Warum wir keine revolutionäre Partei brauchen, Ricardo Fuego

Einleitung von der Soligruppe für Gefangene,

zu unseren kommenden Text – KEIN ANARCHISTISCHES PROGRAMM, Eine Kritik an „anarchistischem“ Idealismus, Ideologien und Reformismus – veröffentlichen wir vorher eine Reihe an Texten, alles Übersetzungen, die sich mit der Thematik des Reformismus – ja sogar dem dialektischen Verhältnis, wenn nicht sogar der falschen Dichotomie zwischen beiden – lang vor unserer Zeit, oder vor kurzem, auseinandergesetzt haben.

Die Übersetzung ist von uns und die kursiven Stellen wurden so vom Originaltext übernommen, außer einer, nämlich der Titel eines Buches von Lenin, die Zitate wurden auch aus den Originaltexten übernommen, ansonsten spricht das Thema für sich, ein weiterer Text, der die Rolle der Partei, ob sich diese als revolutionär oder nicht betitelt, ist nebensächlich, kritisiert und angreift. Wir haben diesen Text ausgesucht, weil er die Grundlage für wichtige Debatten darstellt, auch wenn wir nicht mit allem einverstanden sind.

Zu den Verfassern und der Gruppe die damals diesen Text veröffentliche können wir nicht viel sagen, außer dass es sich um (anti-autoritäre) Kommunist*innen handelt, die sich mit allen möglichen Fragen und Debatten auseinandergesetzt haben, dass sie sich auf alle möglichen revolutionären Strömungen bezogen hatten, sowie rätekommunistische, anarchistische und der Geschichte der Arbeiterautonomie ab den 1960ern.


Ricardo Fuego

Warum wir keine revolutionäre Partei brauchen

 

Einleitung 1

I – Das revolutionäre Subjekt von Garganté

II – Die wahre marxistische Konzeption des Proletariats

III – Vom abstrakten Proletariat zur Partei

IV – Die klassischen sozialdemokratischen Argumente über die Partei

V – Der historische Kontext des Kautskyismus-Leninismus

VI – Der wahre Weg zur Revolution, die proletarische Autonomie

VII – Das Verhältnis zwischen Kommunisten und Proletariern

VIII – Schlussfolgerung

 

Einleitung

Im Forum La Liga Comunista (http://elforo.de/laligacomunista) wurden wir gebeten, den Text „Warum wir eine revolutionäre Partei brauchen“ von Josep Garganté zu kritisieren. Josep Garganté ist ein Gründungsmitglied der Gruppe Socialismo Internacional. Der Originaltext ist unter http://www.enlucha.org/folletos/porque%20un%20partido.doc zu finden.

Der kritisierte Text hat das einzige Interesse, weiterhin die Notwendigkeit der leninistischen Partei zu rechtfertigen. Ich werde weder auf die Kritik an dem von Lenin vorgeschlagenen Parteimodell noch auf die Einseitigkeit der „Analyse“ der revolutionären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts (insbesondere der russischen Revolution) und auch nicht auf die Führung und den demokratischen Zentralismus eingehen.

Wenn ich eine allgemeine Bewertung des Textes vornehme, würde ich sagen, dass er die im Titel gestellte Frage nicht beantwortet. Er beginnt mit einer Analyse der politisch-ökonomischen Situation in der Welt und in Spanien, um dann zu bekräftigen, dass das revolutionäre Subjekt die Arbeiterklasse ist und dass die Arbeiterklasse eine Partei mit einer korrekten theoretischen Vision braucht, um über spontane Aufstände zu transzendieren. Der Rest des Artikels, mit Ausnahme des Absatzes „Wie wächst die revolutionäre Organisation?“, ist dem Gespräch über die vorgeschlagene Art der Partei (leninistisch) gewidmet.

Aber die Antwort auf die Frage „Warum brauchen wir eine revolutionäre Partei“ wird nicht einmal im Entferntesten beantwortet. Zwischen der Behauptung, dass das revolutionäre Subjekt die Arbeiterklasse ist, und der Notwendigkeit einer Partei klafft eine ganze argumentative Lücke. Diese Lücke ist das Hauptziel meiner Kritik, und ich wähle, sie aus der Perspektive „Warum wir keine revolutionäre Partei brauchen“ anzugehen, da ich sie als die Hauptfrage sowohl für den Artikel als auch für das wirkliche Bedürfnis der Arbeiterklasse, die sozialdemokratische Praxis zu überwinden, betrachte.

 

I – Das revolutionäre Subjekt von Garganté

In dem Abschnitt Das revolutionäre Subjekt stellt Garganté fest:

„Die Arbeiterklasse ist nach der marxistischen Auffassung die einzige Klasse, die in der Lage ist, eine sozialistische Revolution durchzuführen. Und zwar grundsätzlich wegen der Position, in der sie sich innerhalb des Produktionsprozesses des Kapitalismus befindet.

