(Pierre Guillaume, 1977) Ideologie und Klassenkampf

Hier Gefunden, die Übersetzung ist von uns. Ein weiterer Text, dieses Mal aus Frankreich, der sich in der Kritik an Kautsky und an seinen Schüler Lenin übt, aber die historische Frage stellt, und beantwortet, ob das Proletariat nun die tragende Kraft ist was den Staat und das Kapital zerstören wird, ob dieser eine Führung braucht, selbstverständlich nicht, und andere Fragen die in die Richtung gehen.


ANMERKUNG DES HERAUSGEBERS

Die beiden hier vorgestellten Artikel wurden im April 1977 in Paris im SPARTACUS-Heft Nr. 78, Reihe B, in der französischen Originalfassung veröffentlicht, Idéologie et lutte de classes, par Pierre Guillaume und Le „renégat“ Kautsky et son disciple Lénine, par Jean Barrot als Antwort auf Karl Kautskys Werk „Les trois sources du Marxisme“. Da das letztgenannte Werk in anderen Ausgaben zu finden ist, veröffentlichen wir hier nur die beiden Artikel, die Teil einer Widerlegungslinie der von Lenin und seinen Anhängern als revolutionär marxistisch dargestellten Positionen sind, die in diesen Artikeln in Frage gestellt wird. Wir werden nicht ins Detail gehen, dafür verweisen wir den Leser auf die beiden Texte, die wir dieser anderen Widerlegung Lenins, die Trotzki in seinem „Bericht der sibirischen Delegation“ vorgenommen hat, beifügen wollten. Ein „Bericht“, der sich paradoxerweise auch gegen Trotzki selbst wendet, Lenins engem Mitarbeiter seit 1917 und überzeugter Leninist, seit er von Stalin von der Macht verdrängt wurde, weshalb er sein eigenes Werk in Vergessenheit geraten lassen wollte.

Abschließend möchten wir betonen, dass das Gewicht der kapitalistischen Gesellschaft insgesamt und der Ideologie der herrschenden Klasse im Besonderen so groß ist, dass es selbst bei Menschen, die einst revolutionäre Positionen vertreten haben, nicht ohne schädliche Auswirkungen bleibt. Aus diesem Grund kann Ediciones Espartaco Internacional nur für die Veröffentlichung dieser Artikel verantwortlich gemacht werden, nicht aber für die spätere politische Entwicklung ihrer Autoren.

Barcelona, Juli 2002


(Pierre Guillaume, 1977) Ideologie und Klassenkampf

Ist die Arbeiterklasse Trägerin eines Willens und einer Fähigkeit zur radikalen revolutionären Veränderung oder nicht? Ist sie in der Lage, im Weltmaßstab die wahre menschliche Gemeinschaft, die soziale Menschlichkeit, zu verwirklichen?

Mit anderen Worten: was bedeuten mehr als 150 Jahre Arbeiterkämpfe, die von überragenden Siegen, bitteren Niederlagen und Rückschlägen durchsetzt waren, in denen alles endgültig verloren schien, wie nach dem Scheitern der Spanischen Revolution, und aus denen wir uns kaum erholt haben?

Seit der Entstehung des Kapitalismus, als die Arbeiterklasse noch in den Kinderschuhen steckte, erschien der Kommunismus von Anfang an als das Ziel, das Endziel, der tiefste Sinn und die immanente Tendenz der Arbeiterkämpfe… Die ersten kohärenten ideologischen Äußerungen einer kommunistischen Theorie waren jedoch das Werk der „utopischen Sozialisten“. Saint-Simon, Fourier in Frankreich und Owen in England waren die bekanntesten. Sie hatten zahlreiche Vorgänger, unter anderem den Pfarrer Meslier und Sylvain Marechal. Als Erben der Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts betrachteten sie den Kommunismus jedoch weder als Produkt des revolutionären Kampfes der Arbeiter noch als unausweichliche Tendenz der kapitalistischen Gesellschaft… Im Gegenteil, sie sahen mit der Geburt des Kapitalismus die Übel, die er hervorbringt, und folglich den Zusammenbruch der Illusionen der Philosophie der Aufklärung, die geglaubt hatte, dass die Emanzipation der gesamten menschlichen Spezies auf abstrakter Vernunft beruht. Die Freiheit der Philosophen war in Wirklichkeit nichts anderes als die Freiheit der Bourgeois, frei zu handeln, und die Freiheit der Proletarier, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Die Gleichheit war nichts anderes als eine abstrakte Gleichheit, die Anwendung eines Rechts welches gleich für alle auf diese Abstraktion, die die menschliche Person ist, während sie in Wirklichkeit für grundsätzlich ungleiche Personen galt, je nach ihrer Stellung in den Produktionsverhältnissen. Was die Brüderlichkeit anbelangt, so war sie nichts anderes als der fromme Schleier, die Mystifizierung, mit der die aufstrebende Bourgeoisie versuchte, den permanenten Krieg zu verschleiern, den die verschiedenen Bourgeois durch die Konkurrenz und vor allem durch den Antagonismus zwischen Besitzenden und Nicht-Besitzenden, Bourgeois und Proletariern gegeneinander führen.

Das revolutionäre Motto: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die Waffe der Bourgeoisie gegen den Feudalismus und den despotischen königlichen Staat, wurde sofort zur Waffe der Bourgeoisie in ihrem heimlichen oder offenen Krieg gegen das Proletariat.

Der Staat der Vernunft, den die Französische Revolution begründete, war weit davon entfernt, gleichbedeutend mit der Emanzipation des Menschen zu sein. Er emanzipierte nur eine dünne Schicht der Bevölkerung, die besitzende Schicht, die Bourgeoisie, während er gleichzeitig das Kapital von allen Fesseln des Feudalrechts emanzipierte. Die große Mehrheit geriet in einen Zustand völliger Abhängigkeit. Sie waren nur noch eine Ware im kapitalistischen Kreislauf und den Besitzern der Produktionsmittel völlig unterworfen, und diese Unterwerfung ging mit einer tiefgreifenden materiellen und moralischen Dekadenz und zu jener Zeit mit absoluter Verarmung einher.

„Mit einem Wort: verglichen mit den schillernden Versprechungen der Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts erwiesen sich die sozialen und politischen Institutionen, die durch den ‚Triumph der Vernunft‘ geschaffen wurden, als bitter enttäuschende Karikaturen. Es fehlten nur noch die Menschen, um diese Enttäuschung zu bestätigen: sie (die Utopisten) kamen um die Jahrhundertwende“. Für die Utopisten, die Zeugen des offensichtlichen Elends der Gesellschaft waren, war der von der bourgeoisen Revolution gegründete Staat der Vernunft also nicht vernünftig genug. Die Vernunft, auf dem er gegründet wurde, war keine ausreichender Vernunft1. Deshalb übten sie vom Standpunkt der Vernunft und Gerechtigkeit aus eine schonungslose Kritik an der bourgeoisen Welt.

Aus dieser im Namen der Vernunft vorgenommenen kritischen Analyse der bourgeoisen Gesellschaft zogen sie zum ersten Mal den Schluss, dass der Kommunismus die einzige „vernünftige“ Gesellschaftsform ist und die Lösung für alle Übel, unter denen die kapitalistische Gesellschaft leidet.

