Einleitung von der Soligruppe für Gefangene,
zu unseren kommenden Text – KEIN ANARCHISTISCHES PROGRAMM, Eine Kritik an „anarchistischem“ Idealismus, Ideologien und Reformismus – setzen wir fort mit der Reihe an Texten, alles Übersetzungen, die sich mit der Thematik des Reformismus auseinandersetzen, dieses Mal aber vor allem das Thema Krieg und die Teilnahme oder nicht-Teilnahme, die Befürwortung oder die Ablehnung im selben. Denn eins sollte nicht vergessen werden, außer der sozialen Revolution, dem Klassenkrieg oder dem sozialen Krieg, sind alle Kriege immer die des Kapitalismus.
Wir fahren also mit einer Übersetzung aus dem Buch von Paul Mattick fort, nämlich Marxism. Last Refuge of the Bourgeoisie?. Letztes Mal veröffentlichten wir den Kapital Nummer Drei, Die Grenzen der Reform, sowie den Kapitel Nummer Acht, Ideologie und Klassenbewusstsein, dieses Mal haben wir uns das Kapital Nummer Zwei aus dem Englischen vorgenommen, Reform oder Revolution. Weiterhin ist unser Wissen nach, dieses Buch noch nicht ins Deutsche übersetzt worden. Wir haben die zufällige Gelegenheit beim Schopf gepackt, da vieles was der gute Paul auf diesen Kapitel schreibt lässt einen über den jetzigen Krieg in der Ukraine über vieles nachdenken.
Marxism. Last Refuge of the Bourgeoisie?
Kapitel Zwei, Reform oder Revolution. Von Paul Mattick
Die politische Revolution der Bourgeoisie war der Höhepunkt eines langwierigen Prozesses sozialer Veränderungen in der Produktionssphäre. Dort, wo die aufsteigende kapitalistische Klasse die vollständige Kontrolle über den Staat erlangte, garantierte dies eine rasche Entfaltung des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit. Der feudalistische Widerstand gegen diese Transformation/Umgestaltung war in den verschiedenen Ländern unterschiedlich stark ausgeprägt. Obwohl der Kapitalismus allgemein auf dem Vormarsch war, war seine Entwicklung sowohl von Gewalt als auch von Kompromissen gekennzeichnet, wobei sich das Neue und das Alte sowohl politisch als auch ökonomisch überlagerten. Die herrschenden Klassen teilten sich in einen reaktionären und einen fortschrittlichen Flügel, wobei letzterer nach politischer Kontrolle durch einen demokratischen kapitalistischen Staat strebte. Die Spaltung zwischen einer gefestigten Autokratie und der liberalen Bourgeoisie spiegelte das ungleiche Tempo der kapitalistischen Entwicklung wider und weitete die internen Unterschiede zwischen Reaktion und Fortschritt auf die Nationen selbst und ihre politischen Institutionen aus.
Die sozialistische Bewegung entstand in einer unvollständigen bourgeoisen Gesellschaft in einer Welt von Nationen, die noch mehr oder weniger im Bann der reaktionären Kräfte der Vergangenheit standen. Diese Situation führte zu einem zweckmäßigen, aber unnatürlichen Bündnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Historisch gesehen musste der Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital zunächst als Interessenidentität erscheinen, um die Produktionskräfte freizusetzen, die das Proletariat zu einer eigenständigen sozialen Klasse machen würden. An den bourgeoisen Revolutionen mit eigenen Forderungen teilzunehmen, widersprach nicht dem postulierten „historischen Ziel“ der Arbeiterklasse, sondern war eine unvermeidliche Voraussetzung für ihren zukünftigen Kampf gegen die Bourgeoisie.
Obwohl oft behauptet wurde, dass es die Angst vor dem Proletariat war, die die Bourgeoisie dazu veranlasste, ihren eigenen Kampf gegen die feudale Autokratie einzuschränken, war es vielmehr die Erkenntnis ihrer eigenen, noch begrenzten Macht gegenüber dem reaktionären Feind, die sie von radikalen Maßnahmen zugunsten ihrer eigenen politischen Bestrebungen zurücktreten ließ. Die Bourgeoisie fand zwar Unterstützung in der werktätigen Bevölkerung, war sich aber sicher, dass sie die Unterstützung der reaktionären Kräfte finden würde, sollte sich dies als notwendig erweisen, um die revolutionäre Initiative der Arbeiterklasse zu zerstören. Auf jeden Fall war die Zeit auf der Seite der Bourgeoisie, denn die feudalen Schichten der Gesellschaft passten sich dem Prozess der Kapitalisierung an und integrierten sich in die kapitalistische Produktionsweise. Die Integration der scheinbar unvereinbaren Interessen der konservativen Elemente, die sich weitgehend auf die Landwirtschaft stützten, und der fortschrittlichen demokratischen Kräfte, die das industrielle Kapital vertraten, verwirklichte schließlich die Ziele der gescheiterten bourgeoisen Revolutionen von 1848, die fast alle Nationen Westeuropas erfasst hatten. Das Jahr 1848 hatte Hoffnungen auf eine baldige proletarische Revolution geweckt, vor allem wegen der verheerenden ökonomischen Krisenbedingungen, die die politische Gärung überhaupt erst ausgelöst hatten. Aber die Jahre der Depression gingen vorbei und mit ihnen auch die sozialen Umwälzungen gegen alles, was dem sozialen Wandel im Wege zu stehen schien. Das Kapital akkumulierte sich nicht weniger in Ländern, die von politisch reaktionären Regimen regiert wurden, als in solchen, in denen der Staat die liberale Bourgeoisie begünstigte.
