Gefunden auf vamos hacia la vida, die Übersetzung von uns
Reflexionen über das anhaltende kapitalistische Gemetzel (Russland-Ukraine)
Veröffentlicht am 09.03.2022
„Die Absurdität eines antifaschistischen Kampfes, der den Krieg als Aktionsmittel wählt, wird damit klar aufgezeigt. Es würde nicht nur bedeuten, eine grausame Unterdrückung zu bekämpfen, indem die Völker unter der Last eines noch grausameren Massakers erdrückt werden, sondern auch, das Regime, das es zu unterdrücken galt, unter einer anderen Formel auszuweiten. Es ist naiv zu glauben, dass ein Staatsapparat, der durch einen siegreichen Krieg mächtig geworden ist, die Unterdrückung des eigenen Volkes durch den feindlichen Staatsapparat mildern würde; es wäre noch naiver zu glauben, dass er es zulassen würde, dass sich eine proletarische Revolution unter dem Volk erhebt, indem die Niederlage ausgenutzt wird, ohne sie im gleichen Moment in Blut zu ertränken (…) besonders im Kriegsfall muss man sich entscheiden, ob man das Funktionieren der Militärmaschinerie, deren Rädchen man ist, behindert oder mit dieser Maschine kollaboriert, um blindlings Menschenleben zu vernichten“. Simone Weil, Überlegungen zum Krieg, 1933.
Die gegenwärtige Entwicklungsphase der kapitalistischen Produktivkräfte – die nichts anderes als ihre zerstörerischen Kräfte sind – bringt Ereignisse mit sich, die aufeinander folgen, wie eine immer stärker werdende Spirale ihrer allgemeinen Krise, in der die Krise der Arbeit – die sich in der Verdrängung der Menschen aus dem Produktionsprozess selbst manifestiert -, Umweltzerstörungen – von denen die Covid-19-Pandemie und der Klimawandel unmittelbare Folgen sind -, große Migrationsströme und andere Katastrophen, die zum Alltag geworden sind, zusammenkommen. Der Krieg und der Militarismus sind untrennbar mit dieser irrationalen Dynamik des Kapitalismus verbunden: heute stehen wir vor der angeblich größten militärischen Mobilisierung seit dem Zweiten Weltkrieg, dem Einmarsch der Russischen Föderation in die Ukraine, unter dem angeblichen Vorwand, der „Nazifizierung“ entgegenzutreten und das Separatistengebiet im Donbass zu verteidigen.
Als ob die kapitalistische Katastrophe und die von ihr mobilisierten Kräfte der Konterrevolution nicht schon genug wären, erleben wir, wie Gruppen, die sich selbst als antikapitalistisch bezeichnen, den Vormarsch und das Bombardement der russischen Truppen auf ukrainische Städte offen oder heimtückisch/arglistig verteidigen. Einige aufgrund einer Art von Russlandliebe, die mit einer gewissen Nostalgie für die UdSSR zusammenhängt, andere, weil sie die politischen und militärischen Kräfte des Westens, mit denen Russland konfrontiert ist, als Verkörperung des absolut Bösen betrachten, und wieder andere, weil sie der Ansicht sind, dass die russische Offensive in Wirklichkeit auf die Verteidigung der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Lugansk im Donbass abzielt und daher eine Art Kampf oder Unterstützung gegen den „Faschismus“ in der Ukraine darstellt. So haben sich Bereiche vom Leninismus-Stalinismus bis zum Anarchismus schnell für eine militärische Invasion des Staates einer Weltsupermacht und ihrer herrschenden Klasse eingerahmt, den Internationalismus und jede revolutionäre Perspektive verworfen und die Beweggründe und blutigen Folgen dieses imperialistischen Krieges relativiert. Die antikapitalistische historische Erfahrung zeigt, dass imperialistische Kriege nichts anderes sind als die Art und Weise, in der das Kapital auf der Grundlage einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Fraktionen der internationalen Bourgeoisie umstrukturiert wird, wobei das Proletariat als Kanonenfutter benutzt wird, und das Bewusstsein, dass kein Staat jemals seine Truppen für andere Motive und Interessen als die seiner herrschenden Klasse mobilisieren wird, werden durch die Versuchung verwässert, ein Projekt territorialer Autonomie – übrigens in Form einer Republik – angesichts der „faschistischen“ Offensive zu verteidigen, die der ukrainische Staat und die irregulären Neonazi-Milizen gegen die Donbass-Region führen. Die Sinnlosigkeit dieser Positionen hält nicht der geringsten kritischen Analyse stand, weder in ihrer eigenen Logik – der antifaschistischen Motivation – wenn sie mit der Realität konfrontiert werden, noch angesichts einer kohärenten antikapitalistischen und revolutionären Praxis: Die Entwicklung und der Ausgang des Krieges werden dies bestätigen.