„Um diese Zeit aber war die kapitalistische Produktionsweise und mit ihr der Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat noch sehr unentwickelt. Die große Industrie, in England eben erst entstanden, war in Frankreich noch unbekannt. Aber erst die große Industrie entwickelt einerseits die Konflikte, die eine Umwälzung der Produktionsweise zur zwingenden Notwendigkeit erheben – Konflikte nicht nur der von ihr erzeugten Klassen, sondern auch der von ihr geschaffnen Produktivkräfte und Austauschformen selbst -; und sie entwickelt andrerseits in eben diesen riesigen Produktivkräften auch die Mittel, diese Konflikte zu lösen. Waren also um 1800 die der neuen Gesellschaftsordnung entspringenden Konflikte erst im Werden begriffen, so gilt dies noch weit mehr von den Mitteln ihrer Lösung. Hatten die besitzlosen Massen von Paris während der Schreckenszeit einen Augenblick die Herrschaft erobern können, so hatten sie damit nur bewiesen, wie unmöglich diese Herrschaft unter den damaligen Verhältnissen war…

Diese geschichtliche Lage beherrschte auch die Stifter des Sozialismus. Dem unreifen Stand der kapitalistischen Produktion, der unreifen Klassenlage entsprachen unreife Theorien. Die Lösung der gesellschaftlichen Aufgaben, die in den unentwickelten ökonomischen Verhältnissen noch verborgen lag, sollte aus dem Kopfe erzeugt werden. Die Gesellschaft bot nur Mißstände; sie zu beseitigen war Aufgabe der denkenden Vernunft. Es handelte sich darum, ein neues vollkommneres System der gesellschaftlichen Ordnung zu erfinden und dies der Gesellschaft von außen her, durch Propaganda, womöglich durch das Beispiel von Musterexperimenten aufzuoktroyieren. Diese neuen sozialen Systeme waren von vornherein zur Utopie verdammt, je weiter sie in ihren Einzelheiten ausgearbeitet wurden, desto mehr mußten sie in reine Phantasterei verlaufen.“ („Anti-Dühring“).

Engels zitiert dann ausgiebig aus den brillanten Intuitionen, die in den Schriften der utopischen Sozialisten enthalten sind und die der wissenschaftliche Sozialismus später entwickeln wird.

Es scheint also, dass die revolutionäre Theorie, das kommunistische Bewusstsein, außerhalb der Arbeiterbewegung von Intellektuellen entwickelt wurde, die sie dann in die Arbeiterklasse einbringen, und das würde unsere vorläufige Aussage widerlegen, dass „der Kommunismus in erster Linie als das Ziel, das Endziel, der tiefe Sinn und die immanente Tendenz der Kämpfe der Arbeiterklasse erschienen ist“.

Das ist eine gefährliche Illusion. Und durch diese falsche Vorstellung dringen die idealistischen Vorstellungen der bourgeoisen Ideologie und all die Abweichungen, die der geweihte Jargon als voluntaristisch und opportunistisch qualifiziert, in die revolutionäre Theorie ein. (Wir werden darauf zurückkommen.)

Es scheint also, dass entgegen der zentralen These von Marx: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt“, das kommunistische Bewusstsein, das von außen durch spezialisierte Denker ausgearbeitet wurde, oder auch die revolutionäre Theorie, die richtige Linie, das Klassenbewusstsein, wenn man so will, das von außen in das Proletariat importiert wurde, sein Dasein, d.h. seine reale Praxis, verändern würde, sobald MAN ihn dazu gebracht hätte, es sich anzueignen.

Analysieren wir also, um dieses Rätsel zu lösen, was die wirkliche Beziehung zwischen der Entstehung der kritisch-utopischen sozialistischen Theorien und der realen Bewegung der Geschichte und der Arbeiterklasse ist.

Die Idee, dass die grundlegenden Thesen des Kommunismus in den Gehirnen utopischer Denker geboren und zu den Arbeitern gebracht wurden, ist nichts als eine optische Täuschung. Sicherlich ist es die Art und Weise, wie die Utopisten selbst ihre Beziehung zur Arbeiterklasse und zur Geschichte darstellen, aber es ist eine reine und einfache ideologische Umkehrung der Realität. Die wirkliche Beziehung ist eine andere. Tatsächlich ist keine Idee oder Erfindung jemals das Produkt eines einzelnen Gehirns oder eines oder mehrerer spezialisierter Denker gewesen. Die Produktion von Ideen ist ein eminent sozialer Prozess. Das Auftauchen einer neuen Idee im Gehirn eines Individuums ist sowohl durch die gesamte kulturelle und ideologische Produktion der Epoche bedingt, die historisch und sozial bedingt ist, als auch durch die Geschichte dieses Individuums, die Gesamtheit seiner menschlichen Erfahrung in all ihren konkreten Bestimmungen, aus denen sich sowohl seine psychische Struktur als auch sein eigener Charakter, sein Standpunkt und seine Position in der Zirkulation und Produktion des gesellschaftlichen Bestands an Ideen, Konzepten, Informationen oder Vorurteilen ableiten, aus denen er trinkt und mit denen er arbeitet. (Und in einer Klassengesellschaft sind die konkreten Bestimmungen des sozialen Wesens durch seine Situation in den Produktionsverhältnissen bedingt). Die Produktion einer Idee, eines Konzepts, einer Ideologie oder einer Theorie beinhaltet immer die informelle Zusammenarbeit einer Vielzahl anonymer Produzenten, die immer unbeachtet bleiben werden, genauso wie die Produktion eines Autos.

Aber damit die Utopisten ihre scharfe kritische Analyse der bourgeoisen Gesellschaft vornehmen konnten, musste die bourgeoise Gesellschaft auch existieren, und damit ihre Analyse kritisch sein konnte, mussten sich die Widersprüche und Mängel dieser Gesellschaft manifestiert haben. Und wie zeigen sich diese Mängel, wenn nicht durch den Kampf derer, die darunter leiden? Die Irrationalität der bourgeoisen Gesellschaft, das Scheitern des bourgeoisen Humanismus, die Unmenschlichkeit der Bedingungen, die für das Proletariat geschaffen wurden, wurden zuerst vom Proletariat erlebt, bevor sie gedacht und theoretisiert wurden. Und es sind die Streiks, Revolten und Aufstände, die die Aufmerksamkeit der Denker auf die Irrationalität des Systems gelenkt haben; es sind nicht die Denker, die die Aufmerksamkeit der Proletarier auf die Unmenschlichkeit ihrer Lage gelenkt haben.

Es gibt keine Möglichkeit herauszufinden, ob die Lebensbedingungen der Elefanten im indischen Dschungel nicht mehr elefantös sind, es sei denn, die Elefanten zeigen dies durch eine Revolte oder (zumindest bei den Elefanten) durch das langsame Verschwinden der Art.

Sozialistische und kommunistische Ideen waren also keineswegs das Produkt der Gehirne einiger weniger Intellektueller, sondern in erster Linie das Ergebnis des Kampfes der Arbeiterklasse, die ihre Ideen zunächst anonym und informell abgesondert hat, um über ihre Situation und ihren Kampf zu berichten. Aus diesen gesellschaftlich und kollektiv produzierten Ideen haben die Utopisten gearbeitet und ihr System produziert. Diese Ideen waren lange vor den Utopisten sehr lebendig im Proletariat, das gerade deshalb, weil es sich gerade erst aus den feudalen (Korporation) oder präkapitalistischen (Bauernschaft) Verhältnissen befreit hatte, den Skandal des Lohns und die Unterwerfung des freien Arbeiters mit viel größerer Schärfe und Klarheit spürte als in unseren Tagen, das heißt, rechtlich frei von allen knechtischen oder zünftischen Bindungen und daher frei, seine Arbeitskraft zu verkaufen, an wen er will, aber auch frei von allem, das heißt, von allem entkleidet und folglich getrennt von den in Kapital umgewandelten Produktionsmitteln in den Händen ihres Besitzers. In der so genannten „Populärkultur“ und insbesondere in den Liedern des Handwerks lässt sich leicht nachweisen, dass die Geburt des Lohnarbeiters von den Proletariern als Skandal und Bruch erlebt wird und dass sofort die Notwendigkeit entstand, dieser Entwurzelung durch die Wiederaneignung der Produktionsmittel ein Ende zu setzen. Der Vergleich mit einer früheren Situation, die sehr ähnlich war und die in der Gesellschaft noch weit verbreitet war, ermöglichte es, den Unterschied viel besser zu erfassen als heute, wo der Lohnempfänger zur Selbstverständlichkeit (A.d.Ü., dass es naturalisiert wurde) geworden ist. Dieses diffuse Bewusstsein ist der Ausgangspunkt und die Bedingung der Möglichkeit eines kritisch-utopischen Kommunismus. Sozialistische Systeme sind nur die Kuppel eines ideologischen Gebäudes, dessen Basis und Fundamente durch die ideologische Arbeit der Arbeiterinnen und Arbeiter selbst auf der Grundlage ihrer proletarischen Erfahrungen errichtet wurden, aber während das Gebäude in die Höhe wächst, kommen neue Handwerker mit unterschiedlichen Anliegen und Standpunkten dazu. Es ist vergessen worden, von wem und unter welchen Bedingungen der Sockel des Gebäudes errichtet worden war. An der Spitze sind einige Künstler gekommen, um die Statuen zu modellieren, von denen einige wunderschön sind, die sie aber auch signiert haben und damit dem Produkt des Klassenkampfes den Stempel der Bourgeoisie aufdrücken.

