Hier ein weiterer Text von Agustín Guillamón, ein Teil seiner Kritik ist allgemeiner Natur, im Sinne einer Kritik gegen den kapitalistischen Staat-Nation, am Ende des Textes richtet sich diese an der nationalen Befreiungsbewegung der katalanischen Länder. Die Übersetzung ist von uns.
Kein Staat, keine Nation, kein Recht auf Selbstbestimmung
Agustín Guillamón
18. Oktober 2017
Grau, theurer Freund, ist alle Theorie, Und grün des Lebens goldner Baum. Goethe
1. Die Theorie
1.1. Der Staat ist die ORGANISATION der politischen Herrschaft, des permanenten Zwanges und der ökonomischen Ausbeutung des Proletariats durch das Kapital.
Das moderne und aktuelle Konzept des Staates ist mit der historischen Entstehung des kapitalistischen Produktionssystems entstanden. Es ist die für den Kapitalismus geeignete politische Organisation. Die Projektion dieses Konzepts auf antike Zivilisationen ist ein fruchtloser und wirrer Anachronismus.
In der feudalen Gesellschaft wurde Souveränität als hierarchische Beziehung zwischen einer Vielzahl von Mächten verstanden. Die Macht des Königs beruhte auf der Loyalität der anderen Grundherren, und die Befugnisse des Königs waren käuflich, d. h. sie konnten an den Adel verkauft oder abgetreten werden: die Rechtsprechung, die Rekrutierung des Heeres, die Erhebung von Steuern, die Bischofsämter usw. konnten an den Meistbietenden verkauft oder in einem komplexen Geflecht von Begünstigungen und Privilegien vergeben werden. Die Souveränität lag bei einer Vielzahl von Gewalten, die sich gegenseitig unterordnen oder miteinander konkurrieren konnten.
In der kapitalistischen Gesellschaft verwandelt der Staat die Souveränität in ein Monopol: der Staat ist die einzige politische Macht im Lande. Der Staat besitzt das Monopol der politischen Macht und beansprucht folglich auch das Gewaltmonopol, die Definition der Legalität und die Rechtsprechung. Jede Herausforderung dieses Gewaltmonopols gilt als kriminell und als Angriff auf die kapitalistische Ordnung und wird daher verfolgt, bestraft und vernichtet.
In der Feudalgesellschaft beruhten die sozialen Beziehungen auf persönlicher Abhängigkeit und Privilegien. In der kapitalistischen Gesellschaft können soziale Beziehungen nur zwischen rechtlich freien und gleichen Individuen stattfinden. Diese rechtliche Freiheit und Gleichheit (nicht die des Eigentums) sind unabdingbar für die Bildung und Existenz eines Proletariats, das billige Arbeitskräfte für die neuen Fabrikunternehmer bereitstellt. Der Arbeiter muss frei sein, auch frei von jeglichem Eigentum, um verfügbar und bereit zu sein, gegen Lohn an den Fabrikherrn vermietet zu werden. Er muss frei sein und sich von jeglicher Abhängigkeit von dem Land, das er bewirtschaftet hat, und von jeglichem Lebensunterhalt oder Eigentum befreien, um durch Hunger, Verarmung und Elend in die neuen industriellen Konzentrationen getrieben zu werden, wo er die einzige Ware, die er besitzt, verkaufen kann: seine Arme, d.h. seine Arbeitskraft.
Diesen neuen sozialen Beziehungen, die für den Kapitalismus charakteristisch sind, steht eine neue politische Organisation gegenüber, die sich von der feudalen unterscheidet: ein Staat, der alle politischen Beziehungen monopolisiert. Im Kapitalismus sind alle Individuen frei und gleich (rechtlich), und niemand ist politisch abhängig von dem alten Feudalherrn oder dem neuen Fabrikherrn. Alle politischen Beziehungen werden vom Staat monopolisiert.
In den vorkapitalistischen Produktionsweisen waren die Produktionsverhältnisse auch Herrschaftsverhältnisse. Der Sklave war das Eigentum seines Herrn, der Leibeigene war an das Land gebunden, das er bearbeitete, oder er war von einem Herrn abhängig. Diese Abhängigkeit ist im Kapitalismus verschwunden. Der Staat ist also ein Produkt der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Der Staat ist die spezifische Form der Organisation der politischen Macht in kapitalistischen Gesellschaften. Es besteht eine radikale Trennung zwischen der ökonomischen, sozialen und politischen Sphäre.
In Gesellschaften, in denen die kapitalistische Produktionsweise vorherrscht, hat der Staat das Monopol auf Macht, Gewalt und politische Beziehungen zwischen den Individuen. Im Gegensatz zu vorkapitalistischen politischen Institutionen ist der Staat KEIN PRODUKTIONSVERHÄLTNIS. Im kapitalistischen Produktionssystem ist Kapital nicht nur Geld oder Fabriken oder Maschinen, Kapital ist auch ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis, und zwar das zwischen den Proletariern, die ihre Arbeitskraft gegen Lohn verkaufen, und den Kapitalisten, die die Ware „Arbeitskraft“ kaufen. Der Staat muss die Aufrechterhaltung und Reproduktion der Bedingungen garantieren, die die Existenz dieser gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse ermöglichen, d.h. den Kauf und Verkauf der Ware Arbeitskraft.
Der Staat ist erst vor kurzem, vor etwa fünfhundert Jahren, entstanden und wird mit den kapitalistischen Produktionsverhältnissen verschwinden. Der Staat ist also nicht ewig, er ist erst vor kurzem entstanden und wird mehr oder weniger bald ein Ende haben.
Die politische Theorie des Staates wurde im England des 17. Jahrhunderts parallel zum historischen Prozess, der als industrielle Revolution bekannt ist, von Hobbes entwickelt. Hobbes ist nicht nur chronologisch gesehen der erste Theoretiker, sondern die gesamte aktuelle Problematik des Staates findet sich bereits bei Hobbes (und bei Locke).
