern und Ersatzteilen für bestehende Maschinen, die größtenteils aus den Vereinigten Staaten kamen. Da es keine alternative Quelle für Ersatzteile gab, wandte sich die neue Regierung an die andere imperialistische Großmacht, die Sowjetunion, und bat um ökonomische Unterstützung, die auch sofort gewährt wurde. Die Russen schickten Maschinen nach Kuba, aber die Industrialisierung stieß bald auf einige technische Probleme: Die „Zwischentechnologie“, die in der UdSSR und ihren Satellitestaaten produziert wurde, war schwerfällig und ineffizient und mit einem Großteil der bereits auf der Insel vorhandenen Ausrüstung nicht kompatibel. Kuba musste modernere Maschinen aus Westeuropa oder Japan importieren. Diese konnten jedoch nur mit Dollar gekauft werden, und der schnellste und zuverlässigste Weg, an Dollar zu kommen, war der Export von Zucker. Außerdem musste Kuba, obwohl es von den Russen viel Hilfe erhalten hatte, immer noch die enormen Importrechnungen bezahlen, die sich angehäuft hatten. Auch das konnte es nur durch den Verkauf von Zucker tun26. Der gleiche Prozess, der den kubanischen Staat in den Jahren zuvor dazu brachte, sich sozusagen auf die Zuckerproduktion als Haupteinnahmequelle festzulegen, gipfelte Ende der 1960er Jahre in dem Bestreben, zehn Millionen Tonnen Zucker zu ernten. Die Russen boten Kuba einen garantierten Markt für seine gesamte Zuckerproduktion, so wie es die Vereinigten Staaten bis 1960 (dem Jahr, in dem die Wirtschaftsblockade in Kraft trat) im Rahmen des Gegenseitigkeitsvertrags von 1902 getan hatten27. Da Kuba eine Einzelexportwirtschaft ist, war es schon immer auf einen imperialistischen Sponsor mit einem viel größeren Inlandsmarkt angewiesen, um seine Produktion aufzunehmen. Vor 1960 hatten die Amerikaner diese Rolle übernommen, und nun war die Sowjetunion an der Reihe. In beiden Fällen war der politische Preis, den Kuba zu zahlen hatte, sehr hoch. Die Amerikaner verlangten einen Marinestützpunkt auf souveränem kubanischem Territorium und das Recht, militärisch einzugreifen, um ihre ökonomischen Interessen zu verteidigen, während die Russen verlangten, dass Kuba in verschiedenen bewaffneten Konflikten auf der ganzen Welt als ihr Spielball dient. 1966 handelte Kuba ein lukratives Handelsabkommen mit der Sowjetunion aus, um ihr in den Jahren 1968-69 fünf Millionen Tonnen Zucker zu überhöhten Preisen zu verkaufen, aber die Gesamtproduktion blieb hinter der Quote zurück und betrug im Durchschnitt nur 3,7 Millionen Tonnen in jedem Jahr. Trotz dieses Misserfolgs waren die neuen Machthaber entschlossen, Kuba in eine Industriemacht zu verwandeln, und setzten sich ein noch ehrgeizigeres Ziel, das als Allheilmittel für die ökonomischen Probleme des Landes gedacht war: Kuba sollte den Gesetzen der Natur und der Ökonomie trotzen, indem es seine Produktion innerhalb eines einzigen Jahres verdreifachte und eine Zuckerernte von zehn Millionen Tonnen erzielte. Die Russen würden die 5 Millionen Tonnen zu dem Preis kaufen, der in ihrem Handelsabkommen mit Kuba festgelegt ist, und weitere 2 Millionen Tonnen würden auf dem Weltmarkt zum Durchschnittspreis verkauft, während die restlichen 3 Millionen Tonnen auf dem heimischen Markt an Verbraucher und Unternehmen verkauft würden. Der kubanische Staat, der zum großen Teil von der Partei und ihren gewerkschaftlichen/syndikalistischen Anhängseln unterstützt wurde, startete eine militärisch anmutende Kampagne, um das ganze Land zu mobilisieren, damit das Produktionsziel erreicht wird. Die Bemühungen waren letztlich erfolglos, und die Desorganisation, die die Kampagne in den anderen Wirtschaftszweigen verursachte, hatte dauerhafte Auswirkungen, von denen sich Kuba, so kann man behaupten, noch immer nicht erholt hat. Letztendlich wurden alle Pläne, Kuba im Eiltempo zu industrialisieren, wie es Stalin mit Russland in den ersten beiden Fünfjahresplänen getan hatte, durch die ökonomischen Realitäten der Zeit nach dem Putsch von 1959 sabotiert. Kuba hörte damit auf, die Zuckerkolonnie der Nordamerikaner zu sein, um zum Vasall der Sowjetunion zu werden28.