Das bedeutet jedoch nicht, dass diese ideologischen Systeme direkt durch den Klassenkampf produziert werden und nichts weiter sind als eine Widerspiegelung der objektiven, materiellen Welt, wie der von Marx kritisierte primitive Materialismus (u.a. Thesen über Feuerbach), auf den sich der degenerierte Marxismus2 stützt, oder dass Ideologen nichts weiter sind als Sprachrohre für die verschiedenen Klassen oder eine Art Resonanzboden für bestehende Ideen, die außerhalb von ihnen bereits völlig fertig sind und von wer weiß woher kommen oder vielmehr die materielle Welt durch wer weiß welchen Prozess „widerspiegeln“. Die Ideen, die Theorien, sind das Produkt menschlicher Aktivität, menschlicher Arbeit, nicht einer passiven Widerspiegelung, die also einen Rohstoff in ein „humanisiertes“ Produkt umwandelt, Erfahrungen und Empfindungen in Begriffe umwandelt, Begriffe organisiert, sie transformiert usw.

Aber das Proletariat hat nicht darauf gewartet, dass spezialisierte Denker, die von der bourgeoisen Kultur profitierten, dank ihrer spezifischen Arbeit zu der theoretischen Schlussfolgerung kamen, dass die Quelle aller Übel der Gesellschaft die private Aneignung von Gütern war und dass diese private Aneignung abgeschafft und der Kommunismus eingeführt werden musste…. Seit dem es das Proletariat gibt, d.h. eine Klasse freier Menschen, die für ihren Lebensunterhalt nichts anderes als ihre Arbeitskraft besitzen und deshalb gezwungen sind, sie gegen Lohn an die Eigentümer der Produktionsmittel zu verkaufen, hat es sich mit seine Handlungen manifestiert (also, das praktische Bewusstsein, das einzige, das uns interessiert), das eindeutige Urteil, das es über das Privateigentum gefällt hat, und seine spontane Tendenz (da es seinem Wesen entspricht), sich das, was ihm vorenthalten wurde, mit Gewalt und ohne jede andere Form von Verfahren anzueignen, manifestiert: die Arbeitsbedingungen, die Produktionsmittel, die in der kapitalistischen Gesellschaft nur in Form des Kapitals existieren. Und es hat sehr schnell seinen wahren Feind erkannt: nicht die Bourgeoisie, sondern das Kapital, und zwar das Kapital in all seinen Formen: Produktionsmittel, Waren, Geld. Man findet nicht nur die Manifestation dieses praktischen Bewusstseins, dieses Bewusstseins in Aktion, und ein Prinzip des ideologischen Ausdrucks in den Arbeiterstreiks und Aufständen seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts, sondern auch im Feudalismus und in der Antike, insofern es in diesen von feudalen, sklavenähnlichen oder asiatischen Verhältnissen beherrschten Gesellschaften äußerst begrenzte Sektoren gab, in denen sich die Lohnabhängigen entwickelt hatten.

Das Proletariat muss nicht aus Büchern lernen, auch wenn sie „marxistisch“ sind, um seine Feinde zu identifizieren, es reicht, wenn es sie erleidet.

das Proletariat sogleich seinen Gegensatz gegen die Gesellschaft des Privateigentums in schlagender, scharfer, rücksichtsloser, gewaltsamer Weise herausschreit. Der schlesische Aufstand beginnt grade damit, womit die französischen und englischen Arbeiteraufstände enden, mit dem Bewußtsein über das Wesen des Proletariats. Die Aktion selbst trägt diesen überlegenen Charakter. Nicht nur die Maschinen, diese Rivalen des Arbeiters, werden zerstört, sondern auch die Kaufmannsbücher, die Titel des Eigentums, und während alle andern Bewegungen sich zunächst nur gegen den Industrieherrn, den sichtbaren Feind kehrten, kehrt sich diese Bewegung zugleich gegen den Bankier, den versteckten Feind.“ (Marx)

Das bedeutet nicht, dass das Proletariat durch ein unbekanntes Geheimnis notwendigerweise „die Wahrheit mit dem Löffel gegessen hätte“, und auch nicht, dass es automatisch eine klare und angemessene Theorie der Ziele und Mittel besitzt. Denn Kommunismus ist nicht das, „was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird.“

Der Kommunismus ist also kein „Projekt“ oder „Programm“ der sozialen Transformation, das von außen eingebracht wird, und auch kein von der Arbeiterklasse selbst geschaffenes und als Ganzes akzeptiertes ideologisches Konzept; der Kommunismus ist das spontane Produkt, die immanente, innere Logik ihres Kampfes.

Dieser Kampf ist die Grundlage und die einzige Quelle jeder revolutionären Theorie, wie abstrakt und allgemein sie auch sein mag.

Es ist also das SEIN DES PROLETARIATS, ohne jegliche Vermittlung, das historisch und theoretisch den Kommunismus begründet. Genauso ist es auf der anderen Seite das Sein der Bourgeoisie und nicht die Vernunft, die die bourgeoise Gesellschaft historisch und praktisch begründet hat. In der Tat „In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten.“ (Vorwort Zur der Kritik der politischen Ökonomie).

Das Proletariat prangert die kapitalistische Gesellschaft nicht vom Standpunkt der Vernunft aus an, sondern in seiner Praxis vom Standpunkt seines Seins; und wenn es diese Anprangerung, die „nichts anderes als die ideologische Form ist, in der es sich des Konflikts bewusst wird“, bewusst zum Ausdruck bringt, dann sagt es damit nur, was es ist und was es tut.

Wenn das Proletariat die Auflösung der bisherigen Weltordnung verkündet, so spricht es nur das Geheimnis seines eigenen Daseins aus, denn es ist die faktische Auflösung dieser Weltordnung.“ (Marx: Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie).

Doch bevor wir sehen, was dieses SEIN DES PROLETARIATS ist und damit die Bewegung, die es unausweichlich zur Zerstörung der kapitalistischen Gesellschaft treibt und durch eben diese Bewegung andere Produktionsverhältnisse, also andere Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen den von ihnen produzierten Waren schafft: den Kommunismus, wollen wir zurückgehen und die Bedeutung der ideologischen Umkehrung analysieren, die wir gerade gezeigt haben.

Wir haben also gesehen, dass der kritisch-utopische Kommunismus nur das ideologische Produkt der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Antagonismen war, also das indirekte Produkt der Arbeiterkämpfe; aber dass die Theorie, das ideologische System, sich dieser Beziehung, deren Vermittlung wir kurz angedeutet haben, selbst nicht bewusst war.

Sehen wir uns zunächst an, welche Konsequenzen dies für die Theorie selbst hat.

Allein durch die Tatsache, dass sie sich dieser Beziehung nicht bewusst ist, wird die Theorie kompromittiert und versinkt in Spekulation. Abgesehen von einigen brillanten Intuitionen wird dieser „Kommunismus“ zu einer reinen Abstraktion und einem reinen Hirngespinst, das nicht in der Lage ist, in der Praxis „die Realität und Potenz, die Materialität seiner Gedanken“ zu beweisen.

Durch die Tatsache dieser Trennung wird die Theorie falsch. Man könnte sie einer kritischen Kritik unterziehen und zeigen, dass „ihre Projekte“ gleichzeitig unrealisierbar und voller unüberwindbarer Widersprüche sind, was die Praxis andererseits mit dem üblichen Mangel an Respekt vor Ideen zu demonstrieren pflegt. Die von den Utopisten skizzierten Projekte kommunistischer Gemeinschaften, Phalansterien usw. haben entweder nie das Licht der Welt erblickt, weil die Voraussetzungen für ihre Schaffung nicht gegeben waren und sie bei den Arbeitern kaum Begeisterung hervorriefen, oder sie sind, soweit es Versuche gab, unter dem Druck äußerer und innerer Widersprüche zusammengebrochen.