Von Platon bis Machiavelli charakterisiert die vorstaatliche politische Theorie die politische Macht und das Gemeinwesen als NATÜRLICH und unterscheidet zwischen ziviler Gemeinschaft und politischer Gemeinschaft. Seit Hobbes definiert die staatspolitische Theorie den Staat als ein KÜNSTLICHES Gebilde, trennt die Begriffe der zivilen Gemeinschaft (Zivilgesellschaft) und der politischen Gemeinschaft (Staat) und wirft die Frage nach der Reproduktion der politischen Macht auf.
Der Staat entsteht aus dem Widerspruch zwischen der theoretischen Verteidigung des Gemein- oder Allgemeinwohls und der praktischen Verteidigung der Interessen einer Minderheit, der ihm seinen Ursprung und seine Daseinsberechtigung verleiht. Der Widerspruch zwischen der Illusion, das allgemeine Interesse zu verteidigen, und der tatsächlichen Verteidigung der Klasseninteressen der Bourgeoisie. Die Daseinsberechtigung des Staates ist nichts anderes, als die Reproduktion der kapitalistischen gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse zu gewährleisten. Aus diesem Grund ist der Staat nicht in der Lage, den Widerspruch zwischen der Verteidigung des allgemeinen (und historischen) Interesses der Gesellschaft (und der menschlichen Gattung), die er theoretisch zu verteidigen vorgibt, und den unmittelbaren Interessen des Kapitals und seiner Reproduktion, die in der Praxis sein vorrangiges und ausschließliches Ziel sind, zu überwinden. Der Staat kann weder seine Unfähigkeit eingestehen, sich den unmittelbaren Interessen der Reproduktion des Kapitals zu stellen, noch sein ständiges Bedürfnis, den Kreislauf der Verwertung voranzutreiben, der die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, die selbstmörderische Verschmutzung des Planeten, die Verpfändung der Zukunft künftiger Generationen und die Gefährdung des Fortbestands der menschlichen Gattung beinhaltet.
Der in seinen Institutionen verdinglichte Staat ist jedoch die Maske der Gesellschaft, mit dem Anschein einer äußeren Kraft, die von einer überlegenen Rationalität angetrieben wird und eine gerechte Ordnung verkörpert, der sie als neutraler Schiedsrichter dient. Diese Fetischisierung des Staates LÄSST die kapitalistischen gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse als rein ökonomische, zwanglose Beziehungen erscheinen, während gleichzeitig der unterdrückerische Charakter der staatlichen Institutionen verschwindet. Auf dem Markt erscheinen Arbeiter und Arbeitgeber als freie Individuen, die in einem „rein“ ökonomischen Austausch stehen: der Arbeiter verkauft seine Arbeitskraft im Austausch gegen einen Lohn. In diesem freien, „rein“ ökonomischen Austausch ist jeglicher Zwang verschwunden, und der Staat hat sich überhaupt nicht eingemischt: er ist nicht da, er ist verschwunden.
Die Trennung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten ist eine notwendige Bedingung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, denn nur so erscheinen sie als freie Vereinbarungen zwischen rechtlich freien und gleichen Individuen, bei denen die vom Staat monopolisierte Gewalt von der Bildfläche verschwunden ist. Aus all dem ergibt sich ein WIDERSTAND zwischen dem Staat ALS FETISCH, der sein Gewaltmonopol und den ständig auf das Proletariat ausgeübten Zwang verbergen muss, um die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, d.h. die Aufrechterhaltung der Ausbeutungsbedingungen des Proletariats durch das Kapital, zu gewährleisten, und dem Staat ALS ORGANISATOR DES SOZIALEN KONSENS und der Legalität, der freie Wahlen ausruft, Arbeiterparteien und -vereinigungen zulässt, Errungenschaften der Arbeit wie Gesundheitsfürsorge, Renten, Arbeitszeiten usw. gesetzlich festlegt.
Im Falle einer Krise zeigt der kapitalistische Staat sofort, dass er ein kapitalistischer Staat und kein nationaler Staat, kein Staat der Völker oder der Staatsbürger ist. Die mit der Klassenherrschaft verbundene Zwangskomponente des Staates ist die GRUNDLEGENDE ESSENZ des Staates, das deutlich wird, wenn der gesellschaftliche Konsens und die staatliche Legitimation auf dem Altar der Unterwerfung des Proletariats unter die Kapitalverwertung geopfert werden.
Der Staat entsteht aus dieser widersprüchlichen Beziehung. Er gibt vor, seine repressive Rolle als Garant der Klassenherrschaft durch das Gewaltmonopol zu verschleiern, während er gleichzeitig als Organisator des zivilgesellschaftlichen Konsenses auftreten will, der wiederum den Staat als neutralen Schiedsrichter legitimiert. Auf diese Weise stärkt der Staat auch seine ideologische Herrschaft und erlangt eine vollständigere und verdeckte Herrschaft über die Zivilgesellschaft. Der Staat kriminalisiert natürlich jede (revolutionäre oder andere) politische Gewalt, die sich seinem Monopol entzieht.
Die grundlegenden Institutionen des Staates sind das stehende Heer und die Bürokratie. Die Aufgaben der Armee sind die Verteidigung der territorialen Grenzen gegen andere Staaten, imperialistische Eroberungen, die Ausweitung der Märkte und die Gewinnung von Rohstoffen und vor allem die ultimative Garantie der bestehenden Ordnung gegen die Subversion der Arbeiter und proletarische Insurrektionen. Die Aufgaben der Bürokratie sind die Verwaltung all jener Funktionen, die die Bourgeoisie an den Staat delegiert: Bildung, Polizei, Gesundheitswesen, Gefängnisse, Post, Eisenbahn, Straßen…. Der Staatsbeamte, vom Lehrer bis zum Professor, vom Polizisten bis zum Minister, vom Briefträger bis zum Arzt, üben Funktionen aus, die für den reibungslosen Ablauf der Geschäfte der Bourgeoisie notwendig sind, sofern sie nicht ein gutes Geschäft für die Bourgeoisie sind, in diesem Fall werden sie privatisiert.