Die Arbeiterklasse ist diejenige, die im Wesentlichen den gesamten Reichtum dieser Gesellschaft schafft und daher die einzige, die potenziell die Fähigkeit hat, die Gesellschaft von Grund auf zu verändern.“

Erstens, eine methodische Kritik. Anstatt von der Arbeiterklasse selbst auszugehen, wie sie heute existiert, zieht es Garganté vor, von einer abstrakten Definition auszugehen, die nie mit der Praxis kontrastiert wird, da er seine Autorität in Marx legitimiert. Ich spreche von „der marxistischen Konzeption“. Das ist an sich schon sehr bedenklich, denn eine vermeintlich revolutionäre Praxis auf abstrakte Definitionen zu gründen, die durch die Autorität des Autors selbst legitimiert sind, dient nicht dazu, die reale Welt zu verändern. Um die reale Welt zu verändern, müssen wir von ihr ausgehen, nicht von abstrakten Definitionen oder Doktrinen (wie „kohärent“ sie auch erscheinen mögen). Aber später werden wir sehen, dass Gargantés „marxistische Konzeption“ sich stark von Marx‘ eigener Konzeption der proletarischen Klasse unterscheidet.

Zweitens, eine inhaltliche Kritik an dieser Behauptung. Garganté sagt uns, dass die „marxistische Konzeption“ der Arbeiterklasse diese zum einzigen revolutionären Subjekt macht, weil sie „im Wesentlichen den gesamten Reichtum dieser Gesellschaft schafft“.

Wenn dies die Bedingung dafür wäre, eine revolutionäre Klasse zu sein, dann hätten auch Sklaven und Leibeigene revolutionäre Klassen sein müssen, da es ihre Arbeit war, die den Reichtum der Sklaven- und Feudalgesellschaften produzierte. Sie erwiesen sich jedoch als nicht zutreffend.

Man könnte auch sagen, dass jede ausgebeutete Klasse revolutionär ist. Und wieder würden wir sehen, dass dies ein Fehler ist. Die Sklaven und Leibeigenen waren ausgebeutete Klassen und waren nicht revolutionär. In Abwesenheit einer revolutionären Klasse und einer Revolution in der Sklavengesellschaft zerfiel die Sklavengesellschaft und ihr Niedergang war die Folge. Aus diesem Niedergang wurde die feudale Gesellschaft geboren. In der Feudalgesellschaft gab es eine revolutionäre Klasse, aber es waren nicht die Leibeigenen, sondern die Bourgeoisie. Lasst uns sehen, warum.

Die Bourgeoisie war eine revolutionäre Klasse, weil sie Produktionsverhältnisse vertrat, die den feudalen überlegen waren. Wir beziehen uns auf das kapitalistische Eigentum an den Produktionsmitteln. Dies ermöglichte eine viel größere Entwicklung der Produktion als das Monopol des Adels. Das Feudalregime wurde für die meisten Gesellschaftsschichten immer unerträglicher, weil es der Entwicklung von Industrie und Handel im Wege stand. Schließlich ergriff die Bourgeoisie, in einigen Fällen als Avantgarde des Volkes, in anderen widerstrebend gedrängt, in allen Ländern die politische Macht und beseitigte die letzten Hindernisse für Handel und Industrie. So gelang es ihr, ihr soziales Regime im Weltmaßstab zu etablieren. Der Kapitalismus ermöglichte eine gigantische Entwicklung der Produktivkräfte (und auch der destruktiven Kräfte). Die revolutionäre Rolle des Kapitalismus bestand darin, die Bedingungen für das Ende der Klassengesellschaft geschaffen zu haben, indem er einerseits einen großen Reichtum an Ressourcen und andererseits die ultimative revolutionäre Klasse schuf: das Proletariat oder die Arbeiterklasse.

Die Arbeiterklasse oder das Proletariat ist die revolutionäre Klasse der kapitalistischen Gesellschaft, weil sie in sich die Fähigkeit trägt, eine neue Gesellschaft zu schaffen, die eine größere Entwicklung der Produktivkräfte ermöglicht1. Aber wir sagen auch, dass sie die ultimative revolutionäre Klasse ist, weil sie die Fähigkeit in sich trägt, neue gesellschaftliche Verhältnisse ohne Ausbeutung zu schaffen, (A.d.Ü., um) die Klassengesellschaft ein für alle Mal zu überwinden.

Diese Fähigkeit, durch seine autonome Tätigkeit eine neue, der gegenwärtigen überlegene Gesellschaft zu schaffen, macht das Proletariat zur revolutionären Klasse der kapitalistischen Gesellschaft. Und das ist es, was Leninist*innen nicht verstehen können und wollen, wie wir später sehen werden.

 

II – Die wahre marxistische Auffassung des Proletariats

Bevor wir fortfahren, wollen wir sehen, was die wahre marxistische Konzeption des Proletariats ist.

„Das Proletariat ist umgekehrt als Proletariat gezwungen, sich selbst und damit seinen bedingenden Gegensatz, der es zum Proletariat macht, das Privateigentum, aufzuheben. (…) Wegen des Widerspruchs, der zwischen seiner menschlichen Natur und seiner Situation besteht, die die offene, klare und absolute Verneinung dieser Natur darstellt. (…) Vielmehr umgekehrt. Weil die Abstraktion von aller Menschlichkeit, selbst von dem Schein der Menschlichkeit, im ausgebildeten Proletariat praktisch vollendet ist, weil in den Lebensbedingungen des Proletariats alle Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft in ihrer unmenschlichsten Spitze zusammengefaßt sind, weil der Mensch in ihm sich selbst verloren, aber zugleich nicht nur das theoretische Bewußtsein dieses Verlustes gewonnen hat, sondern auch unmittelbar durch die nicht mehr abzuweisende, nicht mehr zu beschönigende, absolut gebieterische Not – den praktischen Ausdruck der Notwendigkeit – zur Empörung gegen diese Unmenschlichkeit gezwungen ist, darum kann und muß das Proletariat sich selbst befreien. Es kann sich aber nicht selbst befreien, ohne seine eigenen Lebensbedingungen aufzuheben. Es kann seine eigenen Lebensbedingungen nicht aufheben, ohne alle unmenschlichen Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft, die sich in seiner Situation zusammenfassen, aufzuheben. Es macht nicht vergebens die harte, aber stählende Schule der Arbeit durch. Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eignen Lebenssituation wie in der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet.“ Karl Marx und Friedrich Engels, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik

„Wo also die positive Möglichkeit der deutschen Emanzipation?

