Anarchismus und der nationale Befreiungskampf (1976), von Alfredo Maria Bonanno

Einleitung der Soligruppe für Gefangene

In unserer Reihe zu Staat-Nation und Anarchismus haben wir den Text Anarchismus und der nationale Befreiungskampf aus dem Jahr 1976 von Alfredo Bonanno übersetzt, der 1976 von Bratach Dubh Edition unter dem Titel Anarchism and the National Liberation Struggle auf englisch veröffentlicht worden ist. Wir haben uns entschieden diesen Text zu veröffentlichen, auch wenn wir ihn nicht für einen der gelungensten Texte von Bonanno halten, da er dennoch einen wichtigen Beitrag zur Debatte des Verhältnisses und Verhaltens zu nationalen Befreiungskämpfen darstellt, demzufolge Nationalismus und Nation, und eine gute Grundlage zu Diskussionen bezüglich dieser Frage, zusammen mit den beiden anderen von uns veröffentlichten Texten zu dieser Thematik, bietet. Auch wenn oder gerade weil die Frage, wie sich Anarchisten und Anarchistinnen in Bezug auf sogenannte Befreiungskämpfe verhalten sollten, immer noch aktuell ist und immer wieder auftauchen wird, siehe beispielsweise Rojava oder Katalonien, sollte der folgende Text durchaus auch in Rücksicht auf die historischen Gegebenheiten seiner Entstehungszeit gelesen werden und zwar in den siebzigern des letzten Jahrhunderts als die nationalen Befreiungskämpfe in Europa, beispielsweise in den Regionen Nordirland und des Baskenlandes, erbittert und in einer krassen Intensität geführt wurden. Dabei zeigt sich in dem Text eine ambivalente Haltung zur Frage der Unterstützung nationaler Befreiungskämpfe, die zwar am Ende bejaht wird zuvor aber mit vielen abers und Bedingungen, was die eigentlichen Ziele anbelangt eingeschränkt wird. Einverstanden sind wir auch nicht mit dem im Text positiv dargestellten Aspekt der Zusammenhalt erzeugenden Ethnie. Auch wenn wir die Existenz von so etwas wie Ethnien, die eine Verbindung zwischen Menschen schaffen, die über dieselbe regionale Herkunft verfügen, nicht unbedingt leugnen wollen, haben wir doch ein Problem damit, wenn diese als Basis für Zusammenhalt und Kämpfe, die immer Befreiungskämpfe vom Joch des Kapitalismus sein sollten, dienen sollen, wo doch viel mehr der Klassenantagonismus zwischen Besitzenden und Besitzlosen, Regierenden und Regierten, Bourgeoisie und Proletariat und das daraus folgende Klassenbewusstsein Grundlage der Solidarität und des gemeinsamen Kampfes ist. Das es bei den sogenannten nationalen Befreiungskämpfen für Anarchisten und Anarchistinnen letztendlich immer um die Zerstörung des Kapitalismus und des Staates gehen sollte und nicht um die Schaffung neuer kleinerer kapitalistischer Staaten, die sich nationalistisch legitimieren, wird im Text zwar deutlich, aber unserer Ansicht nach leider auch nicht deutlich genug.



Anarchismus und der nationale Befreiungskampf (1976), von Alfredo Maria Bonanno

Einführung zur Bratach Dubh Edition 1976

von Jean Weir

Die Anarchisten neigen dazu, das Problem des nationalen Befreiungskampfes zu scheuen oder es aufgrund ihrer internationalistischen Prinzipien ganz abzulehnen.

Wenn Internationalismus nicht nur bedeutungslose Rhetorik sein soll, muss er die Solidarität zwischen dem Proletariat verschiedener Länder oder Nationen beinhalten. Dies ist ein konkreter Begriff. Wenn es eine Revolution gibt, dann wird sie wie in der Vergangenheit in einem bestimmten geografischen Gebiet stattfinden. Inwieweit sie dort verbleibt, hängt direkt mit dem Ausmaß dieses Internationalismus zusammen, sowohl in Bezug auf die Solidarität als auch auf die Ausbreitung der Revolution selbst.

Der „Patriotismus“ der Menschen ist auf einer grundlegenden, unverfälschten Ebene der Kampf für die eigene Autonomie, ein natürlicher Drang, ein „Produkt des Lebens einer sozialen Gruppe, die durch Bande echter Solidarität vereint und noch nicht durch Reflexion oder durch die Wirkung ökonomischer und politischer Interessen sowie religiöser Abstraktionen geschwächt ist“. (Bakunin) So wie der Staat eine antihumane Konstruktion ist, so ist auch der Nationalismus ein Konzept, das den Klassenkampf, den es überall im Kapitalismus (überall auf der Welt) gibt, überwinden und vereiteln soll. Wenn die Bemühungen der Menschen, die in dem sozialen und ökonomischen Ferment dessen leben, was unter dem Namen der nationalen Befreiung geschieht, ihren Anführern überlassen werden, riskieren sie, dass es ihnen nicht besser geht als vorher und sie in Mikro-Unternehmensstaaten unter der für sie gewählten Flagge leben. Der Antiimperialismus kann den lokalen Korporatismus1 verdecken, wenn der Kampf nicht sowohl auf mikro- als auch auf makroskopischer Ebene in Klassenbegriffe gefasst wird. Wie der folgende Artikel zeigt, sind sich viele der marxistischen Gruppen, die sich in nationalen Befreiungskämpfen engagieren, in diesem Punkt nicht allzu klar.

Der Artikel von Alfredo Bonanno wurde als Antwort auf eine reale Situation geschrieben, nämlich die in Italien und insbesondere in Sizilien. Gegenwärtig wird in diesem Land, in dem der ökonomische und politische Zerfall weit fortgeschritten ist, das schwächste Glied (Sizilien) mit Propaganda und Aktionen bedrängt, die darauf abzielen, einen Spannungszustand zu erzeugen, um die wackeligen Grundlagen für eine separatistische Lösung zu schaffen. Diese Lösung, ein separater sizilianischer Staat, wird von den Kräften der Rechten, d.h. den Faschisten, vorgeschlagen, die ein enges Arbeitsbündnis mit der Mafia eingegangen sind, die gemeinsam über die CIA willige Diener der amerikanischen Interessen sind. Jede Partei hat ihre eigenen Interessen, die sie durchsetzen und schützen will: Die Mafia würde Zugang zu politischen Kontakten und Möglichkeiten für Finanztransaktionen erhalten, die Amerikaner würden ihren Einfluss auf eine Ökonomie behalten, die derzeit nach Lösungen bei der Kommunistischen Partei sucht, und einen strategischen Stützpunkt im Mittelmeerraum beibehalten, und die Faschisten würden, sobald sie an der Macht sind, an Glaubwürdigkeit gewinnen, was es ihnen ermöglichen würde, ihre Macht nach Norden auszuweiten.

Natürlich würde das sizilianische Proletariat den Preis für diese Lösung der Probleme des Landes zahlen, so wie es bisher mit Schweiß und Blut für die Entwicklung des Nordens bezahlt hat und billige Arbeitskräfte für die deutsche und schweizerische Ökonomie lieferte. Diese Situation kann nicht als irrelevant für Revolutionäre abgetan werden, nur weil sie, wenn sie die internationale Öffentlichkeit erreicht, als nationalistischer Kampf maskiert wird. Die grundlegende Wahrheit der sizilianischen Realität ist ein superausgebeutetes Proletariat, dessen einzige Lösung im bewaffneten Kampf für die Autonomie der Arbeiter durch ein föderales oder kollektivistisches System der Produktion und des Austauschs gesucht werden kann.