Aber sehen wir uns nun an, welche praktischen Konsequenzen dieser grundlegende theoretische Fehler für die revolutionäre Bewegung hat: dieses Missverständnis der wirklichen Beziehung zwischen Theorie und der Bewegung der Geschichte.

Die „Ideologisierung“ der Theorie ist nicht nur für die Theorie fatal, sondern auch in der Praxis konterrevolutionär, da sie zwangsläufig dazu führt, dass dem Proletariat die historische Initiative entzogen wird, um sie anderswo zu fixieren. Die Trennung von der Theorie führt immer zu einer Theorie der Trennung und begründet diese Trennung theoretisch.

Wohin führen also die Vorstellungen der utopischen Kommunisten, auch wenn sie das indirekte Produkt des Klassenkampfes sind? Anstatt den Proletariern zu sagen: „Setzt euren gnadenlosen Kampf, der gerade erst begonnen hat, gegen die bourgeoise Gesellschaft, gegen Kapital und Waren in all ihren Formen und gegen den bourgeoisen Staat fort, der nur ihr Verteidiger und letzter Garant ist. Unsere theoretischen Analysen, für die wir das Maximum an Material verwendet haben, das die bourgeoise Kultur zu bieten hat, beweisen nicht nur, dass euer Kampf gerechtfertigt ist, dass er der einzig mögliche Weg für die Arbeiter ist, was ihr bereits wisst, sondern auch, dass die Mittel des Kampfes, die ihr geschaffen habt, der Streik, die Meuterei, der bewaffnete Aufstand, sind das Beste, jedenfalls haben wir nichts Besseres gefunden, und damit emanzipiert ihr nicht nur euch selbst, sondern die ganze Menschheit, weshalb wir unsere Kräfte in den Dienst eures Programms stellen“.

Anstatt diese Sprache zu verwenden, benutzen sie genau das Gegenteil: „Proletarier, wir verstehen eure Kämpfe und bewundern manchmal euren Heldenmut, aber wir sind gezwungen, euch zu sagen, dass ihr auf dem falschen Weg seid, dass ihr gegen die Gesellschaft und den Staat kracht wie ein Schmetterling gegen Glas, dass ihr eure Kräfte sinnlos verschwendet, dass unsere theoretischen Analysen uns erlauben, euch zu sagen, dass ihr anders vorgehen solltet…“. Die Rezepte sind von Fall zu Fall unterschiedlich. Für die Utopisten ging es im Wesentlichen darum, kommunistische Gemeinschaften, Phalansterien usw. zu schaffen, aus denen das Privateigentum und damit die Warenlogik der Veränderung durch formale Funktionsregeln verbannt wurde.

Jede Theorie, die aufhört, eine Theorie der realen Bewegung der Geschichte zu sein, also in unserer Epoche der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft und des Kampfes der Arbeiterklasse gegen das Kapital, verkommt ipso facto zur Ideologie und drückt Interessen aus, die dem Proletariat entgegengesetzt oder zumindest fremd sind. Es ist klar, dass die Entwicklung einer solchen Ideologie nicht einfach von einem Mangel an theoretischen Fähigkeiten, von einem Mangel an Schärfe der Analyse abhängt, sie drückt im Gegenteil eine bestimmte Sichtweise auf die Gesellschaft und die Geschichte aus, also eine bestimmte Position in der Gesellschaft und der Geschichte, die vom Proletariat getrennt und als getrennt gedacht wird.

Dies gilt nicht nur für die Anfänge der Arbeiterbewegung, als die Klassenantagonismen quantitativ unterentwickelt waren (denn qualitativ ist der Antagonismus zwischen Kapital-Arbeit während der gesamten Dauer des Proletariats unveränderlich), sondern stellt eine permanente Konstante der Arbeiterbewegung dar, und diese Analyse ist der Prüfstein, der es uns ermöglicht, das Gold der revolutionären Theorie inmitten der verschiedenen ideologischen Waren zu entdecken, die für den Konsum der Massen angeboten werden. Diese Methode wird es vor allem ermöglichen, den revolutionären Charakter der Theorien und Organisationen bis zu unserer Zeit zu überprüfen und zu verstehen, wie eine Theorie, so revolutionär sie auch sein mag, zur Ideologie wird und damit aufhört, gleichzeitig wissenschaftlich und revolutionär zu sein.

Die soeben skizzierte Konzeption, in der wir lediglich Marx und Engels paraphrasieren, steht im radikalen Gegensatz zu Lenins revolutionären Konzepten und ihren entarteten, sogenannten leninistischen Versionen. Für Lenin nämlich, der in „Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus“ (März 1913) Kautskys Text fast wortwörtlich wiederholt: Die historische Leistung von Karl Marx (1908)3, ist der Kommunismus nicht mehr das organische, notwendige Produkt der Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft und des daraus resultierenden revolutionären Kampfes des Proletariats. „Der Kommunismus“, die „sozialistische Theorie“, ist das Produkt einer theoretischen KRITIK der kapitalistischen Gesellschaft, und ihre ausgefeilteste Form, der Marxismus, wäre das Produkt der von Marx bewirkten Synthese der Natur- und Psychowissenschaften einerseits und des deutschen, französischen und englischen Denkens andererseits.

Diese Synthese wird als eine innere Bewegung des Denkens verstanden, die auf die Dynamik der Intelligenz zurückzuführen ist.

Für Kautsky hatten die bourgeoisen Wissenschaften einen sehr hohen Entwicklungsstand erreicht, aber sie stießen auf eine Reihe von Problemen…. Dann kam Marx. Da kam Marx und sah, daß die Geschichte…. (sic, Karl Kautsky, Die historische Leistung von Karl Marx).4

Gewiss, Kautsky ruft herzlich zur „Die Vereinigung von Arbeiterbewegung und Sozialismus“ auf, so lautet der Titel des vierten Kapitels seiner Broschüre5. Auch Lenin: Es ist der Gegenstand von „Was tun?“ und das Ziel seines ganzen Lebens.

Wie nett von ihnen! Denn für sie gilt: „Arbeiterbewegung und Sozialismus sind von Haus aus keineswegs eins.“ (Kautsky, a.a.O.). Für beide gilt: „Die urwüchsigste Form der Arbeiterbewegung ist die rein ökonomische“ (Kautsky, a.a.O.), während „der Sozialismus eine gründliche Kenntnis der modernen Gesellschaft voraussetzt“ (Kautsky, a.a.O.), die Lenin in „Was tun?“ entwickelt; über die Streiks von 1886-90 sagt er: „Arbeitern fehlte – und mußte auch fehlen – die Erkenntnis der unversöhnlichen Gegensätzlichkeit ihrer Interessen zu dem gesamten gegenwärtigen politischen und sozialen System, das heißt, es fehlte ihnen das sozialdemokratische Bewußtsein …. Die Geschichte aller Länder zeugt davon, daß die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft, nur ein trade-unionistisches Bewußtsein hervorzubringen vermag (…) usw. Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden. Auch die Begründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, gehörten ihrer sozialen Stellung nach der bürgerlichen Intelligenz an. Ebenso entstand auch in Rußland die theoretische Lehre der Sozialdemokratie ganz unabhängig von dem spontanen Anwachsen der Arbeiterbewegung, entstand als natürliches und unvermeidliches Ergebnis der ideologischen Entwicklung der revolutionären sozialistischen Intelligenz.“

Wie Kautsky sieht auch Lenin im Marxismus bzw. im „sozialdemokratischen“ Bewusstsein ein ideologisches Produkt. Er erklärt sogar, dass diese Produktion das spezifische Werk revolutionärer Intellektueller ist, die sich zwar für das Lager der Arbeiterklasse entschieden haben, die aber als Einzige in der Lage sind, dank ihrer theoretischen Kapitalismuskritik aus den Elementen, die ihnen die bourgeoise Kultur liefert, deren Verwahrer sie sind oder zu denen sie zumindest Zugang haben, zu einem revolutionären Bewusstsein zu gelangen.

