Jacques Camatte – Gewalt und Zähmung (1980)
Zum Werdegang der Gattung Mensch vom unmittelbaren Gemeinwesen zum aufgetauchten kosmischen und im Kosmos integrierten Gemeinwesen
1 – Gewalt erscheint und tritt auf, sobald in einem Prozess ein Bruch eintritt. Sie ist das, was in einem physischen, kosmischen oder menschlichen Milieu den Bruch erlaubt. Ebenso wird, vor allem auf menschlicher Ebene, Gewalt ausgeübt, um die Integrität dieses bedrohten Prozesses zu verteidigen. Gewalt impliziert, dass mehr oder weniger gerichtete Energie in Bewegung versetzt versetzt wird, dass sich also Kräfte äußern.
2 – Die Gewalt hat also eine natürliche Realität, d.h. in der Natur sind Phänomene der Gewalt feststellbar. Sie hat jedoch gerade in den Gemeinschaften, in den menschlichen Gesellschaften eine bedeutsame Rolle inne, weil hier meistens ein eingestandenes oder nichteingestandenes Ziel verfolgt wird, und weil gewisse menschliche Gruppen die Gewalt zu beherrschen und sie zu ihren Gunsten wirken zu lassen versuchen.
3 – Es könnte scheinen, dass, sobald Gewalt auftritt, wichtige Kräfte im Spiel sein müssten. Doch ist das nicht allgemein der Fall. Es kann Gewalt geben, ohne dass Kräfte entfaltet würden. So wirkte die Gewaltlosigkeit Gandhis, die keine direkte Aktion auf den politisch-ökonomischen Apparat der Britischen Herrschaft über Indien darstellte, trotzdem wie eine Gewalt, weil sie den Gesamtproduktionsprozess hinderte. Die gesetzliche Gewalt, die sich durch kodifizierte Gesetze ausdrückt, ist ein anderes Beispiel: die Gesetze implizieren die latente und potentielle Gewalt, die sich äußern kann, wenn die Individuen sie verweigern, und andrerseits setzen sie Gewalt zu ihrer Aufstellung voraus.
Umgekehrt wird jedes Phänomen als gewaltsam bezeichnet, das zu seiner Äußerung gewichtige Kräfte einsetzt und eine große Quantität Energie entfaltet. Doch muss es nicht zwangsläufig an tatsächlicher Gewalt teilhaben. Nur zu leicht tritt hier eine Sinnverschiebung ein, die für das Verständnis der menschlichen Beziehungen sehr nachteilig ist.
4 – Gewalt erscheint im menschlichen Werden wie eine unveränderliche Bestimmung, selbst wenn sie sich nicht immer auf dieselbe Weise ausgedrückt hat.
Gewalt kam erstmals anlässlich der Trennung und Loslösung der Menschen von der ursprünglichen Gemeinschaft zur Wirkung und ermöglichte damit den Beginn des Individualisierungsprozesses, der, als potentielle Negation der Gemeinschaft, eine Gewalt schuf, auf die diejenige der Gemeinschaft antwortete, um den Prozess zu hemmen und zu verhindern.
Im Übrigen hat diese Trennung ein Ungleichgewicht hervorgerufen, und die Gesellschaft ist nicht mehr im Stande, sich selbst zu regulieren:
Es entsteht die Tendenz zum Bevölkerungswachstum, was die gemeinschaftlichen Strukturen seinerseits auch wieder in Frage stellt; daher das Auftauchen der Politik und dessen, was der Staat werden wird. Die Gemeinschaften reagieren darauf mit Gewalt und versuchen zu vernichten und an der Verselbständigung zu hindern, was da auftaucht. Wenn die Gewalt nicht immer bis zum Kriege geht, (der von Clastres analysierte Fall), so nimmt sie verschiedene Wege, insbesondere denjenigen des Tabus, um einen Prozess zu hemmen, der denjenigen des vorausgehenden Lebens negiert.
5 – Die verschiedenen Brüche des Gleichgewichts im umgebenden Milieu, seien sie durch geologische Phänomene (Vergletscherungen, Veränderungen der Höhe des Meeresspiegels, Veränderungen von Flussläufen, Erdbeben und Vulkanausbrüche) oder durch menschliche Handlungen verursacht, zwangen die menschlichen Wesen, sich und die Umgebung anzupassen. Die Männer wurden Jäger und die Frauen erfanden darauf die Landwirtschaft. Später übt die Gattung ihre Gewalt durch die Zähmung der Tiere und Pflanzen anders aus.
6 – Ein Moment voller äußerster Gewalt war derjenige der Unterwerfung der Frau unter den Mann. Darauf verselbständigen sich die Macht und die Politik und entsteht mit dem Anwachsen der Bevölkerung und der größeren Arbeitsteilung etc.. der Staat, der sich an die Stelle der ursprünglichen Gemeinschaft stellt und sie vorstellt. Der Staat ist die konzentrierte Gewalt; er ist ihr allgemeines Äquivalent. Nur im Westen individualisieren sich die Klassen und lassen den Staat entstehen.
7 – Von diesem Zeitpunkt an beobachtet man drei Arten, wie die menschliche Gattung die Gewalt verwaltet hat, die nicht mehr gebremst und abgeschafft werden konnte.
1. Die mehr oder weniger archaische Art der Verwaltung bei nicht-verfallenen Gemeinschaften, wo die Politik und a fortiori der Staat sich nicht verselbständigen können. Gewalt, sofern sie in kinetischer Form auftritt, ist Angelegenheit der ganzen Gemeinschaft. 2. Der Staat verwaltet die Gewalt, verselbständigt sich hingegen nicht von der Gemeinschaft, die despotisch ist. 3.Der Staat verwaltet die Gewalt und gibt den Individuen, die sich verselbständigt haben und ihm Gewalt, Macht etc. … über, auf Grund der Klassen, sehr komplexe Mechanismen delegiert haben, mehr oder weniger wichtige Garantien. Gerade die Existenz von Klassen bringt vehement die Gewalt ins Spiel, weshalb auch, damit eine Koexistenz möglich ist, ein Versöhnungsmechanismus notwendig ist, der nicht nur den Staat betrifft, sondern die Gesamtheit der Männer und Frauen: die Demokratie. Man könnte sie, auf dieser Ebene, als Prozess der Verinnerlichung der Gewalt und deshalb als wesentlichen Motor der Zähmung bezeichnen.
8 – Die Zähmung ist ein Prozess, durch den die Gattung, die ihn erleidet, aus ihrem natürlichen Lebensprozess gerissen und unter die Abhängigkeit eines Lebensprozesses einer andern Gattung gestellt wird. Im Falle der Tiere und Pflanzen wird man von ihrer Ausbeutung, im Falle der menschlichen Wesen von ihrer Zähmung sprechen. Sie ist – als Verlängerung dessen, was Menschen den Tieren auferlegen – gleichbedeutend mit dem Hinnehmen der etablierten Ordnung in der (zumindest in der Endphase des Prozesses) Zwang besteht; Zähmung ist die Beseitigung aller Instinkte und Triebe.
Also ein Prozess der Verstümmelung. Die Menschen konnten also die durch ihr Werden selbst entfesselte Gewalt nur noch im Keime ersticken (der Moment der Loslösung von der alten Gemeinschaft und der Entfesselung der Gewalt ist vielleicht die Grundlage dessen, was in der religiösen Vorstellung der Sündenfall, die Urkatastrophe etc. … ist), indem sie sich zähmten. (Zivilisation und Höflichkeit sind Euphemismen dafür.)
9 – Man kann also nicht die Gewalt an sich beurteilen, ohne sich auf das andere Phänomen zu beziehen, das nun schon seit Jahrtausenden existiert und die Tendenz hat, die Gattung in den äußersten Verfall zu führen: die Zähmung. „Wenn man die verschiedenen Gesellschaften allein unter dem Gesichtspunkt der Gewalt analysiert, könnte man diejenigen des Westens, wo die Demokratie den Sieg davongetragen hat, als menschlicher betrachten als die – im geläufigen Sinne des Wortes – barbarischen des Ostens, wo lange zeit die Asiatische Produktionsweise (APW) herrschte. Darum konnte ich in „Marx und das Gemeinwesen“ schreiben: „Was die politische Demokratie betrifft, ist es wahr, dass sie den Verdienst hat, die Auswüchse der Gewalt einzuschränken.“ Es ist hier unbedingt beizufügen, dass das nur insofern der Fall war, als sie enorme Gewalt auf das Proletariat und die farbigen Völker ausübte. Man muss sich darüber Rechenschaft ablegen, was das grundsätzliche Resultat der Demokratie war: die Zähmung. Die Demokratie ist nur wahrhaft wirksam, wenn diese daran ist, verwirklicht zu werden oder schon verwirklicht ist und die Menschen zu neutralen Partikeln werden. Man kann sich also fragen, ob die Demokratie wirklich einen Vorteil für die Gattung darstellt.
