(1937) Revolution und Diktatur

Hier ein weiterer Text von André Prudhommeaux, die Übersetzung ist von uns.


(1937) Revolution und Diktatur

Die menschlichen Kräfte setzen sich im Programm und Rahmen der Parteien zusammen, gleichen sich aus und heben sich auf. Die Interessen der Parteien, ihre Programme und ihre Politik setzen sich im Rahmen der Regierung und des Staates zusammen, gleichen sich aus und heben sich gegenseitig auf. Es ist diese Ohnmacht, die totalitäre Regime zu beheben vorgeben. Aber das Heilmittel ist schlimmer als das Übel: Die sozialen Kräfte werden weiterhin vom Menschen als politische Kräfte entfremdet, was zu einer freiwilligen Knechtschaft führt, die umso intensiver ist, je allgemeiner und stärker die Zustimmung zum Regime und zu seinem Führer ist.

Demokratie und Autokratie sind daher gleichermaßen unfähig, die menschlichen Kräfte zu befreien und zu polarisieren, ihren Sinn zu bewahren und sie durch gegenseitige Verherrlichung zu vermehren. Hierin liegt der tiefe Antagonismus zwischen Diktatur und Revolution.

Jede Revolution beginnt mit dem Handeln einer Minderheit. Das Handeln dieser Minderheit wird durch die mehr oder weniger stillschweigende Sympathie der großen Masse des Volkes (A.d.Ü., peuple), durch ihre Abneigung oder Gleichgültigkeit gegenüber dem zusammenbrechenden Regime begünstigt. Das Problem der Revolution besteht darin, diese große Masse des Volkes zu aktivieren, sie zu einem positiven Faktor zu machen, der in jedem seiner Teile mit autonomer Aktivität und Bewusstsein begabt ist, kurz gesagt, die Minderheit und die Mehrheit zu transformieren. Das ist kein Problem der Statistik, sondern der Psychologie.

Das haben diejenigen, die Revolution mit Diktatur verwechseln – und sei es die Diktatur des Proletariats -, kaum verstanden.

In seiner berühmten Schrift über die „drei Prinzipien des Volkes – dreifaches Volksprinzip“ teilt Sun-Yat-Sen die Menschen in drei Kategorien ein: Die „Vorausschauenden“ sind die engste Kaste der Führer, die in der Lage sind, den gesamten menschlichen Horizont zu überblicken und den Weg zu bestimmen. Die „Nach-Schauenden“ sind die bereits große Gruppe der Vorarbeiter und Ausführenden, die die allgemeine Linie verstehen und ihre Ausführung überwachen können. Die „Nicht-Schauende“ schließlich sind das riesige Vieh, das nicht die geringste Spur von Bewusstsein oder Willen besitzt und auf das der Zwang und die ständige Fürsorge der höheren Kasten angewendet werden muss.

Dieses System ist militaristisch, sklavenhaltend, klerikal und nicht revolutionär.

Für einen Militär gibt es Generalstäbe, die in der Kriegsakademie ausgebildet wurden und den Operationsplan entwerfen, Truppenoffiziere, die darauf achten, dass die erhaltenen Befehle ausgeführt werden, ohne etwas daran zu ändern, und einfache Soldaten, die per Definition blinde Figuren auf dem Schachbrett sind.

Für einen Sklavenhalter, ob industriell oder feudal, gibt es den Herrn, der sieht und befiehlt, die Intendanten, die verstehen und überwachen, und den Pöbel, der nur Fleisch für die Arbeit ist, ohne Herz und ohne Verstand.

Für den Klerikalen sind Heilige und Propheten (weltlich oder religiös) dazu bestimmt, die Welt zu regieren. Ministerielle Erlasse von Vorschriften, die durch Kleriker oder Mandarine durchsetzbar sind, sollen die unwissende oder sündige Menge souverän regieren.

Kein klerikaler Geist, nicht einmal ein marxistischer, kein Militär, nicht einmal ein scharlachroter, kein Staatskapitalist oder Sozialist könnte die breite Masse emanzipieren, selbst wenn sie es wollten.

