Gaza: „eine extreme Militarisierung des Klassenkriegs in Israel-Palästina“.

Auf dndf gefunden, von uns übersetzt und auch mit der spanischen Übersetzung verglichen.


Gaza: „eine extreme Militarisierung des Klassenkriegs in Israel-Palästina“.

In diesem Stadium besteht das Ziel dieses „Krieges“ darin, die überzähligen Proletarier in Gaza in Bomben zu ertränken, mit keinem anderen Ziel, als sie zu „beruhigen“, an die Hierarchie zu erinnern, die die Menschengruppen in diesem Teil der Welt voneinander trennt. Ein Hund beißt, man erschießt das Rudel.“

Interview mit Emilio Minassian auf Le serpent de mer, 30. Oktober 2023.

1.

Du interessierst dich schon lange für das, was in Palästina passiert, ohne ein pro-palästinensischer Militanter zu sein. Was hat eine Kritik, die sich der Revolution zuwendet, zu dem zu sagen, was sich dort abspielt?

Ich würde sagen, dass man als Erstes davon ausgehen sollte, dass es nicht zwei Lager gibt, ein palästinensisches und ein israelisches. Diese Menschen leben in einem einzigen Staat und in einer einzigen Ökonomie. Innerhalb desselben, sagen wir israelisch-palästinensischen Gebildes – das jedoch vollständig in israelischer Hand liegt – sind die sozialen Klassen nicht nur in unterschiedliche Rechtsstellungen auf der Grundlage ethnisch-religiöser Kriterien eingebunden, sondern auch „zoniert“. Der Gazastreifen wurde nach und nach zu einem „Reserve-Gefängnis“, in dem zwei Millionen Proletarier, die an die Ränder des israelischen Kapitals verwiesen wurden, festgesetzt sind. Letzteres bleibt jedoch in letzter Instanz ihr Herr. Die Menschen in Gaza benutzen israelisches Geld, konsumieren israelische Waren und haben Ausweise, die von Israel ausgestellt wurden.

Der gegenwärtige „Krieg“ entspricht in der Tat einer Situation extremer Militarisierung des Klassenkriegs.

Ein „Land für zwei Völker“ – ein solches Raster der Situation in Israel-Palästina ist absurd. Nirgendwo auf der Welt gehört das Land den Völkern. Es gehört den Besitzern. Das mag alles sehr theoretisch klingen, aber die Existenz der sozialen Beziehungen selbst wirft die Idee der „Lager“ auf diejenigen zurück, denen sie gehört: die Herrschenden.

Die Flüchtlingslager im Westjordanland, die man als das schlagende Herz „Palästinas“ bezeichnen könnte, sind nach wie vor Vororte von Tel Aviv. Ich verbrachte Abende damit, Tagelöhnern aus einem dieser Lager zuzuhören, wie sie erzählten, wie sich die Ethnisierung der Arbeitskräfte auf den Baustellen der israelischen Hauptstadt entfaltete: die aschkenasisch-jüdischen Bauherren, die palästinensischen Dienstleister von 1948 für die Durchreise der Arbeitskräfte aus den besetzten Gebieten, die sephardisch-jüdischen Vorarbeiter, die ebenfalls arabisch sprechen, usw. Und dann all die anderen importierten Proletarier: Thailänder, Chinesen, Afrikaner, die als Sans-Papiers in Wirklichkeit diejenigen sind, deren Situation am schlimmsten ist. Sie alle können nicht vermischt werden (A.d.Ü., gemeint sind die importieren Proletarier), denn jede Gruppe hat einen eigenen Status und einen eigenen Platz in den Produktionsverhältnissen. Aber diese Welten sind nicht porös, sie sind ineinander verschachtelt, schauen sich gegenseitig an und kennen sich.

Dutzende von Thailändern, die in der Landwirtschaft am Rande des Gazastreifens ausgebeutet wurden, wurden von der Hamas getötet und entführt. Jetzt halten israelische Bosse die Löhne anderer zurück, um sie zu zwingen, im Kriegsgebiet zu arbeiten. Jede einigermaßen konsequente soziale Kritik muss im Zusammenhang mit dem, was in Israel-Palästina geschieht, auch die Perspektive der thailändischen Arbeiter einbeziehen. Dieses Land soll ebenso wenig den palästinensischen Proletariern gehören wie den thailändischen Arbeitern.

Ist der Versuch, die „nationale Frage“ in Israel-Palästina zu übergehen, nicht ein bisschen ein Tritt ins Abseits?

Israel hat es geschafft, eine weltweit einzigartige Situation herbeizuführen: die Integration eines selbst ethnisierten („jüdischen“) Proletariats in den Staat gegen den ebenfalls ethnisierten („arabischen“) Rest des Proletariats. Der israelische Staat hat die Akkumulation von „nationalem“ Kapital in Rekordzeit organisiert, er hat den Import eines „nationalen“ Proletariats organisiert und sich zum Wächter über dessen Existenz und Reproduktion aufgespielt, da er von einem anderen („palästinensischen“) proletarischen Rand in seiner Existenz bedroht wird. Wenn man jedoch die Brille der Phantasmagorie vom „Staat als Garant der Existenz der Menschen“ abnimmt, zeigt sich, dass das jüdische Proletariat in Israel eine Art Kriegsbeute in den Händen des Staates darstellt.

Dies ist auf der Seite des palästinensischen Proletariats nicht der Fall, wo die Kampfdynamiken eine gewisse Autonomie bewahrt haben und in komplexer Weise mit den instrumentellen Logiken ihrer nationalistischen politischen Rahmung koexistieren.

Es mag kontraintuitiv erscheinen, aber ich denke, wir müssen die Hamas als einen Subunternehmer Israels für die Verwaltung des Proletariats im Gazastreifen betrachten. Wie ich bereits sagte, „untersteht“ letzteres in letzter Instanz dem nationalen israelischen Kapital. Solange dieses nicht die Wahl getroffen hat, die Entwicklung einer anderen, „palästinensischen“ kapitalistischen Entität an seiner Seite zuzulassen, ist das Proletariat des Gazastreifens, selbst wenn es geparkt ist, in seine Kreisläufe eingeschrieben. Diese Situation kommt jedoch nicht ohne eine ausgelagerte soziale Formation aus, die mit der Regulierung der Eingeschlossenen betraut ist – es gibt kein Gefängnis ohne Aufseher.

