(Terra Cremada) SELBSTVERWALTUNG DES ELENDS ODER DAS ELEND DER SELBSTVERWALTUNG

Hier der letzte Artikel den wir von der anarchistischen Publikation aus Barcelona, Terra Cremada, veröffentlichen. Diese Publikation gibt es zwar seit vielen Jahren nicht mehr, dennoch sind die Themen die sie ansprachen weder veraltet noch zweitrangig geworden. Das Thema was hier angeschnitten wird, ist das der selbstverwaltete Projekte, Kollektive, wie sie in Berlin gerne genannt werden, ob diese wirklich Nischen der Utopie sind, oder ganz einfach kapitalistische Unternehmen die sich war vormachen, sind. Dasselbe gilt alles was den Versuch macht, im Kapitalismus ‚Auswege‘ aus diesem zu finden, ohne diesem einen Ende zu setzen, ein quasi friedliche Koexistenz die in Wirklichkeit unmöglich ist, weil es niemals im Kapitalismus einen ‚außerhalb‘ dieses gibt.

Diese Fragen, die ja sehr gegenwärtig sind, vor allem angesichts der enormen Schlappe der radikalen Linken des Kapitals hinsichtlich sogenannter ‚Enteignungen‘ und ähnlichen Fragen, sind auch Seitens anarchistischer Gruppen und Individuen scharf zu kritisieren denn unser Verhältnis zum Kapitalismus kann nur des eines Totengräbers sein. Mit diesen und anderen Fragen, beschäftigt sich dieser Text. Auch ein weiterer Text für unseren kommenden Text – KEIN ANARCHISTISCHES PROGRAMM, Eine Kritik an „anarchistischem“ Idealismus, Ideologien und Reformismus –


SELBSTVERWALTUNG DES ELENDS
ODER DAS ELEND DER SELBSTVERWALTUNG

In der letzten Ausgabe von Terra Cremada sprachen wir über die Überwindung der Demokratie als Überwindung der gegenwärtigen Regierungsform und der Falle, auf der die Trennung zwischen Politik, Wirtschaft und Leben beruht. Heute wollen wir uns darauf konzentrieren, was es bedeutet, eine Trennung zwischen der Wirtschaft – der Art und Weise, wie wir unsere Bedürfnisse befriedigen – und den übrigen Beziehungen, aus denen sich der Kapitalismus speist, vorzunehmen. Eine Trennung, die es dem kapitalistischen System ermöglicht, sich selbst neu zu erfinden, während sie uns gleichzeitig in unserem Kampf für die Abschaffung von Lohnarbeit und Privateigentum schwächt. Wir schreiben diesen Artikel nicht mit der Absicht, in Faszikel herauszugeben, wie diese Befangenheiten zu überwinden sind – denn damit würden wir in das verfallen, was wir kritisieren -, sondern weil wir in letzter Zeit sehen, wie wir, wie wir bereits in der Kritik der Demokratie aufgezeigt haben, durch das Fehlen von Worten, Diskursen und – vor allem – Praktiken, die die gegenwärtige Art zu leben und miteinander in Beziehung zu treten überwinden, dazu führen können, dass wir uns selbst verankern und das Elend, zu dem der Kapitalismus uns verurteilt, erneut bestätigen. Wenn wir darauf hinweisen, dann deshalb, weil wir besorgt sind, dass viele der Dynamiken oder Projekte, die behaupten, sich vom Kapitalismus zu entfernen, der Illusion verfallen, dass wir ohne den Kapitalismus leben können, ohne ihn zu zerstören: Wir können eine Welt ohne Kapitalismus in Betracht ziehen, aber der Kapitalismus mit seinem expansiven und globalen Wesen lässt keinen Raum für die Existenz eines Außen oder eines am Rande stehenden.

Wir wollen auch von vornherein klarstellen, dass wir nicht die Absicht haben, irgendeine individuelle oder kollektive Initiative derjenigen herabzusetzen, die wie wir ihren Alltag bestreiten müssen, um auf möglichst schmerzfreie und aufregende Weise zu überleben; vielmehr wollen wir darauf hinweisen, dass diese Auswege nicht wirklich solche sind, sondern Möglichkeiten, in unserem Elend zu existieren. Wir haben nicht die Absicht, Lektionen darüber zu erteilen, wohin unsere Energien gehen sollten oder nicht, sondern uns zu fragen, warum wir noch nicht in der Lage waren, kollektive und individuelle Vorstellungen und Praktiken zu entwickeln, die uns dazu bringen, wirklich gemeinschaftliche Projekte zu schaffen, die unsere Bedürfnisse und Wünsche erfüllen, ohne dass dies auf Kosten anderer geht oder dass diese Aktivitäten lediglich beschönigend sind. Wir wenden uns an diejenigen, die wie wir beschlossen haben, sich nicht für einen festen Anlaufpunkt zu entscheiden, sondern für Vorgehensweisen, die uns dazu bringen können, Beziehungsprozesse aufzubauen, die mehr und mehr auf der Gemeinschaft basieren. Wir wenden uns an diejenigen, die sehen, dass wir im Moment bequem sind oder uns an das Elend angepasst haben, arbeiten zu müssen, weil es keinen nahen revolutionären Horizont gibt… oder ist das der Grund, warum es keine Perspektive der revolutionären Überwindung gibt?