Aus all diesen Gründen definieren wir den Staat als die ORGANISATION der politischen Herrschaft, des permanenten Zwangs und der ökonomischen Ausbeutung des Proletariats durch das Kapital.
Der Staat ist also keine Maschine oder ein Instrument, das in einem doppelten Sinne eingesetzt werden kann: gestern zur Ausbeutung des Proletariats, morgen zur Emanzipation des Proletariats und zur Unterdrückung der Bourgeoisie. Er ist keine Maschine, die man bezwingen kann, und er kann auch nicht nach Lust und Laune des jeweiligen Maschinisten bedient werden. Das Proletariat kann den Staat nicht erobern, weil er die politische ORGANISATION des Kapitals ist: es muss ihn zerstören. Wenn eine Partei den Staat stärkt oder wieder aufbaut oder sich auf die Eroberung des Staates beschränkt, ist das keine proletarische Revolution, sondern eine andere Form des Kapitalismus. Das bekannteste historische Beispiel war der Staatskapitalismus der untergegangenen Sowjetunion. Der Staat kann nicht von heute auf morgen durch ein „revolutionäres“ Dekret oder durch eine soziale Vereinbarung der Mehrheit der Gesellschaft abgeschafft werden, denn er ist die politische Organisation des Kapitals und seiner gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse: Diese gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse und ihre politische Organisation – der Staat – müssen ZERSTÖRT werden. Der Staat kann nicht teilweise vom Proletariat gegen das Kapital in einer Übergangsphase zwischen Kapitalismus und Kommunismus ersetzt und teilweise benutzt werden (als Halb-Arbeiterstaat), um darauf zu warten, dass er erlischt wie eine Flamme ohne Sauerstoff, denn der Staat ist die politische Organisation des Kapitals und garantiert die kapitalistischen gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse. Es gibt weder eine Halborganisation des Kapitals noch eine Halbgarantie der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse, und wir haben bereits gesagt, dass der Staatsapparat nicht in einem doppelten Sinne benutzt oder halb benutzt werden kann, heute zur Ausbeutung oder Halbausbeutung des Proletariats, morgen zu dessen Emanzipation oder Halbemanzipation. Der Staat ist die totale und totalitäre politische Organisation des Kapitals (und seiner permanenten Reproduktion) zur Ausbeutung des Proletariats. Das Proletariat kann den Staat weder benutzen noch halb-emanzipieren, um ihn auszulöschen oder abzuschaffen, sei es durch Dekret, gegenseitiges Einverständnis oder Abstimmung: es kann ihn nur zerstören.
Das Proletariat muss den Staat zerstören, denn der Staat ist die politische Organisation der ökonomischen Ausbeutung der Lohnarbeit. Die Zerstörung des Staates ist der Beginn einer proletarischen Revolution.
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1.2. Der Nationalismus ist eine politische IDEOLOGIE und manchmal eine soziopolitische Bewegung.
Die Epoche des Nationalismus fällt mit der Romantik und der liberalen Revolution des späten 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammen und fällt fast immer mit der Herausbildung eines nationalen kapitalistischen Marktes zusammen: die Vereinigung Italiens und Deutschlands oder die Konsolidierung und Expansion des französischen und englischen Imperiums. Die katalanische Bourgeoisie der Renaixença zog es vor, innerhalb des spanischen Staates Zuflucht zu suchen und von der Bildung seines nationalen Marktes zu profitieren.
Als Ideologie stellt der Nationalismus eine bestimmte Nation als einzigen Identitätsbezugspunkt innerhalb einer politischen Gemeinschaft dar und beruht auf zwei Grundprinzipien hinsichtlich der Beziehung zwischen Nation und Staat:
1. Das Prinzip der nationalen Souveränität, das die Nation als einzige legitime Grundlage des Staates beibehält.
2. Das Nationalitätsprinzip besagt, dass jede Nation ihren eigenen Staat bilden sollte und dass die Grenzen des Staates mit denen der Nation übereinstimmen sollten. Dies führt zu immer wiederkehrenden Begriffen wie Spanien als Nation der Nationen oder Katalonien als Nation ohne Staat.
Der Begriff Nationalismus bezieht sich sowohl auf politische Doktrinen als auch auf Bewegungen, d. h. auf kollektive Aktionen, die auf die Durchsetzung von Unabhängigkeitsansprüchen abzielen. Manchmal wird Nationalismus auch als das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Kollektiv bezeichnet, das als eigene Nation betrachtet wird, was im Prinzip mit Patriotismus identifiziert werden kann.
Im 20. Jahrhundert kam es in der Zwischenkriegszeit zu einem rassistischen und/oder klassenbezogenen Wiederaufleben des Nationalismus, der mit dem Faschismus oder dem Nationalsozialismus verbunden war. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Nationalismus mit dem Prozess der Entkolonialisierung, dem Antiimperialismus und dem Drittenweltismus1 verknüpft, als zahlreiche Gruppen mit der Bezeichnung „Nationale Befreiungsbewegung“ aufkamen.
Der Durchschnittsbrite, -franzose oder -italiener hat heute kein Problem damit, sich mit seinem Land zu identifizieren und die wesentlichen nationalen Symbole zu akzeptieren oder an ihnen festzuhalten: Flagge, Regime, nationale Mythen, Geschichte…
Das Verhältnis eines Franzosen oder eines Briten zur Demokratie ist das eines Staatsbürgers; das eines Spaniers ist das eines Untertanen. Der französische Staatsbürger schätzt und beruft sich auf republikanische Werte, der britische auf die Monarchie und das Parlament.