10 – Ebenso muss für eine Beurteilung der Gewalt der Umwandlungsprozess ins Auge gefasst werden, den sie bewirkt. Das Anders-Werden, das sie impliziert, bringt sie zum Entfremdungsprozess in Beziehung; dieser kann jedoch nicht immer negativ sein: Enteignung, Verfremdung; denn er kann auch gleichsam ein Fortschreiten sein. Ebenso lässt sich sagen, dass die Gewalt positiv ist, wenn sie ein Fortschreiten zu einem Stadium eines weiter entfalteten Lebens gestattet, dass sie hingegen negativ ist, wenn sie uns zwingt, unter Herrschaft, Ausbeutung, etc. … zu leben. Auf individueller Ebene könnte man beifügen: Gewalt ist negativ, wenn sie aus uns, aus unserm Lebensprozess, hervorbricht, ohne dass sie uns erlaubte, uns bei uns selbst wiederzufinden.
Da nun aber die positive Möglichkeit gegeben ist, ist es klar, dass der Gebrauch der Gewalt gefordert werden konnte, und daher die Schwierigkeit die war, sie unter Kontrolle zu halten.
11 – Im Weltmaßstab ist heute eine Konvergenz im Gange zwischen der Kapitalgemeinschaft, deren Errichtung im Westen erst von dem Augenblick an möglich ist, wo der Demokratisierungs- und Homogenisierungsprozess und der Ausgleich der Unterschiede zu Ende gebracht worden sind, und der APW, wobei das Kapital die APW erst ausstechen kann, wenn es sich als Gemeinwesen konstituiert hat. Seine Herrschaft erlaubt ihm, die demokratische Phase zum Verschwinden zu bringen und die Zähmung zu vollenden.
In all diesen Fällen existiert die Gewalt überall. Sie ist nur in den Institutionen resorbiert, oder durch die demokratische Mystifizierung kaschiert. Es wird indessen in der gegenwärtigen Epoche immer schwieriger, nicht nur die aktuelle Gewalt, sondern auch die im Verlauf der Jahrhunderte angehäufte, einzudämmen. Die einzige Lösung im Rahmen der Kapitalgemeinschaft ist die Zähmung, die in der Tat nichts anderes als gelierte Gewalt ist, da sie, noch vor der Zerstörung, die absolute Hemmung ist.
12 – Die Stellungsnahme in Bezug auf die Gewalt ist abhängig von der Wahrnehmung und Haltung gegenüber dem Prozess, dem Bruch und dem Phänomen, das die Gewalt verursacht. Insbesondere stellt sich die Frage: ist der Bruch notwendig? Eine Stellungsnahme hängt davon ab, ob man die Zähmung annimmt oder nicht.
Gewisse Verhaltensforscher, wie Konrad Lorenz, nehmen an, dass Der Mensch eine Gattung ist, die sich selbst zähmt und betrachten den Zähmungsprozess, der ein Sozialisierungsprozess ist – der Enteignung der Individuen –, als positiv, da er die Gewalt durch Hemmung der Aggressivität, die eine Konstitutive unserer Gattung darstelle, zu beseitigen vermöge. Sie neigen deshalb zur besonderen Betonung der Riten und Rollen, die den gesellschaftlichen Menschen bilden und das menschliche Wesen hindern.
13 – Der Prozess der Trennung von den unmittelbaren Lebensbedingungen wurde mehrere Male gebremst und die Menschen bildeten mehr oder weniger beständige Gemeinschaften. Mit dem Kapital wird der Trennungsprozess in einem größeren Maßstab, sowohl in Bezug auf die Weite wie auch die Tiefe, wiederaufgenommen.
Das hat Marx analysiert und sagt, dass die Trennung der erste Begriff des Kapitals ist, und zeigt, bis zu welchem Punkte die Gewalt Grundlage des Aufschwungs des Kapitals ist. Dieser Trennungsprozess, der sich auf alle Aspekte des menschlichen Lebens auswirkt, lässt sich durch den ganzen Entstehungsprozess des Kapitals verfolgen, wenn er auch, das ist ebenfalls wahr, durch einen Vereinigungsprozess aufgewogen wird, in dem die Menschen durch seine Vermittlungen wiederzusammengesetzt werden.
Gewalt geschieht als Entäußerung; was aus den Männern und Frauen herausgepresst worden ist, wird in den Lebensprozess des Kapitals einverleibt. Im übrigen entstehen die die Einheit wiederherstellenden Vermittlungen aus den Elementen, die einstmals unveräußerlichen Bestandteil der menschlichen Wesen bildeten.
14 – Die Menschen haben gegen diese Unterdrückung-Enteignung gekämpft, meistens jedoch ohne im Stande zu sein, deren wahre Realität zu erkennen; deshalb kamen denn auch die Revolutionen, die im 16. Jh. einsetzten – Gewaltakte par excellence, da sie einen Prozess gesellschaftlichen Lebens zerschlagen sollten, um den Beginn eines andern zu ermöglichen – der Dynamik des Kapitals zugute, denn diese Revolutionen erlaubten die Beseitigung einer Reihe Hindernisse zu seiner freien Entwicklung.
Die Befreiung ist ebenfalls Gewalt, denn auch sie besteht aus der Zerstörung der Fesseln, die einen Lebenswillen hemmen. Dieser Prozess führte zur Verarmung, denn die Männer und Frauen befreiten sich, indem sie sich verschiedener Bestimmungen enteigneten und entäußerten, was später ihre Zähmung erleichterte.
Bruch eines Prozesses, Trennung, Revolution und Emanzipation implizieren alle die Gewalt. Im Falle der Revolution, verstanden als Rückkehr zu einer früheren Lebensform, stellt sich die Gewalt als das Phänomen dar, was abschaffen soll, was eine Gewalt hervorgebracht hat.
Gerade in Bezug auf die Revolutionen hat man den Gebrauch der Gewalt gerechtfertigt, ja geradezu gefordert. Und das war sicher, unmittelbar gesehen, richtig. Die geschichtlichen Gegebenheiten haben indessen bewiesen, dass die Gewalt immer aus den Händen entglitten ist und dass es schwierig ist, sie zu kontrollieren, weil sie in Tiefen verwurzelt ist, wo man nicht hingelangen konnte und wäre es nur, weil man ihre Existenz nicht geahnt hatte.
Abgesehen davon, dass die Folge der Revolutionen abgeschlossen ist, verwerfen wir den Prozess ‚Revolution‘ und die Exaltation der Dynamik der Befreiung, weil das endgültig Weisen und Momente des Zugangs des Kapitals zu seiner vollständigen Herrschaft sind. Es muss ein anderer Weg zur Beseitigung der Gewalt und der Zähmung gefunden werden.
15 – In gleicher Weise wird die Gewalt als Mittel beansprucht, das den Aufbau der neuen Gesellschaft beschleunigen soll, indem drakonisch alle Hindernisse für ihre Entwicklung beiseite geschafft werden sollen. Die verschiedenen Revolutionen haben jedoch gezeigt, dass es unmöglich war, Gewalt zu leiten, und dass sie nur durch eine äußerst straffe, grausame Diktatur hatte unter Kontrolle gehalten werden können, was gegen das revolutionäre Projekt ist (obwohl das versucht worden ist). Außerdem ist in der gegenwärtigen Kapitalgemeinschaft, die von Gewalt, versteckter, offener oder potentieller, übersättigt ist, jeder Versuch, Gewalt in eine bestimmte Richtung zu führen, auf Grund der extremen Zerstückelung der Menschheit zum Scheitern verurteilt.
Das ist in keiner Weise eine Verurteilung des Projekts der Revolutionäre des vergangenen Jahrhunderts, insbesondere desjenigen von Marx und Engels. Sie dachten an eine Gesellschaft, die weniger entwickelt war in Bezug auf die Gewalt als die heutige.
Es ist zu betonen, dass sie die Anleihe eines bestimmten Mittels forderten; unter der Bedingung des Eintritts des Kapitals in die Kapitalgemeinschaft jedoch ist dieser Weg nicht mehr benutzbar und unverträglich mit unserer Sehnsucht nach einem menschlichen Gemeinwesen.
Letztlich ist es nicht gesagt, dass wir jede Gewalt werden vermeiden können, doch können wir wenigstens vermeiden, dieselbe Art von Gewalt zu gebrauchen wie das Kapital.