Der moderne Nationalstaat ist eine Schöpfung des Kapitalismus, der die Umwandlung schwacher in lebensfähige Staaten verlangt, um die Produktionsbedingungen zu schaffen, die einen erfolgreichen Wettbewerb auf dem Weltmarkt ermöglichen. Der Nationalismus war damals das Hauptanliegen der revolutionären Bourgeoisie. Die kapitalistische Expansion und die nationale Einigung wurden als komplementäre Prozesse betrachtet, obwohl der Nationalismus in seiner ideologischen Form als eigenständiger Wert angesehen wurde. In dieser Form nahm er überall dort revolutionäre Züge an, wo bestimmte Nationen, wie Irland und Polen, unter Fremdherrschaft geraten waren. Da der Kapitalismus die Bildung von Nationen voraussetzte, befürworteten die Befürworter des ersten notwendigerweise den zweiten, wenn auch nur als weitere Voraussetzung für eine künftige proletarische Revolution, die ihrerseits die nationalen Trennungen der weltweiten Ökonomie beenden sollte. In diesem Sinne traten Marx und Engels für die Bildung von Nationen ein, die stark genug waren, um eine rasche kapitalistische Entwicklung zu gewährleisten.
Natürlich spielte es keine Rolle, ob Marx und Engels die Bildung kapitalistisch lebensfähiger Nationalstaaten befürworteten oder nicht, denn ihr Einfluss auf die tatsächlichen Ereignisse war weniger als minimal. Alles, was sie tun konnten, war, ihre eigenen Gefühle und Präferenzen in Bezug auf die verschiedenen nationalen Kämpfe auszudrücken, die die Kapitalisierung des europäischen Kontinents begleiteten. In diesen Kämpfen konnten die Arbeiter bisher nur Kanonenfutter für Klasseninteressen liefern, die nicht oder nur indirekt ihre eigenen waren, da eine rasche kapitalistische Entwicklung eine Verbesserung ihrer Bedingungen innerhalb ihrer Lohnabhängigkeit versprach. Ihre Beteiligung an den damaligen nationalrevolutionären Umwälzungen und den darauf folgenden nationalen Kriegen war nur im historischen Sinne zu rechtfertigen, denn sie konnten damals nur den spezifischen Klasseninteressen der aufstrebenden und konkurrierenden Bourgeoisie dienen. Doch auch wenn die Geschichte von der Bourgeoisie gemacht wurde, machte es die Tatsache, dass deren Existenz die Existenz und Entwicklung des Proletariats voraussetzte, zwingend erforderlich, diesen Prozess auch vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus zu betrachten und eine Politik zu formulieren, die vermutlich ihre Interessen innerhalb der kapitalistischen Entwicklung fördern würde.
Da die Bildung lebensfähiger Nationalstaaten mit der Absorption weniger lebensfähiger nationaler Einheiten einherging, wurde eine Unterscheidung zwischen Nationen getroffen, die das Potenzial für eine umfassende kapitalistische Entwicklung besaßen, und anderen, die nicht so ausgestattet waren. Friedrich Engels beispielsweise unterschied zwischen Nationen, die dazu bestimmt waren, den Lauf der Geschichte zu beeinflussen, und anderen, die nicht in der Lage waren, eine unabhängige Rolle in der historischen Entwicklung zu spielen1. Seiner Meinung nach war der Nationalismus als solcher keine revolutionäre Kraft, außer indirekt in Situationen, in denen er einer raschen kapitalistischen Entwicklung diente. In der sich entfaltenden kapitalistischen Welt gab es keinen Platz für kleine oder rückständige Nationen. Nationale Bestrebungen konnten also entweder revolutionär oder reaktionär sein, je nachdem, ob sie sich positiv oder negativ auf die wachsenden gesellschaftlichen Produktionskräfte auswirkten. Nur soweit nationale Bewegungen die allgemeine kapitalistische Entwicklung unterstützten, konnten sie als fortschrittlich und damit für die Arbeiterklasse von Interesse angesehen werden, denn der Nationalismus war nur die kapitalistisch widersprüchliche Form einer Entwicklung, die den Weg für die Internationalisierung der Kapitalproduktion und damit auch für den proletarischen Internationalismus bereitete.
Natürlich musste diese allgemeine Auffassung empirisch konkretisiert werden, indem man in den tatsächlichen nationalen Bewegungen und nationalen Kriegen des neunzehnten Jahrhunderts zumindest verbal Partei ergriff. Je nach dem Grad ihrer kapitalistischen Entwicklung oder der klaren Notwendigkeit und dem Wunsch nach einer konkurrenzfähigen Position einer solchen Nation innerhalb der weltweiten Ökonomie bedeutete ihre Verteidigung die Verteidigung der Nation, und sei es nur, um das bereits Erreichte zu sichern. Je fortschrittlicher die Arbeiterklasse sich selbst einschätzte, desto deutlicher identifizierte sie sich mit dem vorherrschenden Nationalismus. Dort, wo die Arbeiter die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse überhaupt nicht in Frage stellten, wie in England und den Vereinigten Staaten, war ihre Akzeptanz des bourgeoisen Nationalismus mit seinen imperialistischen Implikationen vollkommen. Wo es zumindest eine ideologische Opposition gegen das kapitalistische System gab, wie in der marxistischen Bewegung, wurden nationalistische Gefühle in einer eher heuchlerischen Weise gepriesen, nämlich als Mittel zur Umwandlung der Nation in eine sozialistische Nation, die stark genug war, um einem möglichen Ansturm externer konterrevolutionärer Kräfte standzuhalten. Es wurde nun unterschieden zwischen Nationen, die sich eindeutig auf dem Weg zum Sozialismus befanden, wie die wachsende Macht der sozialistischen Organisationen und ihr zunehmender Einfluss auf die Gesellschaft insgesamt zeigten, und Nationen, die noch völlig unter der Herrschaft ihrer traditionellen herrschenden Klassen standen und hinter der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung auf dem sozialistischen Weg zurückblieben.