Seit ihrem Aufstieg/Höhepunkt bis zum heutigen Tag hat die kapitalistische Zivilisation ihre Macht unter anderem durch den Krieg begründet, der nichts anderes ist als die Fortsetzung der Ökonomie mit anderen Mitteln. Das heißt, eine Fortsetzung des ständigen Wettbewerbs zwischen den verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie, sich so viel wie möglich von der Masse des sozialen Mehrwerts anzueignen, der im Übrigen aufgrund der internen Akkumulationsgrenze, mit der das Kapital kollidiert, ständig abnimmt. Der Kriegskonflikt hat in hohem Maße die industrielle Entwicklung und Innovation gefördert, was wiederum die Entwicklung der Produktivkräfte ermöglichte, die für den technischen, wissenschaftlichen und industriellen „Fortschritt“ der Militärmaschinerie eingesetzt werden, um natürliche Ressourcen, Rohstoffe, Regionen, Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Staaten und Märkten zu erobern, die die immer weitergehende Reproduktion des Kapitals und der Macht der kapitalistischen Klasse ermöglichen. Wenn das Kapital in erster Linie eine soziale Organisationsform ist, die die Menschheit und alles auf der Erde einer ungezügelten Ausbeutung ausliefert, die einzig und allein dem Zweck dient, die Ökonomie anzutreiben und die herrschende Klasse, deren Macht davon abhängt, zu verewigen, dann folgt daraus, dass Kriege keinen anderen Zweck haben, als diese spezifische Form der Reproduktion und die daraus resultierende soziale Herrschaft zu verewigen. Die Fraktionen des Kapitals, die sich um diese materielle Basis streiten, um ihre mehr oder weniger hegemoniale Position in der kapitalistischen Herrschaft zu sichern, müssen diese Macht also auf militärischer Ebene sichern.
Im Falle dieses Konflikts ist diese Dynamik besonders anschaulich: Der Einmarsch in die Ukraine ist ein strategischer Schachzug des russischen Imperialismus angesichts des Vormarschs des westlichen Blocks NATO-USA. In den letzten Jahrzehnten hat die technologische und wissenschaftliche Entwicklung der Rüstungsindustrie die Entwicklung von Hyperschallwaffen ermöglicht, die u.a. die Reichweite von Atomwaffen haben könnten. Das bedeutet, dass der Staat, der in diesem Bereich der technologischen Entwicklung die Vorherrschaft erlangt, auch die Vorherrschaft im militärischen Bereich erlangt, da er in der Lage ist, die kritische Infrastruktur der gegnerischen Macht auszuschalten und deren Reaktionsfähigkeit in kurzer Zeit lahm zu legen, Damit wird das militärische Schema der „Mutually Assured Destruction“ (MAD) überwunden, das während des Kalten Krieges vorherrschte und einen relativen Frieden zwischen den imperialistischen Mächten garantierte, der auf der ausgewogenen Macht der atomaren Zerstörung zu jener Zeit beruhte. Der mögliche Beitritt der Ukraine zum NATO-Militärblock und die anschließende Stationierung von Waffen auf dem ukrainischen Territorium gefährdet also die „Sicherheit“ der russischen Einflusssphäre: das ist der eigentliche, unmittelbare Grund für den Konflikt.
Ebenso beabsichtigt Russland nicht, die territoriale und militärische Besetzung der Ukraine zu verlängern, sondern durch die Invasion die „Neutralität“ des ukrainischen Staates gegenüber der NATO gewaltsam durchzusetzen und ihn am Beitritt zur Koalition zu hindern. Und um dieses Ziel zu erreichen, wird Russland einen Kompromiss mit der Ukraine aushandeln und, wenn nötig, die derzeitige Regierung stürzen und eine Marionettenregierung einsetzen, die dem Diktat des Kremls folgt.