16 – Im Laufe der Geschichte kann zwei Formen bemerken, wie sich Gewalt äußert: diejenige der Unterdrückten und Ausgebeuteten, die ein menschliches Gemeinwesen wiederzubilden trachten und diejenige der Herrschenden und Herren, die immer wieder die Loslösung von der ursprünglichen Gemeinschaft aktualisieren wollen, die als Austritt des Menschen aus dem Tierreich dargestellt wird. Sie bekräftigen als Herrschafts- und Machtprinzip, dass der Mensch kein Tier ist und man die Männer und Frauen organisieren muss, dass sie nicht mehr ins Tierische oder das Chaos fallen. So äußert sich Gewalt im schon seit langer Zeit behaupteten Willen, organisieren und dem Chaos Form geben zu wollen. Das drückt sich in den verschiedenen menschlichen Verhalten aus, insbesondere in der Kunst.
Da nun aber das Prinzip des Fortschritts – der Austritt aus dem Tierreich – von allen verinnerlicht worden ist, Herren und Knechten, Ausbeutern und Ausgebeuteten, versteht man, dass die Herrschaft über die menschlichen Wesen von beiden gesellschaftlichen Polen, von allen Klassen ausgegangen ist.
17 – Die verschiedenen gegenwärtigen Äußerungen der Gewalt entstehen auf der Grundlage der aktuellen Gemeinschaft des Kapitals, sie haben jedoch gleichzeitig eine historische Dimension, die ihre Intensität verstärkt. Ursache davon ist die Tatsache, dass die Widersprüche im Laufe der Zeit einverleibt, nicht aber gelöst worden sind. Sie erzeugen ebenfalls immense potentielle Gewalt.
18 – Die Trennung von der ursprünglichen unmittelbaren Gemeinschaft rief eine immense Störung hervor, ein Gefühl der Unsicherheit (Problem der Gewissheit, zu existieren, der Gegenwart in der Welt). Männer und Frauen suchten einen Rahmen, eine versichernde Welt. Diese Suche veranlasste sie, jede Äußerung zu hemmen oder zunichte zu machen, die den mehr oder weniger beständigen Rahmen in Frage stellen konnte, den sie sich geschaffen hatten.
Gewalt kann ganz einfach aus dem Wegfallen der Schranken und Grenzen entstehen, die das raum-zeitliche und repräsentative Gebiet umgeben, in dem die menschlichen Wesen Wohnung bezogen haben. Es tritt dann Panik auf, und die Energie, die vorher kanalisiert war, wird abrupt frei und will in einem zerstörerisch-schöpferischen Effekt, wie durch Magie, einen neuen versichernden Rahmen stiften. Dabei entwickeln sich beschwörerische Praktiken.
Diese Erscheinung tritt in unsern Tagen bei allen menschlichen Gruppen auf, die durch die allzu brüske Einführung des Kapitals über den Haufen geworfen werden.
Es gibt ein Phänomen des Entkommens, das man einzig in dem Masse auf die Gewalt zurückführen kann, wie es zur Zerstörung eines gewissen Lebensprozesses beiträgt.
Es ist die eine Art Wahnsinn (der Wahnsinn resultiert aus einer Gewalt über ein menschliches Wesen und kann seinerseits Gewalt sein, die einen gewissen Lebensprozess einrichten oder wiedereinrichten will), der von demjenigen zu unterscheiden ist, der sich auf Grund der vollständigen Enteignung des Menschen durch das Kapital einstellt. Die vollständig ihres Eigenen beraubten, unnütz gewordenen Menschen können – infolge der Entwicklung der Technik – nicht mehr eine harmonische Verbindung der Tätigkeit der Hand und der Tätigkeit des Hirns herstellen und haben eine Quantität Energie, die sie nicht mehr entfalten können, weshalb sie sie in „blinder Gewalt“ loslassen, wie das schon beschrieben worden ist und z.B. darin bestand, dass die Jungen sich daran machten, alles zu zerstören, ohne eine Forderung verlauten zu lassen.
Die in ihrem Lebensprozess blockierten und gehemmten Wesen können bis zur Selbstzerstörung gehen; damit trifft die Gewalt das Subjekt selbst, das sie entfaltet.
19 – Die menschlichen Wesen haben verschiedene Wege geschaffen, um die verlorene Sicherheit wiederzufinden. Wenn die Religion noch eine solch durchschlagende Kraft hat (siehe den Islam), verdankt sie das nicht nur dem Umstand, dass sie eine Gemeinschaft ist, sondern auch der Tatsache, dass sie versichert, indem sie die Menschen definiert und ihnen ihr Lebensgebiet weist. Daher stammt denn auch der religiöse Fanatismus, den die Angst, die Sicherheit zu verlieren, erzeugt. Das Gebiet ihrer Gewissheit soll nicht hinterfragt werden, ansonsten Zweifel die Nutzlosigkeit ihrer Anwesenheit auf der Welt bedeuten könnten.
Die Religion stellt den Menschen, vor allem im Westen, in einen Lebensprozess, der von Entsagung beherrscht wird: ein Lebensprozess, der nicht pflanzlich, tierisch, menschlich sein darf. Es ist das eine Neubildung der Gemeinschaft auf einer Basis, die vollständig entfremdet ist.
Verständlicherweise gab es dagegen mehrere Versuche, Naturreligionen zu begründen.
Die Macht des Staate stammt aus denselben Elementen.
Dieser Wunsch nach Ordnung und Sicherheit findet sich gleichermaßen in der Wissenschaft, deren Macht sich aus der Tatsache ableitet, dass sie a priori ihr Gültigkeitsgebiet, die Schranken, innerhalb derer sie wirken will, bestimmt. Auch die Wissenschaft ist nicht vor dem Fanatismus geschützt.
Außerdem gründet die experimentelle Wissenschaft direkt auf der Gewalt, denn es ist ihr Vorgehen, die verschiedenen physikalischen und biologischen Prozesse zu zerbrechen, um sie zu verstehen. Wenn die Religion in der Gewalt über die Menschen endet, beginnt die Wissenschaft als Gewalt über die Lebewesen und gelangt heute mit der Soziologie und Psychologie dazu, Gewalt auf die Menschenwesen auszuüben. Gewalt ist hier durch das Prinzip der Überlegenheit des Menschen über das Tier und durch das Prinzip der Ordnung gerechtfertigt.
Schließlich suchten sich die Menschenwesen mit der Kunst ein Universum zu schaffen, wo sie das Maß aller Dinge wären.
20 – Mit der Loslösung von der ursprünglichen Gemeinschaft taucht die Dichotomie außen – innen und vor allem diejenige zwischen sich und dem Andern auf, die hinsichtlich zweier Gesichtspunkte das Problem der Identität begründet:
1. Das Problem der Identität hinsichtlich des Subjekts, des Selbst. In diesem Falle ist die Identität synonym mit Eigentlichkeit und Gesamtheit der Merkmale, die das Subjekt in seiner Individualität bestimmen.
2. Der Gesichtspunkt des Andern; hier geht es darum, zu wissen, welches seine Beziehung zum Selbst ist, welches sein mehr oder weniger grosser Unterschied ist und ob dieser vereinbar ist, etc. … Es ist sicher, dass die Frage der Identität vollständig mit derjenigen der Sicherheit verbunden ist, weil das Auftauchen des Andern in seiner Verschiedenheit die Identität des Selbst, des Subjekts in Frage stellen kann, was gleichzeitig beweist, dass dieses mit dem Individualisierungsprozess in Verbindung steht.
Die Behauptung einer Verschiedenheit ist immer als eine Aggression und Bedrohung für die Identität im Sinne 1. empfunden worden. (Siehe den Fall der jüdischen Gemeinschaft.)
Möglicherweise entsteht der Wahnsinn mit der Zerschlagung der Gemeinschaft, denn das Andere ist ein Verschiedenes, das das Selbst in Frage stellt und der Wahnsinnige ist derjenige, der die Gemeinschaft bedroht. Das sich individualisierende Wesen, das aus seiner Gemeinschaft auftaucht, gelangt schwerlich dazu, sich bei sich wiederzufinden, nachdem es diesen Streifzug außerhalb der Gemeinschaft gemacht hat, die von nun an die Tendenz hat, es zu verstoßen.
Die Gewalt äußert sich ebenso im Identifizierungsprozess, in dem das Individuum dank einer Handlung, die ihm erlaubt, sich von seiner ursprünglichen Umgebung zu lösen, in eine gegebene Gemeinschaft eintritt. Von jetzt an hat es das Recht, sich mit ihr zu identifizieren; das Individuum hat sich eine Identität erworben.