Die Agrarreformen wurden als das Herzstück des „sozialistischen“ Projekts in Kuba angepriesen. In Wirklichkeit dienten sie jedoch als eine Form der primitiven kapitalistischen Akkumulation und verwandelten die Bauernschaft in eine Klasse von landwirtschaftlichen Lohnarbeitern. Die Parallelen zwischen diesem Prozess und der angeblichen „primitiven sozialistischen Akkumulation“ in Stalins Russland, die zu dem Unsinn der „sozialistischen Marktproduktion“ führen sollte, sind bemerkenswert. Die staatlichen Farmen, die in Kuba durch die Zusammenlegung von Bauernland oder durch die Aufteilung von Großgrundbesitz entstanden sind, arbeiten heute als kommerzielle Farmen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter dieser verherrlichten kapitalistischen Unternehmen, die zynisch als „Volksfarmen“ (Granjas del pueblo) bezeichnet werden, erhalten einen winzigen Bruchteil des Gesamtertrags der Ernte, v, der kaum zum Überleben reicht, während der kapitalistische Staat die überschüssigen Produkte, pl, auf den nationalen Märkten verkauft und so seinen Gewinn macht29. Die von oben nach unten verlaufende Verwaltungsstruktur dieser Unternehmen, die auf verstaatlichten Eigentumsverhältnissen beruht, und die fehlende Kontrolle über die Verteilung des entstehenden Produkts werden vom Staat als großer Hemmschuh für die Produktivität angesehen, obwohl es gar nicht anders sein könnte30. Jedes Maß an echter Kontrolle über die Ökonomie, das von den Direktproduzenten ausgeübt wird, bedroht nicht nur das Tempo der Kapitalakkumulation, sondern auch die funktionale Integrität des kubanischen politischen Systems, das auf einem überwältigenden Militarismus beruht und daher nicht toleriert werden kann. Private Bauern und Bäuerinnen sind als Kleinproduzenten und -produzentinnen mit Nießbrauchsrechten (aber nicht Eigentumsrechten) an den Böden in den Nexus der Mehrwertproduktion eingebunden. In der Praxis können sie jedoch nicht frei über das Produkt ihrer Arbeit verfügen, sondern müssen es über die staatlichen Sammelstellen zu festen Preisen an den Staat verkaufen, was einer Akkordarbeit gleichkommt31. So ungewöhnlich es auch erscheinen mag, ihre Situation ist typisch für die der kubanischen