Damit scheint zumindest eine offensichtliche historische Wahrheit abgedeckt zu sein: die Rolle der Intellektuellen, die nicht aus der Arbeiterklasse stammen, insbesondere Marx, aber auch viele andere… bei der Ausarbeitung der revolutionären Theorie. Aber diese Vorstellung ist völlig idealistisch. Einerseits beruht sie auf der Illusion, dass revolutionäres Bewusstsein von einem individuellen Gehirn (oder einigen Gehirnen) erzeugt wird; andererseits stellt sie nicht die elementare Frage: dieses Bewusstsein, WOVON ist es bewusst? Deshalb ist der Satz aus „Was tun?“ „die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft, nur ein trade-unionistisches Bewußtsein hervorzubringen vermag“, in Wirklichkeit nur die Vorstellung, die sich die Masse von der Arbeiterbewegung macht. Diese Formulierung ist schon erstaunlich, denn man darf sich fragen, WEM sich die Arbeiterklasse hingeben muss, um zu einem kommunistischen Bewusstsein aufzusteigen, und WOHER dieses kommunistische Bewusstsein kommt? Diese Formulierung widerspricht im Übrigen den Thesen von Marx und Engels, die durch das Studium der aufständischen Bewegungen des Proletariats gezeigt haben, dass die Arbeiterklasse weder auf Lenin noch auf sich selbst gewartet hat, um sich das praktische Bewusstsein der Notwendigkeit des Kommunismus zu verschaffen.

Lenins Antwort, die er im Anschluss an Kautsky auf diese beunruhigende „Beobachtung“ gab, ist sogar noch erstaunlicher. Für Kautsky und Lenin wird die Theorie, das revolutionäre Bewusstsein, von außen, von den bourgeoisen Intellektuellen, herangetragen.

Diese Auffassung steht in radikalem Gegensatz zu Marx‘ Kritik am Idealismus und am gesamten vergangenen Materialismus, einschließlich der von Feuerbach (Thesen zu Feuerbach 1 und 3), da sie „Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren.“

Man könnte die Fortsetzung der These Nr. 3 folgenderweiße paraphrasieren: „Lenin und Kautsky verstehen nicht, dass die Koinzidenz der Veränderung der Umstände und der Veränderung der menschlichen Tätigkeit – oder der Veränderung von sich selbst – nur als revolutionäre Praxis rational gedacht und verstanden werden kann“.

In der Tat stellt Marx die Realität oder die objektive Welt einerseits, das Bewusstsein oder die subjektive Welt andererseits und die praktische Tätigkeit, die sie verbindet, nicht auf abstrakte Weise gegenüber. Im Gegenteil, er nähert sich ihnen als Gesamtheit und zeigt, dass diese Kategorien, objektiv-subjektiv-praktische Tätigkeit, die auf abstrakte Weise und nicht als Momente derselben Gesamtheit betrachtet werden, das Produkt eines versteinerten Denkens sind, das seinerseits das Produkt einer Klassengesellschaft ist, in der die menschliche Tätigkeit durch die Arbeitsteilung effektiv gebrochen wird.

Wenn wir Marx‘ Auffassung folgen, ist es einfach absurd zu denken, dass das Bewusstsein von außen erarbeitet werden kann (oder zumindest ist ein von außen erarbeitetes Bewusstsein ein abstraktes Bewusstsein, das nach dem Schema des Sehens realisiert wird, ein Zuschauerbewusstsein, das seiner praktischen Wirksamkeit beraubt ist), und ebenso absurd zu denken, dass das Bewusstsein von außen, durch Propaganda6 , eingeführt werden kann; doch das ist der Anspruch von Kautsky und Lenin, die sich als Erzieher der Arbeiterklasse verstehen, bevor die Wechselfälle der Geschichte den einen zum Minister und den anderen zum brillanten Führer machen – ein Schicksal, das für einen, der behauptet, eine proletarische Theorie zu sein, ebenso wenig beneidenswert ist wie für den anderen.

Die leninistische Theorie der Partei folgt logisch aus ihrer Auffassung von Theorie und ihren Beziehungen zur spontanen Bewegung der Klasse. Daraus folgt unweigerlich, dass, wenn Berufsrevolutionäre sich der Arbeiterklasse anschließen, dies nur geschehen kann, um sie zu führen (im Sinne von „Führer-Chef“, und nicht nur „gute Führung“, denn die Theorie macht es zwar möglich, „gute Führung“ zu zementieren, aber genau diese gute Führung schließt die Liquidierung der „Führer“ mit Mitteln ein, die dem Widerstand, den sie leisten, angemessen sind).

Das ist der Grund für die Mode der leninistischen Parteikonzeption unter unseren modernen „Leninisten“. Auch wenn sie einen mehr oder weniger großen Teil der anderen Aspekte des Leninismus vergessen – insbesondere seine revolutionären Thesen – verteidigen sie mit der Theorie von der „führenden Rolle der Partei“ nur ihre reale Macht (von Bresnjew bis Waldeck-Rochet, über Gomulka und Mao) oder ihre mythische Macht (Trotzkisten oder Maoisten in Frankreich).

Denn diese Konzeption führt zu der Notwendigkeit, eine revolutionäre Partei aufzubauen, die dazu bestimmt ist, den Kampf des Proletariats auf den richtigen Weg zu führen, den das Proletariat aus eigener Kraft nicht finden kann. Das wird dazu führen, dass die kämpferischsten Elemente des Proletariats in diese Sisyphusarbeit verwickelt werden und von ihren eigentlichen Aufgaben abgelenkt werden. Das entscheidende Kriterium wird nicht mehr der Klassenkampf selbst sein, zu dem jeder Arbeiter durch seine Situation gezwungen ist, sondern der „Aufbau von Organisation und Führung“. Der Klassenkampf wird nur als elementare Revolte verstanden, der nur die Partei einen Sinn geben kann. Diese Auffassung entzieht also sowohl dem Kommunismus als auch der revolutionären Theorie die Grundlage und legt sie in die Fähigkeiten ihrer Führer. Die Arbeiterkämpfe sind nicht mehr als ein Mittel zur Stärkung der Organisation, und in den wahnhaftesten Fällen wird der Sozialismus ohne oder gegen das Proletariat aufgebaut. Ihrer Grundlage beraubt, schwimmt die revolutionäre Theorie in Abstraktion und Metaphysik. Der Kommunismus ist nicht mehr das praktische Ergebnis der revolutionären Kämpfe der Arbeiterklasse, sondern wird im Namen einer abstrakten Rationalität definiert, die je nach Fall und praktischer Position der Autoren unterschiedlich ist, aber in jedem Fall ist er nicht mehr die „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“, oder nicht nur.

Bevor wir die Absurditäten analysieren, zu denen die von Kautsky entwickelten Konzepte bei Lenin führen können, und ohne den Anspruch zu erheben, im Rahmen dieses Artikels eine Gesamtbeurteilung von Lenins Werk vorzunehmen, die sich nicht auf die Thesen „Was tun?“ oder die des Materialismus und Empiriokritizismus reduziert, wollen wir sehen, wo diese Konzeption an der Wurzel scheitert: bei der in den Die historische Leistung

von Karl Marx entwickelten Theorie über den Ursprung des sozialistischen Bewusstseins.

Im Gegensatz zu Kautskys zusammenfassender Aussage: „So schufen sie (Marx und Engels) den modernen wissenschaftlichen Sozialismus durch die Vereinigung alles Großen und Fruchtbaren im englischen, französischen, deutschen Denken zu einer höheren Einheit.“, die von Lenin wieder aufgegriffen wurde: „Seine Lehre (die von Marx) entstand als direkte und unmittelbare Fortsetzung der Lehren der größten Vertreter der Philosophie, der politischen Ökonomie und des Sozialismus (…) Sie ist die rechtmäßige Erbin des Besten, was die Menschheit im 19. Jahrhundert in Gestalt der deutschen Philosophie, der englischen Ökonomie und des französischen Sozialismus hervorgebracht hat“, ist die Marxsche Theorie NICHT das Produkt der Synthese, auch nicht der dialektischen, des französischen Sozialismus, der englischen Ökonomie und der deutschen Philosophie, d.h. der ideologischen Synthese dreier von der Bourgeoisie geschaffener ideologischer Systeme.