Dieses Phänomen spielt teilweise bei der Initiation mit: Bruch mit dem alten Lebensabschnitt im Fall der primitiven Initiation; Bruch mit der alten Lebensweise im Falle der Mystiker (siehe den ausserordentlichen Fall von Milarepa). Die Abwesenheit der Initiation in der heutigen Welt bewirkt, dass ein gewisses Quantum Energie da ist, das sich auf beliebige Weise freisetzen kann.
Heute ist jeder Lebensprozess gestört, zerhackt und deformiert; all die Versagen resultieren daraus, weil die Menschen nichts Wirkliches mehr finden können, wo sie sich entfalten könnten, und nur noch zu existieren vermögen, indem sie (sich) zerstören; denn zerstören ist ein Versuch zu schaffen und zu beschwören.
Das ist innerhalb der verschiedenen Rackets im Gange, die sich in der Kapitalgemeinschaft vervielfachen (Bildung z.B. von Mikrogemeinschaften auf Grund einer gegebenen Handlungsweise, die verschiedene Möglichkeiten realisiert, die sich gegenseitig ausschließen, woraus die Gewalt entstammt. Das Kapital triumphiert somit als Kombinatorium). Auch die Gewalt zwischen Männern und Frauen ist ein Resultat der Infragestellung der Rollen, die ihre Identität begründeten.
21 – Die Entwicklung der Kapitalgemeinschaft sichert dem Individuum Identität und Sicherheit zu, d.h. sie gesteht ihm ein gewisses Sein zu, das man entweder als gesellschaftlich, um seinen Ursprung anzugeben, oder als gemeinschaftlich bezeichnen kann, um besser hervorzuheben, in welchem Stadium wir uns heute befinden. Die Menschen fühlen immer mehr, dass sie in einer Abstraktion leben (die Entwicklung des Kapitals wird von einem immensen Abstraktionsprozess begleitet und setzt ihn voraus; auch er deutet auf den Trennungsprozess hin und verwirklicht ihn) und dass sie nur durch Vermittlungen zur Wirklichkeit gelangen. Daraus erwächst eine offensichtlich unerklärliche, irrationale Gewalt, die das einengende gesellschaftliche Wesen (und seine andern Seinsweisen: „Person“ = Maske und „Rolle“) zerschlagen möchte, um eine oft schwierig definierbare Unmittelbarkeit wiederzufinden.
Solcherart ist der Ausdruck einer – im allgemeinen verurteilten – Gewalt gegen eine kristallisierte Gewalt, die strukturiert ist, als sei sie und gehe sie von selbst. Denn die Rationalität einer Welt entgeht uns, die eine Wahrnehmung zur Folge hat, die recht gut durch den Gedanken illustriert wird vom Sein, das wie durch eine Fatalität in die Welt geworfen ist, der man sich zu beugen hat: dass also alles schon von Anfang an gespielt ist.
Die Reduktion des Lebens auf eine absurde Routine (und das Absurde enthält die direkte, auf uns abstellende, und die indirekte Gewalt: ihre Umwendung-Entwendung) drückt sich hinsichtlich des Erwachsenen gut im „metro, boulot, dodo“ (zur Arbeit fahren, arbeiten und Schlafen) aus, während das Kind in der Schule darauf vorbereitet wird. Gerade heute erfährt in Folge der immer mächtiger werdenden Abstraktionsbewegung die Phase der Kindheit eine Verkürzung. Die Kinder, denen man schon früh Abstraktionen beizubringen versucht, rebellieren auf vielerlei und oft hinterhältige Art und Weise dagegen und verwirren Soziologen und Psychologen.
Man auferlegt uns einen Lebensrhythmus, eine bestimmte Art der Ernährung, die zu gewissen Tageszeiten einzunehmen ist, und eine Kleidermode auf. Man zwingt jederman zu demselben Vorgehen, ohne auch nur die Frage zu stellen, ob das mit der Realität unseres biologischen Wesens übereinstimmt.
Insoweit das Phänomen der Vermaßung und Homogenisierung gehemmt wird, beruht die Diversifizierung nicht auf Individuen, die spontan ihre Verschiedenheit behaupten könnten, sondern wird durch die Mikrogemeinschaften getragen (s. 20).
Sprache ist eine Zwangsstruktur, die als besondere Sprache durch ihren Bezug zum Staat noch verstärkt wird. Diese Sprache stellt uns Fallen und hemmt die Schöpfung.
Um die Gewalt zu überwinden müssen wir wissen, was Mann und Frau sind, und unsere Wurzeln verstehen. So sind auch die Ablagerungen der Kenntnisse, die sich in einer gegebenen Sprache, in einer gegebenen Kultur abstrahieren, in die wir vollständig eingetaucht sind, zu dechiffrieren.
22 – Für die Verhaltensforscher steht die Gewalt in direkter Verbindung mit der menschlichen Aggressivität und diese äußere sich insbesondere in der Verteidigung des Territoriums. Man hat jedoch vollständig vergessen, die Beziehung zwischen der Sicherheit und dem Raum zu studieren, der durch ein gewisses Territorium bestimmt wird, das eine bestimmte Vorstellung erlaubt. Es handelt sich nicht einfach um ein Phänomen von Privateigentum, sondern um eine Frage der Vorstellung, wie man sich dessen vergewissern kann, wenn man die verschiedenen kosmogonischen Vorstellungen studiert, die von den verschiedenen menschlichen Wesen sich zu eigen gemacht worden sind, und man die Schwierigkeiten sieht, die es immer gegeben hat, sie zu widerrufen. (Siehe den Kampf der Kirche gegen das heliozentrische Weltbild.)
Letztlich kann die wahnsinnige Bevölkerungsvermehrung nur zu einer weiteren Zähmung und zum allgemeinen Despotismus führen, wenn nicht sogar die Gefahr der Explosion besteht. Dieses Wachstum vermindert den für ein Wesen verfügbaren Raum, was, nach Konrad Lorenz, unausweichlich zu gewaltsamen Konflikten führen muss, wenn die Riten, die bis an hin zu ihrer Vermeidung dienten, wie die Unterordnung und Hierarchisierung, wegfallen. Was jedoch bestimmend ist, ist die immer häufiger beklagte Unmöglichkeit, sich vorzustellen; die Menschen haben keine Grundlage mehr. Das macht sich innerhalb der städtischen Bevölkerung immer heftiger bemerkbar, die jede Weite der Perspektive verliert und deren Triebe kastriert sind.
Die Reduktion der Männer und Frauen auf Raum und Zeit ließ ihnen noch die Möglichkeit, sich vorzustellen; ihre Vertreibung aus Raum und Zeit reduziert sie auf neutrale Partikel, macht sie vom Lebensfeld des Kapitals abhängig. Sie sind seine Domestiken.
Um Reibungen zu verhindern, ist es immer noch das beste, alle Leute identisch zu machen; daher die gegenwärtige Homogenisierung (der die Erscheinung der Demokratisierung vorangeht). Um herrschen und organisieren zu können, muss jede und jeder auf dieselbe Situation reduziert werden.
23 – Die andern Lösungen, um die Gewalt zu beseitigen, landen auch in der Zähmung: Toleranz und Relativismus. Tolerieren läuft aufs Akzeptieren hinaus, ja sogar häufig auf die Verteidigung der Positionen der andern (geschichtlich gesehen darum, weil sich die menschlichen Gruppen nicht mehr durchzusetzen vermochten). Der Relativismus entsteht mit der Behauptung, dass es nichts Absolutes gebe (kein Dogma) und er wird durch den Gedanken gestützt, dass im Grunde alles möglich sei, und durch den Zweifel an der Gültigkeit dessen getragen, was vorgegangen ist. In beiden Fällen gelangt man dazu, alles anzunehmen, vor allem, weil die Adepten der Toleranz und des Relativismus gleichermaßen Parteigänger der Freiheit sind. Doch ist es unmöglich, Freiheit auf ein bestimmtes Gebiet einzuschränken, weshalb denn auch an ihrer – häufig erreichten – Grenze Freiheit das Recht ist, debil zu sein.
Toleranz und Relativismus haben ihre Grundlage auf dem Prinzip der Rechtfertigung, das ein Prinzip der Annahme des Unmittelbaren ist; sie florieren als Immediatismus.
Indem die Männer und Frauen postulieren und tolerieren, dass alles relativ ist (Prinzip des Nichtunterscheidens), hemmen sie ihre Triebe, beschränken sich selbst und äußern sich nur mit geringer Intensität und zurückhaltend, sodass umgekehrt die kräftige Bejahung der eigenen Wesensart und Gedanken, etc. …, die sichere und bestimmte Behauptung also, als Intoleranz, Gewalt und Despotismus betrachtet werden.