Während Putin und der russische Staat den angeblich humanitären Charakter ihrer Invasion beteuern und versichern, dass sie das Leben der Separatisten im Donbass schützen, weinen die Staats- und Regierungschefs der EU Krokodilstränen für die Zivilisten, die bei den Kämpfen abgeschlachtet werden und bereits zu Hunderttausenden aus ihren Häusern fliehen, doch in Wirklichkeit fürchten sie sich vor der Vorstellung eines Krieges, der einen Punkt ohne Wiederkehr schaffen und ihre ökonomische und energetische Abhängigkeit schädigen wird. Die Wahrheit liegt nicht in den öffentlichen Erklärungen einer der beteiligten Mächte, sondern in der Bewegung ihrer materiellen Kräfte – ökonomisch, politisch, militärisch -, die die wahre Grundlage dieses Konflikts bilden.
Antifaschistische Verteidigung des imperialistischen Krieges
Wie bereits bekannt, werden die beiden selbsternannten Republiken der Donbass-Region, Donezk und Lugansk, seit dem Sturz der prorussischen Regierung im Anschluss an den Euromaidan seit acht Jahren von der ukrainischen Armee und Milizen belagert. Der pro-NATO-Charakter der ukrainischen Regierung seit 2014 und insbesondere die Präsenz von Faschisten in ihren Streitkräften und die Existenz irregulärer bewaffneter Gruppen von Neonazis, die bei den Euromaidan-Protesten und dann im Krieg im Donbass sichtbar wurden, sowie der „autonome“ und „populäre“ Charakter der separatistischen Regionen mobilisierten die Unterstützung bestimmter Teile der internationalen Linken. Zahlreiche Milizen setzen sich aus antifaschistischen, marxistisch-leninistischen und anarchistischen Freiwilligen zusammen. Aber es ist vor allem das, was von vielen als Kampf gegen den Faschismus angesehen wird, das die meisten dieser Sympathien mobilisiert. Die Geschehnisse in dem von den Separatisten kontrollierten Gebiet sind jedoch weitaus komplexer und uneinheitlicher, als viele glauben.
In Wahrheit sind es nicht nur Antifaschisten und Linke, die zur Verteidigung des Donbass gegen die Ukraine kämpfen. Die Milizen, die zur Verteidigung der Autonomie dieser Region kämpfen und gekämpft haben, decken das gesamte politische Spektrum ab, darunter auch Freiwillige mit Ideologien, die denen der antifaschistischen Milizionär*innen antagonistisch sind, wie einige Gruppen der russischen extremen Rechten, z. B. die Russische Kaiserliche Bewegung und die Neonazis der Russischen Nationalen Einheit – neben vielen anderen -, die seit Beginn des Konflikts Kampftruppen entsandt haben1. Es liegt auf der Hand, dass die Gruppen, die für die Autonomie des Donbass kämpfen, heterogen sind, da ihre Beweggründe von der Verteidigung des Experiments der autonomen Republik über den Schutz der Bewohner der Region, die unter ständigen Aggressionen aus Kiew leiden, bis hin zu bestimmten Formen des prorussischen Nationalismus reichen, aber auch ohne eine erschöpfende Analyse der politischen Zusammensetzung der Donbass-Verteidigungsfront ist klar, dass sie weit davon entfernt ist, eine einheitliche und im Wesentlichen antifaschistische Front zu sein – mit all den Grenzen, die diese Perspektive aufweist: Verteidigung der Demokratie und des Staates, Unterstützung einer liberalen Bourgeoisie, Interklassismus (Klassenübergreifend) usw. -. Letzteres bedeutet natürlich keineswegs, dass die Region Donbass aufgrund der ständigen Angriffe der ukrainischen Armee und anderer irregulärer Kräfte keine humanitäre Krise erlebt.
Andererseits: Stellt die „Form“ Republik eine Möglichkeit der sozialen Emanzipation von den kapitalistischen sozialen Verhältnissen dar?2 Kann ein Staat, wie der russische Staat, die territoriale Autonomie in einer Region garantieren, die er jetzt als Rechtfertigung für einen imperialistischen Krieg benutzt? Wenn es darum geht, das Leben der im Donbass lebenden Menschen gegen die Verbrechen des ukrainischen Staates und seiner Verbündeten zu verteidigen, wie kommt es dann, dass der Angriff einer Supermacht auf Städte, in denen Zivilisten leben, und die Krise, die dies für Millionen von Menschen auf ukrainischem Gebiet bedeutet, für diejenigen, die diese Perspektive vertreten, nicht eine ähnliche Barbarei, eine erhebliche Verschärfung des menschlichen Elends inmitten des Krieges zwischen ökonomischen Mächten, zwischen den verschiedenen Fraktionen des Kapitals darstellt?