Antwort: in der Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besondres Recht in Anspruch nimmt, weil kein besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird, welche nicht mehr auf einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren kann, welche in keinem einseitigen Gegensatz zu den Konsequenzen, sondern in einem allseitigen Gegensatz zu den Voraussetzungen des deutschen Staatswesens steht, einer Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat. (…) Wenn das Proletariat die Auflösung der bisherigen Weltordnung verkündet, so spricht es nur das Geheimnis seines eignen Daseins aus, denn es ist die faktische Auflösung dieser Weltordnung. Wenn das Proletariat die Negation des Privateigentums verlangt, so erhebt es nur zum Prinzip der Gesellschaft, was die Gesellschaft zu seinem Prinzip erhoben hat, was in ihm als negatives Resultat der Gesellschaft schon ohne sein Zutun verkörpert ist.“ Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie

Wir sehen also, dass Gargantés Text, abgesehen davon, dass er von einer abstrakten Definition des Proletariats ausgeht, die er als „die marxistische Konzeption“ identifiziert, mit der von Marx2 nichts zu tun hat. Wenn also das Angehen einer „revolutionären“ Tätigkeit von abstrakten Definitionen aus schon ein schwerwiegender Umstand an sich ist, so ist das Angehen von falschen abstrakten Definitionen ein monumentaler Fehlschlag.

Das bedeutet nicht, dass Gargantés „marxistische Konzeption“ falsch ist, weil sie nicht mit der von Marx übereinstimmt. Warum die Definition von Garganté falsch ist, wurde im vorherigen Punkt bewiesen. Dieser Punkt meiner Kritik soll nur darauf hinweisen, dass, wenn Garganté und andere Leninist*innen von der „marxistischen Konzeption“ der Arbeiterklasse sprechen, sie einfach die sozialdemokratisch-bolschewistische Konzeption meinen.

 

III – Vom abstrakten Proletariat zur Partei

Nachdem er seine Theorie der Partei auf falsche Abstraktionen gegründet hat, fährt Garganté fort, über den Unterschied zwischen dem revolutionären Potenzial der Arbeiterklasse und ihrer tatsächlichen reformistischen Praxis zu sprechen.

Er führt diesen Unterschied auf die Unkenntnis oder das fehlende Bewusstsein der Arbeiter über ihre Rolle in der Produktion, über die gesellschaftliche Struktur und über ihr Potenzial als revolutionäre Klasse zurück. Es scheint, dass für Garganté das Problem der reformistischen Aktivität der Arbeiterklasse mit ideologischen Mitteln, mit Propaganda, gelöst wird.

Garganté spricht an keiner Stelle von Entfremdung, dem Produkt der alltäglichen entfremdeten Arbeit. Er erwähnt auch nicht, dass diese Entfremdung durch eine Praxis überwunden wird, in der die Arbeiterklasse mit traditionellen Handlungs- und Denkweisen bricht (Unterordnung unter die Hierarchie und Delegation der eigenen Angelegenheiten an „Spezialisten“ sind einige Beispiele).

Deshalb lässt Garganté all diese Fragen unbeantwortet:

„Wie können Revolutionäre diese Situation überwinden? Wie können Arbeiter von der Passivität, alle vier Jahre durch Wahlen auf Veränderungen zu hoffen, dazu übergehen, aktive Teilnehmer an ihrer eigenen Emanzipation zu sein?

Wie werden sich die Arbeiter der Möglichkeiten bewusst, die Dinge zu verändern, bis zu dem Punkt, an dem sie sich ihrer Interessen als soziale Klasse bewusst werden?“

Um dann zu sagen:

„Die Geschichte zeigt immer wieder, dass sich die Arbeiter spontan erhoben haben und im Prozess der Durchführung einer Revolution zu einer Klasse geworden sind, die sich ihres Gewichts und ihrer Macht innerhalb des Kapitalismus bewusst ist.“

Zum ersten Mal im Text wendet sich Garganté der in der Geschichte existierenden Arbeiterklasse zu, doch anstatt dieses Phänomen (den spontanen Aufstand der Arbeiter und ihre Selbstkonstituierung zu einem Subjekt, zu einer „Klasse für sich“) untersuchen zu wollen, versucht er, es mit seiner Ideologie in Einklang zu bringen. Ohne die beiden Punkte miteinander zu verbinden, geht Garganté also von der Rede über spontane Aufstände (die er nicht erklärt) zur Notwendigkeit „einer kohärenten Theorie und einer geeigneten Organisation, um über einen einfachen Aufstand hinausgehen zu können“ über.