Das ist gegenwärtig sehr augenscheinlich, wo viele Personen, vom Nazismus, Stalinismus und andern Terrorismen traumatisiert, es am besten finden, alles neutral zu akzeptieren (siehe Cioran). Der Verlust der Leidenschaft und der Energie wird als Ideal angestrebt. Mehr und mehr hat man es mit lebenden Suizidierten zu tun.
Toleranz und Relativismus sind als Reaktion gegen den Despotismus entstanden; die antiautoritäre Bewegung ist aus der Opposition gegen den rigiden Autoritarismus hervorgegangen, der mit dem Despotismus des Kapitals während seiner Phase formaler Herrschaft über die Gesellschaft verbunden war. Auch sie hat nur einen Teil der Realität begriffen und endet in der Zähmung. Denn die antiautoritäre Erziehung führt zur Abdankung der Verantwortung der Eltern, wenn sie keine Bezugspunkte und keinen Gesamtzusammenhang für die Entwicklung der Kinder darstellen.
Das hat zu einem Verlust des Energiepotentials der Kinder geführt und es ist nicht erstaunlich, dass die nach den antiautoritären Prinzipien aufgezogenen Generationen in der Droge eine leichter zugängliche Realität suchen, die sich nicht entzieht; jede Anstrengung ist also gebannt. Denn die Folge des Energieverlustes ist die Flucht vor der Anstrengung, die in allen Fällen als Zwang und Gewalt verstanden wird.
Die „permissive“ Gesellschaft ist die Gesellschaft der Zähmung.
Toleranz und Relativismus bilden den integralen Teil des Rekuperationsprozesses des Kapitals, sodass es heute praktisch unmöglich ist, dagegen zu sein, als Revolutionär verstanden zu werden, weshalb denn auf die Gewalt zurückgegriffen wird, die endlich erlaubt, als Gegner anerkannt zu werden und der sich denn auch gewisse gegenwärtige Revolutionäre hingeben.
24 – Es ist noch auf Erscheinungen hinzuweisen, die als heftig charakterisiert werden, ohne unbedingt an Gewalt teilzuhaben, was nicht heißt, dass diese vollständig fehlt und nicht die Gefahr besteht, dass sie auch einwirkt. Die Intensität dieser Phänomene einschränken zu wollen, um eine rein hypothetische, d.h. unmögliche Gewalt zu beschwören, ist jedoch gleichbedeutend mit der Kastration und Zähmung der Wesen. Je mehr das angestrebt wird, umso mehr deutet das auf den Verlust von Energie der Menschen, auf ihre Degeneration, hin. Man hat allzusehr vergessen, dass leben das Leben riskieren heißt.
So weisen in der Liebe viele die Leidenschaft zurück (indem ich eine solche Trennung mache, begebe ich mich auf den Boden dieser Personen, jedoch, um mich besser verständlich zu machen), weil die Liebe heftig ist. Das ist wahr, wie es auch wahr ist, dass Liebe Gewalt sein kann, nicht weil das nichtgeliebte Wesen dasjenige, das es liebt, zerstören, sondern weil die nicht in ihrer Gänze erfüllte Liebe zum Wahnsinn führen kann.
Die Selbst-Behauptung – in einer Welt, wo jeder furchtbar durch die Wirklichkeit des Kapitals verneint wird und die tolerante Neutralität in Ehren ist – wird von den andern oft als Aggression erlebt.
Diese Phänomene zeigen die Degeneration der Gattung an, die mit dem Verlust von Territorium und Raum, mit ihrer Unterwerfung unter eine mechanische Zeit, mit dem Verlust der kosmischen Dimension und der biologischen Kraft verbunden ist, da sie ihre Wurzeln verloren hat und die Gemeinschaft auf eine nukleare Familie und manchmal noch weniger reduziert worden ist. Man versteht darum, dass es Leute gegeben hat (v.a. seit Ende des letzten Jahrhunderts, insbesondere Gobineau), die, wegen dieser Degeneration bestürzt, im Kult der Elite eine Lösung und ein Heilmittel sahen. Dieser Elitarismus lauft aber darauf hinaus, einer großen Menge von Menschenwesen ihre Möglichkeiten abzusprechen, sie zu negieren und zu hemmen; er ist also ein Sprungbrett für den Rassismus.
25 – Es gibt menschliche Verhalten, die als selbstverständlich, sozusagen neutral angeschaut werden, letztlich jedoch Gewalt in gemässigterer Form enthalten: Gewalt in Form der Hemmung, die darin besteht, das Werden eines Prozesses zu blockieren.
Wenn jemand zu viel gibt, um anerkannt zu werden und sich behaupten zu können, so legt er sich nicht darüber Rechenschaft ab, dass seine sogenannte Gabe für die Entwicklung des Andern ein Hemmnis ist. Es ist ein Egozentrismus, ein Wunsch nach Verwertung und Kapitalisierung etc. … Nun besteht gerade heute die große Tendenz, dass Menschen als notwendige und momentan absolute Vermittler auftreten, was nichts als Abhängigkeit schafft. Beim Andern Abhängigkeit zu schaffen, heißt ihn sich gefügig zu machen.
Das ist wesentlich in der Beziehung zum Kind. Fast alle Erziehungs- und Lehrmethoden hängen von Gewalt ab, denn sie respektieren den Lebensprozess des Kindes nicht, das seinen eigenen Rhythmus hat. Sie hängen in Wirklichkeit von der Dressur und Zähmung ab.
Alle Formen der Hemmung lassen sich aus der Tatsache ableiten, dass diejenigen, die sie hervorrufen, der Anerkennung und der Bestätigung bedürfen. Sie haben deshalb immer die Tendenz, ihre Akte materiellen und immateriellen Gebens (mit Bedeutungen, Wohlwollensäußerungen, etc. …) zu überladen. Abhängige Wesen können sich nur retten, indem sie andere abhängig machen. Sie können nicht die Gleichzeitigkeit der Leben leben, was vollständig jenseits des einfachen Akzeptierens der andern ist. Darum wird auch das Schweigen – ein Moment der Ruhe und Dichte der Aufnahme des Andern in seiner Situation auf der Welt, also in seinem kosmischen Bezug und in seiner Vertrautheit, wobei seine eigene Realität gewahrt bleibt – so selten in der Kommunikation zwischen Männern und Frauen.
Die Existenz der Abhängigkeit verbindet sich mit der Suche nach Autonomie und führt sehr oft in dem Masse zu andern Formen der Gewalt, wie die Menschen, um zu ihr zu gelangen, die Bande ihres Lebensprozesses unterbrechen. Das könnte positiv sein, doch wird diese Verselbständigung, die innerhalb einer individualistischen Dynamik geschieht, vom kapitalistischen Prozess der Trennung der menschlichen Wesen und ihrer Reduktion auf neutrale Partikel absorbiert. Das führt zur Einsamkeit.
Die Gefahr der Autonomie ist die Zerstörung einer jeden Möglichkeit des Gemeinwesens.
26 – Die Kapitalgemeinschaft hat Mittel zur Integration der Männer und Frauen in ihren Prozess entwickelt, die sich nicht mehr als Gewalt bezeichnen lassen, denn sie bringen keine direkt zwangsmäßigen Kräfte ins Spiel, die Schaden verursachen könnten. Eines der am besten ausgearbeiteten Mittel ist der Marketing. Die Publizität ist eine seiner Stützen. Sie ist wie die Mode, die Verführung des Kapitals, die darin besteht, in den menschlichen Wesen eine gewisse Sensibilität zu erregen und eine Haltung einzuführen, die sie die materiellen und immateriellen Produkte suchen lassen, die der Gesamtprozess des Kapitals erzeugt.
Die Verführung ist für gezähmte Wesen eine Gewalt. Das stellt andrerseits die Frage nach ihrem Gehalt und Bestand in den menschlichen Beziehungen, die noch nicht durch das Kapital verwüstet worden sind.
In der Mode tritt die Nachahmung ins Spiel, eine tiefgehende Erscheinung, wobei Männer und Frauen Seinsweisen und Verhalten suchen, um eine Grundlage in der Welt zu haben. Die Perversion dieses Triebes ist eine Gewalt, die auf die Gattung ausgeübt wird. Menschen suchen ebenso ein Mittel, um sich mit einer Gruppe zu identifizieren und sich von der Situation trennen zu können, in der sie sich gegenwärtig befinden.