Wir haben nichts dagegen, dass einige Gefährten versuchen, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es wollen, und die Umstände, in denen sie sich befinden, bestmöglich zu nutzen. Aber wir protestieren, wenn Lebensweisen, die nur Anpassungen an das gegenwärtige System sind und sein können, als anarchistisch dargestellt werden oder, schlimmer noch, als Mittel zur Umgestaltung der Gesellschaft, ohne auf eine Revolution zurückzugreifen.
E. Malatesta

Die Logik des Marktes, die (fast) alles durchdringt

Nein, der Kapitalismus besteht nicht nur, weil ein paar große Magnaten die Welt beherrschen, nein, ganz im Gegenteil. Der Kapitalismus besteht und reproduziert sich, weil unser Verhältnis zur Welt – und damit auch zueinander – fast ausschließlich kapitalistisch ist1. Das bedeutet, dass wir in unseren alltäglichen Gesten Dynamiken reproduzieren, die es uns schwer machen, über die Herrschaftsverhältnisse und die Kommerzialisierung der menschlichen Beziehungen hinaus zu sehen und zu erfahren. Manchmal liegt es nur daran, dass wir nicht genug Geld haben, um in ein Kapital zu investieren, um erfolgreiche Unternehmer zu werden, aber es gibt kleine Gesten in unserem täglichen Leben, die zeigen, wie sehr die Warenlogik unsere Entscheidungen leitet. Den Kapitalismus als etwas Äußerliches zu betrachten, bedeutet, ihn zu unterschätzen und andererseits bei der Bekämpfung desselben klein beizugeben. Die Logik des Kapitalismus – Individualismus, Privateigentum, Spekulation, Herrschaft über den anderen usw. – dringt in uns ein und macht es uns schwer, uns auf der Grundlage dessen, was wir gemeinsam brauchen, zueinander zu verhalten, und provoziert uns so, uns auf der Grundlage dessen, was sie uns bieten können, zu verhalten. Es muss gesagt werden, dass dies nicht bedeutet, dass die Hegemonie des Kapitals total ist – wir werden nicht diejenigen sein, die seine Perfektion als System vorschlagen. Die gemeinschaftliche Tendenz, die dem Menschen innewohnt, taucht immer wieder in den Rissen dieser Gesellschaft auf; wir alle haben Solidarität unter Gleichen erlebt und genossen, die ohne Gesetze funktioniert, die gibt, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, usw. Sie ist die reale Bewegung, die die gegenwärtigen Verhältnisse aufhebt und zu überwinden versucht.

Die Fata Morgana der Alternativen

Ethisches Bankwesen, Genossenschaften2, Tauschbörsen, Namen/Begriffe, die in unseren Nachbarschaftsversammlungen (A.d.Ü., Kiezvollversammlungen) durch die Besetzung von Plätzen im ganzen Staat3 – die so genannte 15M-Bewegung – noch mehr klingen und nachhallen, wenn einige von ihnen mögliche Wege aus dem Kapitalismus vorschlagen. Die Fata Morgana der Alternativen kann dazu führen, dass wir von der grundlegenden Frage ablenken und uns in der sumpfigen Welt der Wahl des Produkts, das uns am besten gefällt, der Art und Weise, wie wir ausgebeutet werden wollen, der Ethik, die uns am besten passt, solange wir uns an Spekulation und Wucher beteiligen, der Soße, mit der wir uns kochen lassen, solange wir nicht daran denken, das Privateigentum oder die Privilegien derer, die uns beherrschen, anzugreifen, denn… wo würden wir unser Geld lieber ausgeben, wo würden wir lieber arbeiten…? Wenn wir uns nicht die richtigen Fragen stellen, kann es passieren, dass wir den Köder schlucken und vergessen, dass es hier darum geht, weiter gegen Geld, gegen Lohnarbeit und gegen jegliche Unterdrückung zu kämpfen.

Mit höchstem Konsumverhalten4

Der Kapitalismus bietet in seiner Logik der Warenexpansion Märkte und Produkte für alle an, die bereit sind, sie zu kaufen. Die ethische, ökologische, „Bio“-, umweltfreundliche usw. Industrie ist das Ergebnis der logischen Erweiterung des Kapitals. Wenn dieser Markt entsteht, dann deshalb, weil mehr Kapital generiert werden kann. Wenn dieser Markt erfolgreich ist, dann deshalb, weil es Menschen gibt, die in ihm Geld ausgeben. Nicht, dass wir einen speziellen Boykott solcher Produkte befürworten würden, aber es ist klar, dass die Hinwendung zu einem solchen Konsum dieser Art keine signifikante Veränderung der gegenwärtigen sozialen Beziehungen bewirkt. Und hier liegt das Problem: Wie viele Menschen glauben wirklich, dass der Kauf dieses oder jenes Produkts in diesem oder jenem Geschäft nur eine weitere Front des Antikapitalismus ist? Oder schlimmer noch, dass sie glauben, dies sei der Weg zur sozialen Veränderung… Wir können uns dafür entscheiden, uns gesünder zu ernähren oder die vier üblichen Marken nicht reicher werden zu lassen, aber wir dürfen nicht vergessen, dass im Kapitalismus der Konsum immer die Reproduktion des Kapitals ist.

Ethische oder ästhetische Banken?

Wie könnte eine ethische Bank zu einer ethischen Bank werden, oder besser gesagt, auf welche Ethik, wenn nicht auf die des Bankwesens, reagiert eine ethische Bank? Auf welche Logik, wenn nicht auf die der Spekulation, reagiert eine Bank mit diesen Merkmalen? Die Tatsache, dass unser Geld für Spekulationen mit makrobiotischen Produkten statt mit der Atomindustrie verwendet wird, ist für die Banken von geringer Bedeutung, solange beide Gewinne zu diesen Finanzunternehmen beitragen – man braucht sich nur den Fall der Triodos Bank und O’Belen5 anzusehen. Und können wir uns nun vorstellen, unser Geld irgendwo sicher zu deponieren, ohne eine Bank aufsuchen zu müssen? Ja, wir wissen, dass es am besten wäre, auf Geld und Tauschmittel zu verzichten, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen, aber die meisten Menschen werden weiterhin am Ende des Monats bezahlt, zahlen ihre Rechnungen auf ein Girokonto und erhalten ihr Gehalt, ihre Sozialleistungen oder Subventionen über diese oder jene Bank. Die Vorstellung, dass die meisten von uns ihr Geld unter einem Kopfkissen aufbewahren, wäre sehr illusorisch, obwohl es interessant wäre, wenn wir in unseren Vierteln und Räumen unseren Gefährt*innen klarmachen könnten, dass es zwar nicht sehr sicher ist, unser Geld in bar zu Hause zu lassen, dass aber die Aufbewahrung in einer Bank uns nicht mehr – wenn nicht sogar weniger – Sicherheiten bietet. Wenn wir alle Probleme, Widersprüche und Kopfschmerzen, die mit der Aufbewahrung von Geld auf einer Bank verbunden sind, in Betracht ziehen, können wir leicht zu dem Schluss kommen, dass es besser ist, Geld von der Bankenspekulation fernzuhalten. Banken arbeiten mit mehr oder weniger 10 % des Geldes, das sie angeblich haben, der Rest ist fiktiv. Wir müssen nicht erst auf den Fall des argentinischen Corralito6 zurückgehen, um uns zu zeigen, wie sicher es ist, dass wir das Geld, das wir in aller Ruhe auf einer Bank deponieren, zurückbekommen, wann immer wir es wollen: Die Fälle ereignen sich ganz in unserer Nähe, wie im vergangenen Dezember in der Ortschaft Aldea. Es ist auch wichtig, Verwaltungssanktionen und Geldstrafen (A.d.Ü., auch verstanden als Urteil) zu berücksichtigen, da die Repression mit geringer Intensität zunehmend versucht, uns finanziell zu ersticken, und die Insolvenz ist eines der wirksamsten Instrumente in erster Instanz . Viele von uns haben bereits festgestellt, dass es nicht nur eine Frage der Ethik, sondern auch der Sicherheit ist, sein Geld nicht auf der Bank zu haben7.