Das heißt, anstatt den Prozess zu untersuchen, der die Arbeiter dazu bringt, sich spontan zu erheben, um zu sehen, was ihre Mängel sind und um den Weg zu finden, den Prozess zu beschleunigen und den Kampf so bewusst wie möglich zu machen; anstatt zu untersuchen, was in den früheren revolutionären Bewegungen fehlte, um siegreich zu sein und diese Analyse auf die Praxis der Klasse zu zentrieren, fährt Garganté fort, uns von der Notwendigkeit einer Theorie und einer Organisation zu verzaubern, „um über einen einfachen Aufstand hinausgehen zu können“. Mit dieser willkürlichen Arbeitsteilung rechtfertigt Garganté die Partei.

Und ohne Umschweife fährt er fort, darüber zu sprechen, welche Art von Partei: die leninistische Avantgardepartei. Aber für uns ist die Frage nicht, welche Art von Partei die Klasse braucht, sondern zu zeigen, warum die Klasse keine Art von Partei braucht und zu analysieren, warum das Gegenteil noch gedacht wird.

 

IV – Die klassisch sozialdemokratischen Argumente über die Partei

Die Sicherheit der Sozialdemokrat*innen und ihres radikalen Flügels, der Leninist*innen, dass die Arbeiterklasse eine politische Partei braucht, die sie führt, um für die Revolution zu kämpfen, liegt in ihrer Skepsis, dass die Arbeiterklasse sich selbst führen kann. Für sie kann die autonome Tätigkeit des Proletariats ohne die Führung einer revolutionären Partei nur zum Scheitern oder Reformismus führen. Worauf stützen sie diese letzte Behauptung?

In Was tun? zitiert Lenin seinen Meister Karl Kautsky:

„Manche unserer revisionistischen Kritiker nehmen an, Marx hätte behauptet, die ökonomische Entwicklung und der Klassenkampf schüfen nicht bloß die Vorbedingungen sozialistischer Produktion, sondern auch direkt die Erkenntnis (hervorgehoben von K.K.) ihrer Notwendigkeit, und da sind die Kritiker gleich fertig mit dem Einwand, daß das Land der höchsten kapitalistischen Entwicklung, England, von allen modernen Ländern am freiesten von dieser Erkenntnis sei. Nach der neuen Fassung könnte man annehmen, daß auch die österreichische Programmkommission den auf diese Weise widerlegten angeblich „orthodox-marxistischen“ Standpunkt teile. Denn es heißt da: „Je mehr die Entwicklung des Kapitalismus das Proletariat anschwellen macht, desto mehr wird es gezwungen und befähigt, den Kampf gegen ihn aufzunehmen. Es kommt zum Bewußtsein“ der Möglichkeit und Notwendigkeit des Sozialismus etc. In diesem Zusammenhang erscheint das sozialistische Bewußtsein als das notwendige direkte Ergebnis des proletarischen Klassenkampf es. Das ist aber falsch. Der Sozialismus als Lehre wurzelt allerdings ebenso in den heutigen ökonomischen Verhältnissen wie der Klassenkampf des Proletariats, entspringt ebenso wie dieser aus dem Kampfe gegen die Massenarmut und das Massenelend, das der Kapitalismus erzeugt; aber beide entstehen nebeneinander, nicht auseinander, und unter verschiedenen Voraussetzungen. Das moderne sozialistische Bewußtsein kann nur erstehen auf Grund tiefer wissenschaftlicher Einsicht. In der Tat bildet die heutige ökonomische Wissenschaft ebenso eine Vorbedingung sozialistischer Produktion wie etwa die heutige Technik, nur kann das Proletariat beim besten Willen die eine ebensowenig schaffen wie die andere; sie entstehen beide aus dem heutigen gesellschaftlichen Prozeß. Der Träger der Wissenschaft ist aber nicht das Proletariat, sondern die bürgerliche Intelligenz (hervorgehoben von K.K.); in einzelnen Mitgliedern dieser Schicht ist denn auch der moderne Sozialismus entstanden und durch sie erst geistig hervorragenden Proletariern mitgeteilt worden, die ihn dann in den Klassenkampf des Proletariats hineintragen, wo die Verhältnisse es gestatten. Das sozialistische Bewußtsein ist also etwas in den Klassenkampf des Proletariats von außen Hineingetragenes, nicht etwas aus ihm urwüchsig Entstandenes. Dem entsprechend sagt auch das alte Hainfelder Programm ganz richtig, daß es zu den Aufgaben der Sozialdemokratie gehöre, das Proletariat mit dem Bewußtsein (hervorgehoben von K.K.) seiner Lage und seiner Aufgabe zu erfüllen. Das wäre nicht notwendig, wenn dies Bewußtsein von selbst aus dem Klassenkampf entspränge.“

Nachdem er seinen Meister (später ein Renegat) zitiert hatte, sagt uns Lenin:

„Kann nun von einer selbständigen, von den Arbeitermassen im Verlauf ihrer Bewegung selbst ausgearbeiteten Ideologie keine Rede sein3, so kann die Frage nur so stehen: bürgerliche oder sozialistische Ideologie.“

Mit anderen Worten: Entweder führt die in einer Partei organisierte sozialistische Intelligenz das Proletariat, oder das Proletariat wird von der Bourgeoisie geführt. Die Sozialisten/Kommunisten müssen sich in einer Partei organisieren, um die sozialistische Ideologie unter dem Proletariat zu verbreiten und es im Kampf gegen die Bourgeoisie zu führen. Sie müssen dafür kämpfen, die Bewegung nach ihren speziellen Prinzipien, nach ihrem Programm zu formen. Je mehr Führungspositionen die Partei einnimmt und je tiefer ihre Ideologie in den Massen verwurzelt ist, desto näher wird sie der Revolution sein.