27 – Eine häufig unbemerkte und dennoch sehr mächtige Form der Gewalt, die die Menschen ihrer Wurzeln der Realität beraubt, stellt die Verinnerlichung des Postulates dar, es sei kein Genuss möglich. Marx betrachtet es zurecht als charakteristisch für das Kapital. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen: einerseits sollen die Frauen und Männer abgestumpft werden (mangelnder Enthusiasmus, die Schwierigkeit, sich einer Sache oder einem Wesen ganz hinzugeben: sie werden mittels verschiedener psychologischer Therapien zu heilen versucht), andrerseits soll die Intensität des Phänomens, das den Genuss erzeugen soll, gesteigert werden. Das steht ebenfalls mit der wachsenden Aggressivität des Milieus in Beziehung, in dem man lebt. Daraus ergibt sich nun eine widersprüchliche Situation: je mehr die Menschenwesen neutral werden, der Energie ermangeln und damit unfähig sind, der Gewalt zu begegnen, umso größere Stimulantien brauchen sie, um zu Emotionen zu kommen. Das Bedürfnis nach Drogen ist die beste Illustration für die Unfähigkeit zu genießen. Das Resultat ist die Zerstörung der Wesen, ihre Zähmung, denn sie werden immer mehr von der Kapitalgemeinschaft abhängig.
Auf diesem Gebiet, das den ganzen Lebensbereich umfassen möchte, äußert sich die Gewalt durch ihren Schein und nicht so sehr durch ihre Wirklichkeit. Es ist ein Spektakel der Gewalt, das sehr gut zu den passiven und abhängigen Wesen passt.
Diese Analyse bewahrheitet sich auch im Fall der Liebe, wo immer mehr der Sadismus und (wahrscheinlich besonders auch) der Masochismus Eingang findet, der am besten die Abhängigkeit der Wesen veranschaulicht. Dennoch ist es schwer, die genaue Beziehung zwischen dem, was Perversion genannt wird, und der Gewalt zu bestimmen.
Durch den Kredit und die Inflation werden die Menschen dazu gebracht, einen Genuss zu suchen, der niemals zugänglich ist und sich nie entfaltet.
28 – Der Terrorismus ist die heftigste Gewalt, weshalb er auch die Möglichkeit des Auslöschens und der Vernichtung einschließt. Er wurde – in der Revolution von 1789 – befürwortet, um einen Prozess, der eben eingesetzt hatte, zu verteidigen. Marx ließ sich davon inspirieren und theoretisierte die Notwendigkeit des Gebrauchs des roten Terrors (s.die Artikel der Neuen Rheinischen Zeitung).
Gewalt wurde in gleicher Weise – von den französischen Revolutionären und von Marx – als einziges Mittel betrachtet, um den Transformationsprozess zu beschleunigen und die Quantität der Gewalt klein zu halten. Als Geburtshelferin der Geschichte angesehen, sollte der Gebrauch des Terrors Gewalt auf ein Minimum reduzieren.
Es musste ein Mittel gefunden werden, um den Terror zu kontrollieren und daran zu hindern, sich zu verselbständigen; Robespierre appellierte dabei an die „vertu“ und Marx an die bewusste und homogene Organisation der Partei (was von Lenin und den Bolschewiki in die Tat umgesetzt worden ist ).
Die revolutionäre Gewalt hatte nicht nur eine Rechtfertigung nötig, nämlich ihr Ziel einen Prozess zu begründen, innerhalb dessen die Männer und Frauen endlich ihre Humanität sollten entwickeln können, sondern auch eine Vermittlung und zeigte damit ihre Heteronomie. Im übrigen ist die „vertu“ z.B. ein allgemeines Äquivalent wie Gott, Freiheit, Gerechtigkeit, etc. … Sie stammt aus einer und impliziert eine Gewalt, um zu sein, was das Schicksal eines jeden allgemeinen Äquivalentes ist, das nur zum Preis eines Reduktions- und Abstraktionsprozesses möglich ist.
29 – Der Terrorismus zielt nicht nur auf die ab, die er direkt berührt, sondern auch auf jene, die er nicht erreicht (er ist Gewalt und Hemmung in einem). Es wird tatsächlich eine Botschaft übertragen, die im Falle, wo der Terror vom Pol der herrschenden Macht ausgeht, eine Warnung mit der Bedeutung sein kann, dass jede Revolte unmöglich und jeder Versuch zur Niederlage und zu einer großen Repression verurteilt ist (also keine Möglichkeit besteht, den Prozess zu brechen). Im Falle, wo der revolutionäre Pol Ausgangspunkt des Terrors ist, exaltiert er die Notwendigkeit, den Prozess des Kapitals zu brechen; er bedeutet die Unerträglichkeit der Existenz in einer gegebenen Gesellschaft; er zeigt, dass der König nur König ist, weil seine Untergebenen ihn als solchen anerkennen; er ruft die „Identität“, d.h. die den Ausgebeuteten eigene Realität wieder ins Leben, wie das F. Fanon und der Black Power gezeigt haben, insbesondere mit ihrem Slogan: „Black is beautiful“.
Es ist klar, dass der Terrorismus die Frage der Sprache stellt (insbesondere nach ihrer hemmenden Dimension), die Frage der Kommunikation zwischen dem Individuum und der Gruppe, zwischen der Gruppe und der Klasse und dem Volk. Ein gewaltsamer Akt ist notwendig, um die gegebene Vorstellung zu brechen und zu zerschlagen, damit die Massen zu einem gewissen Verständnis der Realität gelangen (eine Thematik der Populisten: derjenigen, die das Proletariat aus seiner Lethargie herausholen möchten und derjenigen, die wie Mussolini ihre Zeitgenossen als Kadaver betrachten, auf die man ungelöschten Kalk werfen muss, um sie wieder zum Leben zu erwecken).
Da es jedoch keinen König mehr gibt, demokratisiert sich auch der Terrorismus und wird umso mörderischer, denn er muss treffen, um einen Sinn zu haben, und ein Kräftezentrum schaffen, wo sich viele Personen polarisieren.
Die Massenmedien sind deshalb immer mehr dafür bestimmt, die Menschen passiv zu machen und sie zu zähmen. In den am höchsten entwickelten Zonen der Kapitalgemeinschaft besteht keine Notwendigkeit mehr, der Zähmung wegen auf den Krieg zurückzugreifen. Man lebt mit einem mehr oder weniger verinnerlichten und zur Schau gestellten Terrorismus.
In der Kapitalgemeinschaft taucht der Terrorismus auf, um Unterschiede zu schaffen und den Flux wiederherzustellen, ohne den die Aushebung Stagnation hervorriefe; die Menschen selbst greifen zum Terrorismus zurück, um sich zu unterscheiden und anerkannt zu werden. Und da das Kapital nur noch Vorstellung ist, wird im übrigen alles eine Frage der Macht und diese kann nur durch eine Manifestation ihrer Stärke in Erscheinung treten. Die Welt nährt sich mehr und mehr von der Gewalt.
Der Terrorismus kann auch mit dem Ende der Politik und dem Verschwinden gewisser Regeln in Zusammenhang gebraucht werden, die bis dahin die Gewalt zu kontrollieren vermochten (die Politik regiert nichts mehr).
Die Tatsache, dass die revolutionäre Gewalt leicht zum Terrorismus wird, um wirksam zu bleiben, ist durch den immer größeren Verlust an Energie und die Apathie der Leute bedingt. Es braucht immer stärkere Stimulantien, um sie zu bewegen, denn die Leute sind durch die Massenmedien mit Gewalt übersättigt, die eine Banalität wird; wie vieles Anderes, was aufregend ist, erscheint ihnen alles natürlich. Der Terrorismus möchte jedoch die Realität in ihrer wesentlichen Bestimmung hervortreten lassen, damit die menschlichen Wesen gezwungen würden, in Bezug auf sie Stellung zu nehmen.
30 – Gewisse meinten, das einzige Mittel, die Entfaltung von Gewalt und Terror zu vermeiden, bestehe darin, nur in dem Moment einzuschreiten, wo die Situation dafür reif ist. Sie stützten sich auf die Theorie von Marx, die besagt, dass sich ein sozialer Umsturz nur ereignen kann, wenn die Produktivkräfte einen gewissen Stand der Entwicklung erreicht haben und in Konflikt mit den gesellschaftlichen Beziehungen treten, die gesellschaftliche Gesamtheit also in einen Umwandlungsprozess geschleudert wird und es aus der Tatsache heraus, dass die riesengroße Mehrheit der Bevölkerung betroffen wird, deshalb keine überbordende Gewalt geben kann. Das war die Perspektive der Sozialdemokratie, die man in ihrer gemässigteren bei Kautsky, ihrer radikaleren Form bei Rosa Luxemburg beobachten kann.
Das große Problem war die Bestimmung dieses Momentes der Reife und das Darauf-warten-können, was den am meisten Entrechteten schnell einmal nahelegte, ihren Wunsch nach Veränderung zurückzuhalten. Daraus bildete sich das repressive Bewusstsein und eine gesellschaftliche und geschichtliche Hemmung.