Marx hat diese Quellen sicherlich ausgiebig genutzt, und er hat es nicht versäumt, dies selbst zu betonen, aber er widmete auch ein umfangreiches Werk7 – acht Bände in der französischen Ausgabe – um parallel zu dem, was er von ihnen nutzte, den radikalen Bruch aufzuzeigen, der ihn von den bourgeoisen Theoretikern der politischen Ökonomie trennte, und er erklärt dies im Band Eins des Kapitals. Den größten Teil seines Lebens verbrachte er damit, theoretisch und politisch gegen den „französischen Sozialismus“ zu kämpfen. Was die deutsche Philosophie betrifft, so hielt er es nicht für nötig, noch zu Lebzeiten ein gemeinsames Werk mit Engels zu veröffentlichen, in dem sie beide einen radikalen Bruch mit ihrer gemeinsamen philosophischen Vergangenheit vollzogen. Sie hielten es nicht für nötig, Die Deutsche Ideologie zu veröffentlichen, weil sie dieses Werk als einfaches Zeugnis einer persönlichen Entwicklung betrachteten und weil er diesen Bruch als Voraussetzung/Bedingung und Ausgangspunkt der revolutionären Theorie ansah.

Die zu Lenins Lebzeiten unveröffentlichte Die Deutsche Ideologie ist auf jeden Fall die nachträgliche Widerlegung von Lenins und Kautskys Interpretation des Punktes, der uns hier interessiert.

Es ist jedoch aufschlussreich festzustellen, dass die Arbeiterbewegung von Anfang an nicht die Veröffentlichung der „Deutschen Ideologie“ brauchte, um die praktische und theoretische Kritik an Lenins Positionen zu üben. Trotzki übt vor allem in seinem Text Unsere politischen Aufgaben (in der Übersetzung), aber auch in Texten wie Ergebnisse und Perspektiven und Bericht der sibirischen Delegation8 oder in dem weniger bekannten Text mit dem Titel 19059, bei dem er die bolschewistischen Positionen kritisiert und Marx‘ Themen und manchmal sogar seine Formulierungen aufgreift.

Die Tatsache, dass Trotzki selbst aus taktischem Opportunismus glaubte, dass er ab 1917 die Divergenzen, die zwischen 1901 und 1916 zwischen ihm und Lenin bestanden, minimieren sollte, ändert nichts an der Sache. Wie sehr die verschiedenen Spielarten der Trotzkisten diese Texte auch systematisch unterschlagen und nie auf Französisch veröffentlicht haben, sie stellen Trotzkis wichtigsten Beitrag zur revolutionären Theorie dar. Ihre Übersetzung und Veröffentlichung, die (von Nicht-Trotzkisten) in Arbeit ist, ist eine direkte Folge der Mai-Bewegung in Frankreich. Das regt zum Nachdenken über die Beziehung zwischen der Bewegung des Denkens und dem Klassenkampf an.

Dennoch ist es nicht weniger wahr, dass Marx und Engels und ausnahmslos alle revolutionären Theoretiker reichlich aus der Quelle der bourgeoisen Wissenschaft getrunken haben. Aber Kautsky und Lenin nutzen diese Tatsache, diese offensichtliche, phänomenologische Beobachtung, ohne in der Lage zu sein, in ihren Mechanismus und ihre tiefe Bedeutung einzudringen, und versuchen, die Rolle von Elementen außerhalb der Arbeiterklasse bei der Ausarbeitung der Doktrin zu begründen, außerhalb in einem soliden Sinne, d.h. nicht nur außerhalb „zufällig“ – wir stellen fest, dass diese Intellektuellen keine Arbeiter sind -, sondern außerhalb durch das Sein in einer bestimmten Art und Weise, d.h. durch die Verwendung von Elementen, die von Natur aus nicht von der Arbeiterklasse ausgearbeitet werden können. Wie wir gesehen haben, ist der „französische Sozialismus“ nichts anderes als die ideologische Formation, in der die aufkeimenden Kämpfe der französischen Arbeiterklasse in einer mystifizierten Form zum Ausdruck kommen. Was Marx im französischen Sozialismus vorfindet, ist nur die Form, in der sich ihm die Realität des Klassenkampfes offenbart, und er kann sie in seiner theoretischen Arbeit nur dann gültig nutzen, wenn er sie der Kritik unterworfen hat und durch sie zu dem gelangt ist, was ihre unbewusste Grundlage ausmachte: der proletarische Kampf in seinen konkreten Bestimmungen. Was diesem revolutionären Kampf des Proletariats gegenübersteht, ist die Realität der bourgeoisen Gesellschaft, der kapitalistischen Ökonomie, von der die englische ökonomische Wissenschaft durch Smith und Ricardo nur die am weitesten entwickelte ideologische Formation ist, durch die sich die Bourgeoisie ihres eigenen Systems bewusst wird. In dem Maße, wie sich der proletarische Kampf entwickelt, auf die kapitalistische Realität trifft und sie in ihrer Gesamtheit erfährt, braucht er also eine wissenschaftliche „Theorie“, mit der er seine Erfahrung ausdrückt und sich seiner Praxis bewusst wird. Diese Theorie ist eine ideologische Formation, das Produkt ideologischer Arbeit, aber keine Ideologie in dem Sinne, dass sie sich selbst der praktischen Wurzel ihrer „Ideen“ bewusst ist.

Es fällt ins Gewicht, dass die Ausarbeitung dieser Theorie reichlich (Marx unterlässt es nicht, dies durch zahlreiche Zitate zu unterstreichen) von der bourgeoisen Wirtschaftswissenschaft zehren wird, ebenso wie das Proletariat, das sich sein Gattungswesen, das gesamte gesellschaftliche Leben und die Produkte der gegenwärtigen und vergangenen menschlichen Tätigkeit – die in der kapitalistischen Gesellschaft nur in Form des ihr gegenüberstehenden Kapitals existiert – aneignet, ipso facto die Gesamtheit der menschlichen Kultur aneignet, aber auf andere Weise. Aber diese bourgeoise Wissenschaft wird nur um den Preis einer völligen Umkehrung ihrer Perspektive brauchbar sein.

Diese Beziehung wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass Marx sich auf die so genannte „deutsche Philosophie“ beruft, insbesondere auf Hegels Philosophie. Unfähig, die politische Verwirklichung ihres Seins zu erreichen, wie die französische Bourgeoisie durch die Französische Revolution, und unfähig, die ökonomische Verwirklichung zu erreichen, wie die englische Bourgeoisie durch die fantastische Expansion des englischen Kapitalismus im 19. Jahrhundert, im politisch und ökonomisch zerstückelten Deutschland, das auf allen Ebenen in seiner Entwicklung durch feudale Rückstände behindert wird, in die es sich verbeißt und ins Straucheln gerät, wird die deutsche Bourgeoisie durch die Produktion von philosophischen Systemen und kritischem Geistesleben die höchste ideologische Entwicklung erreichen. Da sie nicht in der Lage ist, die Hindernisse in der Praxis aus dem Weg zu räumen, gründet sie mit Hegel die Notwendigkeit ihres Werdens oder vielmehr ihres Werdens (A.d.Ü., bezogen auf die Zukunft) auf die Geschichtsphilosophie, die als Entwicklung des Geistes, der Idee, verstanden wird, die sich schließlich am Ende der Geschichte, der ideologischen Darstellung der Herrschaft der Bourgeoisie, durch die historische Dialektik verwirklicht, in der der Geist sich selbst verliert und wiederfindet, indem er sich in der Welt verkörpert. Ohne zu tief in ein System eindringen zu wollen, das jede zusammenfassende Darstellung bis zur Lächerlichkeit verarmt, wollen wir sagen, dass Hegels System in erster Linie ein Geschichtsdenken ist. Es ist sogar die bemerkenswerteste und vollendetste Schöpfung des Geistes für „ das Denken der Geschichte“, gerade weil seine dialektische Methode es ihm ermöglicht, die falschen Probleme und Antinomien des dualistischen und metaphysischen Denkens zu überwinden, insbesondere die des Determinismus und der Freiheit.