Arbeiterinnen und Arbeiter: Sie sind einer rücksichtslosen Ausbeutung ausgesetzt, die keine Grenzen kennt, nicht einmal die der menschlichen Physiologie; sie werden von einer allgegenwärtigen Staatsmaschinerie völlig ruhiggestellt und jeglicher Autonomie beraubt; sie werden ständig von der Polizei, den CDRs (Komitees zur Verteidigung der Revolution – Comités de Defensa de la Revolución) und am Arbeitsplatz von den Gewerkschaften/Syndikate überwacht, die auch eine organisatorische Rolle im kubanischen Staatskapitalismus spielen; sie haben kein Recht, sich zu organisieren oder zu sprechen; sie sind den Launen der Staatsbourgeoisie ausgeliefert usw. In keinem anderen Land wird die Arbeiterklasse so dominiert wie in Kuba, was die kubanische Regierung unmissverständlich als Hauptattraktion für ihre potenziellen Joint-Venture-Partner bewirbt. In einer Studie des Brookings-Instituts, einer kapitalistischen Denkfabrik, wurde festgestellt, dass „die kubanische Konföderation der Kubanischen Arbeiter (Confederación de Trabajadores Cubanos) und die Kommunistische Partei zwar in den Unternehmen verankert sind, diese Organisationen aber in der Regel mit den Produktionszielen des Unternehmens und der angeschlossenen staatlichen Stellen übereinstimmen“, so dass „die Unternehmensleitung keine Angst vor militanten Streiks oder Arbeitsniederlegungen haben muss“32. Der zutiefst reaktionäre Charakter der Gewerkschaften/Syndikate ergibt sich aus der Rolle, die sie im Kapitalismus als Regulierungsinstanz für den Kauf und Verkauf von Arbeitskraft spielen. Sie haben ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Lohnarbeitssystems, weil ihre Existenz davon abhängt. Das hat dazu geführt, dass sie als Hilfsorgane in den kapitalistischen Staat integriert wurden, ein Prozess, der in staatskapitalistischen Ländern wie Kuba seinen höchsten Ausdruck findet33. Aber anders als in anderen kapitalistischen Ländern geben die kubanischen Gewerkschaften/Syndikate nicht einmal vor, Arbeiterinnen und Arbeiter zu vertreten oder in ihrem Namen mit den Arbeitgebern zu verhandeln. Sie sind ganz offensichtlich staatliche Organe, die die Aufgabe haben, Arbeitsdisziplin durchzusetzen und die Produktion zu steigern34.