Die Intervention bleibt deshalb sehr beschrankt; der Wille hat keine Bedeutung und wird als Mangel betrachtet.
Diese Auffassung konnte nur gültig sein, wenn der Lebensprozess des Kapitals auf das Verhalten des Arbeiters keine Folgen hatte. Marx hatte jedoch im Buch 1 des Kapitals klargemacht, dass der Arbeiter tendenziell gezähmt wird, da er die Herrschaft des Kapitals als ein Naturphänomen betrachtet; in einer zweiten Phase, wo er vom einfachen Produzenten zum Produzenten-Konsumenten wird, achtet er die Herrschaft nicht einmal, denn er hat sie verinnerlicht. Er ist integriert. Möglicherweise war die revolutionäre Intervention, die Marx wollte, notwendig, um diese Phase zu überspringen; das zöge auch die Möglichkeit in Betracht, dass der Kapitalismus nicht unbedingt im Kommunismus enden muss. Damit dem so sei, müssten die menschlichen Wesen immer bereit sein, zu handeln, immer voller revolutionärer Wut sein.
31 – In der Geschichte gab es häufig Augenblicke, in denen die Gewalt und der Terrorismus entglitten: in Genozide und in Momenten kollektiven Wahnsinns. Gegenwärtig werden Gewalt und Terrorismus aufgrund der Notwendigkeit von Neuem frei, die Phantasie der in Passivität versunkenen Leute immer heftiger anzuregen, die durch das Wegfallen der Rollen orientierungslos geworden sind.
Man stellt allgemein fest, dass der Terrorismus sich am Ende von Perioden entwickelt, wenn es schwierig geworden ist, sich zu orientieren. Der individualanarchistische Terrorismus Ende des letzten Jahrhunderts zeigte das Ende der bourgeoisen Gesellschaft an, das sich im Kriege 14/18 vollstreckte. Der gegenwärtige Terrorismus äußert den potentiellen Tod des Kapitals. Es werden andere Katastrophen sein, als ein sehr unwahrscheinlicher 3. Weltkrieg, die es real zerstören werden.
Der Terrorismus rührt in diesem Falle von der Unmöglichkeit her, die Wurzel des Übels zu begreifen. In den Momenten, wo bis auf den Grund der Dinge gegangen werden sollte, erreicht die Gewalt, die die Ursachen dessen, was die Gesellschaft unterminiert, abzuschaffen sucht, ihr Objekt nicht und macht sich, entkommt.
32 – Angesichts der Tatsache, dass der Ausweg aus der gegenwärtigen Sackgasse nicht mehr innerhalb der Kapitalgemeinschaft, sondern außerhalb von ihr zu suchen ist, dass diese Welt also verlassen werden muss, besteht die Notwendigkeit einer Intervention und deshalb auch einer Gewalt, weil wir uns von dem durch das Kapital beherrschten Lebensprozess losreißen müssen. Andrerseits ist es gewiss, dass dieses – sobald das Phänomens des Aussteigens eine gewisse Breite erreicht haben wird – wird einschreiten müssen. Das Erscheinen eines Unterschieds erzeugt Gewalt von Seiten dessen, was sich bedroht fühlt. Man wird sich verteidigen müssen.
Man kann der Gewalt nicht aus dem Wege gehen, doch kann man, wiederholen wir es, vermeiden, sich auf den Boden der Gewalt des Kapitals zu begeben. Unsere Gewalt wird darin bestehen, uns außerhalb seiner Sphäre zu stellen. Das ist das einzige Mittel, die Intervention bis zu deren Wurzeln zu tragen und so eine große Anzahl gewaltsamer Erscheinungen ihrer Grundlage zu berauben.
Man kann dagegen der Zähmung entgehen. Unser Ausstieg aus der Welt zielt darauf ab, zu einem Energiepotential Zugang zu finden, das ein immenses Verweigerungspotential sein wird; unser Anderswerden wird die Abschaffung der vieltausendjährigen Irrnis bedeuten und wir werden uns endlich als Gattung-Phylum wiederfinden, die das Phänomen der Reflexion des Lebens in Symbiose mit allen Lebewesen verwirklichen soll. Es geht um die Erreichung und Verwirklichung der Individualität und des Gemeinwesens innerhalb der Gattung, wo Mann und Frau gleichzeitige, einander durchdringende Lebensformen leben werden.
33 – Bevor wir auf die Möglichkeit eines Weges außerhalb des Kapitals weisen, müssen wir noch die Gewalt als ein menschliches Verhalten in der Natur betrachten, d.h. als Eingriff der Gattung. Es ist schon aufgezeigt worden, dass die Jagd, die Landwirtschaft, die Zähmung und Aufzucht von Tieren ebenfalls Gewaltakte sind. Das gilt auch für die medizinischen und wissenschaftlichen Eingriffe. Das Problem der Gewalt führt also auch zur Frage der Gültigkeit der Intervention und konsequenterweise zur Frage der Therapie, da diese doch im allgemeinen dafür verwendet wird, die Nachteile auszuflicken, die sich als unerwünschte Resultate einer Intervention ergeben. Es ist klar, dass die Ablehnung eines jeden Eingriffs die Gattung in eine Passivität führte und sie wieder ganz in der Natur versinken ließe. Das bedeutete eine Rückkehr in den ersten Zustand, aber auch eine totale Degeneration. Die Intervention in die Natur soll jedoch in vollständiger Kenntnis der verschiedenen Lebensprozesse vonstatten gehen und so oft als möglich so, dass an ihre Stelle keine Prothesen und kein Ersatz treten sollen. Das lässt der Gattung das Feld der Intervention offen, die Schöpfung in Funktion all der Bestimmungen der Gattung ist, deren wesentlichste ihre Reflexivität ist. Diese ist im Phänomen des gesamten Lebensprozesses einbegriffen, dessen Entfaltung wir zulassen dürfen.
34 – Das Phänomen der Geburt veranschaulicht aufs Beste unsere Positionen. Es ist das ein Prozess, der in kontinuierlicher Weise das Wesen aus dem aquatischen Stadium in ein Lebensstadium an der Luft hinüberbringt. Zu diesem Zwecke interveniert eine Serie von Mechanismen, die dem Fötus erlaubt, über Phasen hinweg, die sich in strenger Ordnung folgen und deren jede ihre eigene Dauer hat, als menschliches Junges zu erscheinen. Es tritt dabei keine Gewalt auf, was nicht heisst, dass das Ereignis nicht heftig, also mit viel Kraft verbunden ist und eine grosse Menge Energie freisetzt. Tatsächlich sind die Anstrengungen des Kindes, aus der mütterlichen Höhlung herauszukommen und diejenigen der Mutter, das Kind hinauszustoßen, von großer Weite. Gewalt entsteht jedoch dort, wo dem Prozess entgegengearbeitet wird, wie das fast immer der Fall war, als die Entbindungsmethode nach Leboyer noch nicht bekannt war.
Auch die Erziehung des Kindes und seine Bildung sollten gewaltlose Übertragungen sein, d.h. geeignet, das Kind die verschiedenen Schritte zur Reife tun zu lassen, ohne dass an seinem Lebensrhythmus gerührt würde. (Was am Beispiel der Geburt gezeigt wurde, gilt ebenfalls für die Entwöhnung, die Pubertät, etc …) Es braucht eine Art Initiation, die das Kind nicht zu seiner Autonomie, sondern zu seiner Realität gelangen lässt, die nie parzellär ist, da in jedem von uns sich die Gemeinwesens-Identität entwickelt.
Es scheint, dass die Initiation, wie sie ursprünglich ablief, ein Moment im Leben des Kindes war, in dem zwei Phasen des Lebens nebeneinander existierten und es im Laufe des Rituals, in dem sich alles zuspitzte, dem Kinde möglich wurde, vielleicht nicht schmerzlos, aber sicher ohne Gewalt, den Schritt von einer Phase in die andere zu vollziehen. Die Initiation enthielt die Vorstellung all dessen, was auf das Kind zukommen sollte, ermöglichte also eine Stellungsnahme dazu und eine gewisse Beherrschung des Zukünftigen. Das Kind steht also nicht einfach vor einem Unbekannten, das es terrorisieren könnte.