Um uns der Sache zu nähern, bieten sich sofort zwei Situationen an: die erste, Irland, das man gerne als zu kompliziert ausklammert oder bedingungslos als antiimperialistischen Krieg unterstützt. Dieser Antiimperialismus muss geklärt werden. Dass das irische Proletariat niemals sein eigenes Leben führen wird, solange britische Soldaten dessen Land besetzen, ist eine Tatsache. Aber ein interner Beherrscher, ob Republikaner oder nicht, mit eigener Armee oder eigenem Staatsapparat, wäre nicht weniger ein Hindernis. Es ist eine Tatsache, dass die Saat der Revolution, die immer mit nationaler Unabhängigkeit verbunden war, in Irland vorhanden ist, aber diese Tatsache wird ständig von denjenigen verzerrt, die ein Interesse daran haben, rassische und religiöse Unterschiede für ihre Zwecke zu nutzen. Nur durch revolutionäre ökonomische und soziale Veränderungen, durch die autonomen Aktionen der irischen Ausgebeuteten als Ganzes, unterstützt von den Ausgebeuteten Großbritanniens und der übrigen Welt, werden ethnische Unterschiede neu dimensioniert und überstrukturelle Phantasien zerstört werden. Den Medien, die davon leben, den Hass auf irrationale Themen zu schüren, müssen Gegeninformationen entgegengesetzt werden. Die ökonomischen Grundlagen dieser irrationalen Probleme sollten der Welt offengelegt werden, und ökonomische Lösungen sollten durch direkte Aktionen erarbeitet werden, um Produktion, Verteilung und Verteidigung in die Hände der Menschen selbst zu legen.

In Schottland hat das Großkapital neue Wurzeln geschlagen, und das nationalistische Argument erweist sich als wirksam, um die Arbeiter dazu zu bringen, sich für das falsche Ziel des „Aufbaus der nationalen Ökonomie“ und der „Eindämmung der Inflation“ durch „Unabhängigkeit von Whitehall“ zu opfern. Multinationale Interessen können in kleineren, zentralisierten und voneinander abhängigen Staaten besser gedeihen als in dem alten Konzept der mächtigen Nation. Auf gesellschaftlicher Ebene geht es immer auch um persönliche (ökonomische und Status-) Interessen: So bedeutet die Wiederbelebung der Sprache oft die Möglichkeit einer neuen lokalen Elite, die sich in den Medien, im Bildungswesen usw. engagiert.

Gleichzeitig ist es leicht zu verstehen, warum die Ausgebeuteten im bewusst unterentwickelten Schottland auf die Zentren des britischen Kapitalismus schauen und ihr Elend durch eine nationalistische Optik interpretieren. Die revolutionäre Arbeit, den irrationalen Nationalismus zu entlarven, sollte den grundlegenden Kampf um Identität und Selbstverwaltung nicht verachten oder ihn in ein passives Warten auf eine abstrakte Weltrevolution umlenken.

Anarchisten müssen daher daran arbeiten, die Leere der nationalen Selbstbestimmung aufzuzeigen und die korporativen Pläne von Parteien, Gewerkschaften/Syndikaten und Bossen zu durchkreuzen, indem sie den realen Kampf um Selbstaneignung identifizieren und konkret dazu beitragen. Auf dem Weg zum verallgemeinerten Aufstand/Insurrektion müssen die Sabotage- und Verteidigungstechniken in den Händen der direkt Betroffenen liegen, um die Abhängigkeit von äußeren Gruppen und deren Ideologien zu beseitigen, damit sie die Produktion und Verteilung übernehmen und ihre eigenen Gebiete auf der Grundlage des freien Föderalismus, des Kollektivismus oder beider verwalten können. Ausgehend von dieser selbstverwalteten Basis in einer Logik, in der die „Übergangsphase“ keinen Platz findet, wird die Perspektive einer größeren Föderation freier Menschen zu einer vorhersehbaren Realität.

All dies erfordert Studien und Arbeit, sowohl auf praktischer als auch auf theoretischer Ebene. Wir hoffen, dass diese Broschüre einen kleinen Beitrag zu diesem Ziel leistet.

Glasgow, Juni 1976


Anarchismus und der nationale Befreiungskampf (1976) von Alfredo Maria Bonanno

Der Anarchismus ist internationalistisch, sein Kampf beschränkt sich nicht auf eine Region oder ein Gebiet in der Welt, sondern erstreckt sich überall an der Seite des Proletariats, das für seine eigene Befreiung kämpft. Dies erfordert eine Erklärung von Prinzipien, die nicht abstrakt und vage sind, sondern konkret und klar definiert. Wir sind nicht an einem universellen Humanismus interessiert, der seinen Ursprung und seine Rechtfertigung in der französischen bourgeoisen Revolution von 1789 findet. Die Erklärung der Rechte des Menschen, ein Banner, das von allen demokratischen Regierungen, die heute an der Macht sind, geschwenkt wird, handelt von einem abstrakten Menschen, der mit dem bourgeoisen Ideal identifiziert wird.

Wir haben oft gegen einen gewissen idealistischen Anarchismus argumentiert, der von einer universellen Revolution, von Glaubensakten, von Aufklärung spricht und im Grunde den Kampf des Proletariats ablehnt und antipopulär ist. Dieser Anarchismus wird zu einem individuellen und mythologischen Humanismus ohne konkreten sozialen oder ökonomischen Inhalt. Der gesamte Planet wird als biologische Einheit betrachtet, und die Diskussionen enden in einer sterilen Vertagung auf die bestimmende Kraft der Überlegenheit des anarchistischen Ideals über alle anderen Ideale.

Wir denken im Gegenteil, dass der Mensch ein historisches Wesen ist, das in eine bestimmte historische Situation hineingeboren wird und darin lebt. Dadurch steht er in bestimmten Beziehungen zu ökonomischen, sozialen, sprachlichen, ethnischen usw. Strukturen, was wichtige Konsequenzen auf dem Gebiet der Wissenschaft, der philosophischen Reflexion und des konkreten Handelns hat. Das Problem der Nationalität ergibt sich aus dieser historischen Richtung und kann nicht aus ihr entfernt werden, ohne die Grundlagen des anarchistischen Föderalismus völlig durcheinander zu bringen.

Wie Bakunin schrieb:

„Jedes Volk, wie klein es auch sein mag, besitzt seinen eigenen Charakter, seine eigene besondere Art zu leben, zu sprechen, zu fühlen, zu denken und zu arbeiten, und dieser Charakter, seine spezifische Existenzweise, ist gerade die Grundlage ihrer Nationalität. Er ist das Ergebnis des gesamten geschichtlichen Lebens und aller Bedingungen der Umgebung dieses Volkes, eine rein natürliche und spontane Erscheinung.“

Die Grundlage des anarchistischen Föderalismus ist die Organisation der Produktion und der Verteilung der Waren, im Gegensatz zur politischen Verwaltung der Menschen. Wenn die Revolution erst einmal im Gange ist und Produktion und Verteilung kollektivistisch oder kommunistisch (oder auf verschiedene Weise je nach Bedarf und Möglichkeiten) gehandhabt werden, würde die föderale Struktur mit ihren natürlichen Grenzen die vorangegangene politische Struktur unpassend machen. Ebenso absurd wäre es, sich eine so weitreichende Grenze vorzustellen, die sich über den gesamten Planeten erstreckt. Wenn es überhaupt eine Revolution geben wird, dann eine unvollständige, und diese muss sich im Raum materialisieren. Die territorialen Grenzen werden dann nicht notwendigerweise mit den politischen Grenzen des vorangegangenen Staates übereinstimmen, der durch die Revolution zerstört wurde. In diesem Fall würde die ethnische Teilung an die Stelle der deformierenden politischen Teilung treten. Die kohäsiven Elemente der ethnischen Dimension sind genau diejenigen, die zur Identifizierung der Nationalität beitragen und die von Bakunin in der oben zitierten Passage so deutlich zum Ausdruck gebracht wurden.

Die Anarchisten lehnen das Prinzip der Diktatur des Proletariats oder die Verwaltung des Proletariats durch eine revolutionäre Minderheit unter Nutzung des ehemaligen bourgeoisen Staates ab. Sie lehnen implizit die politische Dimension des existierenden bourgeoisen Staates von dem Moment an ab, in dem die Revolution beginnt. Wir können die „Nutzung“ des Staatsapparates in einem revolutionären Sinne nicht akzeptieren, daher bleibt die vorläufige Grenze, die den frei assoziierten Strukturen gesetzt werden muss, die ethnische. In diesem Sinne sah Kropotkin die Föderation freier Menschen, die sich auf das ungefähre und unvollständige Beispiel der mittelalterlichen Kommunen stützt, als Lösung des sozialen Problems.