Eine bestimmte Nation konnte so zu einer Art „Avantgarde-Nation2“ werden, die durch ihr Beispiel dazu bestimmt war, andere Nationen zu führen. Diese Rolle, die Frankreich in der bourgeoisen Revolution gespielt hatte, wurde nun im Hinblick auf die sozialistische Revolution für Deutschland beansprucht, dank seiner schnellen kapitalistischen Entwicklung, seiner geopolitischen Lage und seiner Arbeiterbewegung, dem Stolz der Zweiten Internationale. Eine Niederlage dieser Nation in einem kapitalistischen Krieg würde nicht nur die Entwicklung Deutschlands und seiner Arbeiterbewegung zurückwerfen, sondern damit auch die Entwicklung des Sozialismus als solchen. Im Namen des Sozialismus setzte sich daher beispielsweise Friedrich Engels für die Verteidigung der deutschen Nation gegen weniger fortgeschrittene Länder wie Russland und sogar gegen fortgeschrittenere kapitalistische Nationen wie Frankreich ein, falls diese sich mit dem potenziellen russischen Gegner verbünden sollten. Und es war August Bebel, der populäre Anführer der deutschen Sozialdemokratie, der seine Bereitschaft bekundete, für das deutsche Vaterland zu kämpfen, wenn dies notwendig sein sollte, um dessen ununterbrochene sozialistische Entwicklung zu sichern.
In einer Welt konkurrierender kapitalistischer Nationen sind die Gewinne einiger Nationen die Verluste anderer, auch wenn alle ihr Kapital mit der Vergrößerung des Weltmarktes vermehren. Der Prozess der Kapitalkonzentration schreitet sowohl international als auch national voran. Da die Konkurrenz zur Monopolisierung führt, wird der theoretisch „freie Weltmarkt“ zu einem teilweise kontrollierten Markt, und die Instrumente zu diesem Zweck – Protektionismus, Kolonialismus, Militarismus und Imperialismus – werden eingesetzt, um nationale Privilegien innerhalb der expandierenden kapitalistischen und weltweiten Ökonomie zu sichern. Monopolisierung und Imperialismus bieten somit ein gewisses Maß an bewusster Einmischung in den Marktmechanismus, wenn auch nur zum Zwecke der nationalen Vergrößerung. Da die bewusste Kontrolle der Ökonomie jedoch auch ein Ziel des Sozialismus ist, wurde die ökonomische Regulierung durch die Monopolisierung des Kapitals und seine imperialistischen Aktivitäten von einigen Sozialisten und Sozialreformern, wie den Fabians in England, als fortschrittlicher Schritt zur Entwicklung einer rationaleren Gesellschaft angesehen.
Da ein relativ ungestörtes Wachstum der Arbeiterorganisationen im aufsteigenden Kapitalismus eine Kapitalakkumulationsrate voraussetzt, die gleichzeitig ausreichende Profite und eine allmähliche Verbesserung der Bedingungen der arbeitenden Klassen ermöglicht, kann die national organisierte Arbeiterbewegung, ob sie nun auf soziale Reformen oder nur auf höhere Löhne aus ist, nicht umhin, die Expansion des nationalen Kapitals zu begünstigen. Ob man es nun zugibt oder nicht, der internationale Kapitalwettbewerb betrifft sowohl die Arbeiterklasse als auch das Kapital. Auch der sozialistische Flügel der Arbeiterbewegung wird sich diesem äußeren Druck nicht entziehen können, um den Kontakt zur Realität nicht zu verlieren und seinen Einfluss auf die Arbeiterklasse aufrechtzuerhalten, ungeachtet aller ideologischen Lippenbekenntnisse zum proletarischen Internationalismus als dem endgültigen, aber fernen Ziel der sozialistischen Bewegung.
Die nationale Aufteilung der kapitalistischen Produktion nationalisiert auch den proletarischen Klassenkampf. Dies ist nicht nur eine Frage der Ideologie, d.h. der unkritischen Übernahme des bourgeoisen Nationalismus durch die Arbeiterklasse, sondern auch eine praktische Notwendigkeit, denn der Klassenkampf wird im Rahmen der nationalen Ökonomie geführt. Da die Einheit der Menschheit ein weit entferntes und vielleicht utopisches Ziel ist, bestimmen der sich historisch entwickelnde Nationalstaat und sein Erfolg in der Konkurrenz um das Kapital das Schicksal seiner Arbeiterbewegung und das der Arbeiterklasse in Bezug auf die Bedingungen ihrer Existenz. Wie alle Ideologien muss auch der Nationalismus, um wirksam zu sein, einen gewissen Bezug zu den realen Bedürfnissen und Möglichkeiten haben, und zwar nicht nur für die direkt mit ihm verbundenen Klasseninteressen, sondern auch für diejenigen, die seiner Herrschaft unterworfen sind.
Einmal etabliert und systematisch aufrechterhalten, verselbständigt sich die Ideologie des Nationalismus wie das Geld und behauptet ihre Macht, ohne die spezifischen materiellen Klasseninteressen offenzulegen, die zu ihrer Entstehung geführt haben. So wie nicht der gesellschaftliche Produktionsprozess, sondern seine fetischistische Erscheinungsform die bewusste Wahrnehmung der kapitalistischen Gesellschaft strukturiert, so erscheint die nationalistische Ideologie, losgelöst von den ihr zugrunde liegenden klassenbestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen, als Teil des falschen Bewusstseins, das die gesamte Gesellschaft beherrscht. Der Nationalismus erscheint nun als ein Wert an sich und als die einzige Form, in der eine Art von „Sozialität/Gesellschaftlichkeit“ in einer ansonsten asozialen und atomisierten Gesellschaft verwirklicht werden kann. Er ist eine abstrakte Form der Sozialität anstelle einer realen Sozialität, aber er zeugt von dem subjektiven Bedürfnis des isolierten Individuums, seine Menschlichkeit als soziales Wesen zu behaupten. Als solche ist sie der ideologische Reflex der kapitalistischen Gesellschaft als einem System der gesellschaftlichen Produktion zum privaten Nutzen, das auf der Ausbeutung einer Klasse durch eine andere beruht. Sie ergänzt oder ersetzt die Religion als kohäsive Kraft der sozialen Existenz, da in diesem Stadium der Entwicklung der sozialen Produktionskräfte keine andere Form des Zusammenhalts möglich ist. Es handelt sich also um ein historisches Phänomen, das so „natürlich“ zu sein scheint wie die kapitalistische Produktion selbst und ihr eine Aura von Sozialität verleiht, die sie in Wirklichkeit nicht besitzt.