Um die Gewalt zu vermeiden, müssen die Beziehungen zwischen Phylogenese und Ontogenese respektiert werden. Im Verlaufe der letzteren werden teilweise Phasen der ersteren wiederholt.. Dasselbe spielt sich auch in den Beziehungen zwischen Individualität und Gattung ab. Indem man die Aufeinanderfolge der Phasen allzu stark forciert oder sogar versucht, sie zu überspringen, produziert man Krüppelwesen. Denn wenn der Prozess – und das gilt vor allem für die Ontogenese – nicht vollständig vollendet wird und lückenhaft bleibt, stellt sich beim nicht vollendeten Wesen der Hang ein ein, den Prozess noch einmal zu durchleben, um endlich zu seiner Erfüllung zu gelangen. Daher bringt diese Welt Erwachsene hervor, die überhaupt noch nicht erwachsen sind und vollständig von einer noch nicht vollendeten mehr oder entfernten Jugend abhängen.
In gewissen Fällen hat die gegenwärtige Bildungsmethode Erfolg und die Kinder erlangen die außergewöhnliche Abstraktion, die die Entwicklung des Kapitals verlangt. Das geschieht auf Kosten ihrer Affektivität und Spontaneität… Es bilden sich Wesen, bei denen jede Sensibilität unterernährt ist; sie werden die geeigneten Chefs für die Kapitalgemeinschaft sein.
35 – Sicher muss man zu einer Abstraktionsfähigkeit gelangen (vollständige Verwirklichung der Reflexivität), doch der Weg zu ihr soll langsamer zurückgelegt werden und für jedes Individuum ein eigener sein. Die Abstraktion wird man auf Weisen erlangen, die niemals ausschließen und die Ganzheit konstant in Rechnung gezogen wird. Die Menschen müssen die vorangegangenen Phasen einbeziehen können, die Momente des Lebens ihrer Vorfahren sind. Nur so haben diese nicht für nichts gelebt und hält sich die Kontinuität zwischen den Generationen aufrecht. Denn in der Unterbrechung dieser Kontinuität ist Gewalt enthalten. So werden die verschiedenen Etappen der Erlernung des Schreibens, des Lesens, des mathematischen Denkens und der verschiedenen Logiken, aber auch der Geschichte, Philosophie, etc. … (bedenkt man das gegenwärtig getrennte Wissen, denn es ist klar, dass die Kenntnisse nicht mehr nach Disziplinen aufgefächert sein werden) ganz anders angegangen werden müssen, als das zur Stunde geschieht, wobei die Grundlage, die Lebensweise, viel weniger abstrakt sein wird, als heute.
Ein Wesen, das die verschiedenen Prozesse, die es aufbauen sollen, nicht auf harmonische Weise vollendet hat, ist ein abhängiges Wesen, und das umso mehr, als es nicht zur Wahrnehmung der Wurzel dieser Gebrechlichkeit gelangt, denn wir haben gesehen, dass der Prozess, der uns als männliche oder weibliche Wesen hervorbringt, in sich sehr alte Phasen birgt, die Teile der Phylogenese bilden. Im übrigen greift ein solches abhängiges Wesen häufig auf die Gewalt zurück, um seinen Mangel zu verhüllen.
36 – Letzten Endes ist die größte Gewalt, die die Gattung hervorgebracht hat, diejenige gegen sich selbst, indem sie sich verselbständigt und sich ihrem biologischen Wesen entfremdet hat. Diese enorm groß gewordene Kluft begründet die Notwendigkeit aller Arten von Eingriffen und Gewalt.
Die ihrer Anlage nach früchteessende Gattung ist fleischfressend geworden, daraufhin omnivor-carnivor und isst zu viel Gekochtes und Verfälschtes. Die Küche ist die schlimmste Erfindung und erlaubte die Zähmung; sie hat eine Menge Krankheiten hervorgerufen, die ihrerseits die Entwicklung verschiedener medizinischer Praktiken erforderten, die, vor allem was die modernen Therapien betrifft, dazu beitragen, Männer und Frauen zu entwurzeln und sie ausserhalb ihrer Natur zu stellen.
Dasselbe geschieht mit der Enteignung der Geste, des Wortes und der Phantasie: die technische Gattung wird – bis auf eine immer kleinere Minderheit – vom Kapital und denjenigen, die sich gegen die Technik auflehnen und in ihr das Übel sehen, ihrer Technologie beraubt.
Die Technik ist nicht nur das, wie Aristoteles dachte, was notwendig ist, um dem Ungenügen der Natur abzuhelfen, sondern sie ist das grundsätzliche Element, das erlaubt, alle Möglichkeiten, die von andern Gattungen verwirklicht worden sind, zu reaktualisieren. Über die Gattung Mensch entwickelt sich das Leben nicht, indem es immer ärmer wird.
37 – Mit der Gewalt Schluss zu machen impliziert die Abschaffung der Abhängigkeit, die die Trennung zwischen sich und andern sanktioniert und der ursprünglichen Gewalt, der Ursache der Irrung, ihre Weihe erteilt, impliziert die Zerstörung der Grundlage der Zähmung. Abhängigkeit zu beseitigen heisst nicht, die Bande zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft aufzulösen, sondern fordert ganz im Gegenteil die notwendige Beseitigung der Trennung. Denn diese erfordert die Herstellung äußerer Vermittlungen, um die Vereinigung wieder herzustellen. Der Begriff der Symbiose mag das Gegenteil von Abhängigkeit bedeuten.
Die Ablehnung der Abhängigkeit drückt sich im Willen aus, den Körper wieder zu entdecken (damit wird der Abstraktion und der Exaltation der Trennung begegnet). Es ist der Wille, sich zu gehören und sich selber in die Hand zu nehmen. Eine Konsequenz daraus ist die Verweigerung der Macht der Medizin, jeder Therapie und die Suche einer gesunden Ernährung, die unserm biologischen Wesen entspricht, was über den Problemkreis der gegenwärtig modischen biologischen Landwirtschaft hinausgeht.
Es wird auch weiterhin die Möglichkeit der Gewalt zwischen Menschen bestehen, denn sie werden weiter werden und dieses Werden wird nicht ohne Brüche im Prozess vonstatten gehen; das Gemeinwesen wird aber in der Lage sein, das Phänomen Gewalt, wie auch das Anders-Werden (die Entfremdung) einzuschränken. Das ist wesentlich, denn die Theoretisierung der Gewaltlosigkeit ist die Bestätigung eines Willens- und Energieverlustes der Menschen: das Verschwinden einer jeden kräftigen Behauptung und das tolerante Dahinschwinden. Auf der Beseitigung der zerstörerischen Gewalt zu beharren beinhaltet nicht die Forderung, stumpf und debil zu sein. Im Gegenteil: je mehr man wiederhergestellt ist, umso mehr wird man fähig sein, heftige, außerhalb jeder Monotonie stehende Phänomene zu leben.
Das Gemeinwesen muss im Stande sein, äußerst energiegeladene Impulse aufzunehmen, oder man postuliert eine Gemeinschaft utopischen Stils, wo alle Wesen identisch und harmonisch sind. Die Harmonie ist häufig die Abwesenheit tiefer Schwingungen.
38 – Um zum menschlichen, in den Kosmos integrierten Gemeinwesen zu gelangen, muss man mit dieser Welt brechen. Die Mehrheit der Männer und Frauen fühlen, dass ein anderer Weg gefunden werden muss als derjenige, den man bis dahin benutzt hat; nur, sie haben Angst, den Sprung zu machen, eine Angst, die durch den vom Kapital aufoktroyierten Lebensstil aufrechterhalten wird.
„Hier ist die Angst, hier sollst du springen“. Wir werden auf niemanden Gewalt ausüben, wer immer es sei, diesen Sprung zu machen. An jedem und jeder liegt es, die eigene Angst zu überwinden und zu begreifen, was Großes auf dem Spiele steht, und das künftige Leben zu erahnen. Wir können auch nicht die nahezu sichere Eventualität kommender Katastrophen benutzen, um einen terroristischen Diskurs an die große Glocke zu hängen, um Zweifel und Angst zu besiegen.
Alle Männer und Frauen, die sich individuell selbst in die Hand nehmen, müssen ihre Anstrengungen da hinführen ein neues Gemeinwesen hervorzubringen. Gegenwärtig besteht zwischen der alten Lebensweise und der Möglichkeit einer andern Koexistenz. Der Übergang von der einen zur andern ist ein Prozess der Geburt. Angesichts der unzähligen angehäuften und im Laufe der Jahrtausende nicht gelösten Widersprüche jedoch und der Degeneration der Gattung ist es klar, dass die Gewalt nicht wird vermieden werden können. Wir fordern sie nicht. Wir konstatieren sie nur, wie wir uns auch bewusst sind, dass die Dynamik des Ausstiegs aus dem Kapital eine Gewalt gegen seinen Gesamtprozess darstellt.
39 – Es muss ein Lebens- und Reflexionszentrum außerhalb der Gewalt und der Zähmung gebildet werden.