Aber dieses Argument hat, das muss klar sein, nichts mit Separatismus zu tun. Das wesentliche Argument, das wir hier vorbringen, ist, dass es keinen Unterschied zwischen den Ausbeutern gibt, dass die Tatsache, an einem bestimmten Ort geboren zu sein, keinen Einfluss auf die Teilung der Klassen hat. Der Feind ist derjenige, der ausbeutet, der die Produktion und Verteilung in einer kapitalistischen Dimension organisiert, auch wenn dieser Ausbeuter uns dann Landsmann, Parteigenosse oder einen anderen angenehmen Beinamen nennt. Die Teilung der Klassen beruht nach wie vor auf der Ausbeutung, die das Kapital mit allen ihm zur Verfügung stehenden ökonomischen, sozialen, kulturellen, religiösen usw. Mitteln durchsetzt, und die ethnische Basis, die wir als die Grenzen der revolutionären Föderation identifiziert haben, hat damit nichts zu tun. Eine Einheit mit den internen Ausbeutern ist unmöglich, weil es keine Einheit zwischen der Klasse der Arbeiter und der Klasse der Ausbeuter geben kann.

In diesem Sinne schreibt Rocker:

„Wir sind anational. Wir fordern das Recht der freien Entscheidung jeder Kommune, jeder Region, jedes Menschen; gerade deshalb lehnen wir die absurde Idee eines unitarischen Nationalstaates ab. Wir sind Föderalisten, d.h. Anhänger einer Föderation freier menschlicher Gruppierungen, die sich nicht voneinander trennen, sondern im Gegenteil durch natürliche, moralische und ökonomische Beziehungen auf das Engste miteinander verbunden sind. Die Einheit, die wir anstreben, ist eine kulturelle Einheit, eine Einheit, die sich auf den verschiedensten Grundlagen entwickelt, die auf Freiheit beruht und in der Lage ist, jeden deterministischen Mechanismus der gegenseitigen Beziehungen abzuwehren. Aus diesem Grund lehnen wir jeden Partikularismus und jeden Separatismus ab, hinter dem sich bestimmte Einzelinteressen verbergen … denn hier haben wir eine Ideologie, in der man die schmutzigen Interessen der kapitalistischen Gruppen erkennen kann.“

Selbst unter Anarchisten, die mit dem Problem der Nationalität konfrontiert sind, gibt es bis heute einen lebendigen Rest idealistischen Denkens.

Nicht ohne Grund schrieb der Anarchist Nido 1925,

„Die Zerstückelung eines Landes wird von vielen Revolutionären nicht als erstrebenswertes Ideal angesehen. Wie viele spanische Gefährten würden das historische Verschwinden Spaniens und seine Neuorganisation auf regionaler Basis, bestehend aus ethnischen Gruppen wie Kastilien, Basken, Galiciern, Katalanen usw., gutheißen? Würden sich die Revolutionäre in Deutschland mit einer Zerstückelung abfinden, die einer freiheitlichen Organisationsform ähnelt, die sich auf die historischen Gruppen von Bayern, Baden, Westfalen, Hannover usw. stützt? Andererseits würden diese Gefährten durchaus eine Zerstückelung des heutigen britischen Empire und eine freie und unabhängige Neuordnung seiner Kolonien in Großbritannien (Schottland, Irland, Wales) und in Übersee wünschen, was den englischen Revolutionären nicht gefallen würde! So sind die Menschen, und so sahen wir im Laufe des letzten Krieges (des 1. Weltkrieges) die Koexistenz des Begriffs der Nationalität im historischen Sinne neben den revolutionären Forderungen der Anarchisten“. (Offensichtlich in Anlehnung an Kropotkin und das Manifest der Sechzehn).

Nido bezieht sich auf einen Geisteszustand, der sich nicht sehr verändert hat. Auch heute noch unterscheiden sich die Reaktionen auf das Problem der Nationalität nicht sehr von denen, die Nido beschreibt, entweder aufgrund des Fortbestehens der aufklärerischen und freimaurerischen Ideale in einem bestimmten Teil der anarchistischen Bewegung oder aufgrund einer geistigen Trägheit, die viele Gefährten von den brennendsten Problemen ablenkt und sie in weniger unruhige Gewässer drängt.

An sich würde uns das Problem nicht viel angehen, wenn es nicht einen sehr präzisen historischen Ausgang hätte und der Mangel an Klarheit äußerst negative Auswirkungen auf viele der realen Kämpfe im Verlauf der Entwicklung hätte. Im Grunde genommen bleibt das Problem der Nationalität auf einer theoretischen Ebene, während das des Kampfes für die nationale Befreiung in der heutigen Welt immer mehr an praktischer Bedeutung gewinnt.

Anarchisten und der nationale Befreiungskampf

Der Prozess der Dekolonialisierung hat sich seit dem letzten Krieg in vielen imperialistischen Strukturen intensiviert und wirft dringend das Problem einer sozialistischen und internationalistischen Interpretation des nationalen Befreiungskampfes auf. Das Drama des palästinensischen Volkes, die Kämpfe in Irland, den baskischen Ländern, Afrika und Lateinamerika stellen das Problem mit einer bisher unbekannten Heftigkeit immer wieder neu auf.

Unterschiedliche ökonomische Formen innerhalb ein und desselben Landes bedingen eine Situation der Kolonisierung, die den Prozess der Zentralisierung garantiert. Mit anderen Worten, das Fortbestehen der kapitalistischen Produktion setzt Ungleichheiten im Entwicklungstempo voraus, um weiter bestehen zu können. Mandel schreibt dazu: „Die Ungleichheit im Entwicklungstempo zwischen verschiedenen Sektoren und verschiedenen Unternehmen ist die Ursache für die kapitalistische Expansion. Dies erklärt, wie die Ausweitung der Reproduktion fortgesetzt werden kann, bis sie den Ausschluss aller nicht-kapitalistischen Mittel erreicht. Der Mehrwert wird also durch eine zunehmende Konzentration des Kapitals realisiert“. Mandel geht auch auf die ungleiche Entwicklung zwischen den verschiedenen Bereichen eines politischen Staates ein. Das Grundprinzip des Kapitalismus besteht darin, dass er zwar ein partielles, aber niemals ein totales Gleichgewicht gewährleisten kann, d. h. er ist nicht in der Lage, ein großes Gebiet systematisch und harmonisch zu industrialisieren. Mit anderen Worten: Die regionale Kolonisierung ist keine Folge der Zentralisierung, sondern im Gegenteil eine der Voraussetzungen für die kapitalistische Entwicklung. Natürlich geht die ökonomische Zentralisierung mit der politischen Zentralisierung einher, und alle Anspielungen auf den demokratischen Zentralismus sind lediglich demagogische Formeln, die zu bestimmten historischen Momenten verwendet werden. Selbst bei oberflächlicher Betrachtung der Fakten der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion von der Einigung Italiens bis zum Ende der 60er Jahre kann man deutlich erkennen, welche Aufgaben der Staat dem Süden zugewiesen hat: die Bereitstellung von Kapital (insbesondere die Einnahmen der Emigranten, Steuern usw.), die Bereitstellung billiger Arbeitskräfte (Auswanderung in den Norden) und die Lieferung landwirtschaftlicher Produkte im Austausch gegen industrielle Produkte auf der Grundlage des kolonialen Austauschverhältnisses.

Dagegen könnte man einwenden, dass der Staat auf diese Weise zwei bourgeoise Gruppen diskriminiert: die Industriellen des Nordens und die Landbesitzer des Südens, aber um dies zu verstehen, muss man sich die unterschiedlichen Ausbeutungsmöglichkeiten zwischen einem hoch entwickelten und einem unterentwickelten Gebiet vor Augen halten. Im Süden war ein 12- bis 14-Stunden-Tag normal, während der Acht-Stunden-Tag im Norden bereits durchgesetzt war. Auf diese Weise konnten die Grundbesitzer des Südens dank der verschiedenen Vorteile eines noch mittelalterlichen Gesellschaftskonzepts weiterhin Mehrwert abschöpfen, ohne viel zu reinvestieren. So wurde die Entwicklung des Nordens durch die Ausbeutung und Versklavung des Südens gewährleistet. Die politische Herrschaft des Nordens diktierte diese Richtung, die dann den Verlauf der kapitalistischen Produktion im Allgemeinen nahm. Die Eingliederung in das italienische kapitalistische System führte zu einem Zerfall der sizilianischen Ökonomie, die in vielerlei Hinsicht einen vorkapitalistischen Charakter hat. Das Gesetz des Marktes zwang die rückständigsten Regionen, sich in das kapitalistische Basissystem zu integrieren: das ist das Phänomen der Kolonisierung, das sich sowohl in fremden Regionen oder Nationen als auch in den inneren Regionen einzelner kapitalistischer Staaten vollzieht.