Nichts Vergleichbares bei den Spaniern: Warum? Denn in Spanien gab es 1936-1939 einen Bürgerkrieg, in dem die Armee, die die monarchistische Fahne hochhielt, ihr eigenes Volk besiegte, indem sie eine selektive und massive Ausrottung der „anderen“, d.h. der republikanischen Staatsbürgerschaft betrieb. Die von der spanischen Armee und der einzigen Partei, der Falange, an der eigenen Bevölkerung begangenen Barbareien und die schändliche Unterdrückung der Freiheiten und demokratischen Rechte der besiegten und versklavten Untertanen durch den franquistischen Staat sind in der zeitgenössischen europäischen Geschichte beispiellos.
Wie können sich die spanischen Nachkommen der unterdrückten und exilierten Republikaner mit der zweifarbigen Flagge oder der franquistischen Hymne identifizieren? Und es reicht nicht aus, das Wappen zu ändern! Mit einer Regierungspartei wie der verrotteten, autoritären und diskreditierten PP, die sich selbst als Nachfolgerin des Franquismus sieht, kann sich niemand mit diesem Staat identifizieren, außer den Nachkommen und Nutznießern der Sieger des Krieges, den Meseteños2, die der Verödung des Zentrums der Halbinsel, der extremen Rechten und den Faschisten ausgeliefert sind.
Hier herrschte ein blutiger Bürgerkrieg, dessen Wunden noch nicht verheilt sind. Ob es uns gefällt oder nicht, die Abneigung gegen diesen Staat und das franquistische und autoritäre Erbe ist für viele Spanier und für fast alle Katalanen unüberwindbar. Und die Straffreiheit der weit verbreiteten, tief verwurzelten Korruption, die die politischen Parteien des derzeitigen monarchischen Regimes umfasst, verstärkt das Misstrauen des einfachen Spaniers gegenüber seinem Parlament, seiner Regierung und seinem Staat, d.h. gegenüber dem Bourbonen-Regime, dem Erbe des Franco-Regimes.
Hier hat man sich noch nicht zwischen Monarchie und Republik entschieden. Der Bruch mit dem Faschismus und dem Franquismus steht trotz seiner Dringlichkeit noch aus, und er ist nach wie vor unerlässlich. Die veraltete Falange ist immer noch eine legale Schlägerbande, die sich mit dem Namen einer politischen Partei schmückt! Kann sich das jemand in Deutschland oder Italien bei den Nazis oder den Faschisten vorstellen? Die aus öffentlichen Mitteln finanzierte Francisco-Franco-Stiftung soll den von Franco 40 Jahre lang praktizierten Staatsterrorismus verherrlichen. Kann sich jemand eine Hitler- oder Mussolini-Stiftung in Deutschland oder Italien vorstellen?
Der Transición3 wurde unter der ausdrücklichen Drohung von Francos Armee und der extremen Rechten durchgeführt, einen blutigen Staatsstreich zu veranstalten, wenn die Antifranquisten nicht zur Vernunft kämen. Der 23 F war ein Beispiel und gleichzeitig eine dumme Parodie auf den Staatsstreich von Primo de Rivera im Jahr 1923.
Die französische, britische oder italienische Geschichte und ihr gegenwärtiges politisches Gefüge und Leben weisen nicht die schrecklichen Bedingungen auf, die im spanischen Staat aufgrund des schweren franquistischen Erbes herrschen, mit dem nie gebrochen wurde. So sieht es aus!
Die Regierung der Generalitat wurde festgelegt, bevor die Verfassung von 1978 genehmigt wurde. Josep Tarradellas war der einzige im Exil Lebende, dem die Transición das Amt, das er im Exil innehatte, anerkannte: Präsident der Generalitat von Katalonien.
Die Generation die im Postfranquismus geboren wurde, hat die Angst vor dem Staat, der Polizei und der Armee verloren, eine Angst, die für frühere Generationen zur zweiten Natur geworden war.
Der katalanische Nationalismus in der Autonomen Gemeinschaft Katalonien genießt die Sympathie der Mittelklasse und der Freiberufler, da sie sich als Opposition zum franquistischen Zentralstaat präsentiert.
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1.3 Der politische Begriff der freien Selbstbestimmung der Völker
Der Begriff leitet sich von der komplexen und fremden, aber mächtigen Idee der Nation ab, die im 19. Jahrhundert gefestigt und im 20. Jahrhundert durch den Prozess der Entkolonialisierung verallgemeinert wurde. Das Recht auf Selbstbestimmung muss auch in einem evolutionären und konzeptionellen Zusammenhang mit der politischen Vorstellung von Unabhängigkeit gesehen werden, die durch die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika (1776) und den darauf folgenden Spanisch-Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1809-1824) entstanden ist.
Im 19. Jahrhundert betonten liberale politische Gräben wie die Monroe-Doktrin von 1823 (Amerika für die Amerikaner) und die Drago-Doktrin von 1902 (Staatsverschuldung rechtfertigt keine ausländische Intervention) die Illegitimität von Interventionen europäischer Mächte gegen neu unabhängige Nationen. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Gründung des Völkerbundes gewann das Prinzip an Bedeutung und wurde von so unterschiedlichen Positionen wie Liberalismus, Marxismus-Leninismus, Sozialismus und Nationalismus unterstützt.