Außerdem werden die Verbrechen eines Staates und grausamer Neonazi-Milizen nicht automatisch die gesamte in der Ukraine lebende Bevölkerung zu Kriminellen und auch nicht automatisch zu Neonazis machen. Nur jemand, der von einer Ideologie verblendet ist, könnte behaupten, dass die Menschen, die unter der Herrschaft einer herrschenden Klasse und ihres Staates leben, nur die Verlängerung dieser herrschenden Klasse und dieses Staates sind. Die Relativierung oder schlichte Auslassung einiger Teile der Linken und des Antifaschismus in Bezug auf letzteren ist erschreckend. Die Unvernunft und die Verachtung für das menschliche Leben, die die kapitalistische Logik hervorbringt, durchdringt selbst diejenigen, die behaupten, sich den Auswirkungen dieser krankhaften Vergesellschaftung zu widersetzen. Selbst wenn wir glauben möchten, dass die herrschende Klasse in der Ukraine ein Spiegelbild ihrer Einwohner ist, oder wenn wir glauben möchten, dass „in der Ukraine alle Nazis sind“, wie die pro-russische Propaganda dummerweise behauptet, fällt diese Mystifizierung auseinander, sobald wir versuchen, ihren Ursprung zu verstehen: die rechtsextremen und neonazistischen Bewegungen, die es in der Ukraine tatsächlich gibt, und insbesondere das Asow-Bataillon, eine Gruppierung, die sich 2014 im Kampf gegen die Milizen der Donezker Volksrepublik einen Namen gemacht hat, später Teil der ukrainischen Zivilgarde3 wurde und heute Hunderte von aktiven Mitgliedern hat. Letzteres hat dazu beigetragen, dass die Post-Euromaidan-Regierungen als „neonazistisch“ bezeichnet werden, wozu die russische Propaganda einen großen Beitrag geleistet hat. Es stimmt zwar, dass in der Demokratie verschiedene politische Fraktionen der Bourgeoisie um die Verwaltung des Kapitals durch den Staat streiten, aber es stimmt auch, dass bei den letzten Präsidentschaftswahlen in der Ukraine im Jahr 2019 die Partei Svoboda4 – „Freiheit“ -, die die Unterstützung der rechtsextremen Wählerschaft bündelt, nur 1,62 % der Stimmen erhielt. Dies sollte ausreichen, um die ansonsten eher ungenaue Charakterisierung der Ukraine als „Nazi“ oder „rechtsextremer“ Staat in Frage zu stellen, insbesondere was die Zivilbevölkerung betrifft.
Seit Beginn des Krieges hört und liest man Äußerungen nach dem Motto „alles ist nützlich im Kampf gegen den Faschismus“, die den Einmarsch in Russland rechtfertigen oder relativieren. Wenn der Kampf gegen den Faschismus darauf abzielt, das Aufkommen der Barbarei zu verhindern und Raum für die soziale Emanzipation zu schaffen, wie kann dann die politische, ökonomische und militärische Stärkung einer kapitalistischen Macht – zum Nachteil einer anderen – uns etwas anderes bringen als das, was sie verhindern soll? Wie kommt man darauf, dass eine Fraktion der Bourgeoisie in einer Krisenzeit einen geringeren Grad an Barbarei garantiert als ihre ideologischen Gegner? Der Faschismus setzte unter Hitler, Franco oder Mussolini die Maßnahmen um, die das Kapital zu ihrer Zeit von ihnen verlangte und die sich nicht grundlegend von denen unterschieden, die Stalin dem Proletariat in verschiedenen Gebieten auferlegte5. Wenn die These vom Antifaschismus einmal mehr abstrakt unhaltbar ist, erweist es sich als völlig anachronistisch, sie 100 Jahre später wiederbeleben zu wollen. Für Revolutionäre und insbesondere für Anarchisten sollte die tragische Erfahrung in Spanien 1936 ausreichen, um sich keine Illusionen über den Antifaschismus zu machen, der nichts anderes ist als die Verteidigung der demokratischen Formen der kapitalistischen Verwaltung, die Versöhnung zwischen den Klassen, die Entscheidung für das „kleinere Übel“ und die Lossagung vom revolutionären Horizont6.