Die nächste Stufe der kapitalistischen Entwicklung ist der Sprung über die nationale Grenze, die durch die Polarisierung der umliegenden Ökonomien auf den Höhepunkten der Tauschmonopolisierung geschwächt wurde. Die Kolonisierung weicht dem Imperialismus.

Die Gefährten der Front Libertaire haben zu dieser Frage Folgendes geschrieben:

„Die nationalen Befreiungsbewegungen müssen dieser Realität Rechnung tragen und dürfen sich nicht mit einer vorimperialistischen Analyse begnügen, die zu einem regionalen Dritte-Weltismus führen würde. Das würde bedeuten, dass ihr revolutionärer Kampf in der Dialektik von Kolonisator und Kolonisiertem verbleibt, während die zu erreichenden Ziele nur politische Unabhängigkeit, nationale Souveränität, regionale Autonomie usw. wären. Dies wäre eine oberflächliche Analyse, die der globalen Realität nicht Rechnung trägt. Der Feind, der von den Iren, den Bretonen, den Provenzalen usw. besiegt werden muss, ist nicht England und Frankreich, sondern die gesamte Bourgeoisie, ob englisch, bretonisch, provenzalisch oder amerikanisch. Auf diese Weise können die Bande verstanden werden, die die regionale Bourgeoisie mit der nationalen und der weltweiten Bourgeoisie vereinen.“

Auf diese Weise geht die nationale Befreiung über eine einfache interne Dekolonisierung hinaus und greift die reale Situation der imperialistischen kapitalistischen Entwicklung an, indem sie das Ziel der Zerstörung des politischen Staates in eine revolutionäre Dimension stellt.

Auch ethnische Grenzen werden leicht erkennbar. Die ethnische Grenze im revolutionären Prozess der freien Föderationen der Produktions- und Vertriebsverbände hat ihre Entsprechung in der vorrevolutionären Phase in einer Klassendimension. Die ethnische Basis besteht heute aus der Gesamtheit der ausgebeuteten Menschen, die in einem bestimmten Gebiet einer bestimmten Nation leben, wobei es keine gemeinsame ethnische Basis zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten gibt. Es ist logisch, dass diese Klassenbasis mit der Zerstörung des politischen Staates zerstört wird, wo die ethnische Grenze nicht mehr mit der Gesamtheit der Ausgebeuteten, die in einem bestimmten Territorium leben, übereinstimmt, sondern mit der Gesamtheit der Männer und Frauen, die in diesem Territorium leben und sich entschieden haben, ihr Leben frei zu leben.

Zu diesem Problem fahren die Gefährten der Fronte Libertaire fort:

„Die ethnische Kultur ist nicht die derjenigen, die in demselben Gebiet geboren sind oder dort leben und dieselbe Sprache sprechen. Es ist die Kultur derjenigen, die in einer bestimmten Gruppe die gleiche Ausbeutung erleiden. Ethnische Kultur ist Klassenkultur, und deshalb ist sie revolutionäre Kultur. Auch wenn das Klassenbewusstsein der Arbeiter einer Arbeiterklasse entspricht, die sich in einer Situation nationaler Abhängigkeit befindet, so ist es doch das Klassenbewusstsein, das den Kampf zu seinem Ende führen wird: die Zerstörung des Kapitalismus in seinem derzeitigen Zustand. Der entscheidende Kampf, der geführt werden muss, muss ein weltweiter Klassenkampf der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter sein, ausgehend von einem Kampf ohne Grenzen, mit einer präzisen Taktik gegen die nächstgelegene Bourgeoisie, besonders wenn sie sich als ‚nationalistisch‘ bezeichnet. Dieser Klassenkampf ist im Übrigen der einzige Weg, um die ‚ethnische Spezifikation‘ zu retten und zu fördern, auf der es möglich wäre, einen staatenlosen Sozialismus aufzubauen.“

Das anarchistische Programm in Bezug auf den nationalen Befreiungskampf ist daher klar: Er darf nicht darauf abzielen, eine „Zwischenstufe“ zur sozialen Revolution durch die Bildung neuer Nationalstaaten zu bilden. Anarchisten lehnen es ab, sich an nationalen Befreiungsfronten zu beteiligen; sie beteiligen sich an Klassenfronten, die an nationalen Befreiungskämpfen beteiligt sein können oder auch nicht. Der Kampf muss sich ausweiten, um in den befreiten Gebieten ökonomische, politische und soziale Strukturen zu schaffen, die auf föderalistischen und libertären Organisationen basieren.

Revolutionäre Marxisten, die aus Gründen, die wir hier nicht analysieren können, ein Monopol auf die verschiedenen Situationen haben, in denen nationale Befreiungskämpfe im Gange sind, können nicht immer mit solcher Klarheit auf die Perspektive einer radikalen Anfechtung der staatlichen Zentralisierung antworten. Ihr Mythos vom Absterben des bourgeoisen Staates und ihre Anmaßung, ihn zu nutzen, schaffen ein unüberwindbares Problem.

Marxisten und der nationale Befreiungskampf

Auch wenn wir die Klassenanalyse einiger marxistischer Gruppen teilen können, wie z.B. die von einem Teil der E.T.A. ausgearbeitete, die wir in Nr. 3 von Anarchismo veröffentlicht haben, können wir die grundlegende Hypothese der Bildung eines Arbeiterstaates auf der Grundlage der Diktatur des Proletariats nicht akzeptieren, mehr oder weniger nach dem Vorbild des vorangegangenen politischen Staates, je nach der Organisationsfähigkeit der einzelnen nationalen Befreiungsorganisationen. Die E.T.A.-Gefährten kämpfen zum Beispiel für ein freies Baskenland, sind aber nicht sehr an einem freien Katalonien oder einem freien Andalusien interessiert. Hier kommen wir auf die Zweifel zurück, die Nido so gut zum Ausdruck gebracht hat und die wir oben zitiert haben. Hinter vielen marxistischen Analysen verbirgt sich ein irrationaler Nationalismus, der nie ganz klar ist. Wenn wir zu den marxistischen Klassikern und ihrer Polemik mit Bakunin zurückkehren, können wir eine Art Dialog zwischen den beiden rekonstruieren, indem wir einen Blick auf eine ähnliche Arbeit des bulgarischen Gefährten Balkanski werfen.

Unmittelbar nach dem Slawenkongress 1848, auf dem er erfolglos die Idee einer slawischen Föderation zur Wiedervereinigung eines freien Russlands und aller slawischen Völker entwickelt hatte, die als erste Keimzelle für eine künftige europäische Föderation und später für eine größere universelle Föderation der Völker dienen sollte, nahm Bakunin am Prager Aufstand teil. Nach den Prager Ereignissen flüchtete der von der Polizei verfolgte Bakunin nach Berlin und knüpfte enge Kontakte zu einigen tschechischen Studenten mit dem Ziel, einen Aufstand in Böhmen zu versuchen. Zu dieser Zeit (Anfang 1849) veröffentlichte er den „Appell an die Slawen“, der ihm zu Unrecht den Vorwurf des Panslawismus einbrachte. Marx und Engels antworteten in ihrer Zeitung Neue Rheinische Zeitung mit einer bissigen Kritik. Sehen wir uns nun diesen hypothetischen Dialog an, wie er von Balanski vorgeschlagen wird.

Bakunin: Die slawischen Völker, die unter Österreich, Ungarn und der Türkei versklavt sind, müssen ihre Freiheit zurückgewinnen und sich mit dem vom Zarismus befreiten Russland in einer slawischen Föderation vereinigen.

Marx-Engels: Alle diese kleinen, ohnmächtigen und verkümmerten Nationen verdanken im Grunde genommen ihre Anerkennung denen, die sie gemäß der geschichtlichen Notwendigkeit an ein großes Reich anschließen und sie dadurch an einer geschichtlichen Entwicklung teilnehmen lassen, die ihnen, wären sie sich selbst überlassen, ganz fremd geblieben wäre. Es liegt auf der Hand, dass ein solches Ergebnis nicht erreicht werden kann, ohne einige sensible Bereiche zu betreten. Ohne Gewalt kann in der Geschichte nichts erreicht werden.