Im Jahr 1918 entwickelte US-Präsident Woodrow Wilson in einer Rede vor dem Kongress als erster das Prinzip des Rechts der Nationen auf Selbstbestimmung, das den Wiederaufbau Europas leiten und neue Kriege verhindern sollte. Es war ein notwendiges Konzept, um nach dem Ersten Weltkrieg mit der Zerschlagung der überholten und veralteten mitteleuropäischen Reiche fortzufahren: des Deutschen Reiches, Österreich-Ungarns, des Russischen Reiches und des Osmanischen Reiches. Eine solche politische Philosophie trug dazu bei, die Grenzen Osteuropas und des Balkans zu ziehen, trotz gewisser Widersprüche bei ihrer praktischen Umsetzung. Sie führte zur Entstehung der Tschechoslowakei und Jugoslawiens und zum Wiederaufleben Polens sowie zu wichtigen Grenzveränderungen wie der Ausdehnung des Territoriums Rumäniens und Griechenlands oder der Konsolidierung eines modernen Nationalstaats in der heutigen Türkei, die den Untergang des Osmanischen Reichs besiegelte. Die territorialen Veränderungen wurden jedoch in vielen Fällen durch Geheimverträge, historische Ansprüche oder ökonomische, politische und geostrategische Interessen begünstigt, und nur zwölf Volksabstimmungen wurden in den von den Siegermächten nicht beanspruchten Gebieten durchgeführt. Das Prinzip der Selbstbestimmung beeinflusste auch die Ausgestaltung des Völkerbundes.
Lenin hat sich auch das Wilson’sche Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Nationen, verstanden als das Recht auf Sezession, auf sehr opportunistische Weise zu eigen gemacht, wenngleich er es abstrakt dem Klassenkampf unterordnete. Das war eine geeignete Taktik, um den zaristischen Imperialismus zu schwächen. Als die Bolschewiki nach der Oktoberrevolution (1917) an die Macht kamen, wurde dieses erwähnte Prinzip in der Erklärung der Rechte der Völker Russlands (November 1917) offiziell verkündet. Die Sowjets erkannten auch die Unabhängigkeit Finnlands an. Es war Stalin, der sich auf die Nationalitätenfrage spezialisierte, und es war Stalin, der das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker vertiefte und verbreitete. Das war eine stalinistische Errungenschaft (A.d.Ü., im Sinne einer Eroberung).
Die Verfassung der Sowjetunion von 1924 war die erste in der Welt, die dieses Recht (theoretisch, aber nicht in der Praxis) für ihre Republiken, nicht aber für die autonomen Regionen anerkannte.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewann das Prinzip der Selbstbestimmung zunehmend an Bedeutung. Trotz allem sorgte die verbleibende Macht der europäischen Kolonialmächte dafür, dass ihr jeglicher rechtlicher Wert negiert wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das freie Recht der Völker auf Selbstbestimmung zu einem Rechtsprinzip des internationalen Rechts. Mit der Gründung der Vereinten Nationen (UN) fielen viele Einschränkungen des Selbstbestimmungsrechts weg.
Die UN-Charta wurde am 26. Juni 1945 unterzeichnet. In ihrem ersten Artikel erkannte sie den Grundsatz die „freie Selbstbestimmung der Völker“ zusammen mit dem Grundsatz der „Gleichberechtigung“ als Grundlage der internationalen Ordnung an, wobei sie sich an der Behandlung inspirierte, die den Kolonialgebieten bald zuteil werden sollte.
Die mächtigsten Mächte akzeptierten „den Grundsatz, dass die Interessen der Bewohner dieser Gebiete an erster Stelle stehen“, aber das Ziel war die Selbstregierung, nicht die Unabhängigkeit. Außerdem gab es kaum eine andere Kontrolle über die Staaten als die Pflicht, dem UN-Generalsekretär über die „ökonomischen, sozialen und bildungspolitischen „ Bedingungen der kolonisierten Völker zu berichten.
Ziel dieser Regelung war es, den bestehenden Kolonien aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg die Möglichkeit zu geben, über ihre Zukunft zu entscheiden: die meisten Völker der Welt waren zu dieser Zeit dem Kolonialismus unterworfen, und ihnen wurde das Selbstbestimmungsrecht negiert. Auf der Konferenz von San Francisco wurde jedoch weder die sofortige Abschaffung der Kolonialherrschaft in Erwägung gezogen, noch wurden die Unklarheiten im Zusammenhang mit dem Prinzip der Selbstbestimmungsfreiheit beseitigt. Es war die Kraft der Ereignisse, die eine Interpretation festigte, die einen radikalen Wandel in der internationalen Gesellschaft markierte. Es dauerte nicht lange, bis in Asien und Afrika nationale Befreiungsbewegungen und Kriege aufkamen. Zunächst mit der unerwarteten Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1947, dann mit der Unabhängigkeitserklärung Vietnams von Frankreich im Jahr 1954, die den Indochina-Krieg auslöste.
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Die Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen waren maßgeblich an der Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts beteiligt. Im Jahr 1960 setzten die afrikanischen und asiatischen Staaten, die seit 1945 ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, in der UN-Generalversammlung ihre Mehrheit gegenüber den Kolonialmächten durch. Am 14. Dezember 1960 nahm die Vollversammlung eine Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker an, die als „Magna Carta der Entkolonialisierung“ bekannt ist. Es gab keine Gegenstimmen, aber neun Länder, darunter die großen Kolonialmächte, enthielten sich der Stimme. In der Erklärung wurde der Kolonialismus verurteilt und erklärt, dass alle Völker das Recht auf Selbstbestimmung haben, ein Recht, das durch Befragung des Volkes, durch ein Referendum oder eine Volksabstimmung ausgeübt werden muss.
Eine solche Verkündigung löste große Kontroversen aus. Die Interessen der Kolonialmächte und der Länder der Dritten Welt kollidierten, hinzu kam die Spannung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und der territorialen Integrität der Staaten. In der Resolution 1514 wurde bekräftigt, dass jeder Versuch, die nationale Einheit zu untergraben, mit der UN-Charta unvereinbar ist, so dass festgelegt werden musste, wie die beiden Grundsätze miteinander in Einklang zu bringen sind. Die zentrale Frage war die Bestimmung der Rechtsträger, die sich auf das Selbstbestimmungsrecht berufen können.