Die Aufgabe der Partei ist es, die versprengten Truppen zu sammeln und sie bei ihren Angriffen gegen die Bourgeoisie zu führen. Die revolutionäre Partei ist der Generalstab der Revolution. Ohne eine revolutionäre Partei gibt es keine Revolution. Auf diese Weise wird das Proletariat zur Truppe des eigentlichen revolutionären Subjekts der sozialdemokratischen Theorie: der Partei. Nach der sozialdemokratischen Theorie ist das Verhältnis zwischen Kommunisten und Proletariern das von Lehrern und Schülern, Führern und Geführten.

 

V – Historischer Kontext des Kautskyismus-Leninismus

Aber was ist der historische Kontext der kautskyanisch-leninistischen Konzeption der Beziehung zwischen Kommunisten und Proletariern? Der Kontext war die reformistische Phase der Arbeiterbewegung im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bis kurz vor dem ersten imperialistischen Krieg. Um die Zeit der Niederschlagung der Pariser Kommune (1871) begann ein wirtschaftlicher Aufschwung des Kapitalismus, in dem die Bourgeoisie in der Lage war, den Arbeitermassen wirtschaftliche und politische Forderungen zuzugestehen. Die Bourgeoisie lernte schließlich – gezwungen durch den Kampf der Arbeiter -, dass es besser war, diesen Forderungen nachzugeben, um dem permanenten Konflikt zwischen den Klassen ein Ende zu setzen und die Gefahr eines revolutionären Proletariats zu vermeiden. Zu dieser Zeit wurden die Gewerkschaften legalisiert und wuchsen in ihrer Zahl, bis sie sich zu Arbeiterzentralen zusammenschlossen. Durch die Legalisierung der Arbeiterparteien und deren Einzug in das parlamentarische System wurde die Sozialdemokratie zum Vertreter der Arbeiterklasse im Parlament schlechthin. Und ich sage repräsentativ schlechthin, weil der Parlamentarismus und der theoretische Opportunismus der Sozialdemokratie treue Vertreter des Reformismus der Arbeiterklasse waren. In jenen Jahren ging die „spontane Arbeiterbewegung“ nicht über die Gewerkschaftsbewegung hinaus, weil das Hauptziel der Arbeiterklasse darin bestand, sich in die bourgeoise Gesellschaft zu integrieren. Die kautskyanisch-leninistische Prämisse von der Notwendigkeit der Partei beruhte auf der Naturalisierung dieser vergänglichen Wahrheit (dem reformistischen Charakter der „spontanen Arbeiterbewegung“).

Diese Prämisse wurde, 2 Jahre nachdem Lenin Was tun? schrieb, dementiert. Im Jahr 1905 schufen die aufständischen russischen Massen die Sowjets (Räte) der Arbeiterabgeordneten4. Sie begannen als Erweiterung von Streikkomitees und wurden zu Organen der Arbeitermacht, um den politischen und wirtschaftlichen Kampf gegen das zaristische Regime zu koordinieren. Obwohl sie aus den nicht-sozialdemokratischen Massen hervorgingen, gingen die Sowjets eindeutig über das gewerkschaftliche Bewusstsein hinaus. Die russischen Massen zeigten der Welt die Form der revolutionären Organisation des Proletariats, indem sie auf einem anderen Terrain und in einem größeren Maßstab die Glanzleistung des Pariser Proletariats von 1871 wiederholten.

Aber das war nicht das letzte Mal, dass das Proletariat durch seine autonome Aktivität die Gewerkschaftsbewegung überwunden hat. Das Proletariat hat im 20. Jahrhundert mehrfach in der Praxis bewiesen, dass die kautskyanisch-leninistische Prämisse falsch ist, und aus eigener Kraft seine Machtorganismen aufgebaut, die den politischen und ökonomischen Kampf vereinigten. Die Prämisse der Unfähigkeit der Arbeiterklasse, syndikalistisches (A.d.Ü., gewerkschaftliches) Bewusstsein zu überwinden, bleibt jedoch, obwohl sie von der Geschichte widerlegt wurde, bis heute der Kern der Argumente der Linken.

Worauf ist das zurückzuführen?

Nochmals, zum aktuellen Reformismus der Arbeiterklasse.

So wie die alte Sozialdemokratie in ihrer politischen und theoretischen Praxis das reformistische Proletariat ihrer Zeit repräsentierte, so tut es die heutige Linke. Damals wurde der theoretische Opportunismus der Sozialdemokratie von einigen wenigen Revolutionären bekämpft und angeprangert. Aber die Sozialdemokratie war nicht wegen ihres „Revisionismus“ der marxistischen Theorie reformistisch, sondern wegen ihres Charakters als politische Partei und ihrer Anpassung innerhalb des bourgeoisen Regimes. Die Sozialdemokratie konnte angesichts der radikalen Kritik behaupten, die Realität gebe ihr Recht. Und heute kann die Linke dasselbe sagen, denn die Praxis der Arbeiterklasse ist heute immer noch reformistisch, und nach Ansicht der Linken hat nur ein revolutionärer Prozess, der von einer Partei geführt wird, den Sieg errungen, auch wenn er später „degeneriert“5 ist.