Bakunin: Wir müssen vor allem die Befreiung der Tschechen, der Slowaken und der Mährer und ihre Vereinigung zu einer einzigen Einheit berücksichtigen.

Marx-Engels: Die Tschechen, zu denen wir auch die Mährer und die Slowaken zählen müssen, haben nie eine Geschichte gehabt. Nach Karl dem Großen wurde Böhmen mit Deutschland verschmolzen. Eine Zeit lang emanzipierte sich das tschechische Volk und bildete das Großmährische Reich. In der Folge wurden Böhmen und Mähren endgültig an Deutschland angeschlossen, während die slowakischen Gebiete bei Ungarn verblieben. Und diese historisch gesehen inexistente „Nation“ fordert nun ihre Unabhängigkeit? Es ist unzulässig, den Tschechen die Unabhängigkeit zu gewähren, denn dann würde Ostdeutschland wie ein von Ratten zerfressenes Laibchen erscheinen.

Bakunin: Die Polen, die von drei Staaten versklavt sind, müssen gleichberechtigt mit ihren jetzigen Beherrschern, den Deutschen, den Österreichern, den Ungarn und den Russen, einer Gemeinschaft angehören.

Marx-Engels: Die Eroberung der slawischen Gebiete zwischen Elbe und der Warthe durch die Deutschen war eine geographische und strategische Notwendigkeit, die sich aus der Spaltung des karolingischen Reiches ergab. Der Grund ist klar. Das Ergebnis kann nicht in Frage gestellt werden. Diese Eroberung lag im Interesse der Zivilisation, daran kann es keinen Zweifel geben.

Bakunin: Die Südslawen, die von einer fremden Minderheit versklavt wurden, müssen befreit werden.

Marx-Engels: Es ist für die Deutschen und die Ungarn lebensnotwendig, sich aus der Adria herauszuschneiden. Geographische und kommerzielle Erwägungen müssen vor allem anderen kommen. Vielleicht ist es schade, dass das herrliche Kalifornien kürzlich den unfähigen Mexikanern entrissen wurde, die nicht wissen, was sie damit anfangen sollen? Die „Unabhängigkeit“ einiger Spanier in Kalifornien und Texas könnte möglicherweise darunter leiden. Die „Gerechtigkeit“ und andere moralische Grundsätze werden bei all dem vielleicht verleugnet. Aber was kann man angesichts so vieler anderer Ereignisse dieser Art in der Weltgeschichte tun?

Bakunin: Solange eine einzige verfolgte Nation existiert, wird der endgültige und vollständige Triumph der Demokratie nirgendwo möglich sein. Die Unterdrückung eines Volkes oder eines einzelnen Menschen ist die Unterdrückung aller, und es ist nicht möglich, die Freiheit eines Einzelnen zu verletzen, ohne die Freiheit aller zu verletzen.

Marx-Engels: Im panslawischen Manifest haben wir nichts anderes gefunden als diese mehr oder weniger moralischen Kategorien: Gerechtigkeit, Humanität, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Unabhängigkeit, die gut klingen, aber auf dem politischen und historischen Gebiet nichts bewirken können. Wir wiederholen: Kein einziges slawisches Volk – abgesehen von den Polen, den Russen und vielleicht den türkischen Slawen – hat eine Zukunft, und zwar aus dem einfachen Grund, dass allen anderen Slawen die elementarsten historischen, geographischen, politischen und industriellen Grundlagen fehlen. Es fehlt ihnen an Selbstständigkeit und Lebenskraft. Die Eroberer der verschiedenen slawischen Völker haben den Vorteil der Energie und Lebenskraft.

Bakunin: Die Befreiung und Föderation der Slawen ist nur das Vorspiel zur Vereinigung der europäischen Republiken.

Marx-Engels: Es ist unmöglich, alle Völker unter einer republikanischen Fahne mit Liebe und allgemeiner Brüderlichkeit zu vereinen. Erst im blutigen Kampf eines revolutionären Krieges wird die Einigung geschmiedet werden.

Bakunin: Gewiss, in der sozialen Revolution werden der Westen und vor allem die lateinischen Völker den Russen zuvorkommen; aber es werden dennoch die slawischen Massen sein, die den ersten revolutionären Schritt machen und die Ergebnisse garantieren werden.

Marx-Engels: Wir antworten, dass der Hass der Russen und die erste revolutionäre Leidenschaft der Deutschen, und jetzt der Hass der Tschechen und Kroaten sich zu überschneiden beginnen. Die Revolution kann nur durch einen entschiedenen Terror gegen die slawischen Völker gerettet werden, die für die Aussicht auf ihre elende „nationale Unabhängigkeit“ die Demokratie und die Revolution verraten haben. Eines Tages werden wir an den Slawen blutige Rache für diesen schändlichen und skandalösen Verrat nehmen.

An diesen radikalen Gegenpositionen kann es keinen Zweifel geben. Marx und Engels bleiben einer deterministischen Geschichtsauffassung verhaftet, die zwar materialistisch sein soll, aber nicht frei von bestimmten Hegelschen Prämissen ist, was die Möglichkeit einer analytischen Methode einschränkt. Darüber hinaus lassen sie, insbesondere Marx, strategische Einschätzungen los, die eine Betonung des liberal-patriotischen Denkens erkennen lassen, das, wenn es 1849 gerechtfertigt war, 1855 noch viel weniger gerechtfertigt war. Dennoch schreibt er zu dieser Zeit, während des Krimkrieges:

„Die große Halbinsel südlich der Save und der Donau, dieses wunderbare Land, hat das Unglück, von einer Ansammlung sehr verschiedener Rassen und Nationalitäten bewohnt zu werden, von denen man nicht sagen kann, welche am besten für Fortschritt und Zivilisation geeignet sind. Slawen, Griechen, Rumänen, Albaner, insgesamt fast 12 Millionen, werden von einer Million Türken dominiert. Bis zum heutigen Tag könnte man sich fragen, ob von all diesen Rassen nicht die Türken am besten geeignet sind, die Vorherrschaft zu erlangen, die offensichtlich von einer einzigen Nation über diese gemischte Bevölkerung ausgeübt werden kann.“

Und wiederum 1879, im Zuge des russisch-türkischen Krieges, den die Kommunisten heute als „Befreiungskrieg der bulgarischen Patrioten“ bezeichnen, schrieb Marx,

„Wir unterstützen definitiv die Türken, und zwar aus zwei Gründen. Der erste ist, dass wir die türkischen Bauern, d.h. die türkischen Volksmassen, studiert haben und überzeugt sind, dass sie zu den repräsentativsten, fleißigsten und moralisch gesündesten der europäischen Bauern gehören. Zweitens wird die Niederlage der Russen die soziale Revolution, die sich in ganz Europa zu einer Periode radikaler Umgestaltung entwickelt, erheblich beschleunigen.“

Wenn die marxistischen Bewegungen für die nationale Befreiung von einer Minderheit beherrscht werden, die sich schließlich in eine Partei verwandelt (was derzeit allgemein der Fall ist), werden strategische Unterscheidungen getroffen und die wesentlichen Probleme, die auch die Strategie beeinflussen, in den Hintergrund gedrängt.

Die Marxisten gehen zum Beispiel nicht auf den Unterschied zwischen dem Imperialismus der großen Staaten und dem Nationalismus der kleinen Staaten ein, sondern verwenden oft den Begriff Nationalismus in beiden Fällen. Dies führt zu großer Verwirrung. Der Nationalismus der kleinen Staaten wird oft als „etwas, das einen positiven Kern enthält, eine innere Revolte mit sozialem Charakter“, gesehen, aber die detaillierte Klassenunterscheidung wird gewöhnlich auf das strikt Notwendige beschränkt, entsprechend den strategischen Perspektiven. Oft wird – unbewusst in Anlehnung an den großen Maestro Trotzki – behauptet, dass, wenn der Aufstand des Volkes und der unterdrückten Minderheiten unabänderlich ist, die Avantgarde der Arbeiterklasse niemals versuchen dürfe, diesen Schub zu beschleunigen, sondern sich darauf beschränken müsse, den Impulsen zu folgen und dabei außerhalb zu bleiben.