Nach allem, was über die kapitalistische Dynamik und die Kriege, die sie hervorbringt, gesagt wurde, und auch nach den Beobachtungen vor Ort, wo sich dieser besondere Konflikt abspielt, ist es schwierig zu erkennen, wie die Möglichkeit irgendeiner Art von sozialer Emanzipation inmitten eines Gemetzels entstehen kann, das gerade dazu dient, die Vorherrschaft eines der streitenden Blöcke aufrechtzuerhalten, was nichts anderes bedeutet als die Intensivierung der kapitalistischen Herrschaft, der Diktatur der Ökonomie über alles Lebendige. Und das ist kaum zu widerlegen: Zwei Weltkriege, der Genozid und das Verschwinden ganzer Bevölkerungen, die psychische Zerstörung der von ihr beherrschten Individuen und die Zerstörung der Biosphäre haben bereits gezeigt, dass die internationale Bourgeoisie ihre Wahl schon vor langer Zeit getroffen hat und dass sie nicht zögern wird, ihre Zerstörungskräfte weiterhin bis ins Unvorstellbare auszudehnen, um ihre Produktionsmaschine am Laufen zu halten, wohl wissend, dass der „Kuchen“ immer kleiner wird und in immer weniger Teile aufgeteilt wird. Dieser imperialistische Krieg wird nichts anderes bringen als eine globale kapitalistische Umstrukturierung inmitten einer sich immer weiter verschärfenden Krise. Daraus folgt, dass diejenigen, die in diesem Krieg eine Seite verteidigen, sich trotz ihrer Absichten nur auf die Seite der Verteidigung der bestehenden Ordnung stellen.
Krise des Bewusstseins und Bewusstsein der Krise
Die verschiedenen Phasen der kapitalistischen Entwicklung bringen ihre eigenen Formen der Vergesellschaftung und damit die entsprechenden Grenzen ihres Bewusstseins hervor. In der Entstehungsphase der Arbeiterbewegung stießen die imperialistischen Kriege bei einigen mobilisierten Teilen des Proletariats auf bewussten Widerstand. Der rudimentäre Zustand der kapitalistischen Gesellschaft zu dieser Zeit, im Gegensatz zu den Aktivitäten, die das Proletariat mindestens ein halbes Jahrhundert zuvor entwickelt hatte, ermöglichte die Entstehung eines frühen Internationalismus im Kampf gegen Krieg und Kapital. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer internationalen Perspektive und die Schlussfolgerung, dass diese nur durch den Widerstand gegen die Gesamtheit der am Krieg beteiligten bourgeoisen Kräfte bestätigt werden kann, ist die logische Voraussetzung für eine globale emanzipatorische Bewegung. Vor diesem Hintergrund stellten sich die konsequentesten Teile des Proletariats 1914 dem imperialistischen Krieg – trotz der chauvinistischen und patriotischen Tendenzen der Mehrheit – mit der Losung des revolutionären Defätismus entgegen: alle Fraktionen der eigenen Bourgeoisie auf ihrem eigenen Territorium zu besiegen. Diese Position wurde jedoch nur von Tausenden von Proletariern vertreten, die an den Fronten mobilisiert wurden, als der Krieg zu einer unerträglichen Belastung für die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse im Allgemeinen wurde. Im aktuellen Kriegskonflikt zwischen Russland und der Ukraine mag es zwar keine unmittelbaren Ergebnisse haben, zu revolutionärem Defätismus aufzurufen7, aber es ist wichtig, die internationalistische Perspektive zu beachten, vor allem wegen der Verwirklichung von Zyklen der Revolte weltweit, die in den letzten Jahren erlebt wurden: Die Krise des Bewusstseins offenbart sich tragischerweise als das Bewusstsein der Krise.