Was machen wir also mit unserem Geld? Nun, die meisten von uns haben kein allzu großes Problem damit, ihre vier Ersparnisse unter den Kopfkissen in unserem Haus zu verstecken. Wenn wir uns aber Sorgen machen, woher wir das Geld für größere Projekte nehmen sollen, müssen wir vielleicht darüber nachdenken, ob wir nicht von dem Geld, das wir tatsächlich aufbringen können, anrichten können. Entweder, indem wir es in unseren Kollektiven offenlegen und den Rest des Geldes der Personen um uns herum als finanzielle Hilfe bitten, oder indem wir davon ausgehen, dass wir unser Projekt nicht vorantreiben können, wenn wir den Kredit und das, was er mit sich bringt, nicht durchziehen wollen.

Die falsche Gemeinschaft der Waren

Die Macht des Geldes besteht darin, eine Bindung zu schaffen zwischen denen, die ohne Bindung sind, Fremde als Fremde zu verbinden und dadurch, dass jedes Einzelne als äquivalent gesetzt wird, alles in Zirkulation zu versetzen. Die Fähigkeit des Geldes, alles zu verbinden, wird mit der Oberflächlichkeit dieser Verbindung bezahlt, in der die Lüge zur Regel wird.

Der kommende Aufstand
Unsichtbares Komittee

Viele könnten von anderen Ökonomien sprechen und tun es auch, indem sie von solidarischen Ökonomien oder Tauschbörsen, von Zeitbanken und Gefälligkeitsmärkten sprechen, aber das erweitert nur die Tentakel der Waren- , Marktlogik und ihrer Grundlage: dem Tausch von Privateigentum. Für viele unserer Gefährt*innen ist die Grundlage des Kapitalismus das Geld, aber das ist nicht der Fall. Der Austausch ist die Grundlage, auf der der Markt basiert, und er basiert auf der Schaffung einer Beziehung nicht zwischen Menschen, sondern zwischen Menschen und Dingen: – Was besitzt du, was bietest du mir an, was willst du? Anstelle von „Was brauchen du?“ oder „Was kann ich dir anbieten? Im Gegensatz zum Austausch schlagen wir Gegenseitigkeit vor. Während der Austausch zwischen isolierten Menschen stattfindet, die sich auf der Grundlage dessen, was sie haben, zueinander verhalten – du hast so viel, du bist so viel wert -, findet die Gegenseitigkeit in der Beziehung zwischen denen statt, die etwas gemeinsam haben. Die Gegenseitigkeit ermöglicht es uns, etwas Gemeinsames zu schaffen, denn wenn man gibt, tut man es bedingungslos, ohne eine Gegenleistung zu erwarten und in manchen Fällen, ohne zu wissen, wer es erhält; man weiß nur, dass er oder sie Mitglied einer Gemeinschaft ist, die sich dieser Art von Beziehung verpflichtet fühlt. Was wir damit sagen wollen, ist einfach gesagt, dass es eine Verbindung geben kann, wenn es einen Markt gibt, aber es muss nicht unbedingt eine Gemeinschaft geben, sondern es kann sie behindern.

Selbstverwaltete Ausbeutung; Selbständige Arbeiter*innen und Genossenschaften

(…) je nach der Marktlage, die Arbeitskraft je nach den Anforderungen des Absatzmarktes heranzuziehen oder sie abzustoßen und aufs Pflaster zu setzen, mit einem Worte, all die bekannten Methoden zu praktizieren, die eine kapitalistische Unternehmung konkurrenzfähig machen. In der Produktivgenossenschaft ergibt sich daraus die widerspruchsvolle Notwendigkeit für die Arbeiter, sich selbst mit dem ganzen erforderlichen Absolutismus zu regieren, sich selbst gegenüber die Rolle des kapitalistischen Unternehmers zu spielen. An diesem Widerspruche geht die Produktivgenossenschaft auch zugrunde, indem sie entweder zur kapitalistischen Unternehmung sich rückentwickelt, oder, falls die Interessen der Arbeiter stärker sind, sich auflöst.

Sozialreform oder Revolution?
Rosa Luxemburg

Ein Unternehmen zu gründen und zu erwarten, dass es rentabel ist, ist Teil der Logik der Wettbewerbsfähigkeit. Ob du es allein oder mit vier Freund*innen machst, ob du dich also selbstständig machst oder eine Genossenschaft gründest. Wenn ein Unternehmen nicht wettbewerbsfähig ist, stirbt es. Die Täuschung, die uns in der Ära des kapitalistischen Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg – in den 1950er Jahren in Europa und in Spanien während des demokratischen Übergangs (A.d.Ü. transacción democrática) – vorgegaukelt wurde, war die, dass wir von heute auf morgen aufhören könnten, Arbeiter*innen zu sein und zu Unternehmer*innen werden könnten, nur weil wir von der Ausbeutung durch eine Chef*in befreit wären, ohne zu erkennen, dass wir auch der Ausbeutung durch den Markt, durch die Konkurrenz unterworfen waren. Der Kapitalismus gab – dank der harten Arbeiter*innenkämpfe der 60er und 70er Jahre – einigen wenigen Arbeiter*innen die Möglichkeit, einen Klassensprung zu wagen, sofern sie bewiesen, dass sie dem Unternehmen Gewinne und dem Markt Wettbewerbsfähigkeit bieten können, indem sie sich selbst, Dritte oder Verbraucher ausbeuten. Im Laufe der Zeit haben viele diese Lüge geglaubt, verstärkt durch einige Beispiele, die dazu beigetragen haben, diese Fiktion zu nähren8. Tatsache ist jedoch, dass die meisten, die sich entschlossen haben, ihr eigenes Unternehmen zu gründen, dies nicht nur gegen den Verkauf ihrer körperlichen Kraft, sondern auch ihrer geistigen Gesundheit sowie der ihrer Arbeitskolleg*innen und der ihnen nahestehenden Personen taten.