Am darauffolgenden Tag wurde die Resolution 1541 vom 15. Dezember 1960 verkündet, in der diese Fragen näher erläutert wurden. Es wurde zwar bekräftigt, dass die indigene Bevölkerung ihren Willen frei äußern muss, aber es wurde klargestellt, dass dieser Wille nicht immer zur Gründung eines neuen souveränen Staates führen muss. Die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts kann zur Unabhängigkeit, zur freien Assoziation oder zur Integration in einen anderen Staat führen. Darüber hinaus wurde in der Resolution 1541 festgelegt, welche Völker Anspruch auf das Selbstbestimmungsrecht haben, und zwar auf der Grundlage von zwei grundlegenden Kriterien: dem Vorhandensein ethnischer und kultureller Unterschiede und der geografischen Trennung zwischen der Kolonie und der Metropole. Diese Anforderung der territorialen Trennung bedeutete, dass das Selbstbestimmungsrecht nur für Völker anerkannt wurde, die in Übersee-Kolonialgebieten lebten, während Situationen des internen Kolonialismus ausgeschlossen waren. Trotz dieser Einschränkung gaben die angenommenen Resolutionen dem Entkolonialisierungsprozess, der zur endgültigen Auflösung der europäischen Kolonialreiche führte, neuen Auftrieb. In den 1960er Jahren verbreiteten sich blutige Revolten und nationale Befreiungskriege: Kamerun, Algerien, Kongo, Vietnam, Kenia, Angola, Tansania, Sambia, Malawi, Uganda, Ruanda usw., die in den meisten Fällen mit der Niederlage der europäischen Mächte endeten und die die Vereinten Nationen dazu veranlassten, 1966 die Internationalen Menschenrechtspakte zu vereinbaren und einen weltweiten Entkolonialisierungsprozess förmlich zu fördern.
Das Konzept der Selbstbestimmung der Völker ist also ein liberales und marxistisch-leninistisches Konzept, das bei Anarchisten oder Anarchosyndikalisten nie Fuß gefasst hat. Ein solches Prinzip ist der anarchistischen Theorie völlig fremd, die die Idee der Freien Kommune und ihrer solidarischen Föderation vorschlägt. Die Verteidigung und Anmaßung des Selbstbestimmungsrechts durch Organisationen, die sich als anarchistisch bezeichnen und verstehen, ist nicht nur ein Fehler, sondern ein Irrweg und eine Inkohärenz.
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Daher:
1. Der Staat ist die ORGANISATION der politischen Herrschaft, des permanenten Zwangs und der ökonomischen Ausbeutung des Proletariats durch das Kapital.
2. Nationalismus ist eine politische IDEOLOGIE und manchmal eine soziopolitische Bewegung, die fast immer einen bourgeoisen Charakter hat.
3. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist ein KONZEPT und eine politische TAKTIK, die von Wilson befürwortet, von Lenin übernommen und im Prozess der Entkolonialisierung in den 1960er und 1970er Jahren angewandt wurde.
Kein Staat, keine Nation, kein Recht auf Selbstbestimmung. Die Emanzipation der Arbeiter von der kapitalistischen Ausbeutung wird das Werk der Arbeiter selbst sein oder sie wird nicht sein. Der Kampf unter fremden Fahnen, in Schlachten, die nicht die eigenen sind, kann das Proletariat nur in Kanonenfutter für die Bourgeoisie verwandeln. Schwarz ist die Negation aller Farben, d.h. aller Flaggen (auch der eigenen) und aller Nationalismen.
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2. Auf der Straße
Anfang September 2017 warben verschiedene Organisationen der CUP für die Bildung von Komitees zur Verteidigung des Referendums (CDR Comités de Defensa del Referéndum) in verschiedenen Vierteln Barcelonas und in verschiedenen katalanischen Städten. Sie waren maßgeblich an dem Katz-und-Maus-Spiel zwischen der Regierung Rajoy und der Regierung der Generalitat beteiligt, bei dem es darum ging, Wahlzettel, Zählungen und Wahlurnen zu verstecken oder zu finden. Ihre erste große Aktion war die Massendemonstration/Kundgebung, die sie am 20. September vor dem Sitz des Wirtschaftsrates an der Rambla de Cataluña, Ecke Gran Vía, organisierten, um die Guardia Civil an der Durchsuchung des Sitzes des Wirtschaftsministeriums zu hindern. Am Ende waren es die Mossos de Escuadra, die den Abzug der Guardia Civil und des Gerichtssekretärs ermöglichten. Die Unabhängigkeitsbewegung hatte einen enormen Erfolg erzielt. Die Kräfte der Nationalpolizei und der Guardia Civil waren überwältigt worden. Die nationalistischen Kräfte hatten gezeigt, dass sie in der Lage waren, das Gebiet zu kontrollieren.
Die Regierung Rajoy erklärte wiederholt, dass es keine Volksabstimmung geben werde. Die CDRs schlossen sich mit den AMPAs (Asociaciones de Padres y Madres de Alumnos – Assoziationen von Vätern und Müttern von Schülern) und über diese mit den zahlreichen Nachbarschaftsvereinigungen zusammen, um Schulen und Institute in Wahllokale zu verwandeln. Viele Schulen wurden in der Nacht zum Samstag von den AMPAs besetzt, um zu verhindern, dass sie von den Polizeikräften übernommen werden. Die Eltern organisierten Freizeitaktivitäten mit ihren Kindern und blieben am Sonntag, dem 1. Oktober, nach der Wahl in den verschiedenen Wahllokalen, um die Wahlurnen zu verteidigen und zu verhindern, dass sie von den „Ordnungskräften“ entwendet werden. Die Verteidigungskomitees (comités de defensa) organisierten und verteilten die verfügbaren Personen, um zu verhindern, dass die Wahllokale mit geringer Wahlbeteiligung leicht von der Polizei gestürmt werden konnten. Die brutalen Angriffe der Polizei in vielen Schulen führten zu zahlreichen Verletzungen sowohl bei jungen als auch bei älteren Menschen. Die grausamen Szenen wurden live im Radio und Fernsehen übertragen und zogen die Solidarität der Menschen auf sich, die entweder gegen die Unabhängigkeit waren oder nicht vorhatten, zu wählen. Die unnötige Zerstörung und der materielle Schaden an den Schulen wurde als irrationaler Angriff auf die Bevölkerung empfunden. Die nachbarschaftliche Solidarität und die Verteidigung der demokratischen Grundrechte machten die Wahlbeteiligung zu einem Erfolg. Zwischen den Nachbarn entstand ein besonderer Zauber in den sozialen und persönlichen Beziehungen. Die Volksabstimmung wurde Realität, mit allen Unregelmäßigkeiten und Mängeln, die man sich nur wünschen kann; aber sie besiegten die Regierung Rajoy mit ihrem kategorischen Verbot der Volksabstimmung. Der 1. Oktober war ein populärer Erfolg über den Staat und seine schlimmsten franquistischen Ticks. Es war auch ein durchschlagender internationaler Misserfolg für die Regierung Rajoy. Außerdem ist es der Unabhängigkeitsbewegung gelungen, ihre Basis in der Bevölkerung und bei den Wählern zu verbreitern.