Was hier passiert, ist kein innerimperialistischer Krieg. Es ist im Wesentlichen eine „innere Angelegenheit“, in der die „nationalen“ Lager eine Nebelwand darstellen. In den aktuellen Ereignissen gibt es keinen proletarischen Kampf. Die Militarisierung der Antagonismen, die von der Hamas und der israelischen herrschenden Klasse gemeinsam produziert wird, bringt einen „Widerstand“ hervor, der keine Logik eines autonomen proletarischen Kampfes enthält, nicht einmal eine stammelnde.

Das ist kein Krieg, sondern eine Verwaltung des überzähligen Proletariats mit militärischen Mitteln, die denen des totalen Krieges entsprechen, von Seiten eines demokratischen, zivilisierten Staates, der zum zentralen Block der Akkumulation gehört. Diese Tausende von Toten scheinen mir eine besondere Bedeutung zu haben. Sie zeichnen ein erschreckendes Bild der Zukunft – der kommenden Krisen des Kapitalismus.

Aber eine Verwaltung des überzähligen Proletariats durch Flächenbombardierungen, die in der Art und Weise, wie sie von allen Zentralstaaten des kapitalistischen Raums als legitim angesehen wird, das, was derzeit geschieht, meiner Meinung nach in eine globale Offensive einbettet. In Frankreich tritt dieser globale Charakter besonders deutlich hervor: Wir sind in eine Phase eingetreten, in der selbst politische Formulierungen hinter humanistischen Parolen repressiv behandelt werden – sobald sie auf eine Aktivität der gefährlichen Klassen auf der Straße stoßen könnten. Es gibt keinen „Import“ des Konflikts. Es gibt eine globale Offensive. In diesem Sinne findet der Kampf für uns in Frankreich sehr wohl hier statt, gegen Frankreich. Wir haben unsere eigene Nation zu verraten, immer, wann immer es möglich ist.

2.

Was hat die Hamas von einer solchen Situation zu gewinnen?

Vor dem 7. Oktober hatte ich folgende Vorstellung von der Situation. Auf der einen Seite eine Offensive der kolonialen extremen Rechten, um sowohl das Westjordanland zu annektieren als auch die Hebel des israelischen Staates in die Hand zu nehmen. Auf der anderen Seite zwei palästinensische Staatsapparate, die ausschließlich von Renten leben und nur daran interessiert sind, sich als solche zu reproduzieren. Ich hatte im Hinterkopf, dass diese Mächte in der Defensive waren und dass sie sich vor allem darauf vorbereiteten, einen Kontrollverlust über die von ihnen abhängige Bevölkerung sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland in Kauf zu nehmen.

Unter meinen Gesprächspartnern im Westjordanland, ob linke Akademiker oder bewaffnete Subproletarier, sagten mir vor einigen Monaten alle: „Die Hamas unterstützt den Widerstand vor Ort nicht. Sie denkt an ihre eigenen Interessen“.

Und in der Tat hat sich die Hamas nicht wie eine Kampforganisation verhalten, sondern wie eine militärische Struktur, wie ein Staat. Das Besondere an ihrer Operation ist jedoch, dass sie zwangsläufig die Aussicht auf einen israelischen Gegenschlag enthielt, dem sie in einer imposanten Unterlegenheit gegenüberstehen würde. Die Hamas verhält sich wie ein Staat, aber ohne die Mittel eines Staates, und sie opfert einen Teil der Interessen eines Teils ihres Apparats und ihrer sozialen Basis in Gaza, in der Hoffnung, in Zukunft mehr zu haben. Viele der Anführer werden bei dieser Aktion ihr Leben verlieren.

Die Operation vom 7. Oktober ist ein erstaunliches Verhalten einer herrschenden Klasse, das sich aber meiner Meinung nach vor allem durch die Widersprüche in der Hamas selbst erklären lässt. Es ist eine Hypothese, aber es ist nicht undenkbar, dass die Operation vom 7. Oktober vom bewaffneten Arm der Hamas ohne große Absprache mit der politischen Führung konzipiert wurde. (Es ist auch denkbar, dass das Ausmaß der Bresche in der Mauer die Planer des Angriffs selbst überrascht hat, die vielleicht eine Art Selbstmordaktion durchführen wollten und nicht mit einem solchen militärischen Zusammenbruch Israels gerechnet hatten, der die Tür zu Massakern großen Ausmaßes öffnete).

Die Operation der Hamas ist keineswegs ein fanatischer millennialistischer Wahn. Es ist eine riskante Wette, die sich aber auszahlen kann. Die Optionen in Israels Händen sind begrenzt. Es gibt den Weg der Verhandlungen, den Weg des regionalen Krieges und dazwischen liegt nicht mehr viel. Aber es bleibt eine Wette, denn es ist nicht sicher, dass der israelische Staat und das israelische Kapital die Entscheidung für eine Stabilisierung treffen werden.

In jedem Fall ist die Etappe „Massaker“ mit ihren Feldern voller Leichen unvermeidlich, aber das ist eine andere Frage, sie bereitet den Anführern natürlich keinerlei Sorgen.

Du sagst, dass die Hamas sich wie ein Staat verhält, aber nicht die Mittel dazu hat. Du sagst auch, dass sie einige ihrer Interessen opfert, um später mehr davon zu haben. Kannst du das genauer erklären?

Ganz einfach, um in Verhandlungen anerkannt zu werden. Wahrscheinlich nicht im Hinblick auf ein Friedensabkommen, so weit sind wir noch nicht und in Wirklichkeit glaube ich, dass weder die Hamas noch Israel ein Interesse an einem umfassenden Abkommen haben. Aber die Ausrottung der Hamas ist aus israelischer Sicht nicht ernsthaft in Betracht zu ziehen. Indem sie ihre militärischen Fähigkeiten demonstriert, versucht die Hamas, sich als unumgänglich im regionalen Kräfteverhältnis zu erweisen.