Die unternehmerische Logik ist in der Mentalität der selbstständigen Arbeiter*in verankert, die in den meisten Fällen Mitarbeiter*innen einstellen, wenn sie genügend Gewinn erwirtschaften, und sie entlassen, wenn sie nicht mehr gebraucht werden oder wenn ihre Dienstleistung nicht mehr rentabel ist. Dann rechtfertigen sie ihre Misere, indem sie sich daran erinnern, was sie alles tun mussten, um das Unternehmen auf die Beine zu stellen – und wir sagen nicht, dass dies in vielen Fällen nicht stimmt. Was passiert, ist dasselbe wie in jedem anderen Unternehmen: Verluste werden sozialisiert und Gewinne privatisiert. Wenn wir nicht akzeptieren, ausbeuterisch zu sein oder kein Mitgefühl zu haben, dann wird unser Unternehmen einfach nicht vorankommen… unter anderem, weil es nicht wettbewerbsfähig sein wird.

– Das Proletariat ohne Feinde. Wie viele Menschen kennen wir, die in den 1980er Jahren in dem Glauben gelassen wurden, dass sie nicht mehr von einem Chef ausgebeutet werden, wenn sie sich selbständig machen? -Von nun an werde ich der Chef sein, und sie hätten nicht richtiger sein können. Die Tatsache, dass viele von ihnen beschlossen haben, sich selbständig zu machen, führt dazu, dass es scheinbar keine Feinde gibt. Die selbständige Arbeiter*in kann nur ein abstraktes Gebilde wie den Markt für seine Missstände verantwortlich machen, im Gegensatz zum traditionellen Arbeiter*innen, die die Person anklagen kann, die ihn eingestellt und ausgebeutet hat. Da es keine externe Verantwortung gibt, kann der/die Selbstständige nur für sich selbst Verantwortung übernehmen und dafür kämpfen, sich für den Markt begehrenswerter zu machen, d. h. wettbewerbsfähiger zu werden. Voilà… das Wunder des Kapitalismus, das die Subjekte dazu bringt, sich selbst auszubeuten.

Die Selbstständigkeit ist ein unverzichtbares Instrument für die Entwicklung des Kapitalismus in unseren Gesellschaften in jüngster Zeit. Sie hat den Großunternehmen ein breites Spektrum an zu 100 % verfügbaren Arbeitskräften zur Verfügung gestellt, während sie gleichzeitig für alle Kosten der Verwaltung, Organisation und sozialen Sicherheit aufkommen müssen. Die Flexibilität, die eine selbständige Arbeiter*in bietet, ist perfekt an den Bedarf des Marktes an Arbeitskräften angepasst.
Die so genannte Auslagerung von Funktionen großer Unternehmen im Prozess der Produktion, des Vertriebs und/oder des Verkaufs eines Produkts oder einer Dienstleistung ist nichts anderes als eine Kostenreduzierung auf Seiten des großen Arbeitgebers. Der Markt bedeutet, dass diese selbstständigen Arbeiter*innen, die einst Mitarbeiter*innen sein konnten, zu Konkurrenten werden, die um den Vertrag mit dem großen Unternehmen kämpfen; und natürlich bedeutet dieser Wettbewerb, dass die maximale Leistung zu den minimalen Kosten angeboten wird, d. h. die Steigerung des Profits auf Seiten des Kapitalisten.

Bei den Genossenschaften ist es dasselbe in Grün, Jacke wie Hose, gehüpft wie gesprungen, ein uns dasselbe. Die Logik des Marktes durchdringt jedes Unternehmen, das den Anspruch erhebt, auf dem Markt kompetent zu sein – und wenn es nicht den Anspruch erhebt, kompetent zu sein, kann es nicht überleben -, und es muss entscheiden, woher es seine Fähigkeit nimmt, sowohl wettbewerbsfähig als auch profitabel zu sein: von ihren Arbeiter*innen – in diesem Fall wären es die Genossenschaftsmitglieder selbst, die ihre Löhne senken und sich damit selbst ausbeuten -, von ihren Kunden – die sie durch Betrug oder Überbewertung des Produkts ausbeuten -, oder bei der Steigerung der Produktion – die sie noch mehr ausbeuten, indem sie die Aktivität erhöhen, die Umwelt vergiften usw.