Heute haben sich jedoch die materiellen Bedingungen geändert und es kommt eine Vielzahl von Elementen hinzu, die berücksichtigt werden müssen. In diesem Zusammenhang erleben wir die Verbreitung und Verschärfung alter nationalistischer und reaktionärer Tendenzen: die fremdenfeindlichen Übergriffe im Norden der chilenischen Region, das Aufkommen neuer Nationalismen und sogar der Konservatismus des radikalen Islamismus sind Symptome dafür. Diese Entwicklung hat eine paradoxe Dynamik, denn je mehr das Kapital, die empirische Grundlage des Nationalstaates, in die Krise gerät, desto mehr verschärfen sich die konservativen Tendenzen als Antwort auf diese Krise, als Mittel zur gewaltsamen Aufrechterhaltung einer von allen Seiten bröckelnden Normalität. Die Verschärfung reaktionärer Tendenzen, die „Sündenböcke“ für die Verschlechterung unserer Existenz verantwortlich machen, sind Ausdruck einer oberflächlichen, partiellen und verkürzten Systemkritik, die den Nährboden für die Manöver eines Neopopulismus bildet, der sich mit unterschiedlichen Motiven als „rebellisch“ und „widerspenstig“ erweist. Leider trifft diese fragmentierte Sichtweise auch die Revolutionäre. Dennoch haben die Entwicklung des Kapitals, die Umstrukturierung des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit und die Vertiefung der Waren-basierten Beziehungen als globales und interdependentes soziales System eine neue Grundlage für das Bedürfnis nach einer menschlichen Gemeinschaft geschaffen, die von den Vermittlern befreit ist, die ihre Herrschaft aufrechterhalten: dem Staat und dem Kapital.
Was sie als „geopolitische“ Neuordnung bezeichnen, ist nichts anderes als der alte innerbourgeoise Streit, verschärft durch die tiefe Krise der Verwertung, von der wir seit 2008 betroffen sind. Die kapitalistische Barbarei ist seit ihren Anfängen präsent und hat in ihrer Entwicklung mehrere Grenzen auf Kosten des Blutes und des Elends des Proletariats überschritten: Heute sehen wir, wie sie weiterhin versucht, ihren grundlegenden Widerspruch zu überwinden, indem sie die Umwandlungen der kapitalistischen Produktionsweise beschleunigt und die herrschenden Kapitale mit Waffengewalt reorganisiert, was die Krise nur noch vertiefen kann – indem sie die überschüssige Bevölkerung buchstäblich vernichtet, die menschliche Arbeit aus dem Produktionsprozess verdrängt und die Erde zerstört, um zu versuchen sich selbst zu verwerten. Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist eine unmittelbare Folge dieser Krise, die das Kapital und seine Staaten in die inzwischen klassischen Auseinandersetzungen um Ressourcen, Märkte und Territorien zwingt, allerdings mit einer Zerstörungskraft von nie gekanntem Ausmaß: das Wettrüsten zeugt davon. Die Verwirrung, die er bei den radikalen Sektoren hervorruft, kann nicht ignoriert werden, weshalb es notwendig ist, die revolutionären Prinzipien zu verteidigen, indem man auf das Wesen des Krieges im gegenwärtigen Kontext und den sozialen Zerfall in diesem geografischen Gebiet seit dem Fall der UdSSR hinweist. Das Proletariat erhebt gerade wieder sein Haupt nach der letzten Niederlage, die es nach dem Zyklus der Kämpfe 60-70 erlitten hat, und bringt zum Ausdruck, dass die materiellen Bedürfnisse unserer Existenz nicht nur nicht mehr durch die kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse gelöst werden können, sondern dass letztere die Gefahr der Auslöschung errichtet haben8. Wir befinden uns also in einer qualitativ anderen historischen Situation, in der es so etwas wie die alte Arbeiterklasse und ihre organisierte internationale Bewegung nicht mehr gibt: wir müssen ein für alle Mal davon ausgehen, dass diese Bedingungen nicht wiederkehren werden. Die Versprechungen von Sicherheit und Wohlstand, mit denen der Kapitalismus jahrzehntelang geworben hat, sind überall in Verfall geraten, und an ihre Stelle sind der permanente Ausnahmezustand und eine beispiellose, zunehmende Verschlechterung unserer Lebensbedingungen getreten. Doch gerade die Bedingungen, die durch die Auflösung dieser alten Formen der Vergesellschaftung und die Krise des Kapitals entstanden sind, haben die Grundlage für eine neue Art von Internationalismus geschaffen: die strukturelle Krise, unter der wir leiden, bringt die ganze Welt in die gleiche katastrophale Situation und zwingt uns zum Bündnis zwischen den Ausgebeuteten der Welt als notwendige Antwort auf die Krise, auf die Verwüstung des Planeten und die ständige Kriegsgefahr, die einzige realistische Lösung gegen die Zerstörung, die von der kapitalistischen Irrationalität und ihren Auswirkungen auf die Menschen, die unter ihrer Vergesellschaftung leiden, aufgezwungen wird. Es wird immer deutlicher, dass es nur zwei Optionen gibt: internationale menschliche Gemeinschaft oder kapitalistische Apokalypse.