Das Scheitern der Wiederaufnahme der Verhandlungen zwischen dem Iran und den USA in den letzten Jahren zeigt, dass die Zeit nicht für „Lösungen“ reif ist. Für die Hamas geht es, wie jedermann sagt, darum, die amerikanische Lösung eines israelisch-saudischen Abkommens zu blockieren. Was sie dabei zu gewinnen hat, ist in erster Linie, sich als Gesprächspartner für die arabischen Länder in der Region zu etablieren, die PLO [Organisation zur Befreiung Palästinas, zu der die Fatah, aber auch die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) gehört] im Westjordanland und im Libanon weiter zu marginalisieren. Es bedeutet, kleine Märkte der palästinensischen Vertretung auf Kosten des PLO-Konkurrenten zu erobern.

Sind die Interessen, die auf dem Spiel stehen, wirklich so eng?

Ich weiß nicht genau, wie ich diese Frage beantworten soll. Natürlich müssen diese Militäroperation und der Krieg, den sie auslöst, auch in einem globalen Kontext gesehen werden, in dem die kapitalistischen Regulierungskanäle gerade zerbrechen.

Krieg ist meines Erachtens immer ein Versuch, die Krise der kapitalistischen Verwertung als Operation der De-akkumulation zu lösen. Aber er ist auch Ausdruck der Erschütterung des Gleichgewichts, das dem Verhältnis zwischen Staat und Kapital zugrunde liegt. Er ist ein Krisenmoment, in dem die Kontrolle des Kapitals, des Gesamtkapitals, über den Staat gelockert wird zugunsten der Aneignung des Staates durch bestimmte besondere kapitalistische Sektoren, ja sogar durch Clans und Politiker. Der Krieg zwischen Kapitalisten ist nicht nur ein Krieg zwischen Imperialismen. Er bringt zahlreiche Akteure zusammen, die in Ermangelung von Geländern1 manchmal riskante Wetten eingehen, eine Karte ausspielen und versuchen, von einer Umwälzung der Kräfte zu profitieren. Eine solche Spirale ist seit dem Krieg in der Ukraine zu beobachten. Die eingefrorenen Fronten erwachen wieder: Wir hatten Karabach, jetzt ist es Gaza.

Die Generalstäbe rücken vor, probieren Pläne aus, testen Widerstände und stürzen sich ins Wasser. Das ist es, wozu sie spontan Lust haben, immer wieder. Was uns in den letzten zwei Jahren überrascht hat, ist, wie sehr die Geländer, die sie zurückhielten, zu brechen scheinen.

Welcher Art ist die Herrschaft der Hamas über die Menschen in Gaza? Wie sichert sie ihre Macht; welche Gewinne erzielen ihre Anführer daraus; welche (offenen oder verdeckten) Verbindungen unterhalten sie zu Israel?

Die Hamas ist eine Bewegung, die aus der Bewegung der Muslimbruderschaft hervorgegangen ist. Wie fast überall in der arabischen Welt entwickelte sie sich in den 1970er und 1980er Jahren innerhalb der palästinensischen petite Bourgeoisie, in den Gebieten und in der Diaspora. Seit ihrem Eintritt in den Kampf gegen Israel im Zuge der ersten Intifada hat sich diese soziale Basis auf proletarischere Segmente ausgeweitet, bevor die Kontrolle des Gaza-Gebiets und seine Militarisierung ihren Charakter grundlegend verändert haben. Sie befand sich, wie bereits erwähnt, in der Position eines Staatsapparats, mit der Notwendigkeit, viele verschiedene und antagonistische kategoriale Interessen zu integrieren, zwischen ihnen zu jonglieren und sie zu vermitteln. Und parallel dazu hat sich die Hamas, da Gaza kein wirklicher Staat ist, auch in eine Miliz-Partei verwandelt, vergleichbar mit der Hisbollah im Libanon.

Diese doppelte Entwicklung hat eine widersprüchliche Dimension. Ich stelle die Hypothese auf, dass der aktuelle Krieg in gewisser Weise den Sieg der zweiten Logik über die erste markiert. Der bewaffnete Arm hat über den Staatsapparat gesiegt; die militärischen Rentierkreisläufe2 (aus dem Iran) haben über die zivilen Rentierkreisläufe (aus Katar) gesiegt.

Die Hamas ist eine klassenübergreifende Bewegung, was ihre erratischen Bewegungen erklärt. Die Handelsbourgeoisie im Westjordanland bekannte sich Mitte der 2000er Jahre schließlich massiv zu ihr: Die Bewegung gewann die Parlamentswahlen 2006 als Partei der Ordnung: Sie versprach, dem Sicherheitschaos ein Ende zu setzen, die Waffen zum Schweigen zu bringen, die Korruption zu bekämpfen, einen probeweisen Staatsapparat aufzubauen, der die soziale Ordnung mit einer auf Wohltätigkeit beruhenden sozialen Umverteilung sicherstellt. Paradoxerweise erschien sie als die Anti-Intifada-Partei, und die Mehrheit der Würdenträger der beiden ökonomischen Zentren des Westjordanlands, Nablus und Hebron, stellte sich damals auf ihre Seite, blieb aber mit jordanischen ökonomischen Interessen verbunden. Die Hamas gewann die gleichen Parlamentswahlen in Gaza, allerdings mit den Parolen des Widerstands und der militärischen Rekrutierung, die auf das Lumpenproletariat in den Flüchtlingslagern abzielten. Nicht mit der Logik eines Aufstands oder einer sozialen Bewegung, sondern mit der Logik militärischer Klientelpolitik. Anders als im Westjordanland gibt es in Gaza keine Handels- und Stadtbourgeoisie.

Der Interklassismus3 ist seitdem nicht mehr explodiert. Die Hamas hantiert weiterhin mit gegensätzlichen Mobilisierungslogiken. Der Anführer ihres bewaffneten Arms, Mohammad Deif, ist eine Art mythische Ikone, ein Überlebender zahlreicher gezielter Mordversuche. Er wird als James Bond aufgebaut, um mit Teenagern in Flüchtlingslagern zu sprechen, während Anführer in Anzügen in 5-Sterne-Hotels in Katar abhängen und mit Ministern und Kapitalisten aus der arabischen oder türkischen Welt alle möglichen Delikatessen essen. Und wenn es der Mohammad-Deif-Rand ist, der eine Aktion wie die vom 7. Oktober startet, lässt der Anzugträger-Rand sie gewähren, weil er geheime Hoffnungen hegt, die Früchte in den diplomatischen Korridoren ernten zu können.