Alle Maßnahmen, die die kubanische Regierung seit 1959 ergriffen hat und die von der Staatsbourgeoisie und ihren internen und externen Unterstützern als konkrete Beweise für ihren „revolutionären“ und „arbeiterfreundlichen“ Charakter angeführt werden, hatten Hintergedanken und wurden mit dem Ziel durchgeführt, den Kapitalismus auf der Insel zu stärken. Das vielleicht beste Beispiel, das diesen Punkt am besten veranschaulicht, ist die erfolgreiche Kampagne der kubanischen Regierung zur Ausrottung des Analphabetismus. Dies ist eines der bleibenden Vermächtnisse des kubanischen Staatskapitalismus und etwas, auf das die Regierung immer wieder zurückgegriffen hat, um ihre Existenz aus moralischer Sicht zu rechtfertigen. Kuba, so heißt es, war ein rückständiges Land mit einer unterentwickelten Ökonomie, das in einer parasitären Beziehung zu seinem nördlichen Nachbarn gefangen war, aber die Revolution hat ihm seine Unabhängigkeit gegeben und es zum Neid von ganz Lateinamerika gemacht. Was diese Leute nicht sehen oder nicht sehen wollen, ist, dass alle Errungenschaften der sogenannten „Revolution“ kategorisch kapitalistische Maßnahmen waren. Ihr Ziel war es nie, den Lebensstandard der kubanischen Arbeiterinnen und Arbeiter zu verbessern, sondern das kubanische Nationalkapital zu vermehren und so eine höhere Ausbeutungsrate (pl zu v-Verhältnis) durch bessere Nutzung der bereits vorhandenen Technologie zu erreichen. Als sich die Beziehungen zu den USA verschlechterten, beschloss Kuba, sich mit der Sowjetunion zu verbünden, und dem Land gingen in der Folge die qualifizierten Arbeitskräfte aus, die es für die Entwicklung seiner Ökonomie benötigt hätte. Die großzügigen Maschinen- und Rohstofflieferungen aus der Sowjetunion stapelten sich auf den Docks, da Kuba weder über das Personal verfügte, um sie zu bedienen, noch über Gebäude, in denen sie gelagert werden konnten35. Um sich zu industrialisieren und damit im globalen Wettbewerb zu bestehen, musste Kuba seine ungebildete Landbevölkerung in Arbeitskräfte verwandeln, die in der Lage waren, einen Mehrwert für den Staat zu erschaffen. Kuba stieß bei seinem Versuch, sich zu industrialisieren, auf unüberwindbare Hindernisse, aber als Restprodukt dieses gescheiterten Prozesses blieben hochqualifizierte Arbeitskräfte übrig. In den letzten Jahren ist der Export von Humankapital zur Haupteinnahmequelle geworden – anstelle der Zuckerproduktion, die nach dem Fall der Sowjetunion wegen des Verlusts eines garantierten Marktes zusammenbrach -, während Tourismus und Überweisungen aus dem Ausland an zweiter bzw. dritter Stelle stehen. Brasilien zahlt dem kubanischen Staat zum Beispiel 4.000 US-Dollar pro Monat für jeden Arzt, der auf eine „internationalistische Mission“ geschickt wird. Diese Ärzte verdienen im Durchschnitt 400 USD pro Monat36. Die Differenz wird von der Regierung als Mehrwert angeeignet, um Militärausgaben und den Luxuskonsum der Staatsbourgeoisie zu finanzieren, oder sie wird in lukrative kommerzielle Projekte reinvestiert, viele davon in Zusammenarbeit mit ausländischen Kapitalisten. Selbst das „sozialistische“ Gesundheitssystem, das von vielen als seine größte Errungenschaft angesehen wird, dient den Akkumulationsbedürfnissen des kubanischen Kapitals. Für das Kapital ist ein staatliches Gesundheitssystem einem privaten oder Mehrzahlersystem, wie es in den USA existiert, vorzuziehen, weil es der gesamten Kapitalistenklasse ermöglicht, das Geld zur Deckung der Kosten für die Reproduktion der Arbeitskräfte, zu denen auch die Gesundheitsfürsorge gehört, zusammenzulegen, anstatt sie einzeln tragen zu müssen. Da die Arbeiterinnen und Arbeiter dadurch häufiger zum Arzt gehen können und außerdem Zugang zu Präventivmaßnahmen haben, werden auch diese Kosten langfristig gesenkt, ganz zu schweigen von den Arbeitsstunden, die durch Krankheit verloren gehen37. Kurz gesagt, es geht darum, den Arbeiter oder die Arbeiterin nach den Anforderungen der erweiterten Reproduktion zu formen und die Kosten für seine oder ihre Bedürfnisse zu minimieren, um noch mehr Mehrwert zu erzeugen.