Um die wertvolle Arbeit, die viele unserer Gefährt*innen bei der Entwicklung von Genossenschaftsprojekten leisten, nicht zu unterschätzen, möchten wir darauf hinweisen, dass wir wissen, dass viele dieser Projekte funktionieren, und zwar gut funktionieren. Aber sie tun dies dank der kollektiven Bemühungen, sie zum Funktionieren zu bringen, sei es in Form von Bibliotheken, Nachbarschaftszentren, Vertrieben9… Was wir damit sagen wollen – und vielleicht wiederholen wir uns zu sehr – ist, dass diese Projekte, wenn sie nicht nur eine Dienstleistung erbringen, sondern auch dazu dienen, diejenigen zu ernähren, die sie entwickeln, sich früher oder später Sorgen um ihre Rentabilität machen werden, und dann werden sie in ihren eigenen Händen in die Luft gehen10. Bislang konnten viele Genossenschaften dank der bedingungslosen, aus einer ethischen Haltung heraus geborenen Unterstützung der Verbraucher überleben. Viele von ihnen können es sich leisten, ökologische, GVO-freie Produkte zu kaufen oder ihren Arbeiter*innen einen angemesseneren Lohn zu zahlen, natürlich auf Kosten eines höheren Produktpreises. Tatsache ist, dass wir nicht mit einem Unternehmen konkurrieren können, das indonesische Arbeiter*innen ausbeutet, indem es ihnen 20 Mal weniger als die hiesigen Löhne zahlt. Wenn wir wollen, dass unsere Genossenschaft nach unseren Werten funktioniert – und das könnte zum Beispiel darin bestehen, dass wir uns nicht mehr ausbeuten, als wir es in jedem anderen Unternehmen tun würden – müssen wir auf das Wohlwollen der Menschen setzen, die beschließen, das Produkt bei uns zum doppelten Marktpreis zu kaufen… und das ist auf dem Markt langfristig nicht tragbar. Wenn wir z.B. eine Genossenschaftsbuchhandlung mit politischem Lesestoff aufmachen, könnte das funktionieren. Wenn jedoch in jedem Viertel eine solche Buchhandlung auftaucht, werden sich die Kunden entweder aufteilen und die Rentabilität jeder einzelnen Buchhandlung wird zusammenbrechen, oder sie werden einer oder zwei Buchhandlungen treu bleiben, so dass die übrigen Buchhandlungen nicht mehr rentabel sind. In jedem Fall sind die Kriterien des Marktes nicht mit der ethischen Position der Verbraucher dieser Genossenschaften vereinbar. Es sollte klar sein, dass wir die Bemühungen und das Engagement der Menschen schätzen, die sich entschließen, in einer Genossenschaft Opfer zu bringen, damit Bücher – oder Inhalte – oder gute Lebensmittel – ökologische – für die Menschen erreichbar sind. Es mag sein, dass es ohne diese Bemühungen schwieriger wäre, radikale Kritik zu verbreiten oder landwirtschaftliches Wissen zu erhalten, das weniger umweltfeindlich ist; die Frage ist jedoch, wie weit wir bereit sind zu gehen, um die wirtschaftliche Lebensfähigkeit der Projekte zu erhalten.

Die Identifikation mit dem Unternehmen. Die Genossenschaftsbewegung/ das Genossenschaftswesen könnte ein Paradigma sein, auf dem der Toyotismus11 basiert. In vielen genossenschaftlichen Prozessen wird erreicht, dass dank der Solidarität zwischen den Arbeiter*innen die Arbeit, die sonst nicht geleistet werden könnte, schließlich doch ausgeführt wird. In den meisten heutigen Betrieben tendiert die Unternehmensführung dazu, die Verantwortung auf die Arbeiter*innen zu übertragen, was zu einem Gefühl der Beteiligung an dem Projekt des Unternehmens führt. Schließlich handelt es sich um ein paralleles Verfahren zu dem der demokratischen Staatsbürgertum12. Durch die Zusammenarbeit mit dem unternehmerischen Projekt – was auch für das Unternehmen in Barcelona gilt – werden Streiks und Forderungen nach besseren Löhnen vermieden, und die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen wird gerechtfertigt, um das Projekt zu retten. Genossenschaften oder Selbstständigkeit tragen in jedem Fall dazu bei, das expansive Projekt des kapitalistischen Großunternehmens zu entschärfen. Was wir sonst nicht übernehmen würden, weil wir unser eigenes Unternehmen sind, übernehmen wir schließlich doch.

-Die Mythisierung der Rekuperation13 der Fabriken, das Gespenst des „Argentinitis“14. Wie viele von uns haben schon gehört, dass die Selbstverwaltung der Arbeiter*innen auf der Grundlage der Erfahrungen mit der Rekuperation der Fabriken in Argentinien (z.B. Zanón), in den 70er und 80er Jahren in Spanien (Numax15) oder in der Zeit der – relativen – Entkolonialisierung Algeriens verteidigt wurde? Die rekuperierten Fabriken sind Fabriken, die von den Kapitalist*innen aufgegeben wurden, weil sie für sie nicht rentabel waren. Die Erfahrung in Argentinien zeigt uns, dass diese Fabriken in der Lage waren, für den Markt wieder rentabel zu werden, indem sie um den Preis der Selbstausbeutung wettbewerbsfähig wurden und nach der gleichen Geschäftslogik wie zuvor arbeiteten. Die Tatsache, dass wir uns gegen die Mythisierung der Rekuperation von Arbeitsplätzen aussprechen, bedeutet nicht, dass wir deren Bedeutung unterschätzen: Die Menschen können einen Arbeitsplatz behalten, um zu überleben, es gibt einen kollektiven Prozess, der etwas Gemeinsames hervorbringen kann, und wenn es Leistungen gibt, werden diese sozialisiert.

In diesen Fällen können wir sehen, dass trotz eines gewissen Kampfes hinter diesen Rekuperationen, wenn die Leitung des Unternehmens das Unternehmen verlassen hat, dies nicht aufgrund des Drucks der Arbeiter*innen geschah, sondern aus anderen Gründen – wirtschaftliche Rezession, Wirtschaftsverbrechen, usw. Daher bedeutet dass das Unternehmen unter der Kontrolle der Arbeiter*innen in Wirklichkeit, dass die Arbeiter*innen selbst unter der Kontrolle des Unternehmens stehen, d.h. die Logik des Wettbewerbs wird weiterhin die Produktion bestimmen, unabhängig davon, wer sie verwaltet. Wenn die Selbstverwaltung unsere materiellen Bedingungen verbessert, dann setzen wir uns für diesen Prozess ein. Wenn nicht, bleibt es nur eine Kritik an der Art und Weise, wie das Kapital verwaltet werden sollte, und damit ein Argument, dass es einen egalitären Kapitalismus geben könnte, wenn er richtig verwaltet würde. Das heißt, wenn die kapitalistische Enteignung dazu dient, die Produktion auf die Befriedigung von Bedürfnissen auszurichten, dann ist es die Selbstverwaltung, die wir verteidigen. Wenn es hingegen darum geht, zur Arbeit zurückzukehren, dasselbe zu produzieren und die Waren zu verkaufen, aber ohne die Leitung des Chefs, dann handelt es sich um Selbstausbeutung.