Die Zweideutigkeit von Ideologien, einschließlich des Nationalismus, ist sowohl ihre Schwäche als auch ihre Stärke. Um ihre Wirksamkeit auf Dauer zu bewahren, muss die Ideologie unermüdlich gepflegt werden. Die Verinnerlichung des ideologischen Nationalismus kann nicht dem widersprüchlichen Sozialisationsprozess selbst überlassen werden, sondern muss systematisch propagiert werden, um jeden aufkommenden Zweifel an seiner Gültigkeit für die Gesellschaft als Ganzes zu bekämpfen. Da aber die Mittel der Indoktrination zusammen mit denen der Produktion und der unmittelbaren physischen Kontrolle in den Händen der Bourgeoisie liegen, sind die Ideen der herrschenden Klasse die gesellschaftlich herrschenden Ideen und entsprechen in dieser Form dem subjektiven Bedürfnis des Einzelnen nach Integration in eine größere und schützende Gemeinschaft.
Das Kapital operiert international, konzentriert aber seine Profite auf das Inland. Seine Internationalisierung erscheint somit als ein imperialistischer Nationalismus, der auf die Monopolisierung der Quellen des Mehrwerts abzielt. Dies ist zugleich ein politischer und ein ökonomischer Prozess, auch wenn der Zusammenhang zwischen beiden nicht immer klar erkennbar ist, weil die nationalistische Ideologie relativ unabhängig existiert und die ihr zugrunde liegenden spezifisch kapitalistischen Interessen verschleiert. Diese Tarnung funktioniert umso besser, als die gesamte bekannte Geschichte die Geschichte von Plünderungen und Kriegen verschiedener Völker war, die damit beschäftigt waren, die eine oder andere ethnische Gruppe, das eine oder andere Imperium aufzubauen oder zu zerstören. „Nationale“ Sicherheit oder „nationale“ Sicherheit durch Expansion scheint der Stoff zu sein, aus dem die Geschichte ist, ein nie endender „darwinistischer“ Kampf ums Dasein, unabhängig von der historischen Besonderheit der Klassenbeziehungen innerhalb der „nationalen“ Einheiten.
So wie Monopolisierung und Wettbewerb oder Freihandel und Protektionismus Aspekte ein und derselben historischen Entwicklung sind, sind auch Nationalismus und Imperialismus untrennbar miteinander verbunden, auch wenn letzterer verschiedene Formen annehmen kann, von direkter Herrschaft bis zu indirekter ökonomischer und finanzieller Kontrolle. Politisch gesehen erscheint die Kapitalakkumulation als konkurrierende Expansion der Nationen und somit als imperialistischer Kampf um größere Anteile an den ausbeutbaren Ressourcen der Welt, seien sie real oder imaginär. Dieser Prozess, der der kapitalistischen Produktion innewohnt, teilt die Welt in mehr oder weniger erfolgreiche kapitalistische Nationen auf. Der spezifisch kapitalistische imperialistische Imperativ oder sogar die bloße Gelegenheit zur imperialistischen Expansion wurde von einigen Nationen früher als von anderen aufgegriffen, wie z. B. von England und Frankreich im achtzehnten Jahrhundert, und wurde von Nationen wie Deutschland und den Vereinigten Staaten bis zum neunzehnten Jahrhundert verzögert. Einige kleinere Nationen waren überhaupt nicht in der Lage, in den imperialistischen Wettbewerb einzutreten und mussten sich in eine von den großen kapitalistischen Mächten beherrschte Weltstruktur einfügen. Das wechselnde Glück der imperialistischen Nationen in ihrem Kampf um größere Anteile an den weltweiten Profiten zeigt sich ökonomisch in der Konzentration des weltweit wachsenden Kapitals auf eine abnehmende Zahl von Nationen. Dies würde sich schließlich auch aus der Expansion des Kapitals ohne imperialistische Interventionen seitens der konkurrierenden nationalen Kapitale ergeben: Nicht die Konkurrenz bestimmt den Verlauf der kapitalistischen Entwicklung, sondern die kapitalistische Produktion bestimmt den Verlauf der Konkurrenz und die blutige Geschichte des Kapitalismus.
Das Ziel der nationalen Rivalitäten ist die Anhäufung von Kapital, auf dem alle politische und militärische Macht beruht. Die Ideologie des Nationalismus beruht nicht auf der Existenz der Nation, sondern auf der Existenz des Kapitals und dessen Selbstexpansion. In diesem Sinne vermittelt der Nationalismus die Internationalisierung der Kapitalproduktion, ohne zu einer einheitlichen weltweiten Ökonomie zu führen, so wie die Konzentration und Monopolisierung des nationalen Kapitals dessen Charakter als Privateigentum nicht aufhebt. Sowohl die nationale als auch die internationale kapitalistische Produktion schafft die weltweite Ökonomie durch die Schaffung des Weltmarktes. Diesem allgemeinen Wettbewerbsprozess liegt ein tatsächliches, wenn auch noch abstraktes Bedürfnis nach einer weltweiten Organisation von Produktion und Verteilung zum Nutzen der gesamten Menschheit zugrunde. Dies nicht nur, weil die Erde für eine solche Organisation viel besser geeignet ist, sondern auch, weil nur durch eine uneingeschränkte internationale Zusammenarbeit ohne Rücksicht auf partikuläre Interessen die gesellschaftlichen Produktivkräfte weiter entwickelt und die Gesellschaft von Not und Elend befreit werden kann. Die zwingende gegenseitige Abhängigkeit, die eine fortschreitende gesellschaftliche Entwicklung mit sich bringt, setzt sich jedoch kapitalistisch in einem nicht enden wollenden Kampf um imperialistische Kontrolle durch. Um die Jahrhundertwende war nicht der Nationalismus, sondern der Imperialismus das große Thema. Die deutschen „nationalen“ Interessen waren nun imperialistische Interessen, die mit den Imperialismen anderer Nationen konkurrierten. Die französischen „nationalen“ Interessen waren die des französischen Imperiums, so wie die britischen die des britischen Imperiums waren. Die Kontrolle über die Welt und die Aufteilung und Neuaufteilung dieser Kontrolle zwischen den großen imperialistischen Mächten und sogar zwischen weniger bedeutenden Nationen bestimmten die „nationale“ Politik und gipfelten im ersten weltweiten Krieg.