Die kapitalistische Ökonomie, ob privat oder staatlich, verlangt ein endloses ökonomisches Wachstum, das jedoch nur durch eine Erhöhung der Ausbeutungsrate oder eine Verringerung des Konsums der Arbeiterklasse erreicht werden kann. Die Staatsbourgeoisie in Kuba hat mit beiden Strategien experimentiert, mit katastrophalen Ergebnissen für die Arbeiterinnen und Arbeiter, deren Lebensstandard in den letzten sechs Jahrzehnten absolut dezimiert wurde. Rechte Dissidenten und linke Aktivisten, sowohl auf der Insel als auch im Ausland, haben ihre Lösungen vorgeschlagen, von denen einige diskussionswürdiger sind als andere, aber alle unter demselben Makel leiden: Sie stellen die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft in keiner Weise in Frage. Der allgemeine Konsens auf der Rechten ist, dass der Befehlsapparat zugunsten eines Freihandelssystems abgebaut und staatliches Eigentum an private Unternehmen oder Einzelpersonen versteigert werden sollte. Weit weniger Einigkeit herrscht jedoch darüber, wie schnell die Entstaatlichung vorangetrieben werden soll (die Erfahrungen Russlands und der ehemaligen Sowjetblockländer sollen als Warnung vor den Gefahren einer „rücksichtslosen Privatisierung“ dienen) und welche Sozialprogramme von der Guillotine verschont bleiben sollen. Die Vorschläge der Linken reichen von der „Selbstverwaltung“ nach jugoslawischem Vorbild, bei der von Arbeiterinnen und Arbeitern geführte Unternehmen in einer Marktwirtschaft konkurrieren, bis hin zum „demokratisierten“ Staatskapitalismus38. Tatsächlich ist einer der häufigsten Kritikpunkte der Linken am Castro-Stalinismus, dass er ungerechterweise alle außer einer Handvoll Menschen von der Entscheidungsfindung ausschließt. Mit anderen Worten: Er ist autoritär und undemokratisch. Diese Kritik verwechselt jedoch die Symptome mit der Krankheit. Der starre und hierarchische Charakter der kubanischen Ökonomie ist eine Nebenwirkung des verstaatlichten Eigentums. Die Umwandlung in individuelles Privateigentum oder die Dezentralisierung mit legalistischen Mitteln würde nichts an ihrem Inhalt ändern. Das Einzige, was sich in diesem Fall ändern würde, wäre die spezifische institutionelle Form des Kapitalismus. In Wirklichkeit laufen alle vorgeschlagenen Lösungen auf kaum mehr als oberflächliche Modifikationen des derzeitigen Systems hinaus, während seine wesentlichen Säulen – Lohnarbeit und Kapitalakkumulation – fest an ihrem Platz bleiben. Es ist bezeichnend, dass alle Faktoren, die als Gründe für solche Veränderungen angeführt werden – z. B. die Verbesserung der Qualität der Rückkopplung, die Beseitigung von Verschwendung, die Steigerung der Produktivität, die Rationalisierung von Unternehmen usw. – auf den strukturellen Zwang zur Vermehrung des nationalen Kapitals zurückzuführen sind. Letztendlich stellt der Links-Rechts-Dualismus nichts anderes als verschiedene Alternativen für die Verwaltung des Kapitalismus dar. Die Arbeiterklasse muss dieses Paradigma in seiner Gesamtheit ablehnen und die sofortige Abschaffung der Lohnarbeit und des Warenaustauschs auf die Tagesordnung setzen, zunächst auf nationaler, dann auf internationaler Ebene. Dazu müssen sich die Ausgebeuteten in Kuba und in allen anderen Ländern als Klasse organisieren, um den kapitalistischen Staat zu stürzen und dieser Repressionsmaschine ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Gleichzeitig müssen sie ihre eigene Machtstruktur aufbauen, die auf Arbeiterräten basiert: Gremien aus demokratisch gewählten und jederzeit widerrufbaren Delegierten. Diese Gremien werden für die Enteignung des Kapitals, die ökonomische Planung und die Überwachung der Ausdehnung des „vergesellschafteten“ Wirtschaftssektors – d. h. des Sektors, der ausschließlich für den Gebrauch produziert – auf alle produktiven Tätigkeiten zuständig sein. Das sind die Aufgaben, die vor uns liegen, und in Kuba, wie auch anderswo, kann nur die Arbeiterklasse sie erfüllen. Die Abschaffung des kapitalistischen Systems, in welcher Form auch immer, ist die unabdingbare Voraussetzung für die vollständige Emanzipation der Menschheit und ihre Wiedergeburt als echte Gemeinschaft.