Natürlich ist die Realität nicht schwarz-weiß, und da der Klassenkampf sich auf die Widersprüche dieser Realität stützt, kann auch die „Selbstverwaltung“ als Abstraktum nicht widerlegt werden. Obwohl die Selbstverwaltung nicht die Alternative zum Kapitalismus ist, kann sie uns helfen, ihn zu überwinden, da der Kampf für die kollektive Verwaltung der Produzenten uns dazu bringen kann, die Übereinstimmung der Interessen als ausgebeutet zu sehen, sie kann uns helfen, die Isolation und den Individualismus des „jeder für sich“ zu durchbrechen, und, was am wichtigsten ist, die Tatsache, dass wir die Selbstverwaltung unseres Ausbeutungsraums durchlaufen, kann uns erkennen lassen, dass dies die Ausbeutung selbst nicht löst. Es ist nicht notwendig, diese Prozesse individuell zu durchlaufen, um diese konterrevolutionäre Falle zu erkennen, aber auf kollektiver Ebene werden sich sicherlich einige Menschen für die Selbstverwaltungsformel entscheiden, bis sie erkennen, dass die Befriedigung der Bedürfnisse der gesamten Gesellschaft nicht durch eine Änderung der Formen, wer was verwaltet, sondern durch eine tiefgreifende Änderung der gesamten sozialen Beziehungen erreicht wird.

Wem diese Debatte zu abstrakt erscheint, der möge bedenken, was mit uns passieren kann, wenn wir uns von dem Begriff der Selbstverwaltung verführen lassen. Im Sommer 2011 wurden einige von uns von der Ankündigung der Schließung des Krankenhauses Dos de Mayo überrascht. Am ersten Tag der Mobilisierung lief einigen von uns das Wasser im Mund zusammen, als wir hörten, wie einige der Arbeiter*innen über die Selbstverwaltung des Krankenhauses sprachen. Doch was bedeutet die Selbstverwaltung eines Krankenhauses? Es gibt nur drei Möglichkeiten, wie ein Krankenhaus subventioniert werden kann: durch den Staat, privat durch seine Mitglieder oder Kunden oder durch Besteuerung mit Kapitalverwaltung durch eine private Gruppe. Wenn man genau hinsieht – und das scheint der Fall zu sein -, ist das, was passiert, wenn wir über die Selbstverwaltung der Arbeiter*innen sprechen, ein Privatisierungsprozess, bei dem, wie wir bereits im Text erwähnt haben, ein Unternehmen, das in traditioneller Form nicht profitabel ist, unter dem Deckmantel einer Arbeiter*innengenossenschaft profitabel wird. Auf diese Weise schlägt der Staat zwei Fliegen mit einer Klappe: Einerseits vermeidet er Arbeitskonflikte, wenn es um Haushaltskürzungen geht, und verlagert diese auf die Mobilisierung der Arbeiter*innen zum Schutz ihrer Arbeitsplätze, andererseits stellt er sicher, dass die bisher angebotene Dienstleistung fortgesetzt wird, wodurch Unannehmlichkeiten für die Nutzer*innen vermieden werden. Die Zeit wird es zeigen, aber wenn nicht, werden wir es sehen… Die Zuzahlung wird bei dieser Art von Versuch eingeführt werden, und zwar nicht vom Institut Català de la Salut, sondern von den Krankenhausmitarbeiter*innen, die Solidarität mit einem angeblich unverzichtbaren Dienst fordern.

Die verdammte Angewohnheit, die Dinge beim Namen zu nennen16

Wir sind Arbeiter*innen, ob wir es wollen oder nicht. Es geht nicht um Ethik, Moral oder Politik oder darum, dass wir an Worten festhalten wollen, die einige bereits aufgegeben haben. Wir sind aus einem objektiven Grund Arbeiter*innen: In der kapitalistischen Welt sind wir dazu verdammt, den Arbeitskreislauf zu durchlaufen, um zu überleben. Wir werden enterbt, und die Tatsache, dass wir ein Auto – oder in manchen Fällen eine Wohnung – besitzen, befreit uns nicht von dieser Geißel. Ob wir nun Arbeit suchen oder unser Bestes tun, um sie zu vermeiden, ob wir unsere Ökonomie auf Enteignung gründen oder unsere Mütter oder den Staat um Almosen in Form von Zuschüssen oder Stipendien anflehen, unser Zustand ist der der Ausbeutung. Und nur die Zerstörung der Arbeit und der sich daraus ergebenden Beziehungen könnte uns in einen neuen Kontext stellen. Wenn wir das sagen, dann nicht, weil wir gerne Opfer sind oder nicht sehen wollen, dass es noch andere Menschen gibt, die unter den kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsverhältnissen viel mehr leiden können als wir. Wenn wir das sagen, dann deshalb, weil wir, wenn wir das vergessen, der weit verbreiteten Illusion verfallen können, dass es möglich ist, einen Sprung in unserem proletarischen Zustand zu machen und sich von den kapitalistischen Verhältnissen zu befreien, ohne einen offenen Krieg gegen das Kapital führen zu müssen, entweder indem wir unser eigenes Unternehmen gründen oder indem wir für uns selbst arbeiten. Und das ist eine Lüge.

Wir versuchen nicht, in die Absurdität der Arbeiter*in-Mythifizierung des Fabriksubjekts zu verfallen, ganz im Gegenteil. Die Tatsache, dass wir Arbeiter*innen sind, bedeutet nicht, dass wir nur Arbeiter*innen sind, und schon gar nicht, dass wir es bleiben wollen. Was wir sagen wollen, ist, dass die Klassengesellschaft, auch wenn wir von verschiedenen Formen der Herrschaft durchzogen sind, so stark wie eh und je ist.

Si vis pacem para bellum

In einer Zeit der Niederlage wie dieser, in der es praktisch keinen umfassenden politischen Bezugspunkt gibt, kann es ernüchternd sein, einen kritischen Text über die Versuche vieler, eine Alternative zu finden, zu schreiben. Es geht nicht darum, auf das zu scheißen, was andere tun, das wissen wir, aber wir sollten auch nicht wegschauen, wenn wir mit emanzipatorischen Absichten Hindernisse für den antikapitalistischen Kampf aufbauen.