So wie die Krise die grundlegenden Widersprüche der Kapitalproduktion offenbart, offenbart der kapitalistische Krieg den imperialistischen Charakter des Nationalismus. Der Imperialismus stellt sich jedoch als ein nationales Bedürfnis dar, eine Krisensituation in einem Verteidigungskampf gegen die imperialistischen Pläne anderer Nationen zu verhindern oder zu überwinden. Wo es solche Nationen nicht gibt, nimmt der Imperialismus den Anschein einer Maßnahme an, um das Wohlergehen der Nation zu erhalten und gleichzeitig seine „zivilisatorische“ Mission in neue Gebiete zu tragen. Es ist nicht allzu schwierig, die Zustimmung einer mehr oder weniger an die kapitalistischen Verhältnisse gewöhnten und somit unter dem Einfluss des Nationalismus stehenden Arbeiterklasse für jedes imperialistische Abenteuer zu erhalten. Der Zustand der absoluten Abhängigkeit der Arbeiter lässt sie spüren, dass ihr Los auf Gedeih und Verderb untrennbar mit dem der Nation verbunden ist. Da sie noch nicht in der Lage und daher auch nicht willens sind, für irgendeine Art von Selbstbestimmung zu kämpfen, gelingt es ihnen, sich davon zu überzeugen, dass die Belange ihrer Herren auch ihre eigenen sind. Dies umso mehr, als sie sich nur auf diese Weise als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft sehen können und als Bürger des Staates die „Würde“ und „Wertschätzung“ erhalten, die ihnen als Angehörige der Arbeiterklasse verwehrt bleibt.
Es ergibt keinen Sinn, sich über diesen Zustand zu ärgern und die Arbeiterklasse als dumme Klasse abzutun, die nicht in der Lage ist, ihre eigenen Interessen von denen der Bourgeoisie zu unterscheiden. Denn sie teilt lediglich die nationale Ideologie mit dem Rest der Gesellschaft, der sich ebenso wenig bewusst ist, dass der Nationalismus, wie früher die Religion und wie der Glaube an die Wohltaten der Marktbeziehungen, nur ein ideologischer Ausdruck für die Selbstexpansion des Kapitals ist, d.h. für die hilflose Unterwerfung der Gesellschaft unter „ökonomische Gesetze“, die ihren Ursprung in den ausbeuterischen sozialen Beziehungen der kapitalistischen Produktion haben. Zwar profitiert zumindest die herrschende Klasse von dem unsozialen Produktionsprozess der Gesellschaft, aber sie tut dies ebenso blind, wie die Arbeiterklasse ihr Leiden akzeptiert. Aus dieser Blindheit heraus erklärt sich die scheinbar unabhängige Kraft des ideologischen Nationalismus, der sich so über die gesellschaftlichen Klassenverhältnisse hinwegsetzen kann.
Die materialistische Geschichtsauffassung versucht, sowohl das Fortbestehen einer bestimmten Gesellschaftsform als auch die Gründe für ihren möglichen Wandel zu erklären. Die Anhänger des materialistischen Geschichtskonzepts sollten sich nicht über die Widerstandsfähigkeit einer bestimmten Gesellschaft wundern, die sich in ihrer kontinuierlichen Reproduktion und der damit einhergehenden Erneuerung der herrschenden Ideologie zeigt. Veränderungen innerhalb des Status quo können lange Zeit kaum wahrnehmbar oder in ihren zukünftigen Auswirkungen unerkennbar sein. Das Vorhandensein von Klassenwidersprüchen erklärt sowohl die soziale Stabilität als auch die Instabilität, die von Bedingungen abhängt, die weder von den Herrschenden noch von den Beherrschten kontrolliert werden können. Im Unterschied zu vorangegangenen Gesellschaftsformen beschleunigt das Kapital-Arbeits-Verhältnis der gesellschaftlichen Produktion jedoch kontinuierlich die Veränderungen der Produktivkräfte, während die grundlegenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse erhalten bleiben, und lässt somit eine baldige Konfrontation der konkurrierenden sozialen Klassen erwarten. Dies war jedenfalls die Schlussfolgerung, die die marxistische Bewegung aus der zunehmenden Polarisierung der kapitalistischen Gesellschaft und aus den inneren Widersprüchen ihres Produktionsprozesses zog. Die Klasseninteressen würden an die Stelle der bourgeoisen Ideologie treten und somit das Klassenbewusstsein der Bourgeoisie dem des Proletariats gegenüberstellen.
Wie bereits erwähnt, waren diese Erwartungen nicht unrealistisch und wurden auch von der Bourgeoisie gehegt, die auf das Aufkommen sozialistischer Bewegungen und die zunehmende Militanz der Lohnkämpfe mit repressiven Maßnahmen reagierte, die ihre Furcht vor der Möglichkeit einer neuen sozialen Revolution verrieten. Das Klassenbewusstsein schien tatsächlich den nationalen Konsens und den Einfluss der bourgeoisen Ideologie auf die arbeitende Bevölkerung zu zerstören. Bis etwa 1880 fand die Theorie von der Verarmung der Arbeiterklasse im Zuge der Kapitalakkumulation und der daraus resultierenden Verschärfung des Klassenkampfes ihre Bestätigung in den realen gesellschaftlichen Verhältnissen und begründete die Radikalisierung der arbeitenden Massen. Dieselbe Periode, die einer lang anhaltenden sozialen Krisensituation glich, legte jedoch auch den Grundstein für eine neue und sich beschleunigende Phase der Kapitalexpansion, die mit gelegentlichen Unterbrechungen fast bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs andauerte. Sie schuf die objektiven Bedingungen für die Legalisierung der organisierten Arbeit und ihre Integration in das kapitalistische System, sowohl in ökonomischer als auch in politischer Hinsicht.