Emanuel Santos


1Grandizo Munis, “Pro Segundo Manifiesto Comunista”, en Teoría y Práctica de la Lucha de Clases, P. 13.

2Samuel Farber (2011) Cuba Since the Revolution of 1959. Chicago: Haymarket. P. 18-19.

3Federico Engels (2009) Socialism: Scientific and Utopian. New York City: Cosimo Inc. P. 67.

4Rene Dumont (1970) Cuba: Socialism and Development. New York City: Grove Press. P. 110.

5Ibid., P. 111-113.

6Farber, op. cit., P. 55-56.

7Constitución de la República de Cuba. Capítulo VII – Derechos, Deberes y Garantías Fundamentales, artículo 45.

8Código de Trabajo de Cuba, Capítulo VI – Disciplina Laboral, sección III, artículos 158-159.

9Ibid., Capítulo II – Contrato de Trabajo, sección XII, artículo 61.

10Nancy A. Quiñones Chang, “Cuba’s Insertion in the International Economy Since 1990”, en (2013) Cuban Economists on the Cuban Economy. Gainesville: University Press of Florida. P. 91.

11Paul Sweezy (1942) The Theory of Capitalist Development. New York City: Monthly Review Press, 1942. P. 52-54.

12Ha-Joon Chang (2008) Bad Samaritans: The Myth of Free Trade and the Secret History of Capitalism. New York City: Bloomsbury Press. P. 14-15.

13OECD, General Government Spending: Total, % of GDP, 1970-2014.

14Karl Marx (1990) Capital, vol. 2. London: Penguin Classics. P. 427.

15Paresh Chattopadhyay (1994) The Marxian Concept of Capital and the Soviet Experience. Westport: Praeger Publishers. P. 18-20.

16Peter Binns & Mike Gonzales, “Cuba, Castro and Socialism”, en “International Socialism” 2:8 (Spring 1980).

17Chattopadhyay, op. cit., P. 54-55.

18CEPAL (2000) La Economía Cubana: Reformas Estructurales y Desempeño en los Noventa, 2nd ed. Mexico City: Economic Culture Fund. P. 205-206.

19Adam Buick and John Crump (1986) State Capitalism: The Wages System under New Management. New York City: St. Martin’s Press. P. 80-93.

20Karl Marx (1990) Capital, vol. 1. London: Penguin Classics. P. 739.

21Zur Klarstellung: Mehrwert und Profit sind nicht dasselbe. Letzterer leitet sich jedoch vom Mehrwert ab, und für den Zweck unserer Untersuchung haben sie dieselbe Funktion. Daher können wir von ihnen sprechen, als wären sie austauschbar.

22Grandizo Munis, “Partido-Estado, Stalinismo, Revolución” en Revolución y Contrarrevolución en Rusia, P. 78-80.

23Dies soll nur zur Veranschaulichung dienen, denn das Wertgesetz wird im Sozialismus nicht funktionieren und der Tauschwert wird überhaupt nicht existieren.

24Karl Marx, ibid., P. 929-30.

25Karl Marx (2008) Critique of the Gotha Program. Rockville: Wildside Press. P. 26.

26Richard Gott (2005) Cuba: A New History. New Haven: Yale University Press. P. 186-188.

27United States Tariff Commission (1929) The Effects of the Cuban Reciprocity Treaty of 1902. Washington: US Govt. Printing Office. P. 66-67.

28Gott, op. cit., P. 240-243.

29Diese wurden nach der Umstrukturierung des Produktivkapitals im Agrarsektor 1993 in Unidades Básicas de Producción Cooperativa -Basiseinheiten der genossenschaftlichen Produktion umbenannt. Ihre interne Organisation und grundlegende Arbeitsweise sind jedoch dieselben.

30Dumont, op. cit., P. 51-52.

31Ibid., P. 80-85.

32Richard E. Feinberg (2012) The New Cuban Economy: What Roles for Foreign Investment? Washington DC: Brookings Institution. P. 58.

33Grandizo Munis, “Los Sindicatos Contra la Revolución”, en Internacionalismo, Sindicatos, Organización de Clase, P. 85-86., hier und hier auch auf deutsch.

34Farber, op. cit., P. 138-139.

35Dumont, op. cit., P. 77.

36Martin Carnoy, “Cuba’s Biggest Export is Teachers, Doctors – Not Revolution”, “Reuters”, Diciembre 24, 2014.

37Für eine tiefergehende Anaylse des Gesundheitssystems in den Vereinigten Staaten, siehe den Artike von Red Hughs, “Capital’s Health Dilemma”, in der ersten Nummer der Zeitschrift “Intransigence”.

38Pedro Campos Santos, “Cuba Necesita un Socialismo Participativo y Democrático. Propuestas Programáticas”, “Cubaencuentro”, August 24, 2008.

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