Wir kritisieren also nicht diejenigen, die – wie wir – widersprüchliche Aktivitäten haben, sondern die Tatsache, dass sie versuchen zu überzeugen, dass es möglich ist, den Kapitalismus zu überwinden, während sie die Konfrontation mit denjenigen vermeiden, die ihn verteidigen. Jeder und jede soll versuchen, was immer nötig ist, was immer er oder sie für richtig hält, wir sollen nicht aufhören zu schaffen und zu bauen, aber niemand soll versuchen, die anderen davon zu überzeugen, dass der Kampf etwas anderes ist als die Beendigung des Kapitalismus, d.h. die Zerstörung der Verhältnisse, die ihn aufrechterhalten, und derjenigen, die ihn reproduzieren. Und das bedeutet, ob wir es wollen oder nicht, Konflikte, Konfrontation und Gewalt.

Wenn diese Ideen in unseren Kreisen Gehör finden, dann vielleicht deshalb, weil es immer noch Menschen gibt, die glauben, dass der Kapitalismus nur ein ungerechtes Wirtschaftssystem ist, von dem einige wenige zum Nachteil der anderen profitieren. Diese reformistische Version wird sich organisieren, um bestimmte institutionelle und gesetzliche Änderungen zu erreichen, die den Reichtum, den die große Mehrheit von uns produziert, gerecht verteilen. Die „revolutionäre“ Version wird darauf abzielen, die parasitäre Minderheit zu vertreiben und dann die Wirtschaft kollektiv und egalitär zu organisieren. Beide Visionen gehen davon aus, dass es beim Wandel darum geht, wer entscheidet und wie die Ökonomie verwaltet wird. Beide Visionen sind falsch. Der Kapitalismus ist nicht eine kleine Gruppe sehr reicher Menschen, diese Gruppe existiert und sie sind die Privilegiertesten in dieser Art zu funktionieren, aber sie sind nur ein Teil des Problems. Der Kapitalismus ist auch keine Form der Organisation der Ökonomie, obwohl sich seine Säulen daraus ergeben, wer, wie und was in dieser Gesellschaft produziert wird. Aber die Form, die dieses System heute annimmt, hat den engen Rahmen der Arbeitswelt verlassen und sich auf alle anderen Aspekte der Gesellschaft ausgedehnt, die bis dahin ein gewisses Maß an Freiheit besaßen. Nun beschränkt sich die Kapitalbildung nicht auf die Produktion, sondern versucht, ununterbrochen aus der Ware (A.d.Ü., zur Ware werdend) der Grundressourcen – Wasser, fruchtbares Land usw. – zu wachsen, aus der Ausbeutung der Erde, der Pflanzen und anderer Tiere und aus allem, was soziale Bindungen schafft – Kommunikation, Zuneigung, Wissen usw.

Wir sehen also, dass der Kapitalismus ein soziales Verhältnis ist, das sich durch alle Aspekte zieht, die uns als Menschen betreffen und die fälschlicherweise als wasserdichte Abteile dargestellt werden: Wirtschaft, Politik, Kultur, usw. Wenn wir diese nicht in all ihren Formen bekämpfen, wird sich der Kapitalismus wieder entwickeln. Wenn wir nicht erkennen, dass es sich nicht nur um ein Verhältnis zwischen den mächtigen Klassen und dem Rest handelt, sondern dass wir es untereinander, horizontal, reproduzieren, wird der Kapitalismus wieder auftauchen, sobald wir die Kapitalist*innen von der Macht vertrieben haben. Wenn wir also für eine Lebensweise in der Gesellschaft kämpfen, die nicht auf Ausbeutung und Unterdrückung beruht, wird dies unweigerlich bestimmen, was und wie jeder Aspekt dieser Gesellschaft verwaltet wird. Wir bräuchten keine spezialisierten Institutionen oder Fachleute, die sich unter anderem mit der Wirtschaft oder der Politik befassen, denn sie sind Teil eines Ganzen, nämlich des Lebens, und als Ganzes müssen wir es auch behandeln.

Das theoretische Jonglieren, das Projekte wie die Cooperativa Integral Catalana oder die Democracia Inclusiva betreiben, löst nicht den Widerspruch zwischen dem allgemeinen Problem und den Teillösungen auf, den wir hier kritisieren. Obwohl sie in ihren Texten von der Notwendigkeit einer ganzheitlichen Antwort sprechen, materialisieren sie diese nur mit einer Summe von Teilaspekten. Wir werden hier nicht auf diese beiden Projekte eingehen, aber wir möchten den wichtigsten Aspekt hervorheben, der mit dem Thema, mit dem wir uns beschäftigen, zusammenhängt. So sehr wir ihre Schriften auch durchforstet haben, wir haben nichts über den unvermeidlichen Konflikt gegen diejenigen gefunden, die den Kapitalismus verteidigen, und das ist es, was uns Sorgen macht. Vielleicht äußern sie sich nicht, weil sie glauben, dass der Staat uns nicht unterdrücken wird, solange wir uns in einem kreativen Prozess befinden, in dem wir eine Gegenmacht aufbauen. In diesem Fall werden diese Projekte in sich zusammenfallen, sobald sie überrascht und ungläubig von allen Seiten mit legalen oder illegalen Feindseligkeiten17 überschüttet werden. Vielleicht sprechen sie nicht über die mögliche Repression, über die notwendige Vorbereitung auf den Konflikt, weil sie es strategisch nicht sagen wollen. Vielleicht denken sie, dass es nicht darum geht, die Menschen, die sich uns nähern könnten, mit paranoiden Vorstellungen über künftige Repressionen zu verängstigen; vielleicht sehen wir, wenn wir uns umschauen, dass Repressionen immer dort stattfinden, wo gekämpft wird; vielleicht werden wir, wenn wir nicht versuchen, die Menschen zu täuschen, bereit sein, uns ihnen zu stellen, wenn die Probleme zu unserem Projekt kommen.