Natürlich war die Akzeptanz der organisierten Arbeiterschaft und der sozialistischen Organisationen kein Geschenk, das der Arbeiterklasse von einer großzügigeren Bourgeoisie aus freien Stücken gemacht wurde, sondern sie war das Ergebnis von – wenn auch begrenzten – Klassenkämpfen, die der Bourgeoisie und ihrem Staat Zugeständnisse abtrotzten, die die materiellen Bedingungen der Arbeiter verbesserten und ihren sozialen Status innerhalb der bourgeoisen Demokratie aufwerteten. Diese Zugeständnisse konnten nicht ohne einen raschen Anstieg der Arbeitsproduktivität und eine damit einhergehende Beschleunigung des Akkumulationsprozesses gemacht werden. Dennoch erschienen sie als Ergebnisse der Selbstanstrengung der werktätigen Bevölkerung, einer im Rahmen des Kapitalismus aufstrebenden Klasse, die der wachsenden Illusion Vorschub leistete, dass die wachsende Macht der organisierten Arbeiterschaft die Arbeiterklasse schließlich zur gesellschaftlich dominierenden Klasse machen und die Bourgeoisie verdrängen würde. In Wirklichkeit bedeuteten die sich verbessernden Bedingungen der Arbeiterklasse nichts anderes als ihre zunehmende Ausbeutung, d.h. die Abnahme des Wertes der Arbeitskraft im Verhältnis zum Gesamtwert des Sozialprodukts. Aber sowohl die Kapitalisten als auch die Arbeiter denken im Alltag nicht in gesellschaftlichen Wertverhältnissen, sondern in der Menge der Produkte, die ihnen für die Zwecke der Kapitalexpansion oder des allgemeinen Konsums zur Verfügung stehen. Die Tatsache, dass die Verbesserung der Bedingungen der Arbeiterklasse aus dem beschleunigten Wachstum ihrer Produktivität resultierte, schmälerte nicht die Bedeutung der Verbesserung ihres Lebensstandards und deren Niederschlag in ihren ideologischen Verpflichtungen.
Enttäuscht von der langsamen Entwicklung des proletarischen Klassenbewusstseins in den führenden kapitalistischen Nationen und beunruhigt von der Fähigkeit der letzteren, ihre Krisensituationen zu überstehen und somit immer größere Höhen der Selbstexpansion zu erreichen, mussten die Sozialisten zugeben, dass die Vorhersagen von Marx über die Verarmung der Arbeiterklasse und die Entwicklung eines revolutionären Klassenbewusstseins als Auswuchs ihres Klassenkampfes durch die tatsächlichen Ereignisse unbegründet schienen. Friedrich Engels beispielsweise versuchte, diesen trostlosen Zustand mit der (später von Lenin nachgeplapperten) Behauptung einer von der Bourgeoisie bewusst geförderten „Korruption“ der Arbeiterklasse zu erklären, die es einem wachsenden Teil des Industrieproletariats ermöglichte, in gewissem Umfang an der Beute des Imperialismus teilzuhaben. Nach dieser Auffassung schwächte eine wachsende „Arbeiteraristokratie“ innerhalb der internationalen Arbeiterklasse die für einen konsequenten Kampf gegen die Bourgeoisie notwendige Klassensolidarität und trug die bourgeoise Ideologie, und hier insbesondere ihren nationalistischen Aspekt, in die Reihen des Proletariats. Der Niedergang des revolutionären Klassenbewusstseins zeigte sich in der stetigen Zunahme eines opportunistischen Reformismus, der auf der Akzeptanz der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und der bourgeoisen Demokratie beruhte.
Auf jeden Fall gab es keine direkte Verbindung zwischen dem ökonomischen Klassenkampf und der Revolutionierung des Arbeiterbewusstseins. Die Erwartung, dass die immer wiederkehrenden Auseinandersetzungen zwischen Arbeit und Kapital um Profite und Löhne zu der Erkenntnis führen würden, dass das Lohnsystem selbst abgeschafft werden muss, um die Sisyphusarbeit der Arbeiter für dieses System zu beenden, wurde enttäuscht, weil dies in diesem Stadium der kapitalistischen Entwicklung einfach nicht möglich war. Solange Gewinne und Löhne gleichzeitig – wenn auch unverhältnismäßig – steigen konnten und die Klassenverteilung des Sozialprodukts durch die soziale Gesetzgebung beeinflusst werden konnte, auch wenn dies ökonomische und politische Kämpfe mit sich brachte, wurde der Charakter dieser Kämpfe durch die begrenzten Forderungen des Teils der arbeitenden Bevölkerung bestimmt, der noch unter der Herrschaft der bourgeoisen Ideologie stand. Obwohl ihre Zahl und ihr gesellschaftlicher Einfluss wuchsen, blieben die Gewerkschaften/Syndikate und die sozialistischen Parteien in der Gesamtbevölkerung und sogar in der Arbeiterklasse insgesamt eine Minderheit.
Nicht nur, dass die Erwartungen an einen möglichen revolutionären Wandel nun in weite Ferne gerückt waren, auch das Wachstum der sozialistischen Bewegung wurde als langfristige, prosaische Erziehungsmaßnahme betrachtet, um die arbeitende Bevölkerung für die Akzeptanz der sozialistischen Ideologie zu gewinnen. Ungeachtet der Kämpfe um Löhne und Sozialreformen, die ihrerseits als Lernprozesse verstanden wurden, wurde der Klassenkampf hauptsächlich als ideologischer Kampf angesehen: Am Ende würden die Menschen den Sozialismus bevorzugen, weil er die sich entwickelnde Realität besser erfassen würde. Man musste nur den Zeitpunkt abwarten, an dem die objektiven Bedingungen selbst die sozialistische Kritik am kapitalistischen System bestätigten und damit die subjektive Unterwerfung des Proletariats unter die herrschende Ideologie beendeten.