Ich bin vorsichtiger, was die Kompradorenbourgeoisie in Gaza-Stadt davon hält, während ihre Villen von den Bomben dem Erdboden gleichgemacht werden.

Was sind die Merkmale der Ausbeutung der Proletarier in Gaza?

Ich habe ziemlich viel Zeit im Westjordanland verbracht, aber ich kenne den Gazastreifen nicht direkt. Aufgrund seiner politischen und geografischen Lage, die an einen Raum intensiver kapitalistischer Akkumulation geklebt ist, könnte man sagen, dass Gaza ein großer „Mülleimer“ Israels ist. Aber selbst in den Mülltonnen der Kapitalisten gibt es soziale Spaltungen.

Ist es im Grunde eine Art Ghetto? Konkret: Haben die Proletarier in Gaza Arbeit (formell oder informell), oder muss man sie mehrheitlich für überzählig halten?

„Überzählig“ in dem Sinne, dass die Arbeit in Gaza fast nirgends eine kapitalistische Akkumulation ermöglicht. Das Kapital, das in Gaza zirkuliert, stammt hauptsächlich aus Renten (und selbst das sind nur sehr kleine Renten): Renten aus externer Hilfe (Iran und Katar), Renten aus Monopolsituationen (die Tunnel). Die erwirtschafteten Profite resultieren nicht aus der Ausbeutung der Arbeit durch Kapitalisten. Die Reproduktion der Proletarier und die Verwertung sind zwei getrennte Prozesse, wie der eine sagen würde. Die Bosse sind in ihrer überwältigenden Mehrheit klein und der Staat reguliert nichts.

Gaza ist ein Raum, der völlig abseits der kapitalistischen Verwertungskreisläufe liegt, wie viele andere Peripherien der Welt auch. Es gibt keine „nationale Bourgeoisie“, da es kein Gaza-Kapital4 gibt. Es gibt auch keine „traditionelle Bourgeoisie“ wie im Westjordanland oder in Jerusalem – alte Familien, die auf staubigem Handels- und Landkapital sitzen, das aber in den sozialen Beziehungen noch effizient ist. Stattdessen gibt es in Gaza eine Form der neuen „Kompradoren“-Bourgeoisie, die sich auf Zirkulationsrenten stützt. Dabei handelt es sich nicht um eine Klasse im engeren Sinne, sondern um eine soziale Formation, die massive Einkünfte aus ihrer Position als Vermittler im Handel mit ausländischen Kapitalisten bezieht (im Gegensatz zu einer Bourgeoisie, die ein Interesse an der Entwicklung der nationalen Ökonomie hat).

Ein Teil dieser Bourgeoisie deckt sich mit dem politischen Apparat der Hamas, da das zirkulierende Kapital weitgehend aus einer Rente geopolitischer Natur stammt, es kommt aus Staaten wie Katar oder dem Iran. Es gibt aber auch andere Renten, zum Beispiel aus der Zirkulation an der Grenze zu Ägypten. Um die Schmugglertunnel herum wurden Vermögen aufgebaut, und hier handelt es sich eher um einen globalisierten Feudalherren – typischerweise ein Verhältnis zwischen Arbeitgebern-Arbeitern. 2007 kam es in Rafah im südlichen Teil des Streifens zu heftigen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen sozialen Clanformationen und dem politisch-militärischen Apparat der Hamas, bei denen es um die Besteuerung der Warenzirkulation ging.

Im Gegensatz zur Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) ist die Hamas nicht für die öffentlichen Dienstleistungen zuständig und zahlt auch nicht die Löhne: Diese werden immer noch von der PA getragen. Die PA kürzt oder reduziert regelmäßig die Gehälter der Beamten in Gaza, um die Hamas zu schwächen.

Regelmäßig, und wahrscheinlich zum Teil als Folge davon, gibt es auch „soziale“ Mobilisierungen, die Würde fordern – normalerweise wegen Wasser, Strom, Löhne. Die Hamas unterdrückt sie mehr oder weniger gewaltsam, jedoch mit einer gewissen Zurückhaltung, die darauf hindeutet, dass sie darauf achtet, kein Öl ins Feuer zu gießen. Die aktuelle Militäroffensive folgt auf eine ähnliche Episode, die sich im Sommer ereignet hat. Man kann sich leicht vorstellen, dass es eine Verbindung oder zumindest eine Logik gibt, die diese beiden Arten von Ereignissen miteinander verbindet.

Die Anfechtung der Hamas als Verwalter und die Unterstützung der Hamas als Kämpfer sind keineswegs antagonistisch. Die erste greift Ihre Würde an, während die zweite sie rächt. Ohne die Hamas-Kämpfer hätten die Hamas-Verwalter in Gaza wahrscheinlich mit größeren Protesten zu kämpfen.

Du sagst, dass du das Westjordanland besser „kennst“ als Gaza. Gibt es große Unterschiede zwischen diesen beiden Gebieten oder handelt es sich um zwei Varianten derselben Logik?