Wenn wir versuchen, nach Wegen zu suchen, die nicht auf kapitalistischen Voraussetzungen beruhen, oder sogar versuchen, ihnen zu widersprechen, müssen wir uns vor Augen halten, dass der Kapitalismus totalitär ist. Es gibt kein „Außen“, und das bedeutet, dass diejenigen, die es verteidigen, versuchen werden, alles zu verhindern, was es gefährdet. Daher kann die historische Diskussion über die revolutionäre Bewegung zwischen konstruktivem und destruktivem Prozess nicht auf eine dieser beiden gegensätzlichen Voraussetzungen reduziert werden. Jeder Versuch, eine Parallelgesellschaft zur bestehenden Gesellschaft zu schaffen, stößt zunächst auf die Trägheit des Betriebs mit ausbeuterischen und unterdrückerischen Werten, wenn auch unbewusst, und später auf den frontalen Widerstand der Verteidiger des Status quo. Jeder Versuch, das Bestehende zu zerstören, wenn es nicht über die grundlegenden Infrastrukturen für diesen Kampf und das Minimum verfügt, um ihn sozial zu überleben, ist zum Scheitern verurteilt. Die notwendige dialektische Beziehung zwischen Aufbauen und Zerstören muss in unserer revolutionären Praxis verankert sein, wenn wir wirklich aller Herrschaft ein Ende setzen wollen. Wir bauen, um uns auf die Konfrontation vorzubereiten; wir konfrontieren, um Risse für den Bau zu öffnen. Auch wenn es offensichtlich scheint: Wir können nicht ohne den Kapitalismus leben, solange wir ihn nicht abschaffen.


1Patriarchat und Kapitalismus gehen Hand in Hand und deshalb ist ein Antikapitalismus, der eine Überwindung des Patriarchats nur in seinem ökonomischen Aspekt – oder einem anderen Teilaspekt – vorschlägt, kein vollständiger Antikapitalismus. Das Gleiche gilt für Rassismus, Homophobie usw. Der Kapitalismus wurde von all diesen Herrschaftsformen genährt, um sich durchsetzen zu können, und ohne ihre Hilfe wäre er nicht so weit gekommen, wie er jetzt ist.

2A.d.Ü., die Rede ist von cooperativas was Genossenschaften im weitesten Sinne sind, im Szenejargon in Berlin, oder im deutschsprachigen Raum wäre die Rede von Kollektive.

3A.d.Ü., Anarchistinnen und Anarchisten im spanischen Staat, verwenden ungerne den Begriff Spanien reden daher entweder vom spanischen Staat oder schlicht vom Staat.

4A.d.Ü., hier handelt es sich im Original um einen Wortspiel, Con sumo consumo

5Wir verweisen euch auf die Seite einiger Gefährtinnen aus Madrid, die sich gegen die Zentren für Minderjährige, euphemistisch Zentren für den Schutz von Kindern und Jugendlichen genannt, einsetzen. http://www.centrosdemenores.com/?Campana-de-boicot-a-Triodos-Bank. Vielleicht würden wir nicht so viel über diese Art von Banken reden, wenn sie nicht durch das Phänomen der Hausbesetzungen im ganzen Staat ihre Kundschaft exponentiell vergrößert hätten.

6A.d.Ü., ein corralito in diesem Fall, ist das Einfrieren der Bankkonten, um Ansturm ängstlicher Sparer auf Banken zu vermeiden.

7Da wir wissen, dass dies ein heikles Thema ist, bei dem jeder von uns seine eigenen Besonderheiten hat, verweisen wir auf die Zusammenstellung der Daten, die von den Gefährt*innen der ‚Totalverweigerung den Geldstrafen‘ gemacht wurden: http://guinardo.org/documents/manuals-antirepressius/

8Einer der bekanntesten Fälle ist der von Amancio Ortega, dem größten Anteilseigner von Inditex (Zara, Massimo Dutti, Pull & Bear, Bershka, etc.). Er ist das perfekte Beispiel für soziale Mobilität: Er arbeitete bereits mit 14 Jahren in einem Bekleidungsgeschäft und ist laut dem Forbes-Magazin der fünftreichste Mensch der Welt. Was diese Klassenherkunft verbirgt, ist, dass es zwar bestimmte Menschen gibt, die von einer Klasse in eine andere aufsteigen können, aber die Bedingungen, die diese Art von Beziehung garantieren, werden immer bedeuten, dass es zwei verschiedene Klassen gibt.

9A.d.Ü., distri, gemeint ist alles was mit Vertrieb politischer Sachen zu tun hat, vor allem geht es immer um Bücher und Fanzines, im deutschsprachigen Raum wäre die Rede von Mailorder wo bei diesen der Schwerpunkt fast nie bei Büchern oder anderen Lesestoff liegt.

10Booomm!

11Der Toyotismus ist das Fabrikproduktionssystem, das den Taylorismus und den Fordismus in der Kettenproduktion verdrängt hat und unter anderem die Identifikation der Arbeiterinnen mit den Interessen des Unternehmens fördert.

12A.d.Ü., als Staatsbürgertum soll die politische Bewegung verstanden werden die daran glaubt dass man mit den demokratischen Institutionen/Instanzen man eine bessere Welt gestalten kann.

13A.d.Ü., zurückerlangten, wieder angeignete.

14A.d.Ü., kann verstanden werden als Argentiniensyndrom, bezieht sich auf die Fabrikbesetzungen die im Jahr 2001 aufgrund des Zusammenbruchs der argentinischen Ökonomie stattfanden.

15Wir empfehlen die Dokumentarfilme von Joaquím Jordà von der Escola de Barcelona, Numax presenta und 20 años no es nada, über den Prozess der Rekuperation einer Fabrik in den 1980er Jahren durch ihre eigenen Arbeiterinnen.

16Wir empfehlen die Artikel, die sowohl in der Zeitschrift Cuadernos de negación als auch in der Zeitschrift Ruptura zum Thema soziale Klassen erschienen sind. Man kann beide Artikel unter den folgenden Links finden: http://gruporuptura.wordpress.com/2010/04/02/las-clases-en-la-sociedad-capitalista/ und auch unter http://cuadernosdenegacion.blogspot.com/2009/09/nro-2-clases-sociales-o-la-maldita.html.

17A.d.Ü., les llueven hostias por todas partes, von allen Seiten auf die Fresse kriegen.

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