Als organisierte Ideologie stellte sich der Sozialismus der vorherrschenden bourgeoisen Ideologie entgegen; der Klassenkampf wurde im Großen und Ganzen zu einem Kampf der Ideen und damit zur Sache der Verfechter von Ideologien. Die Ideologien konkurrierten um die Gunst der Massen, die als Empfänger und nicht als Produzenten der konkurrierenden Ideologien betrachtet wurden. Die Ideologen waren auf der Suche nach einer Anhängerschaft, um ihre Ziele durchzusetzen. Die Arbeiterklasse, die offensichtlich nicht in der Lage war, aus eigener Kraft eine sozialistische Ideologie zu entwickeln, wurde als abhängig von der Existenz einer ideologischen Führung betrachtet, die in der Lage war, die Sophistereien der herrschenden Klasse zu bekämpfen. Aufgrund der gesellschaftlichen Klassenstruktur und der damit verbundenen Arbeitsteilung lag die ideologische Führung in den Händen der Bildungsbourgeoisie, die sich für die Bedürfnisse der Arbeiter und die Ziele des Sozialismus einsetzte.
Die parlamentarischen Erfolge der sozialistischen Parteien, die eine wachsende Zahl von Vertretern der Arbeiterklasse in die politischen Institutionen des Kapitalismus brachten, veranlassten nicht nur eine wachsende Zahl von gebildeten Fachleuten, in die sozialistischen Organisationen einzutreten, sondern verschafften diesen auch ein Maß an Seriosität, das in einem früheren Stadium der sich entwickelnden sozialistischen Bewegung unbekannt war, wie begrenzt sie auch waren. Die Ausbreitung der sozialistischen Ideologie, die den Gewerkschaften/Syndikaten die ökonomischen Kämpfe überließ, wurde nun an der Zahl ihrer Vertreter im Parlament und an ihrer Fähigkeit gemessen, der Nation „die Sache des Sozialismus“ zu präsentieren und die soziale Gesetzgebung zur Verbesserung der Bedingungen der Arbeiterklasse zu initiieren und zu unterstützen. Politische Aktionen wurden nun als parlamentarische Aktivitäten verstanden, die von den Arbeitern durch ihre Vertreter durchgeführt wurden, wobei der „Basis“ nur noch die Rolle der passiven Unterstützung blieb. In relativ kurzer Zeit war die Unterwerfung der Arbeiter unter ihre intellektuellen Vorgesetzten in den Parlamenten und der Parteihierarchie so weit fortgeschritten, dass sich dieses beginnende Klassenbewusstsein in ein politisches Bewusstsein verwandelte, das von dem ihrer gewählten Führung abgeleitet war.
Was zunächst eine Tendenz innerhalb der sozialistischen Bewegung war, nämlich die Ersetzung der proletarischen Selbstbestimmung durch eine nichtproletarische Führung, die im Namen der Arbeiterklasse handelt, wurde später zur Überzeugung und Praxis aller Zweige des Sozialismus, sowohl des reformistischen als auch des revolutionären. Nicht nur die Rechtsrevisionisten, sondern auch der so genannte Zentrist Karl Kautsky und der Linke Lenin waren davon überzeugt, dass die Arbeiterklasse allein nicht in der Lage sei, ein revolutionäres Bewusstsein zu entwickeln, und dass dieses von außen, von Mitgliedern der Bildungsbourgeoisie, an sie herangetragen werden müsse, die allein die Fähigkeit und die Möglichkeit hätten, die Feinheiten des kapitalistischen Systems zu verstehen und somit eine sinnvolle Gegenideologie zur herrschenden kapitalistischen Ideologie zu entwickeln und so den Kampf der Arbeiterklasse zu führen. Natürlich war diese elitäre Vorstellung selbst ein Produkt des rasanten Aufstiegs der Arbeiterbewegung, die immer mehr Elemente aus der Mittelschicht (middle class) in ihre Reihen aufnahm. Ideologisch gesehen war der Sozialismus jedenfalls nicht mehr das ausschließliche Anliegen des erwachenden Proletariats, sondern wurde zu einer sozialen Bewegung, die auch für Angehörige der Mittelschicht (middle class) attraktiv war.
Diese Klasse befand sich in einem Transformationsprozess, gefangen zwischen den Mühlsteinen der Kapitalkonzentration und der sozialen Polarisierung. Die alte Mittelschicht (middle class) verlor ihren Eigentumscharakter und wurde in zunehmendem Maße zu einer Angestelltenklasse im Dienste der Großbourgeoisie und ihres Staatsapparats. Sie wurde zu einer Managerklasse/Verwaltungsklasse, die die Kluft zwischen Bourgeoisie und Proletariat füllte, und in den verschiedenen Berufen zu einer Klasse, die die persönlichen und kulturellen Bedürfnisse der geteilten Gesellschaft bediente. Die Vermittlungsfunktion der neuen Mittelschicht (middle class) zur Unterstützung der bestehenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse spiegelt sich in der sozialistischen Bewegung in der Bestimmung ihrer Theorie und Praxis durch ihre intellektuelle Führung wider. Zwar gelang es einigen Arbeitern, in ihren Organisationen in führende Positionen aufzusteigen, doch wurde der Ton ihrer Politik, der sich in einer angeblichen Vorherrschaft der Theorie gegenüber der Praxis ausdrückte, von der intellektuell emanzipierten, aus der Mittelschicht (middle class) stammenden Führung bestimmt. Dabei ging es weniger um das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis als vielmehr um das Verhältnis zwischen den Führenden und den Geführten. Die Politik wurde von einer gewählten Führung gemacht und fand ihre parlamentarische und außerparlamentarische Unterstützung in der disziplinierten Befolgung der Programme ihrer Organisationen und ihrer zeitbedingten Variationen durch die Masse der Arbeiter. Die für das kapitalistische System so notwendige Trennung zwischen geistiger und manueller Arbeit war somit auch ein Merkmal der Arbeiterbewegung.