Aber wenn wir uns auf die Geschichte stützen und nicht auf die zirkuläre Logik der Linken, werden wir sehen, dass in den revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts (in Deutschland und Spanien können wir es sehr deutlich sehen) gezeigt wurde, dass die Aktionen der Parteien -und Gewerkschaften- der Selbstemanzipation der Arbeiter zuwiderliefen. Die „spontane Arbeiterbewegung“, die vom Klassenkampf selbst angetrieben wurde, überwand nicht nur die Gewerkschaftsbewegung, sondern hatte auch die sozialdemokratischen und leninistischen Parteien auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. Das Interesse des Proletariats war die Selbstemanzipation. Das Interesse der Parteien war und ist, es zu führen. Und noch heute wird die Bilanz, die die Linke über diese Prozesse zieht, in einem Satz zusammengefasst: „Es fehlte an revolutionärer Führung“.

 

VI – Der wahre Weg zur Revolution, die proletarische Autonomie

„Und dann?“ – Wird das sozialdemokratische Denken als letztes Mittel des Pragmatismus angesichts der Sturheit der Geschichte sagen: „Sollen wir uns zurücklehnen und warten, bis die Revolution sich selbst macht?“

Da die Sozialdemokratie keine Bewegung kennt, die nicht führt, kennt sie auch keine Aktivität, die nicht darauf abzielt, „die Führung“ der Bewegung der Ausgebeuteten zu gewinnen. Lenin selbst sagte, dass es nur wenige Kräfte gibt, die mächtiger sind als die Gewohnheit, und die Gewohnheit, wie bourgeoise Revolutionäre zu denken, ist in der Linken zu stark, als dass sie von einem Tag auf den anderen verschwinden könnte, nicht einmal mit den besten Argumenten der Welt. In dieser Epoche, in der der Klassenkampf noch nicht genug radikalisiert ist, werden nur wenige in der Lage sein, die sozialdemokratische Vision der proletarischen Revolution und des Sozialismus zu bekämpfen und zu überwinden, denn aufgrund des geringen Niveaus der Selbstaktivität der Arbeiterklasse wird die Mehrheit der linken Militanz das kautskyanisch-leninistische Prinzip „bestätigt“ sehen, wonach die Arbeiterklasse keine andere Möglichkeit hat, als von ihrer Klassenpartei angeführt zu werden.

Aber die Lösung dafür kommt nicht aus der Hand von revolutionären Gruppen für die Autonomie der Arbeiter (obwohl ihre Bildung wünschenswert und notwendig ist). Die Gegentendenz zur Autonomie der Arbeiter, die sowohl von der Linken als auch von der Gewerkschaftsbewegung vertreten wird, kann nur durch die Selbstaktivität der Klasse selbst überwunden werden. Wir denken, dass das Proletariat das revolutionäre Subjekt ist, deshalb geht der Mittelpunkt unserer Reflexion und unserer Praxis durch seine Praxis und nicht durch die Führungen oder Kandidaten, die es sein wollen. Unsere ist eine materialistische Analyse, keine idealistische, und deshalb konzentriert sie sich auf die Praxis der Ausgebeuteten, nicht auf ihr Bewusstsein6. Und so wie wir sagen, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse das Werk der Arbeiterklasse selbst sein wird, sagen wir, dass die Gründe für das Scheitern der Arbeiterklasse in ihrer Selbstemanzipation in ihrer eigenen Praxis gesucht werden müssen. Wir sagen, dass, wenn in der proletarischen Bewegung die gewerkschaftliche und parteiliche Organisation und das Denken vorherrschen, dies eine Manifestation des reformistischen Charakters dieser Bewegung, eines niedrigen Stadiums der Selbstaktivität der Klasse ist.

Erst wenn das Proletariat durch seine autonome Tätigkeit die Gewerkschafts- und Parteipraktiken überwindet und seine Machtorganismen durch direkte Demokratie konstituiert, kann man von einer revolutionären Praxis sprechen. Das Proletariat braucht dazu keine Partei, es wird es spontan tun, sobald die Lebensbedingungen im Kapitalismus unerträglich werden und es die Nutzlosigkeit von Partei- und Gewerkschaftsorganisationen in der Praxis bewiesen hat. Diese Schlussfolgerung wird das Produkt nicht einer „revolutionären Theorie“ sein, die wie Manna vom Himmel fällt, sondern der kollektiven Auseinandersetzung mit der gelebten Erfahrung. Kollektive Debatte, zu der wir revolutionären Gruppen für die Selbstemanzipation der Klasse mit unseren Meinungen beitragen können.

Wir Kommunist*innen müssen diesen Lernprozess auf der Grundlage von Erfahrungen beschleunigen und so bewusst wie möglich machen, und dafür müssen wir ihn als erstes nicht durch entfremdende Praktiken behindern. Dies erfordert eine Beziehung zwischen Kommunist*innen und Proletariern, die nicht die von Partei/Massen, Führern/Leitern, Lehrern/Schülern ist. Und ebenso eine Beziehung zwischen Kommunist*innen selbst, die nicht die von Führung/Basis, Zentralkomitee/Militanz ist.

 

VII – Die Beziehung zwischen Kommunisten und Proletariern

Für uns ist die Essenz der Tätigkeit der Kommunisten das, was Marx im Manifest schreibt:

In welchem Verhältnis stehen die Kommunisten zu den Proletariern überhaupt?

Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den andern Arbeiterparteien.

Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen.

Sie stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen.

Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, daß sie einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen, andrerseits dadurch, daß sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten.

Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.