Am 3. Oktober wurden ein Generalstreik und ein landesweiter Streik ausgerufen, an denen sich kleinere Gewerkschaften/Syndikate, Verteidigungskomitees, Geschäftsleute, verschiedene Verbände und die Regierung beteiligten. Die Demonstrationen/Kundgebungen erreichten eine bisher unbekannte Zahl und waren ein voller Erfolg. Die Polizeigewalt der Rajoy-Regierung am 1. Oktober hatte es geschafft, bei der Demonstration am 3. Oktober Separatisten und Nicht-Separatisten sowie gleichgültige und rechtsgerichtete Wähler zu vereinen.
Mit der Zerschlagung von Schulen und Schlagstockschlägen gegen friedliche Menschen, die ihre demokratischen Rechte wahrnehmen, wurde das Undenkbare erreicht. Der 1. und 3. Oktober sind unauslöschliche Daten, die alles verändert haben: es gibt ein Vorher und ein Nachher. Die Komitees zur Verteidigung des Referendums (CDR, Comités de Defensa del Referéndum) waren zu Komitees zur Verteidigung der Republik (CDR, Comités de Defensa de la República) geworden. Die Vollversammlungen, die diese CDRs seither zwei- bis dreimal pro Woche abhalten, sind eine neue offene Basisbewegung, in der die Unabhängigkeit zweifellos vorherrscht. Aber wenn die Menschen in der Nachbarschaft von Solidarität und der „Magie“ sprechen, die jetzt ihr Leben und ihre persönlichen Beziehungen zu ihren Nachbarn durchdringt, dann ist das ein Zeichen dafür, dass etwas Wichtiges geschehen ist, das nur sehr schwer zu überwinden oder umzukehren sein wird. Und die Libertären sind verschwunden, oder schlimmer noch, sie haben sich der nationalistischen Flut angeschlossen.
Es stimmt, dass es keine proletarische oder revolutionäre Alternative gibt. Die CDR sind jedoch eine neue Bewegung, die sich in ihren Anfängen befindet, in einem anfänglichen Koordinierungsprozess, und die in Richtung einer Massenbewegung für die Unabhängigkeit abdriften oder eine autonome populäre Bewegung und eine populäre Bewegung für Forderungen werden kann. Alles ist noch zu tun und zu entscheiden.
Aber es wird nicht nur für die Unabhängigkeit gekämpft. Es handelt sich auch um eine Konfrontation mit dem franquistischen und autoritären Erbe der Regierung Rajoy, die sich in einem entschlossenen und friedlichen Kampf für die grundlegenden demokratischen Rechte der Meinungsäußerung, der Vereinigung, der Demonstration und der Verteidigung der Grundfreiheiten niederschlägt, die nur durch deren Ausübung gewährleistet werden können. Auch heute noch muss das Recht der Familien, die Gebeine der während des Bürgerkriegs in den Gräben4 Ermordeten zu bestatten, eingefordert werden. Die unerträgliche Korruption, sowohl in Spanien als auch in Katalonien, ist strukturell. Das Regime von 1978 ist ausgelaufen. Auch aus kapitalistischer Sicht ist eine neue Verfassung notwendig, um den Platz Kataloniens im Staat zu lösen.
Die Realitätsverweigerung, der Autoritarismus und die Unnachgiebigkeit der Regierung Rajoy in der Frage Kataloniens, die Brandkatastrophe in Galicien oder die Unruhen in Murcia wegen der AVE-Bauarbeiten (A.d.Ü., Hochgeschwindigkeitszüge) zeigen eine katastrophale Verschlechterung der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft, die nur dann zu einem traumatischen Regimewechsel führen kann, wenn die multinationalen Unternehmen ihre Zustimmung geben. Ein ernüchterndes Massaker, das allen streitenden Ländern Märtyrer und Helden beschert, ist nicht auszuschließen, entweder weil jemand die Nerven verliert oder die Entscheidung trifft, nicht vor einem laufenden Terroranschlag zu warnen.
Die Nicht-Erklärung der Unabhängigkeit am 10. Oktober wird von vielen in den Vollversammlungen der CDRs bereits als „Verrat“ betrachtet und diskutiert, bei dem die populären Mobilisierungen eine Tauschrolle für einen Pakt zwischen den Eliten spielen. Die Taktik von Artur Mas, Pakte zu schließen, ist bekannt: den Konflikt auf der Straße so weit wie möglich auszutragen, um dem Gegner die eigene Verhandlungsfähigkeit am Tisch zu zeigen.
Am 17. Oktober 2017, nach der Verhaftung der Unabhängigkeitsbefürworter Jordi Cuixart und Jordi Sánchez, den Präsidenten der Nationalversammlung von Katalonien und des Ómnium Cultural, haben die Unabhängigkeitsbefürworter und die katalanische Regierung schnell darauf hingewiesen, dass es in Spanien wieder politische Gefangene gibt5, die zweifellos eines Tages als Druckmittel dienen werden, um Straffreiheit für die mehr als tausend wegen Korruption angeklagten PP-Beamten oder die endgültige Einstellung der Verfahren gegen Jordi Pujol, Millet und viele andere zu erreichen.