Da das Hegelsche System ein Versuch ist, die reale Bewegung der Geschichte zu erfassen, sind die Elemente der Methode sowie die Konzepte, die zum Denken der Geschichte geschaffen wurden, für die proletarische Theorie brauchbar, auch wenn Hegel selbst und sein ganzes System auf dem Terrain des Idealismus und der Bourgeoisie geblieben sind, genauso wie bestimmte Konzepte und Elemente der Methode, die von Smith und Ricardo geschaffen wurden, um ökonomische Phänomene zu erklären, durchaus brauchbar sind, ohne dass man sie von Grund auf neu erfinden muss. Aber es wäre ein völliger Irrtum, der im Übrigen von Kautsky und Lenin begangen wurde, so sehr sich Marx auch ausführlich erklärt hat, unter dem Vorwand, dass einige der Materialien dieselben sind, zu glauben, dass die revolutionäre Theorie nur eine Fortsetzung der bourgeoisen Theorie oder sogar ihr Höhepunkt ist, als ob die „verhängnisvolle Entwicklung des Denkens“ zu sozialistischen Schlussfolgerungen führte, vor denen die bourgeoisen Denker zurückgeschreckt wären. Genauso wie die Moscheen von Tunis, die auf den Ruinen der griechisch-römischen Tempel mit ihren Marmorblöcken errichtet wurden, nicht die Fortsetzung und Vollendung des Tempels sind und ganz im Gegenteil die Zerstörung des Tempels voraussetzen, um zu existieren.

In gleicher Weise müssen die besten Produkte des bourgeoisen Denkens nicht nur von dem idealistischen Ballast befreit werden, der diese Phase der Entwicklung des menschlichen Denkens befleckt, sondern auch in ihrer Struktur völlig verändert und in ein neues Ganzes integriert werden, auch wenn das, was das Denken der vorangegangenen Klasse liefert, für das Verständnis der neuen Perspektive und der neuen Konstruktion nur anekdotisch ist. Denn es gibt nicht nur „Phasen“ in einem sich entwickelnden „menschlichen“ Denken, sondern auch radikale Brüche zwischen verschiedenen Denkweisen, weil sie unterschiedliche Beziehungen und Funktionen mit der Wirklichkeit unterhalten. So gibt es das alte, feudale, bourgeoise, proletarische (u.a.) Denken, das sukzessive Denken (das durch Aufhebung negiert), das das vorhergehende Denken integriert oder nicht integriert. (So integriert das bourgeoise Denken, indem es das feudale Denken aufhebt, das klassische Denken und integriert es, das feudale Denken verliert das alte Denken, was nicht bedeutet, dass das alte Denken völlig verloren ist, denn die feudale Gesellschaft bildet keine kohärente Gesamtheit und kann sie auch nicht bilden. Die Kirche, selbst die „feudalisierte“, die mit ihr koextensiv ist, ist nicht auf den Feudalismus reduzierbar, die Ware, die sie durchzieht und in ihren Poren lebt, ist ihm entgegengesetzt).

Aber der Übergang vom einen zum anderen, vom antiken Denken zum feudalen Denken, ist ebenso wie der Übergang vom französischen Sozialismus, von der englischen Ökonomie, von der deutschen Philosophie zur revolutionären Theorie kein interner Denkprozess. Die Möglichkeit dieses Übergangs ist durch die Veränderung des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur, Mensch und Arbeit bedingt, mit anderen Worten, denn es handelt sich um die Klassengesellschaft, durch den Umsturz der Produktionsverhältnisse und das Auftauchen einer neuen Klasse, die durch ihre Stellung in den Produktionsverhältnissen einen anderen Blick auf die Natur, die Geschichte, die Arbeit (oder die mathematische Sprache) wirft. Oder genauer gesagt, sie unterhält ein anderes Verhältnis zur Natur und zur menschlichen Produktionstätigkeit in all ihren Aspekten. Die Voraussetzung dafür, dass Marx die von der bourgeoisen Ideologie gelieferten Elemente umwirft, um ein neues Weltbild zu begründen, hat ihre Grundlage und ihre Wurzel in der praktischen Existenz des Proletariats und seiner praktischen Kritik an der bourgeoisen Gesellschaft. Damit Marx die vom bourgeoisen Denken hinterlassene Antinomie zwischen Materialismus und Idealismus theoretisch überwinden konnte – eine Antinomie, die ihrerseits durch die reale Spaltung hervorgerufen wurde, die durch die Entstehung der Klassengesellschaft und den Zerfall der primitiven Gemeinschaft in die menschliche Tätigkeit eingeführt wurde -, war es weiterhin notwendig, dass eine Klasse existierte, die in ihrem Wesen die praktische Lösung dieser Antinomie war. Das Proletariat kann diesen Widerspruch praktisch lösen, weil es in seiner grundlegenden Tätigkeit (der Arbeit) das Denken und die Materie vereint, die „Veränderung des Bewusstseins und die Veränderung der Materie“ (oder der „Umstände“ in These Nr. 3, d.h. der objektiven Welt), Kategorien, die vom bourgeoisen Denken als getrennt gedacht werden, weil sie von der Bourgeoisie tatsächlich getrennt sind.

Die Geschichte des Denkens vor Marx war in der Tat durch den irreduziblen Gegensatz zwischen dem Denken, dem Geist, der Idee, einerseits und der Materie, der objektiven Welt, andererseits gekennzeichnet. Für den Idealismus ist die innere Bewegung des Denkens, der Idee, des Geistes, der Motor der Bewegung. Das Denken wird sich der objektiven Welt bewusst und erzeugt durch sein eigenes Wirken die Bewegung. Für den Materialismus hingegen ist es die materielle, objektive Welt, die durch ihre eigene Bewegung die Bewegung des Denkens mitreißt, das sich ihrer „bewusst“ wird und sie reflektiert. Die produktive Tätigkeit des Menschen ist die Lösung dieser Antinomie in Aktion. Denken und Handeln, Theorie und Praxis sind untrennbare Momente dieser Tätigkeit. Ohne Theorie keine Praxis, aber ohne Praxis auch keine Theorie. Die Arbeit, die Beziehung des Menschen zur Natur, ist sowohl das Mittel, mit dem der Mensch die objektive Welt umgestaltet und sie produziert, als auch das Mittel, mit dem er sich selbst umgestaltet und produziert. Es gibt ein Zusammentreffen der Veränderung von Gedanken und Materie. Das reine Denken ist keine menschliche Beziehung zur Materie. Es ist das Verhältnis des Menschen, der von seiner eigentlichen menschlichen Tätigkeit kastriert wurde, des Menschen als Zuschauer einer Welt, die er nicht verändern kann.

Lenins theoretischer Rückzug lässt sich vor allem im Materialismus und Empiriokritizismus messen. In diesem Werk lässt Lenin es an Mach aus, dessen Idealismus er anprangert. Dazu nimmt er die schwächsten und unbestreitbar idealistischen Punkte in Mach, um die wichtigsten Elemente zu liquidieren. Dieses Verfahren der niederen Polemik fehlt völlig in Marx‘ Werk, das im Gegenteil selbst bei seinen schlimmsten Gegnern die positiven Aspekte betont. Denn Marx‘ Problem ist es nie, einen Gegner zu liquidieren, sondern im Gegenteil, sich das Denken seines Gegners in der Tiefe anzueignen und nicht den Gegner zu liquidieren, sondern das, was in seinen Ideen idealistisch oder reaktionär ist. Man könnte sogar argumentieren, dass Mach trotz seines Idealismus Marx viel näher steht und mit seinem Empiriokritizismus die kritisch-praktische menschliche Tätigkeit, von der Marx spricht, besser versteht als Lenin, dessen „Materialismus“ dem Vulgärmaterialismus ähnlicher ist als den Vorstellungen von Marx.

Der Fehler des gesamten vergangenen Materialismus (auch der von Lenin) besteht darin, dass das Objekt, die Realität, die Materialität nur in der Form des Objekts, aber nicht als menschlich-sinnliche Aktivität, als Praxis verstanden wird. Aus diesem Grund wird die aktive Seite abstrakt, im Gegensatz zum Materialismus, vom Idealismus entwickelt, der natürlich keine reale, sinnliche Tätigkeit kennt, als solche will Lenin sinnliche Objekte, die sich wirklich von idealen Objekten unterscheiden; aber er begreift die menschliche Tätigkeit nicht als objektive Tätigkeit. Er vertritt daher im Materialismus und Empiriokritizismus die Ansicht, dass die theoretische Beziehung die einzige wirklich menschliche Beziehung ist, während die praktische Beziehung nur in ihrer vulgären und judäischen phänomenalen Form festgelegt ist. Auf diese Weise versteht er den Sinn revolutionärer, kritisch-praktischer Tätigkeit nicht (Karl Marx, Thesen zu Lenin Nr. 1, SIEHE Thesen zu Feuerbach).