Der nächste Zweck der Kommunisten ist derselbe wie der aller übrigen proletarischen Parteien: Bildung des Proletariats zur Klasse, Sturz der Bourgeoisherrschaft, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat.“

Auch wenn diese Prämissen im Großen und Ganzen richtig sind, gab es einige Veränderungen von Marx bis heute. Einer der Unterschiede besteht darin, dass zu Marx‘ Zeiten die Arbeiterbewegung noch nicht vom System absorbiert worden war und daher ausschließlich das Produkt der autonomen Tätigkeit des Proletariats war. Heute ist die Arbeiterbewegung vom System aufgesogen worden, und die Parteien und Gewerkschaften sind nicht mehr Faktoren für die Entwicklung der Selbstaktivität und des Bewusstseins der Klasse, sondern ein Faktor für ihre Rückständigkeit. Deshalb muss unsere Tätigkeit außerhalb und gegen die Parteien und Gewerkschaften beginnen.

Wir schlagen die Bildung von autonomen und horizontalen Diskussions-, Reflexions- und Verbreitungskreisen vor. Das bedeutet nicht, viele kleine Parteien zu bilden, die nach der Art von Vollversammlungen (ohne formale Hierarchien) funktionieren. Es handelt sich um eine Änderung des Inhalts der Tätigkeit, nicht nur der Form. Anstatt ein Programm und eine „Linie“ zu entwerfen, die man der Klasse aufzwingen will, sich am Klassenkampf als einer mehr zu beteiligen, in jedem einzelnen Kampf den Kampf als Ganzes hervorzuheben und zu behaupten, mit unserer theoretischen Vision dazu beizutragen, die Hindernisse zu erkennen und zu überwinden, die der Feind stellt oder die wir selbst stellen. Um Marx in seinem Brief an Ruge von 1843 zu paraphrasieren, müssen wir unseren Klassengefährten nicht sagen, warum sie kämpfen sollen, sondern ihnen erklären, warum sie kämpfen. Dem Spontanen zu helfen, bewusster zu werden, anstatt zu versuchen, es zu lenken.

Natürlich ist diese Arbeit der theoretischen Praxis nicht die ganze Tätigkeit der Kommunist*innen, sondern das, was sie vom Rest des Proletariats unterscheidet7. Kampf und Solidarität, immer autonom und die Ausgebeuteten dazu drängend, für sich selbst zu handeln, ist die beste Propaganda für den Kommunismus, die man machen kann.

 

VIII – Fazit

Der Kommunismus ist nichts anderes als die bewusste und selbstorganisierte Zusammenarbeit der Proletarier gegen die Entfremdung ihrer Selbsttätigkeit als gesamter Mensch; er soll die freie Entwicklung der Individuen mit all ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen zur Bedingung für die Entwicklung einer Gesellschaft ohne Ausbeutung und Herrschaft machen. Kurz gesagt, der Kommunismus ist die wirkliche Bewegung, die den gegenwärtigen Zustand der menschlichen Existenz effektiv aufhebt und überwindet, eine Bewegung, die mit der Tendenz der Proletarier, autonom und als Klasse zu handeln, das heißt, ihre eigene selbstbestimmte revolutionäre Praxis zu unternehmen, ins Leben tritt. Die Entwicklung des Kommunismus besteht im Wesentlichen in der Entwicklung der proletarischen Autonomie über die vom Kapitalismus gesetzten Grenzen hinaus.“ (Círculo Internacional de Comunistas Antibolcheviques – Líneas de orientación – Internationaler Kreis der antibolschewistischen Kommunisten – Orientierungslinien)

Heute können wir in der sozialen Existenz der Proletarier die Negation der gegenwärtigen Gesellschaft, die Negation des Privateigentums sehen. Wir könnten eine ganze Seite mit Daten über die Konzentration von Reichtum und die Ausdehnung des Elends, die sein notwendiges Gegenstück ist, füllen. Die enorme Konzentration von Reichtum in einer Handvoll Monopole spiegelt sich umgekehrt in den zwei Dritteln der Menschheit wider, die von weniger als zwei Dollar pro Tag leben. Die Kapazität, Nahrung für 12 Milliarden Menschen zu produzieren, auf der einen Seite und die 100.000 Hungertoten pro Tag auf der anderen Seite.

Gegen all dies gibt es den Kampf seitens der Ausgebeuteten. Kämpfe um Forderungen, politische Kämpfe, aufständische Kämpfe und territoriale Kämpfe. Einige Kämpfe sind autonom und andere werden vom System durch staatliche Institutionen, Parteien oder Gewerkschaften aufgefangen. Nicht in institutionalisierten oder einer Führung untergeordneten Kämpfen werden wir den wahren revolutionären Charakter des Proletariats erkennen.

Es ist der radikale und autonome Kampf der Ausgebeuteten gegen die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse, in dem wir das wirkliche Proletariat als Subjekt sehen können. Denn nur durch individuelle und kollektive Autonomie befreien sich die Proletarier von der Entfremdung. Wir sahen es in den Prozessen der Pariser Kommune, den russischen Sowjets, den deutschen Arbeiterräten, den spanischen landwirtschaftlichen Kollektiven. Wir sehen es heute in den radikalsten wilden Streiks, wo, obwohl die Gewerkschaftsführung nicht überwunden wird, die Vormundschaft der Gewerkschaftsführungen überwunden wird und die Ausgebeuteten ihre eigenen Diskussions- und Entscheidungsgremien schaffen. Wir haben das in Argentinien flüchtig gesehen, mit der Schaffung der Vollversammlungen, die aus dem Aufstand vom Dezember 2001 hervorgegangen sind.