Dies schrieb Trotzki im Januar 1931:

„Die separatistischen Tendenzen in der spanischen Revolution werfen das demokratische Problem des Selbstbestimmungsrechts einer Nationalität auf. Diese Tendenzen haben sich, oberflächlich betrachtet, während der Diktatur verschlimmert. Doch während der Separatismus der katalanischen Bourgeoisie nichts anderes ist als ein Mittel, um die Madrider Regierung gegen das katalanische und spanische Volk auszuspielen, ist der Separatismus der Arbeiter und Bauern nur der Deckmantel für eine tiefere Revolte sozialer Natur. Zwischen diesen beiden Formen des Separatismus muss klar unterschieden werden. Doch gerade um die in ihrem Nationalgefühl unterdrückten Arbeiter und Bauern von der Bourgeoisie zu unterscheiden, muss die Avantgarde des Proletariats die Frage des Rechts der Nation auf Autonomie aufgreifen, was die mutigste und aufrichtigste Position ist. Die Arbeiter werden vorbehaltlos das Recht der Katalanen und Basken verteidigen, als unabhängige Staaten zu leben, falls sich die Mehrheit für eine vollständige Abspaltung entscheidet, was keineswegs bedeutet, dass die Elite der Arbeiter die Katalanen und Basken auf den Weg des Separatismus drängen muss. Im Gegenteil, die ökonomische Einheit des Landes mit einer großen Autonomie der Nationalitäten würde den Arbeitern und Bauern große Vorteile in wirtschaftlicher und allgemeiner kultureller Hinsicht bieten.“

Es ist klar, dass die Gegenposition die radikalste ist, die möglich ist. Marxisten und Trotzkisten folgen Argumentationssystemen, die für uns nichts mit der freien Entscheidung der ausgebeuteten Minderheiten, die Bedingungen ihrer eigenen Freiheit zu bestimmen, zu tun haben. Es geht nicht darum, die grundlegenden theoretischen Differenzen aufzugreifen, aber es genügt, Trotzkis Passage noch einmal zu lesen, um zu erkennen, welche theoretischen Zweideutigkeiten sie enthält und wie viel Raum einer politischen Strategie eingeräumt wird, die die Errichtung einer Diktatur durch eine „erleuchtete“ Minderheit begünstigt, und wie wenig für die „wirkliche“ Freiheit der Ausgebeuteten getan würde. Hervorzuheben ist die zweideutige Verwendung des Begriffs Separatismus und das Beharren auf irrationalen Argumenten wie dem des „Nationalgefühls“.

Schlussfolgerung

In dieser Arbeit wurden viele Probleme angesprochen, wobei wir uns bewusst sind, dass dies aufgrund ihrer großen Komplexität nur zum Teil geschehen ist. Wir sind von einer faktischen Situation ausgegangen: Sizilien und ein Zerstückelungsprozess, der in naher Zukunft unabsehbare Schäden verursachen kann. Wir haben gesagt, dass dieser Prozess unserer Meinung nach eine Vereinigung von Faschisten und Mafia darstellt und dass die Interessen, die diese Leute schützen wollen, im Wesentlichen die der Amerikaner sind. Die Verbreitung bestimmter veralteter separatistischer Formeln hat uns gezwungen, so klar wie möglich Stellung zu beziehen und zu versuchen, die wesentlichen Punkte des anarchistischen Internationalismus angesichts des Problems des nationalen Befreiungskampfes herauszustellen. Wir haben auch einen kurzen Überblick über einige der Interpretationsfehler gegeben, die in der orthodoxen marxistischen Sicht des Problems verborgen sind, sowie über einige strategische Unklarheiten, die in der Praxis die nicht geringen Schwierigkeiten der marxistisch inspirierten nationalen Befreiungsbewegungen bestimmen. Wir werden nun versuchen, unsere Untersuchung mit einigen Hinweisen von theoretischem Interesse abzuschließen.

Wir müssen das Problem des Verhältnisses zwischen Struktur und Überbau gründlich neu untersuchen. Viele Gefährten verharren im marxistischen Modell und merken nicht, wie sehr dieses in unsere „gängige“ Sichtweise eingedrungen ist. Die Macht, die die Marxisten heute an unseren Universitäten haben, erlaubt es ihnen, den intellektuellen Minderheiten ein bestimmtes analytisches Modell vorzuschlagen und es mit der üblichen Selbstgefälligkeit als Realität zu verkaufen. Insbesondere die Konzeption der „Produktionsmittel“ muss einer sorgfältigen Analyse unterzogen werden, die die Grenzen und Folgen der deterministischen Verwendung des ökonomischen Faktors aufzeigt. Heute hat sich die ökonomische Realität verändert und lässt sich nicht mehr in die marxistische Typologie einfügen; dennoch tun sie ihr Möglichstes, um die Dinge zu verkomplizieren, indem sie versuchen, Ereignisse zu erklären, die ansonsten leicht erklärbar wären. Durch die Interpolation offenerer Denkmodelle sollten wir in der Lage sein, relevante Faktoren wie eben die nationalen und kulturellen oder ethnischen Besonderheiten zu identifizieren. Diese treten in einen umfassenderen Prozess der Ausbeutung ein und bestimmen quantitative Veränderungen, die die Ausbeutung selbst möglich machen und letztlich das Entstehen anderer Veränderungen, diesmal qualitativer Art, bewirken. Die Völker und Klassen, die politischen und kulturellen Formationen, die ideologischen Bewegungen und der konkrete Kampf, sie alle erfahren interpretative Veränderungen in Bezug auf das Grundmodell. Wenn man einen mechanistischen Determinismus akzeptiert, sind die Folgen die unvermeidliche Diktatur des Proletariats, der Übergang zu einer nicht leicht zu verstehenden und historisch nicht dokumentierbaren progressiven Beseitigung des Staates: Wenn hingegen das Interpretationsmodell offen und indeterministisch ist, wenn der individuelle Wille in einen Prozess der gegenseitigen Beeinflussung mit dem Klassenbewusstsein einbezogen wird, wenn die verschiedenen soziokulturellen Einheiten nicht nur ökonomisch, sondern auch umfassender (sozial) analysiert werden, wären die Folgen ganz anders: Vorgefasste statistische Ideen würden der Möglichkeit einer horizontalen libertären Konstruktion, eines föderalistischen Projekts der Produktion und Verteilung weichen.

Gewiss erfordert all dies nicht nur die Negation eines mechanistischen Materialismus, der unserer Meinung nach aus dem Marxismus hervorgegangen ist, sondern auch eines gewissen Idealismus, der unserer Meinung nach immer noch einen Teil des Anarchismus infiziert. Ebenso ist der als absoluter Wert gedachte Universalismus ahistorisch und idealisiert, denn ein solches aufklärerisches Postulat ist nichts anderes als das umgekehrte Ideal des reformierten Christentums. Es ist nicht möglich, hinter der westlichen Hegemonie klar zu erkennen, wie viel von ihr durch die Ideologie einer falschen Freiheit, eines zweideutigen Humanitarismus mit kosmopolitischer Grundlage, entwickelt wurde. Der Mythos von der Vorherrschaft des weißen Mannes wird in verschiedenen Formen als Mythos der Zivilisation und der Wissenschaft dargestellt, und damit als Grundlage der politischen Hegemonie einiger weniger Staaten über andere. Die freimaurerische und aufklärerische Ideologie könnte den Jakobinismus, der sich in der leninistischen Version des Marxismus verbirgt, verstärken, hat aber nichts mit dem Anarchismus zu tun, auch wenn sich viele Gefährten weiterhin mit abstrakten Schemen und veralteten Theorien amüsieren.

Die Anarchisten sollten den nationalen Befreiungskämpfen ihre ganze Unterstützung zukommen lassen, konkret in Form von Beteiligung, theoretisch in Form von Analysen und Studien. Dies sollte von der autonomen Organisation der Arbeiter ausgehen, mit einer klaren Vision von Klassengegenpositionen, d.h. die lokale Bourgeoisie in ihre korrekte Klassendimension zu stellen, und den föderalistischen Aufbau der zukünftigen Gesellschaft vorzubereiten, die aus der sozialen Revolution hervorgehen sollte. Auf dieser Grundlage, die keinen Raum für Determinismen und Idealismen verschiedener Art lässt, kann jede faschistische Instrumentalisierung der Bestrebungen der unterdrückten Völker leicht bekämpft werden. Es ist jedoch notwendig, dass wir uns in erster Linie untereinander klar werden, nach vorne schauen und die richtigen Analysen für eine anarchistische revolutionäre Strategie erstellen.