Der Gazastreifen ist seit langem der „Mülleimer“ mit überzähligen Personen, den ich oben erwähnte. Ein winziges Gebiet, in das 1947-1948 ein Flüchtlingsstrom getrieben wurde, der die lokale, überwiegend bäuerliche Bevölkerung überschwemmte. Dort gibt es keine Ressourcen. Im Westjordanland ist die Klassenbildung anders, dort gibt es Städte und Würdenträger. Und es gibt landwirtschaftliche und Wasserressourcen, die Israel für sich beansprucht. Die Löhne sind doppelt so hoch, es gibt einige Industriezweige, die auf einer relativen Integration zwischen der Kompradorenklasse der PA und dem israelischen Kapital beruhen. Die Fatah, die die Städte regiert, ist eine Partei, die keinen sozialen Zusammenhalt mehr hat. Im Jahr 2006 verlor sie die Wahlen gegen die Hamas. Im Jahr 2007 unternahm sie einen von Israel und den USA unterstützten Coup, um die Hebel der öffentlichen Macht in den Städten des Westjordanlandes zu behalten, und „überließ“ Gaza der Hamas. Seitdem hat sie keine Legitimität mehr, die auf irgendeiner Form eines demokratischen Verfahrens beruht. Ihre Macht beruht auf der Zusammenarbeit mit Israel, die hinter hohl klingenden nationalistischen Reden verborgen ist. Sie regiert über voneinander getrennte Enklaven, die immer mehr von Siedlungen umgeben sind und in die die israelische Armee regelmäßig eindringt. Was das Proletariat im Westjordanland betrifft, so ist es stärker als das in Gaza in das israelische Kapital integriert. Viele palästinensische Arbeiter aus dem Westjordanland arbeiten legal oder illegal auf israelischem Gebiet oder in den Siedlungen. Sie haben ökonomische Verbindungen zu den Palästinensern von 1948, die mit der israelischen Staatsbürgerschaft ausgestattet sind; sie sprechen oft Hebräisch.

Was passiert derzeit im Westjordanland? Was macht die Fatah? Gibt es soziale oder politische Kräfte, die einen mehr oder weniger proletarischen Charakter haben, die im Moment der Krise stärker werden könnten?

Der Gazastreifen scheint mir im Moment verloren, was die Möglichkeiten hinsichtlich einer proletarischen Aktivität betrifft. Anders sieht es in den Städten des Westjordanlandes aus, wo der innerpalästinensische Kampf um die politische Kontrolle seit Jahren mit autonomen Manifestationen des Klassenkampfes voranschreitet. Die soziale Kontrolle wird gemeinsam durch einen Sicherheitsapparat gewährleistet, der von kompradoren Kapitalisten, die von Israel abhängig sind, und städtischen Baronen, die mit Jordanien verbunden sind, unterhalten wird. Der Zusammenhalt dieser Klasse zerfällt immer weiter, die Fatah reguliert nichts mehr und jeder versucht, sich sein Lehen auf Kosten der anderen zu sichern. Das erwartete Ereignis, das all dies klären sollte, war der Tod des paranoiden Dinosauriers Mahmud Abbas, aber die Dinge werden sich zwangsläufig beschleunigen.

Die Hamas ist seit fünfzehn Jahren im Westjordanland in einen Ruhezustand verfallen. Keine öffentlichen oder direkten militärischen Aktivitäten. Sie pflegt Loyalitäten, aber diskret. Die bewaffneten Gruppen, die im Norden (Nablus, Jenin, Tulkarem) wieder aufgetaucht sind, haben keine Verbindungen zu ihr. Diese Passivität erweckte den Eindruck, dass die Hamas die Situation abgesegnet hatte und den Status quo nicht durchbrechen wollte. Innerhalb der bewaffneten Gruppen in den Flüchtlingslagern verschaffte ihr das einen schlechten Ruf: Sie war die Kehrseite der Fatah, nur Maulhelden, politische Interessen, die sich von denen des Volkes unterschieden. Und dann diese Operation: Das ändert eindeutig die Situation in Bezug auf die Wahrnehmung. Ob es uns gefällt oder nicht, das Wappen wird dadurch verdammt aufgewertet. Schon jetzt sieht man die Hamasflagge überall auf den Demonstrationen schwenken, was vor einem Monat noch unvorstellbar war. Wird die Hamas der PA die Macht im Westjordanland direkt streitig machen? Das ist unwahrscheinlich, da ihre Aktivitäten nicht nur von der PA, sondern auch von Israel genau überwacht werden und die palästinensischen Enklaven im Westjordanland kein zusammenhängendes Gebiet bilden, kann sie militärisch nicht gehalten werden, ohne die Sache mit der israelischen Armee zu verhandeln. Aber es kann ihre Strategie ändern und die Aktivitäten bewaffneter Gruppen auf die eine oder andere Weise unterstützen.

Wie dem auch sei, die Dinge werden sich zwangsläufig bewegen. Die PA wird es schwer haben, ihre Sicherheitshoheit aufrechtzuerhalten. Die Kohärenz der politisch-sicherheitspolitischen Klasse wird auf eine harte Probe gestellt werden.

Die Armee und die Siedler haben parallel zur Offensive in Gaza eine Reihe von Angriffen im Westjordanland gestartet. Diese Offensive wird sich noch verstärken, mit einer Reihe von Massakern, die begrenzter sind als in Gaza, aber wahrscheinlich auch „selbstorganisierter“.

Ich bin jedoch etwas aufgeregt, dass die Bleihülle aus Repression und Stillstand, die die PA in den letzten 15-20 Jahren geschaffen hat, weggefegt wird und dass der Zusammenbruch der Polizei die soziale Explosion ermöglicht, auf die wir seit Jahren warten. Die Klassenverhältnisse im Westjordanland sind von außergewöhnlicher Gewalt geprägt. Die Bourgeoisie im Westjordanland hat lange Zeit von der kooperativen Situation mit Israel profitiert, sie hat sich vollgefressen, es wäre gut, wenn sie den Hintern ein wenig anspannen würde.

Seit einiger Zeit gibt es in Israel soziale Proteste gegen Netanjahu und insbesondere seine Justizreform. Welche Konsequenzen haben diese Kämpfe (wenn überhaupt) in der aktuellen Situation? Inwieweit drückt der „zivile“ Widerstand der israelischen Bevölkerung (z. B. die jüngsten Kämpfe gegen die Justizreform) solche Bestrebungen aus?