Und das ist völlig logisch und unvermeidlich, denn Strategie, Politik, Theologie und vor allem die kapitalistische Ökonomie sind Mysterien, von denen die Führer selbst nicht viel verstehen. Sie sind abstrakte Gedankenspiele, die einen Abgrund von List, Betrug, Verstellung und Heuchelei bedecken. Die Staatsräson, die Kirchenräson, die militärische Kunst und die Kunst, seine Mitmenschen auszubeuten, wurden von den Führern so weit verfeinert, dass selbst die ausführenden Beamten nichts mehr davon verstehen, was im Übrigen eine der Notwendigkeiten ist, um das Gleichgewicht des Systems zu wahren. Die scheinbare oder tatsächliche Verblödung der einfachen Führungskräfte ist nur eine Folge ihrer Situation. Warum sollte man versuchen zu verstehen, wenn man nicht frei handeln kann, und vor allem warum sollte man versuchen, die Wissenschaft der Herren zu verstehen, diese unmenschliche und kolossale Hinterlist, deren kriminelle Absurdität Machiavelli, Karl Marx und einige ähnliche Genies kaum erforscht haben? Das Volk lehnt dies meistens ab, und das ist auch richtig so. Es ist besser, sich der Macht der Dinge zu beugen als dem Prestige der Lügen.

In Regierungsfragen ist und bleibt das Volk immer unfähig. Es geht um Fragen, die es „überfordern“ werden … solange sie existieren: Diplomatie, Polizei, Finanz- und Währungspolitik, Zölle, Steuerbemessungsgrundlage usw. Es ist sinnlos, zu versuchen, ihn in diesen Dingen zu unterrichten, denn die (reale, praktische, handwerkliche) Welt, in der er sich bewegt, hat keinen Kontakt zu den Mystifikationen der Rechtsprechung oder des Verwaltungsrechts. Selbst wenn das Volk für oder gegen Gesetze stimmt (wie in der Schweiz), regiert es sich nicht selbst, sondern es wird ihm nur die Illusion vermittelt, dass es das tut.

Dasselbe gilt für die Kunst des kapitalistischen Handels, des Bankwesens, der Buchhaltung und des „Managements“ von Unternehmen. Die Citroën-Arbeiter, die das Haus Citroën in eine Genossenschaft innerhalb des kapitalistischen System verwandeln, könnten weder kaufen noch verkaufen, nicht bluffen, nicht betrügen, nicht korrumpieren, nicht bestechen, keine Werbekampagne starten, keine Bilanz erstellen oder einen Selbstkostenpreis berechnen. Sie würden unweigerlich bankrott gehen. Und das wissen sie. Gros-Jean wird nie in der Lage sein, seinem Pfarrer einen Vorwurf zu machen.

Angenommen, eine Revolution würde die bestehenden Verhältnisse umwälzen, die Regierung und das Großkapital hinwegfegen. Das Volk kann sich um seine Interessen kümmern, es muss sich um sie kümmern, es kann sie verstehen. Es geht nicht mehr darum, einen Staat zu regieren, sondern sich unter den Arbeitern zu einigen, um die unmittelbaren, greifbaren, materiellen Aufgaben zu erfüllen, die die von der Bevölkerung direkt empfundenen Bedürfnisse auferlegen. Der Arbeiter ist hier mit dem Verbraucher oder Nutzer verbunden, und wir behaupten, dass niemand außer ihnen handeln oder verstehen kann. Das Problem ist frei von allen Taschenspielertricks der Vermittler, von der Hexerei der Politiker, die mit Worten handeln, von allen Bank- und Börsenbetrügereien, von allen Sack- und Strickjuristereien, die den Bereich der „Geschäfte“ ausmachen, seien sie privat, kommunal, genossenschaftlich oder verstaatlicht. Es ist jetzt eine einfache Frage der Arbeit und des Gebrauchs, der Initiative, der Kompetenz der Arbeiter, des guten Willens: alles Dinge, von denen das Volk unerschöpfliche Schätze besitzt, wenn es in eine Atmosphäre der Hoffnung und der Freiheit eingetaucht ist.

Was ist das Ergebnis dieses neuen Phänomens, dass die Arbeiter ihre eigenen Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen, dass die Produzenten ihre eigene Arbeit organisieren?

Der Einfluss der künstlichen Systeme zur Interpretation des Universums, der parasitären Theorien und der parasitären Klassen schwindet zusehends. Religion, Politik, Recht, Tauschwert, Kapital, Sollen und Haben und andere Mystifikationen machen einer Welt Platz, die für das Verständnis aller offen ist und in der die sozialen Funktionen alle durch Bewusstsein und Freiheit erleuchtet werden.

Die Bedingung für diese Entfaltung ist die Revolution, die nicht als Machtergreifung verstanden wird, sondern als endgültige Zerstörung der Machtgrundlagen und als Öffnung eines freien Feldes für alle Experimente des sozialen Zusammenlebens, der Organisation und der Assoziation.


Aus Un anarchisme hors norme (Sammlung von Texten von André Prudhommeaux, veröffentlicht von Tumult https://tumult.noblogs.org/un-anarchisme-hors-norme-andre-prudhommeaux/ ).

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