Der Weg zur Erhöhung der Selbstaktivität der Ausgebeuteten liegt in der Bildung von autonomen Basiskernen und in den Kreisen der Debatte und der theoretischen Meinung, nicht in der alten und sich erholenden Partei/Gewerkschaft-Binomialität.

Unsere Emanzipation wird das Werk von uns selbst sein. Wir brauchen keine „professionellen Emanzipatoren“, die uns sagen, was wir tun sollen. Wir brauchen Komplizen, wir brauchen Gefährten, mit denen wir diesen Weg gemeinsam gehen können, als Gleiche, die nicht nur im Sinne des Kommunismus, sondern vom Kommunismus her denken und handeln.

Ricardo Fuego

28/11/2005

 

1Und zu „Produktivkräften“ zähle ich Kunst, Kultur, Freizeit, alles, was für den Menschen produktiv ist. Kommunisten müssen also über die Produktivkräfte von einem kommunistischen Standpunkt aus nachdenken, nicht vom gegenwärtigen kapitalistischen Standpunkt aus, wo die menschliche Tätigkeit auf die Reproduktion des Kapitals ausgerichtet ist.

2Dinge wie diese sind es, die Marx dazu brachten zu sagen „Ich bin kein Marxist“, und die uns Revolutionären heute helfen, zwischen Marx und Marxismus zu unterscheiden.

3A.d.Ü., wir nahmen uns die Freiheit die Fußnote aus dem Originaltext von Lenin auch zu veröffentlichen: „Dies heißt selbstverständlich nicht, daß die Arbeiter an dieser Ausarbeitung nicht teilnehmen. Aber sie nahmen daran nicht als Arbeiter teil, sondern als Theoretiker des Sozialismus, als die Proudhon und Weitling, mit anderen Worten, sie nehmen nur dann und soweit daran teil, als es ihnen in höherem oder geringerem Maße gelingt, sich das Wissen ihres Zeitalters anzueignen und dieses Wissen zu bereichern. Damit aber den Arbeitern dieses häufiger gelinge, ist es notwendig, alles zu tun, um das Niveau der Bewußtheit der Arbeiter im allgemeinen zu haben; ist es notwendig, daß die Arbeiter sich nicht in dem künstlich eingeengten Rahmen einer „Literatur für Arbeiter„ abschließen, sondern daß sie es immer mehr lernen, sich die allgemeine Literatur zu eigen zu machen. Es wäre sogar richtiger, anstatt „sich nicht abschließen“ zu sagen: nicht abgeschlossen werden, dann die Arbeiter selbst lesen alles und wollen alles lesen, auch das, was für die Intelligenz geschrieben wird, und nur einige (schlechte) Intellektuelle glauben, „für Arbeiter“ genüge es, wann man ihnen von den Zuständen in der Fabrik erzählt und langst bekannte Dinge wiederkäut.“

4A.d.Ü., es ist die Rede von Arbeiterräten. Im Originaltext steht diputados de obreros, was wortwörtlich Arbeiterabgeordnete bedeutet, dies hat aber nichts mit irgendeiner Repräsentation von Arbeiter und Arbeiterinnen im Parlament zu tun.

5Wir beziehen uns auf die russische Oktoberrevolution, die viele – fälschlicherweise – mit einer proletarischen oder kommunistischen Revolution identifizieren, obwohl sie eine kapitalistische Revolution war, die in den Händen einer jakobinischen Intelligenz mit marxistischer Phraseologie landete. Siehe Thesen zum Bolschewismus von Helmut Wagner (http://members.fortunecity.com/cica/clasicos/wagner/bolchevismo/indice.htm)

6„Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewusstseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, ist Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluss ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen usw., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewusstsein kann nie etwas anderes sein als das bewusste Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Vorstellungen wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebenso sehr aus ihrem historischen Lebensprozess hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen.
Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erde herabsteigt, wird in der Wissenschaft von der Erde zum Himmel gestiegen. D.h., es wird nicht ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen, … ; es wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozess auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt. (…) Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hier- mit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein. In der ersten Betrachtungsweise geht man von dem Bewußtsein als dem lebendigen Individuum aus, in der zweiten, dem wirklichen Leben entsprechenden, von den wirklichen lebendigen Individuen selbst und betrachtet das Bewußtsein nur als ihr Bewußtsein.“ (Marx und Engels, Die deutsche Ideologie, Kapitel Gegensatz von materialistischer und idealistischer Anschauung)

7Wir mystifizieren oder verbreitern diese Unterscheidung nicht, denn wir sind gegen Spezialismus (A.d.Ü., sich zu spezialisieren). Da wir uns als innerhalb der Klasse und nicht außerhalb oder über ihr begreifen, beabsichtigen wir, dass diese theoretische Funktion zunehmend von der Klasse als Ganzes ausgeübt wird. Schließlich ist unsere theoretische Praxis nichts anderes als der Prozess der Reflexion über Erfahrungen, Meinungen und Debatten, den auch der Rest der Ausgebeuteten macht, nur auf eine bewusstere und selbstdiszipliniertere Weise.

Dieser Beitrag wurde unter CICA, Kritik am Leninismus, Kritik am Reformismus, Texte veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.