Der Krieg scheint mir auch ein Symptom für den Kohärenzverlust der Kapitalistenklasse zu sein; und gleichzeitig wird dieser Kohärenzverlust durch die militärische Einheit verschleiert. Der israelische militärische Zusammenbruch am 7. Oktober scheint weitgehend aus dem Kampf hervorzugehen, der die israelische Kapitalistenklasse durchzieht und zum ersten Mal die Institution des Militärs erreicht hat. Der Kampf in den letzten Monaten war intensiv und hat sich auf die Straße entladen. Das alte Israel, aschkenasisch, bourgeois, säkular und militärisch, das vertikal in Tel Aviv akkumuliert, traf auf die herrschende extreme Rechte, sephardisch, revanchistisch und horizontal akkumulierend in den Hügeln des Westjordanlandes. Aber bei diesen Demonstrationen ist nie etwas Proletarisches übergeschwappt. Schlimmer noch: nichts Demokratisches, im „zivilen“ Sinne, wie du sagst. Das Proletariat in Israel, das dennoch unter einem hohen Ausbeutungsniveau leidet, wird durch seine existenzielle Einbindung in den Militärstaat mundtot gemacht.

Die kriegerische nationale Einheit bringt diesen Kampf innerhalb der israelischen herrschenden Klasse vorübergehend unter den Teppich: Um Gaza unter einem Bombenteppich zu ertränken, sind sich alle einig; und um eine Bleimatte der Sicherheit zu errichten, auch. Seit der allgemeinen Mobilmachung ist die Jagd auf den inneren Feind eröffnet. Sie betrifft die Handvoll Linker, die es noch gibt, aber auch und vor allem das muslimische Proletariat (die Palästinenser von 1948), bei dem jede noch so kleine Solidaritätsbewegung mit den Opfern der wahllosen Bombardierungen zur Strecke gebracht wird. Was wird in einigen Monaten passieren? Wird der Krieg zu einer Angleichung der herrschenden Klasse an die Siedlerpartei führen? Diese wird zwar von der Mehrheit der Bourgeoisie wegen ihrer religiösen Rückständigkeit verachtet, ist aber dennoch am ehesten mit einer Mobilisierung im Einklang, die auf die Jagd nach Arabern ausgerichtet ist und wahrscheinlich nicht enden wird.

3.

Glaubst du, dass das rein koloniale Analyseraster wirksam ist, um die Beziehungen zwischen Israel und dem palästinensischen Proletariat zu definieren?

Ja und Nein, offensichtlich.

Wir befinden uns in einer Situation, in der es weniger um die Ausbeutung einer einheimischen Arbeitskraft geht als um die Verwaltung einer überschüssigen proletarischen Bevölkerung, und zwar in einem Ausmaß, das innerhalb der kapitalistischen Akkumulationszentren einzigartig ist. Für jeden Arbeiter mit einem Arbeitsvertrag in Israel gibt es einen weiteren, der in einer der großen geschlossenen Vorstädte gehalten wird, die die Siedlungszentren unter palästinensischer Gerichtsbarkeit bilden: der Gazastreifen und die Städte im Westjordanland. Das sind fast fünf Millionen Proletarier, die nur wenige Kilometer von Tel Aviv entfernt geparkt sind, unsichtbar, die vom täglichen Verkauf ihrer Arbeitskraft leben und von Soldaten bewacht werden, damit sie nicht aus ihren Käfigen herauskommen.

Dieses große Einsperren, diese Operation der Trennung zwischen nützlichen Proletariern und überzähligen Proletariern auf ethnisch-religiöser Basis, beginnt zeitgleich mit dem Beginn des Friedensprozesses, der in Wirklichkeit ein Prozess der Externalisierung der sozialen Kontrolle der Überzähligen ist. Zuvor, in den 1970er und 1980er Jahren, waren die Palästinenser massiv vom israelischen Kapital beschäftigt.

In diesem Sinne ist der Begriff „kolonial“ etwas unpassend, um das soziale Verhältnis zu bezeichnen, das seit Anfang der 1990er Jahre in Israel-Palästina herrscht. Darüber hinaus hat er den Nachteil, dass er einen Gegensatz zwischen zwei nationalen Formationen festschreibt, die in Wirklichkeit gemeinsam produziert und reproduziert werden. Palästinensische und israelische Proletarier sind Segmentierungen ein und desselben Ganzen. Was sich seit dem 7. Oktober abspielt, muss als eine Verhandlung durch Gewalt zwischen dem Subunternehmer aus Gaza und seinem israelischen Arbeitgeber betrachtet werden. Es muss in diesem Sinne deutlich von der Kampfaktivität der palästinensischen Proletarier unterschieden werden, der die Subunternehmer der Hamas und der PA an vorderster Front gegenüberstehen. Sie hat nie aufgehört, aber die nationalistische Umarmung wird ihr, zumindest in Gaza, einen schweren Schlag versetzen.

Abgesehen von allen moralischen Erwägungen scheint mir der Begriff „Widerstand“, der auf die koloniale Vorstellungswelt verweist, ungeeignet, um die Militäroperation vom 7. Oktober zu bezeichnen: Die Interessen der Hamas sind nicht die der Proletarier, sie sind nicht die – um die gängige Vokabel zu verwenden – des „palästinensischen Volkes“. Die Proletarier in Gaza werden, unabhängig vom Ergebnis dieser Verhandlungen, die großen Opfer sein – sie sind es bereits. Wenn Israel die Lust verspürt, seinen Subunternehmer loszuwerden, würde das bedeuten, dass es auch die Lust verspürt, seine überzähligen Proletarier in Gaza loszuwerden. Das eine kann nicht ohne das andere gehen.

Andererseits glaube ich aber auch, dass wir nicht ohne ein auf dem Kolonialen basierendes Analyseraster auskommen können.

Israel erbt diese europäische Logik, die darin besteht, die Arbeitskraft auf der Grundlage rassischer Kriterien zu „animalisieren“ und eine Barriere zwischen der zivilisierten und der vorzivilisierten Welt zu ziehen. Dieses Paradigma wirkt in Israel auf Hochtouren, und zwar auf ganz bewusste Weise. Derzeit werden die Menschen in Gaza nach dieser Logik massakriert: Man ertränkt sie in Bomben, ohne ein anderes politisches Ziel zu verfolgen, als sie zu „beruhigen“ und an die Hierarchie zu erinnern, die die Menschengruppen in dieser Region der Welt voneinander trennt. Ein Hund beißt, man erschießt das Rudel.