Lenin fällt sogar weit hinter die Materialisten des 18. Jahrhunderts zurück, für die, wie für Lenin, die Welt der Ideen nichts als die Spiegelung der objektiven Welt ist, die autonome Bewegung der objektiven Welt die Bewegung der Ideen bestimmt und die einzige Aufgabe der materialistischen Philosophen darin besteht, die idealistischen Illusionen zu bekämpfen, sie können die Welt nicht verändern: die Welt wird verändert, das Bewusstsein reflektiert diese Veränderung. Bei Lenin hingegen wird die aktive Seite auf abstrakte und IDEALISTISCHE Weise entwickelt. Für Lenin ist es in der Tat nicht die subversive, revolutionäre Tätigkeit des Proletariats, sondern seine kritisch-praktische Tätigkeit (Bewusstsein und Theorie, von denen es ein Moment ist, aber nur ein Moment), die die Welt verändert. Die Aktivität der Klasse wird von Lenin nur in ihrer „vulgären und judaistischen phänomenalen Form“ angesprochen, als materielle Kraft der objektiven Welt. Daher ist die materielle Kraft, mit der Lenin die Welt verändern wird, die Wissenschaft, mit einem großen W, die Wissenschaft, die die Gesetze der objektiven Welt kennt, die Lenin kennt: der Marxismus, oder zumindest Lenins Vorstellung davon. Diese Wissenschaft muss sich, um zu einer materiellen Kraft zu werden, natürlich in den Massen verkörpern, aber diese Wissenschaft ist nicht das Bewusstsein der wirklichen, spontanen, organischen Bewegung des Proletariats und einfacher Moment seiner Aktivität, wie der Blick, den Gott am siebten Tag auf seine Werke wirft (sogar seine Bibel ist „marxistischer“ als Lenin), denn dann könnte sie nur zu einem syndikalistischen/gewerkschaftlichen (A.d.Ü., oder tradeunionistisch, wie es damals hieß) Bewusstsein aufsteigen, sie ist etwas anderes, das kommt aus…. Woher kommt sie eigentlich? Lenin, der dies seinen petite-bourgeoisen Gegnern zu Recht vorwarf, sitzt zwischen zwei Stühlen.

Nachdem er die Bewegung der Arbeiterklasse abstrakt auf eine Manifestation roher Gewalt reduziert hat, die mit dem Wasser des Wildbachs vergleichbar ist, fällt von seinem Gewicht ab, dass diese Energie, um nutzbar zu sein, das Eingreifen eines Wasserbauingenieurs benötigt. Aber da die Theorie nicht vom Proletariat kommt und es ziemlich schäbig ist, sie einzig und allein dem Klassengegner zuzuschreiben, wird sie dem Denken selbst zugeschrieben. Die Wissenschaft hat zwar ein Objekt, aber kein Subjekt, wenn sie nicht metaphysisch ist. Für Lenin wie für Kautsky ist die Vereinigung von Arbeiterbewegung und Sozialismus der Kopf und die Beine, der Blinde und der Gelähmte. Wenn Kautsky deshalb in einem letzten Kapitel von der Synthese von Theorie und Praxis spricht, gibt er ein schönes Beispiel für nicht-dialektisches Denken, denn er nennt die Synthese das ausgewogene Nebeneinander von zwei heterogenen Elementen. Auch wenn er meint, den Idealismus zu widerlegen, indem er zeigt, dass nur das Proletariat den Sozialismus verwirklichen kann, erhebt sich Kautsky nicht über das Niveau des Ingenieurs, der „entdecken“ würde, dass er mit Hilfe seiner Theorie allein keinen Strom erzeugen kann, sondern auch die Arbeit der Schwerkraft durch die Energie des Stroms benötigt.


1A.d.Ü., Wortspiel was auf französisch wie auf spanisch geht, da in beiden Sprachen Vernunft in diesem Kontext auch Grund bedeutet.

2Wie Lenin in „Materialismus und Empiriokritizismus“, ganz zu schweigen vom stalinistischen Kretinismus.

3 A.d.Ü., anscheinend differenzieren sich die Titel auf Spanisch und auf Französisch von der Originalversion deutlich, wir haben den Originaltitel von Kautskys Buch übernommen, dennoch heißt auf Spanisch das Buch Las tres fuentes del marxismo, La obra histórica de Marx, und auf Französisch Les trois sources du marxisme. L’oeuvre historique de Marx. Auf beiden Sprachen gleichen sich die Titel und eine Verbindung zu Lenins Titel wäre eindeutig, nicht aber zum wirklichen Originaltitel, zumindest den den wir gefunden haben.

4A.d.Ü., hier der ganze Absatz der besagten Stelle: „Da kam Marx und sah, daß die Geschichte und die in der Geschichte wirkenden Ideen und Ideale der Menschen, deren Erfolge und Mißerfolge das Ergebnis von Klassenkämpfen sind. Aber er sah noch mehr. Klassengegensätze und Klassenkämpfe hatte man schon vor ihm in der Geschichte gesehen, aber sie waren meist als das Werk von Dummheit und Bosheit einerseits, von Hochsinnigkeit und Aufklärung andererseits erschienen; erst Marx deckte ihren notwendigen Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Verhältnissen auf, deren Gesetzmäßigkeit erkannt werden kann, wie Marx am besten dartat. Die wirtschaftlichen Verhältnisse selbst beruhen aber wieder in letzter Linie auf der Art und dem Maße der Herrschaft des Menschen über die Natur, die aus der Erkenntnis der Naturgesetze hervorgeht.“

5A.d.Ü., in der Originalfassung handelt es sich allerdings um den fünften Kapitel.

6Ich beobachte einen Tennisspieler und sehe, dass seine Schläge nicht sicher genug sind, dass er sein Spiel nicht genug aufbaut, dass er die Strategie seines Gegners nicht wahrnimmt oder nicht weiß, wie er mit einer anderen Strategie darauf reagieren soll, dass er sich damit zufrieden gibt, den Ball so gut wie möglich zurückzugeben. Mein „Gewissen“ ist weder gerecht noch falsch, es ist abstrakt, wirkungslos und von meiner Situation als Zuschauer bestimmt. Das „Bewusstsein“, das der Spieler hat, ist von ganz anderer Art; es umfasst unter anderem die unmittelbare Wahrnehmung von Müdigkeit, von physiologischen, sensorischen, Wahrnehmungs- und Reflexfähigkeiten und so weiter. Sein Bewusstsein ist ein Moment seines Spiels, untrennbar mit seinem Spiel verbunden. Meine ist für sein Spiel nutzlos. Wenn ich nach dem Spiel meine Schlussfolgerungen mit ihm teile, werden sie für ihn völlig nutzlos sein, es sei denn, ich bin in der Lage, in meine Analyse ein inneres Verständnis der konkreten Bestimmungen des Spiels des Spielers einzubeziehen, zum Beispiel durch meine Erfahrung, aber dann ist mein Bewusstsein nicht mehr einfach von außen erarbeitet, sondern teilweise „von innen“ und ist nur in dieser Eigenschaft nützlich, es ist nur in dieser Eigenschaft zulässig und wird dem Spieler wahrscheinlich nichts beitragen, was er nicht schon weiß, aber auf andere Weise. Unsere Diskussion wird höchstens dazu führen, dass wir ihm kein Bewusstsein geben, sondern eine Sprache entwickeln, in der unsere Erfahrungen kommunizierbar werden. Es ist angenehmer, aber ich habe kein Privileg mehr.

7„Historia de las doctrinas económicas – Geschichte der Wirtschaftslehren“ (Hrsg. Costes, Lib. „La Vieille Taupe“)

8A.d.Ü., wir haben zu dieser Schrift nichts auf deutscher Sprache gefunden, nicht mal deren Existenz, was aber durch Ausgaben auf anderen Sprachen widerlegt wird.

9A.d.Ü., das gleiche gilt zu dieser Schrift.

Dieser Beitrag wurde unter Kritik am Leninismus, Kritik am Reformismus, Kritik an der (radikalen) Linke des Kapitals, Texte veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.