Anhänge

Anhang: Bakunin über die nationale Frage2

Der Staat ist nicht das Vaterland, er ist die Abstraktion, die metaphysische, mystische, politische, juristische Fiktion des Vaterlandes. Das gemeine Volk aller Länder liebt sein Vaterland zutiefst, aber das ist eine natürliche, echte Liebe. Der Patriotismus des Volkes ist nicht nur eine Idee, er ist eine Tatsache; aber der politische Patriotismus, die Liebe zum Staat, ist nicht der getreue Ausdruck dieser Tatsache: er ist ein Ausdruck, der durch eine falsche Abstraktion verzerrt wird, immer zum Nutzen einer ausbeuterischen Minderheit.

Vaterland und Nationalität sind, wie die Individualität, jeweils eine natürliche und soziale Tatsache, physiologisch und historisch zugleich; keines von beiden ist ein Prinzip. Als menschliches Prinzip kann nur das bezeichnet werden, was universell und allen Menschen gemeinsam ist; und die Nationalität trennt die Menschen, sie ist also kein Prinzip. Was ein Prinzip ist, ist die Achtung, die jeder vor den natürlichen Tatsachen, seien sie real oder sozial, haben sollte. Die Nationalität ist, wie die Individualität, eine dieser Tatsachen. Deshalb sollten wir sie respektieren. Sie zu verletzen bedeutet, ein Verbrechen zu begehen, und, um mit Mazzini zu sprechen, wird sie jedes Mal, wenn sie bedroht und verletzt wird, zu einem heiligen Prinzip. Und deshalb fühle ich mich immer aufrichtig als Patriot aller unterdrückten Vaterländer.

Die Essenz der Nationalität. Ein Vaterland stellt das unbestreitbare und heilige Recht eines jeden Menschen, einer jeden menschlichen Gruppe, eines jeden Vereins, einer jeden Kommune, einer jeden Region und einer jeden Nation dar, auf ihre eigene Weise zu leben, zu fühlen, zu denken, zu wollen und zu handeln, und diese Art zu leben und zu fühlen ist immer das unbestreitbare Ergebnis einer langen historischen Entwicklung.

Nationalität und universelle Solidarität. Es gibt nichts Absurderes und zugleich Schädlicheres, Tödlicheres für das Volk, als das fiktive Prinzip der Nationalität als das Ideal aller Bestrebungen des Volkes aufrechtzuerhalten. Die Nationalität ist kein universelles menschliches Prinzip: sie ist eine historische, lokale Tatsache, die wie alle realen und harmlosen Tatsachen das Recht hat, allgemeine Anerkennung zu finden. Jedes Volk und die kleinste Volkseinheit hat seinen eigenen Charakter, seine eigene spezifische Existenzweise, seine eigene Art zu sprechen, zu fühlen, zu denken und zu handeln; und es ist diese Eigenart, die das Wesen der Nationalität ausmacht, die das Ergebnis des gesamten historischen Lebens und der Summe der Lebensbedingungen dieses Volkes ist.

Jedes Volk, wie jeder Mensch, ist unwillkürlich das, was es ist, und hat daher ein Recht, es selbst zu sein. Darin bestehen die sogenannten nationalen Rechte. Wenn aber ein bestimmtes Volk oder eine bestimmte Person in einer bestimmten Form faktisch existiert, folgt daraus nicht, dass es oder sie ein Recht hat, die Nationalität im einen und die Individualität im anderen Fall als spezifische Prinzipien aufrechtzuerhalten, und dass sie sich ewig darüber aufzuregen haben. Im Gegenteil, je weniger sie an sich selbst denken und je mehr sie von universellen menschlichen Werten durchdrungen sind, desto lebendiger werden sie, desto mehr wird die Nationalität im einen Fall und die Individualität im anderen Fall mit Bedeutung aufgeladen.

Die historische Verantwortung einer jeden Nation. Die Würde einer jeder Nation, wie die jedes Individuums, sollte vor allem darin bestehen, dass jede die volle Verantwortung für ihre Handlungen übernimmt, ohne zu versuchen, sie auf andere abzuwälzen. Sind sie nicht sehr töricht, all diese Klagen eines großen Jungen, der sich mit Tränen in den Augen darüber beklagt, dass ihn jemand verdorben und auf den falschen Weg gebracht hat? Und was bei einem Jungen unschicklich ist, ist bei einer Nation gewiss fehl am Platze, deren Selbstwertgefühl jeden Versuch ausschließen sollte, die Schuld für die eigenen Fehler auf andere abzuwälzen.

Patriotismus und universelle Gerechtigkeit. Jeder von uns sollte sich über den engstirnigen, kleinkarierten Patriotismus erheben, für den das eigene Land der Mittelpunkt der Welt ist und der sich in dem Maße für groß hält, in dem er sich von seinen Nachbarn fürchten lässt. Wir sollten die menschliche, universelle Gerechtigkeit über alle nationalen Interessen stellen. Und wir sollten ein für allemal das falsche Prinzip der Nationalität aufgeben, das in letzter Zeit von den Despoten Frankreichs, Russlands und Preußens erfunden wurde, um das souveräne Prinzip der Freiheit zu zerschlagen. Die Nationalität ist kein Prinzip, sie ist eine legitime Tatsache, ebenso wie die Individualität. Jede Nationalität, ob groß oder klein, hat das unbestreitbare Recht, sie selbst zu sein, nach ihrer eigenen Natur zu leben. Dieses Recht ist einfach die logische Folge des allgemeinen Prinzips der Freiheit.

Anhang: Rudolf Rocker über Nationalismus und Kultur3

(…) Die alte Behauptung, welche die Entstehung des nationalen Staates auf das erwachende Nationalbewußtsein der Völker zurückführt, ist nur ein Märchen, das den Trägern der nationalen Staatsidee gute Dienste leistete, aber darum nicht minder falsch ist. Die Nation ist nicht die Ursache, sondern das Ergebnis des Staates. Es ist der Staat, der die Nation schafft, nicht die Nation den Staat. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, besteht zwischen Volk und Nation derselbe Unterschied wie zwischen Gesellschaft und Staat.

Jede gesellschaftliche Bindung ist ein natürliches Gebilde, das sich auf Grund gemeinsamer Bedürfnisse und gegenseitiger Vereinbarung organisch von unten nach oben gestaltet, um die allgemeinen Belange zu schützen und wahrzunehmen. Sogar wenn gesellschaftliche Einrichtungen allmählich erstarren oder rudimentär werden, läßt sich der Zweck ihres Ursprunges in den meisten Fällen deutlich erkennen. – Jede staatliche Organisation aber ist ein künstlicher Mechanismus, der den Menschen von irgendwelchen Machthabern von oben herab aufgezwungen wird und der nie einen anderen Zweck verfolgt, als die Sonderinteressen privilegierter Minderheiten in der Gesellschaft zu verteidigen und sicherzustellen.

Ein Volk ist das natürliche Ergebnis gesellschaftlicher Bindungen, ein Sichzusammenfinden von Menschen, welche durch eine gewisse Gleichartigkeit der äußeren Lebensverhältnisse, durch die Gemeinschaft der Sprache und durch besondere Veranlagungen auf Grund klimatischer und geographischer Lebensbedingungen zustande kommen. Auf diese Art entstehen gewisse gemeinsame Züge, die in jedem Gliede des Volksverbandes lebendig sind und einen wichtigen Bestandteil seiner gesellschaftlichen Existenz bilden. Diese innere Verwandtschaft kann ebensowenig künstlich gezüchtet als willkürlich zerstört werden, es sei denn, daß man alle Glieder einer Volksgruppe gewaltsam von der Erde vertilge. – Eine Nation aber ist stets das künstliche Ergebnis machtpolitischer Bestrebungen, wie ja auch der Nationalismus nie etwas anderes gewesen ist als die politische Religion des modernen Staates. Die Zugehörigkeit einer Nation wird nie, wie beim Volke, durch tiefere natürliche Ursachen bestimmt; sie unterliegt stets den Erwägungen der Politik und den Gründen der Staatsräson, hinter der sich immer die Sonderinteressen privilegierter Minderheiten im Staate verstecken. Ein Häufchen Diplomaten, die lediglich die Geschäftsträger bevorrechteter Kasten und Klassen im Staatsverbande sind, entscheidet oft ganz willkürlich über die nationale Zugehörigkeit bestimmter Menschengruppen, die sich ihrem Machtgebot unterwerfen müssen, weil sie sich nicht anders helfen können, und ohne daß man sie auch nur um ihre Zustimmung gefragt hätte.