Es muss daran erinnert werden, dass diese Grenzen zwischen dem zivilisierten und dem animalischen fließend sind. Sie waren und sind auch innerhalb der israelisch-jüdischen Staatsbürgerschaft wirksam. Arabische (Mizrahis) oder äthiopische (Fallashas) Juden waren lange Zeit auf der falschen Seite des Zauns und stellten eine Art einheimische Stellvertreter dar, die dazu benutzt wurden, andere Einheimische zu beruhigen.

Das Koloniale, als Erbe der eigentlichen Kolonialzeit, erzeugt eine Art „Trieb“-Ökonomie, um die sich der Aufbau sozialer Kategorien rankt – und das ist übrigens nur das vergröberte Bild dessen, was in der gesamten „Festung“ passiert, die von den Kernländern der kapitalistischen Akkumulation gebildet wird, wie man an der unmittelbaren Übertragung des „Zivilisationskriegs“ auf Frankreich sehen kann.

Die gegenwärtige Dynamik und ihre Logik, die überzähligen Proletarier in Reserve zu halten, führt eine Flut von Affekten mit sich, die auf Demütigung aufgebaut sind. Angesichts der Unmöglichkeit, kollektiv in die sozialen Beziehungen einzugreifen, produziert die Ohnmacht eine Logik des doppelten Ressentiments: Suche nach Anerkennung auf der einen Seite, Rache auf der anderen.

Weil sie keine Bourgeoisie haben, auf die sie sich stützen, weil sie kein Proletariat haben, das sie selbst ausbeuten, müssen sich Politiker wie die der Hamas auf die Ausbeutung dieser Affekte stützen, deren Verkörperung sie werden – aus Mangel an etwas Besserem, aus Mangel an mehr.

Um auf Israel zurückzukommen: Wenn man bedenkt, dass die kapitalistische Akkumulation weitgehend auf der permanenten „Kriegswirtschaft“ + der Landnahme + der Ausbeutung des mehr oder weniger formellen palästinensischen Proletariats beruht, muss man dann jede „Lösung“ (z. B. „Zwei-Staaten-Lösung“) als entschieden unmöglich betrachten?

Als Israel ab den 1990er Jahren die Verwaltung der palästinensischen Arbeitskräfte in den Gebietenloswerden wollte, übertrug es diese Aufgabe an einen Subunternehmer, die Palästinensische Autonomiebehörde. Doch Israel hält sich nicht an den Vertrag, der zu einer Art symbolischer Souveränität führen sollte. Es misshandelt seinen Subunternehmer. Daraufhin revoltiert der Subunternehmer: Es kommt zur zweiten Intifada, in der sich ein Kampf der PA gegen ihren Arbeitgeber mit einem allseitigen proletarischen Kampf gegen Israel und den Subunternehmer vermischt, der sich jedoch als durch die Triangulierung erstickt erweist. Am Ende dieser historischen Sequenz spaltet sich die Subunternehmerschaft der PA. Ein schlecht behandelter, aber gefügiger Subunternehmer im Westjordanland; ein anderer schlecht behandelter, aber quirliger Subunternehmer in Gaza. Die Hamas mag als Feind behandelt werden, aber Tatsache ist, dass Israel in diesem Kontext nicht ohne Subunternehmer auskommt.

Werfen wir einen kurzen Blick zurück auf diesen Prozess und sein Scheitern. Warum haben die Kapitalisten den „Frieden“ nicht ergriffen, der darin bestand, einen palästinensischen „nationalen Prozess“ in Gaza und im Westjordanland zu unterstützen? Was ihnen damals in den Schoß fiel, war die Öffnung eines regionalen Marktes mit den umliegenden Ländern, die Möglichkeit von Investitionen in Ländern mit billigen Arbeitskräften. Es hätte ausgereicht, der Behörde die Attribute eines Schurkenstaates zu überlassen, der von externen Geldgebern bis zum Anschlag finanziert wird und der ein gefangener Markt geblieben wäre. Die Antwort auf diese Frage ist für mich nicht eindeutig. Ich stelle zwei Hypothesen auf. Die erste ist die des Gewichts des „militärischen“ Kapitals, das durch die militärische Rente gestützt wird, die aus den USA nach Israel fließt. Dieser Militärkapitalismus, der mit dem High-Tech-Sektor verbunden ist, wird über den Kopf des regionalen Marktes hinweg internationalisiert. Die zweite Hypothese sieht das Scheitern des Friedensprozesses als Teil der großen Katastrophe, die der Versuch der USA, den Nahen Osten in den 2000er Jahren umzugestalten, darstellte. In der Erwartung, dass die Kapitalströme in der Region durch militärische Maßnahmen verflüssigt würden, hätte sich Israel gehalten, bevor es sich vorstellte, dass es die Unterversorgung haben könnte, ohne etwas an die Behörden in den palästinensischen Reservaten abtreten zu müssen. Dies hielt fast zwanzig Jahre lang an. In diesem Zusammenhang entstand schließlich sogar die Aussicht auf die Öffnung neuer Märkte in der arabischen Welt (das so genannte Abraham-Abkommen und neue Aussichten auf eine Pax americana mit Saudi-Arabien), und es ist wohl diese Situation, die gerade zerbrochen ist. Was sich am 7. Oktober gezeigt hat, ist, dass die Gleichung alles haben zu wollen nicht haltbar ist: Man wird mit den palästinensischen Kerkermeistern der palästinensischen Reserven verhandeln müssen, um die auf ihrem Territorium gebildeten Ghetto-Reserven einzudämmen, oder sich ihrer entledigen müssen, was eindeutig eine neue Seite in der Geschichte der kapitalistischen Gewalt in den Ländern des zentralen Akkumulationsblocks aufschlagen würde. Das ist nicht unmöglich. Es lässt einen nur schaudern.

Ist die Idee des „palästinensischen Volkes“, um soziale Spaltungen zu überbrücken, nicht weniger operativ, auch innerhalb der beherrschten Klassen?

Die soziale Kritik ist meiner Meinung nach vor allem die Produktion von Kategorien, die es ermöglichen, antagonistische Gegensätze in Form von sozialen Widersprüchen zu denken. In einem Kontext wie dem israelisch-palästinensischen mag dies wie eine Operation erscheinen, die die zirkulierenden subjektiven Kategorien, auf deren Grundlage die Kampfaffekte konstruiert werden, über das, was als Identität wahrgenommen wird, verdreht.