Vamos Hacia la Vida, März 2022
1Siehe: „Antifascismo y extrema derecha: compañeros de armas en el Donbáss“: https://politikon.es/2014/11/14/antifascismo-y-extrema-derecha-companeros-de-armas-en-el-donbass/
2Nicht einmal die Anwendung der leninistischen Strategie des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ hält einer Analyse stand; zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Regime einiger Kolonien die kommunalen Beziehungen noch nicht vollständig aufgelöst hatten, wurde sie bereits von GefährtInnen wie Rosa Luxemburg und den verschiedenen Links-KommunistInnen als konterrevolutionär angeprangert: „haben die Bolschewiki durch die dröhnende nationalistische Phraseologie von dem „Selbstbestimmungsrecht bis zur staatlichen Lostrennung“ gerade umgekehrt der Bourgeoisie in allen Randländern den erwünschtesten, glänzendsten Vorwand, geradezu das Banner für ihre konterrevolutionären Bestrebungen geliefert“. Heute, ein Jahrhundert später, erweist sich dieser Vorschlag als Vorwand und Aushängeschild für den Imperialismus der Russischen Föderation. Andererseits ist der Begriff des Volkes, der sich auf die Bevölkerung eines Landes bezieht, bedeutungslos angesichts einer Gesellschaft, die im Weltmaßstab in Klassen unterteilt ist.
3A.d.Ü., gemeint als paramilitärische Einheit.
4Die den Antisemitismus verteidigt, die Durchsetzung einer einheitlichen Landessprache, den Militarismus, den Ethnozentrismus, den Krypto-Rassismus, die Homophobie, die Abtreibungsfeindlichkeit und die Verstaatlichung von Unternehmen.
5Hyperzentralisierter Staat, allgegenwärtiger Repressionsapparat, Wertkonservatismus, Chauvinismus, Militarisierung der Arbeit, Konzentrationslager, Verfolgung von Dissidenten, usw.
6In diesem Sinne empfählen wir: „Fascismo / Antifascismo“ von Gilles Dauvé; „Resumen de las Tesis de Amadeo Bordiga sobre el fascismo en 1921-1922“ von Agustín Guillamón.
7Trotzdem ist es notwendig, dass die revolutionären Minderheiten den imperialistischen Krieg offen anprangern, angesichts von so viel Orientierungslosigkeit und bourgeoiser Programmatik, in die die Linke, aber auch Teile des Anarchismus, angesichts solcher kriegerischen Konflikte verfallen. Agitation und Propaganda für revolutionären Defätismus, Sabotage und Desertion sind, auch wenn sie nicht unmittelbar wirksam sind, als revolutionäre Perspektive notwendig. In diesem Sinne empfehlen wir die Lektüre der folgenden Texte – neben vielen anderen: (Auf Deutsch) (Grupo Barbaria) Einige grundlegende Positionen des proletarischen Internationalismus (https://barbaria.net/2022/02/26/algunas-posiciones-fundamentales-del-internacionalismo-proletario/); (Auf Deutsch) „Proletarier in Russland und in der Ukraine! An der Produktionsfront und an der militärischen Front… Gefährten und Gefährtinnen!“ von Třídní Válka (https://www.autistici.org/tridnivalka/proletarios-en-rusia-y-en-ucrania-en-el-frente-de-produccion-y-en-el-frente-militar-camaradas/); (Auf Deutsch) „(Russland) Der Krieg hat begonnen“ von der KRAS-AIT (https://www.iwa-ait.org/es/content/kras-ait-contra-la-guerra).
8 Siehe: Camatte, Jacques (2021) Instauración del riesgo de extinción. Santiago: Vamos hacia la vida