Völker und Völkergruppen haben bestanden, lange bevor der Staat in die Erscheinung trat; sie bestehen auch heute noch und entfalten sich ohne das Zutun des Staates und werden nur dann in ihrer natürlichen Entwicklung beeinträchtigt, wenn sich irgendeine äußere Macht in ihr Leben gewaltsam einmischt und dieses in bestimmte Formen zwingt, die ihnen bis dahin wesensfremd geblieben sind. Die Nation aber ist ohne den Staat undenkbar; sie ist mit ihm zusammengeschmiedet auf Gedeih und Verderb und verdankt ihr Dasein lediglich seiner Existenz. Deshalb wird uns das Wesen der Nation stets unerschlossen bleiben, wenn wir versuchen, sie vom Staate zu trennen und ihr ein Eigenleben zuzusprechen, das sie nie besessen hat.

Ein Volk ist stets eine ziemlich engumgrenzte Gemeinschaft; eine Nation aber umfaßt in der Regel eine ganze Anzahl verschiedener Völker und Völkerschaften, die durch mehr oder weniger gewaltsame Mittel in den Rahmen einer gemeinsamen Staatsform gepreßt wurden. In der Tat gibt es in ganz Europa keinen Staat, der nicht aus einer ganzen Reihe der verschiedensten Völkerschaften besteht, die ursprünglich durch Abstammung und Sprache voneinander getrennt waren und lediglich aus dynastischen, wirtschaftlichen oder machtpolitischen Interessen gewaltsam zu einer Nation zusammengeschweißt wurden.

(…)

Jeder Nationalismus ist seinem Wesen nach reaktionär, da er bestrebt ist, den einzelnen Teilen der großen Menschenfamilie einen bestimmten Charakter nach einem vorgefaßten Glauben aufzuzwingen. Auch in diesem Punkte zeigt sich die innere Verwandtschaft der nationalen Ideologie mit dem Glaubensinhalt jeder Offenbarungsreligion. Der Nationalismus schafft künstliche Trennungen und Absplitterungen innerhalb einer organischen Einheit, die in der Gattung Mensch ihren Ausdruck findet; in derselben Zeit erstrebt er eine fiktive Einheit, die nur einer Wunschvorstellung entspringt, und seine Träger möchten am liebsten alle Glieder einer bestimmten Menschengruppierung auf einen Ton abstimmen, damit das, was sie von anderen Gruppen unterscheidet, um so schärfer hervortrete. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der sogenannte Kulturnationalismus durchaus nicht vom politischen Nationalismus, dessen machtpolitischen Bestrebungen er in der Regel als Feigenblatt dienen muß. Beide sind geistig nicht voneinander zu trennen und stellen nur zwei verschiedene Formen derselben Bestrebungen dar.

Der Kulturnationalismus tritt am reinsten dort zutage, wo Völker einer Fremdherrschaft unterworfen sind und aus diesem Grunde keine eigenen machtpolitischen Pläne verfolgen können. In diesem Falle beschäftigt sich der «nationale Gedanke» mit Vorliebe mit der kulturschöpferischen Tätigkeit des Volkes und versucht, das nationale Bewußtsein durch die Erinnerung an geschwundenen Glanz und vergangene Größe wachzuhalten. Solche Vergleiche zwischen einer Vergangenheit, die bereits Sage geworden ist, und einer versklavten Gegenwart machen dem Volke das erlittene Unrecht doppelt fühlbar, denn nichts wirkt stärker auf den Geist der Menschen als die Überlieferung. Gelingt es aber solchen unterdrückten Völkergruppen früher oder später, das fremde Joch abzuschütteln und selber als nationale Macht aufzutreten, so tritt die kulturelle Seite ihrer Bestrebungen nur allzu schnell in den Hintergrund, um der nüchternen Wirklichkeit machtpolitischer Erwägungen das Feld zu räumen. Die jüngste Entwicklung der nach dem ersten Weltkriege entstandenen nationalen Staatswesen in Europa legt sprechendes Zeugnis dafür ab.

(…)

Bei dem Kulturnationalismus fließen in der Regel zwei besondere Empfindungen ineinander über, die im Grunde nichts miteinander gemein haben. Denn Heimatgefühl ist nicht Patriotismus, ist nicht Liebe zum Staat, nicht Liebe, die in der abstrakten Vorstellung von der Nation ihre Wurzel findet. Es bedarf keiner breitspurigen Erklärungen, um zu zeigen, daß das Stück Erde, auf dem der Mensch die Jahre seiner Jugend verlebt hat, mit seinem inneren Empfinden tief verwachsen ist. Denn es sind die Eindrücke der Kindheit und der frühen Jugend, die am unvergänglichsten sind und am längsten in der Seele des Menschen nachwirken. Die Heimat ist sozusagen das äußere Kleid des Menschen, an dem ihm jede Falte innig vertraut ist. Diesem Heimatgefühl entspringt auch in späteren Jahren jenes stumme Sehnen nach einer Vergangenheit, die längst unter Trümmern begraben liegt, das die Romantiker den Blick so tief nach innen senken ließ.

Mit dem sogenannten «nationalen Empfinden» hat das Heimatgefühl keine Verwandtschaft, obwohl man beide oft genug in einen Topf wirft und nach Falschmünzerart als die gleichen Werte ausgibt. Es ist gerade das «Nationalbewußtsein», welches die zarten Knospen des wahren Heimatgefühls verzehrt, da es stets bestrebt ist, alle Eindrücke, welche der Mensch durch die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit der heimatlichen Erde empfängt, gleichzuschalten und in eine bestimmte Form zu pressen. Es ist dies das unvermeidliche Ergebnis jener mechanischen Einheitsbestrebungen, die in der Wirklichkeit nur die Bestrebungen des nationalen Staates sind.

Der Versuch, die natürliche Zuneigung des Menschen zur Heimat durch die pflichtgemäße Liebe zur Nation ersetzen zu wollen – ein Gebilde, das seine Entstehung allen möglichen Zufälligkeiten verdankt und wo mit brutaler Faust Elemente zusammengeschmiedet wurden, die kein inneres Bedürfnis zusammenführte –, ist eine der groteskesten Erscheinungen unserer Zeit, denn das sogenannte Nationalbewußtsein ist nichts anderes als ein aus machtpolitischen Erwägungen propagierter Glaube, welcher den religiösen Fanatismus vergangener Jahrhunderte abgelöst hat und sich heute zum größten Hindernis jeder kulturellen Entwicklung ausgewachsen hat. Mit Heimatliebe hat diese blinde Verehrung eines abstrakten Vaterlandsbegriffes nichts zu tun. Heimatliebe kennt keinen «Willen zur Macht», ist frei von jener hohlen und gefährlichen Überheblichkeit dem Nachbarn gegenüber, die zu den eisernen Belangen jedes wie immer gearteten Nationalismus gehört. Heimatliebe treibt weder praktische Politik noch verfolgt sie irgendwelche staatserhaltende Ziele. Sie ist lediglich der Ausdruck eines inneren Empfindens, das ebenso ungezwungen wie die Freude des Menschen an der Natur hervortritt, von der die Heimat ein Teil ist. So betrachtet, verhält sich das Heimatgefühl zu der staatlich verordneten Liebe zur Nation wie ein echtes Erzeugnis zu einem in der Retorte hergestellten Ersatzprodukt.


1A.d.Ü., hierbei geht es um den Trend der die Bildung großer Unternehmen fördert.

2A.d.Ü., wir haben diese Stelle mit einer spanischen Version des Textes verglichen, auf deutscher Sprache haben wir es nicht gefunden und eigentlich heißt dieser kurze Text Vaterland und Nationalität, aber wir haben es wie im Originaltext von Elephant Editions gelassen.

3A.d.Ü., die Stelle haben wir aus: „Rudolf Rocker – Nationalismus und Kultur“, Unruhen Publikationen, Amsterdam, Februar 2015 übernommen.

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