Die Idee des „palästinensischen Volkes“ als Gegenkategorie zu „Israel“ ist natürlich an vielen Stellen wirksam: auf Ausweispapieren und in den meisten Köpfen, auch als Legitimationsmodus für proletarische Kämpfe.

Aber die Ethnisierung der sozialen Beziehungen hat eine Geschichte, die in erster Linie die Geschichte der herrschenden Klassen ist: Es ist die Geschichte der Bildung einer kapitalistischen jüdischen Bourgeoisie, die eine arabische feudal-händlerische Bourgeoisie auslöscht; die Verschmelzung dieser Bourgeoisie mit einem Militärstaat usw. Die Proletarier werden in diese Ethnisierung der antagonistischen Gegensätze innerhalb der herrschenden Klasse hineingezogen.

Man darf nie aus den Augen verlieren, dass der „palästinensische Kampf“, einschließlich des unter dem Banner der Hamas geführten, in erster Linie als ein Kampf zu lesen ist, der von den herrschenden arabischen sozialen Klassen – oder von denen, die danach streben, in sie zu investieren – für ihre Integration in das israelische Kapital geführt wird. Die Interessen der Proletarier, um sich manchmal unter dem Banner des nationalen Kampfes wiederzufinden, stehen in letzter Instanz im Widerspruch zu denen ihrer Bourgeoisie.

Ich glaube, dass Solidarität nicht mit dem „palästinensischen Widerstand“, sondern mit den Kämpfen der Proletarier gegen die ihnen zugemuteten Existenzbedingungen geboten ist. Die Proletarier kämpfen unter den Flaggen, die ihnen zur Verfügung stehen. Wir sollten nicht auf die Flagge schauen, sondern auf die Kämpfe selbst. Eine palästinensische Flagge und sogar eine Fatah- oder Hamas-Flagge sind potenziell Fahnen des Kampfes, die sich je nach Kontext den politischen Verwaltern entziehen. Im Übrigen sollte man nicht auf die Hamas scheißen, weil sie Islamisten sind, sondern weil sie ein Apparat zur Betreuung des Proletariats ist, ein Staat im Entstehen.

Es bleibt festzuhalten, dass diese Sozialkritik manchmal unglaublich kalt und weit entfernt von den Erfahrungen eines Kampfes, der andere Kategorien mobilisiert, erscheinen kann. Die Mütze, die ich aufsetze, um über kalten dialektischen Materialismus zu sprechen, ist nicht dieselbe, wie wenn sich die Situation vor meinen Augen entfaltet, mit ihrer Gewalt, ihren Kämpfen und ihrer Subjektivität.

Läuft eine materialistische Kritik in einem derart identifikationsgeladenen Kontext nicht Gefahr, zu abgehoben zu erscheinen?

Mir scheint, dass in einem solchen Kontext eine Herausforderung darin besteht, nicht eine Position, sondern einen Standpunkt, eine Methode zu halten. Ein revolutionärer Blick besteht zunächst darin, sich nicht von der Verselbständigung moralischer Kategorien, die von der Linken gehandhabt werden, blenden zu lassen. Ich sehe zwei, die derzeit in Gesprächen ständig drohen, ein dialektisch orientiertes Denken zu erdrücken.

Der erste ist der reflexartige Klagegesang nach dem Motto „Das Proletariat ist nicht so, wie man es gerne hätte“: antisemitische muslimische Proletarier, rassistische jüdische Proletarier. Abgesehen davon, dass dieses Denken – das darin besteht, die Innerlichkeit des Proletariers von einer intellektuellen Position aus zu betrachten – von Natur aus bourgeois ist, ist es besonders unangebracht in einer Situation, die die eines Antagonismus ist, in der sich keine Form proletarischer Autonomie manifestiert.

Was sich derzeit entfaltet, ist eine Logik der Umarmung des Proletariats auf der einen Seite und des reinen Massakers an überzähligen Proletariern auf der anderen. Einige werden also den guten alten Zeiten nachtrauern, in denen die palästinensischen politischen Formationen (und damit, so wird vermutet, das Volk selbst) links waren. Mir scheint, das ist dumm. Die Ideologie der politischen Gruppierungen ist, sobald man davon ausgeht, dass sie in erster Linie darum kämpfen, dass ihre Anführer sich zu einer herrschenden Klasse aufschwingen und sich reproduzieren, zweitrangig. Was die Methoden betrifft, möchte ich nur daran erinnern, dass es beispielsweise ein Kommando der DFLP [Demokratische Front für die Befreiung Palästinas], einer ideologisch linksradikalen (und mit Elementen der israelischen extremen Linken verbundenen) palästinensischen Formation, war, das 1974 das Massaker an 22 Kindern in einer Schule in Ma’alot verübte.

Ein zweiter Reflex problematischen Denkens besteht darin, metaphysisches Denken in die Analyse einfließen zu lassen. Dieses metaphysische Denken ist in der Idee der Wiederholung enthalten, die erstarrt und verblüfft. Es ist in den Ausarbeitungen rund um die „Massaker an den Juden“; aber auch rund um die „palästinensische Tragödie“ am Werk. Diese Ausarbeitungen, die sich vielleicht autonom in den Tiefen der Psyche entwickeln, sind nichtsdestotrotz reine Produkte der Art und Weise, wie das bourgeoise Denken die sozialen Verhältnisse in den Himmel der Ideen verschiebt.

Lassen wir die Geschichten von Farcen und Tragödien beiseite: Geschichte wiederholt sich nicht: Die Antagonismen, die sich entfalten, sind immer, vor allem, aktuelle Antagonismen.


1A.d.Ü., um eben vor einem Abgrund nicht runter zufallen

2A.d.Ü., bezogen auf die Renten die in Form von Subventionen erhalten werden.

3A.d.Ü., der Substantiv für klassenübergreifend.

4A.d.Ü., also keine lokale kapitalistische Kräfte die ihre eigene Interessen entwickeln können. Hier fehlt das Demonym für die Bewohner des Gazastreifens.

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