Aber es ist falsch zu sagen, dass es vorher keine politischen Gefangenen gab: da sind die Anarchisten, die wegen des Falles Pandora verhaftet wurden; da sind die acht jungen Leute, die wegen des Protestes verhaftet (und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt) wurden, der am 15. Juni 2011 das katalanische Parlament umzingelte, um zu verhindern, dass die von Artur Mas geführte Regierung übermäßige Kürzungen im Gesundheits- und Bildungswesen beschließt. Es handelte sich in der Tat um politische Gefangene: wer erinnert sich an sie und wer erinnert sich an uns? Kurzfristig scheint die Anwendung von Artikel 155 der Verfassung und die Einschaltung der Regierung der Generalitat durch die Regierung Rajoy unmittelbar bevorzustehen und unabänderlich zu sein, ebenso wie die Ausrufung von Wahlen in Katalonien. All dies unabhängig davon, ob die komische „Aussetzung“ der Unabhängigkeit aufgehoben wird oder nicht.
Wie der katalanische Arbeitgeberverband vorschlägt, könnte alles mittelfristig (etwa 18 Monate) mit einer großspurigen und unentgeltlichen Erklärung Kataloniens zur Nation, einer Verfassungsreform und einem neuen Statut enden; oder, wenn nötig, mit der neuen katalanischen und spanischen Republik, mit erweiterten katalanischen Kompetenzen in Ökonomie/Finanzen und dem Schutz von Bildung und Kultur. Außerdem wird es den katalanischen Sportmannschaften die Teilnahme an internationalen Wettbewerben ermöglichen. Und all diese „Eroberungen“ werden schließlich mit einer Generalamnestie gefeiert, die alle Korrupten aller konkurrierenden Vaterländer zufrieden stellen wird. Republik durch Bourbon oder ein Neubeginn für den globalen Kapitalismus.
Die Teilnahme an bestimmten sozialen Bewegungen erfordert starke und gut ausgebildete Organisationen mit soliden und unerschütterlichen Prinzipien. Diese Intervention muss immer mit dem eigenen Programm und den geeigneten Kampfmethoden erfolgen, ohne jemals auf die Kritik am Patriotismus, an seinen Farcen und Manövern sowie an den mafiösen Zielen der Bourgeoisie, sei sie spanisch oder katalanisch, zu verzichten. Ohne diese scharfe, präzise und lahme Kritik läuft man Gefahr, sich zu verwirren, mit den nationalistischen Forderungen zu verschmelzen und sich ihnen anzuschließen, die immer fremd und erniedrigend sind, und dabei seine eigene Persönlichkeit und seine Ziele zu verlieren. Wir sind am Tiefpunkt angelangt. Die Riffe des Nationalismus können viele Segler zum Schiffbruch bringen, wenn sie nicht wissen, wie sie sie überwinden oder umgehen können.
Das Entstehen von Verteidigungskomitees, zunächst des Referendums und dann der Republik, als basisdemokratische Organisationsmodelle jenseits der Parteien, in denen auf der Agora diskutiert und über alles entschieden wird, ist ermutigend. Das ist die schwierige Herausforderung des kommenden Sturms. Es ist besser, Schiffbruch zu erleiden, als in einem unbefleckten Elfenbeinturm zu verharren, als Hüter der unantastbaren, unverfälschten und reinen Dogmen der „unfehlbaren“ Doktrin! Aber wenn der Schiffbruch zu massiv und offensichtlich ist, wer wird sie dann retten?
Barcelona, 18. Oktober 2017
1A.d.Ü., als tercermundismo (Englisch Third-Worldism, Italienisch Terzomondismo) wird die Ideologie genannt, die behauptet dass Träger der Revolution nur jene Menschen sind die im Trikont, also in der sogenannten Dritten Welt, leben, da dass Proletariat in der Metropole (also in der Ersten Welt) vom Kapitalismus bestochen sei (durch den Wohlfahrtstaat z.B., was aber auf Kosten des Proletariats im Trikont getragen werden würde) und aufgrund dieser, sei es korrumpiert und kein Agent mehr der sozialen Revolution. Dieser Kampf richtet sich daher primär gegen alle imperialistischen Mächte, was in den 1960er bedeutete gegen die USA/NATO, aber auch gegen die UdSSR, was den Ideen von Mao sehr viel Zulauf brachte. In der Regel haben im deutschsprachigem Raum sowas am meisten antiimperialistische Gruppen und Personen verteidigt.
2A.d.Ü., die die auf der Meseta leben, also auf der Hochebene im Zentrum der iberischen Halbinsel die den Namen, iberische Meseta, trägt.
3A.d.Ü., die Transición ist die „Übergangsphase“ im spanischen Staat vom Franquismus zu einer parlamentarischen Monarchie.
4A.d.Ü., im Originaltext ist die Rede von cuneta was ein Straßengraben ist. Die Massenerschießungen die von 1936 bis in die 1950er andauerten, die repressivste Phase bis Anfang der 1940er, auch genannt als paseos, Spaziergänge, wurden ohne jede Heimlichkeit durchgeführt und meistens eben am Straßenrand, was bis heute sich als Spruch im Spanischen durchgesetzt hat
5A.d.Ü., wir lehnen die Kategorisierung von Gefangenen in politischen und konsequenter in unpolitischen, welche in der Regel als soziale Gefangene bezeichnet werden. Nicht desto trotz als Ergänzung, nicht nur dass es Anarchistinnen und Anarchisten gab die im Knast saßen und es immer noch tun, es sind im spanischen Staat immer noch unzählige Mitglieder bewaffneter Gruppen wie ETA und GRAPO, sowie der Partei PCE(r), inhaftiert.