Der rasche Zustrom bourgeoiser Elemente in die Führungspositionen der sozialistischen Bewegung beunruhigte selbst ihre intellektuellen Begründer. Ungeachtet seiner eigenen reformistischen Neigungen war zum Beispiel Friedrich Engels sehr besorgt über die zunehmende Unterwerfung der Selbsttätigkeit der Arbeiterklasse unter die politische Initiative der wohlmeinenden petite bourgeoisie (Kleinbourgeoisie). Sein eigener Reformismus sei schließlich eine bloße Strategie und keine Frage des Prinzips, während der Reformismus der Kleinbourgeoisie dazu neige, den Klassenkampf im Gehorsam gegenüber „den Regeln“ der bourgeoisen Demokratie gänzlich zu eliminieren. „Seit der Gründung der Internationale“, schreibt er an August Bebel, „lautet unser Schlachtruf: Die Emanzipation der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein. Wir können einfach nicht mit Leuten zusammenarbeiten, die offen erklären, dass die Arbeiter nicht genügend gebildet sind, um sich selbst zu befreien, und deshalb von einer philanthropischen Bourgeoisie von oben befreit werden müssen“3 Er schlug vor, diese Elemente aus den sozialistischen Organisationen herauszuwerfen, um ihren proletarischen Charakter zu wahren.
Die Arbeiter selbst zeigten sich jedoch unbeeindruckt, wenn nicht gar geschmeichelt von der Aufmerksamkeit, die ihnen von einigen der „besseren Leute“ zuteil wurde. Außerdem spürten sie das Bedürfnis nach Verbündeten in ihrem eher ungleichen Klassenkampf.
Aber in jedem Fall ging der revolutionäre Charakter des Sozialismus nicht wegen der von seiner nichtproletarischen Führung entwickelten klassenkollaborationistischen Ideen verloren, sondern weil die „Strategie“ des Reformismus als einzig mögliche praktische Tätigkeit zum Prinzip der Organisationen bei ihren Versuchen wurde, ihren Einfluss innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zu festigen und zu vergrößern. Die deutsche Sozialdemokratie z.B. hatte 1913 fast eine Million Mitglieder und konnte bei nationalen Wahlen 4,5 Millionen Stimmen auf sich verbuchen. Sie schickte 110 Abgeordnete in den Reichstag. Die Gewerkschaften/Syndikate zählten rund 2,5 Millionen Mitglieder und verfügten über ein Finanzvermögen von 88 Millionen Mark. Die Sozialdemokratische Partei selbst investierte 20 Millionen Mark in die Privatindustrie und in Staatsdarlehen. Sie beschäftigte mehr als 4.000 Berufsfunktionäre und 11.000 Angestellte und kontrollierte 94 Zeitungen und verschiedene andere Publikationen. Die Partei zu erhalten und ihr ungestörtes weiteres Wachstum zu sichern, war die erste Überlegung derjenigen, die sie kontrollierten, eine Haltung, die in den rein proletarischen Gewerkschaften/Syndikate noch stärker ausgeprägt war.
Es ergibt keinen Sinn, diesen Prozess in anderen Ländern zu beschreiben, auch wenn sich deren Arbeiterbewegungen in der einen oder anderen Hinsicht von denen in Deutschland unterscheiden. Die Sozialdemokratie und die Gewerkschafts-, Syndikatsbewegung entwickelten sich – wenn auch meist langsamer als in Deutschland – in allen entwickelten kapitalistischen Ländern und weckten damit das Gespenst einer sozialistischen Bewegung, die schließlich mit reformistischen oder revolutionären Mitteln oder beidem den Kapitalismus in eine klassenlose, ausbeutungsfreie Gesellschaft verwandeln könnte. In der Zwischenzeit war es dieser Bewegung jedoch erlaubt, ja durch die Umstände sogar gezwungen, sich so gründlich wie möglich in das kapitalistische Gefüge zu integrieren, als eine besondere Interessengruppe unter denjenigen, die zusammen die kapitalistische Marktökonomie bilden. Das Gespenst des Sozialismus, das von der Bourgeoisie benutzt wurde, um die politischen und ökonomischen Bestrebungen der Arbeiterklasse einzugrenzen, blieb eine bloße Erscheinung, die nicht in der Lage war, das Selbstbewusstsein der herrschenden Klassen in Bezug auf ihre materielle oder ideologische Kontrolle der Gesellschaft zu zerstören. Die organisierte Arbeiterbewegung blieb, in welchem Gewand auch immer, eine kleine Minderheit innerhalb der Arbeiterklasse und zeigte damit, dass eine entscheidende Schwächung der bourgeoisen Ideologie den tatsächlichen Zerfall des Kapitalismus voraussetzt. Erst wenn sich die Diskrepanz zwischen Ideologie und Realität in einer anhaltenden Verschlechterung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse offenbart, wird der ansonsten recht komfortable ideologische Konsens neuen, den neuen Notwendigkeiten entsprechenden Ideen weichen.
Es besteht auch ein ziemlicher Unterschied zwischen einer Ideologie, die sich auf die Tradition und die tatsächlichen Umstände stützt, und einer Ideologie, die sich auf nicht existierende Bedingungen stützt, mit Bezug auf eine Zukunft, die eine vernünftige Erwartung sein kann oder auch nicht. In dieser Hinsicht ist die sozialistische Ideologie gegenüber der herrschenden kapitalistischen Ideologie im Nachteil. Ein starkes Auftreten der letzteren zum Zwecke der Kriegsführung oder auch aus internen Gründen wird selbst bei einigen ihrer konsequentesten Anhänger ernsthafte Zweifel an der Gültigkeit oder Wirksamkeit der sozialistischen Ideologie hervorrufen. Das aufkommende Gefühl der Unsicherheit, gemischt mit der Angst vor dem Unbekannten, das die Massenhysterie bei Kriegsausbruch erklärt, wird auch die Sozialisten beeinflussen und sie dazu veranlassen, ihre eigenen ideologischen Verpflichtungen erneut zu hinterfragen. Ihre kritische Haltung gegenüber der herrschenden Ideologie, um es noch einmal zu sagen, entbindet sie nicht davon, so zu handeln, als stünden sie unter deren Einfluss, während sich ihre sozialistischen Überzeugungen unter den gegebenen Bedingungen ihrer Existenz nicht verwirklichen lassen. Sie können sich von der scheinbaren Euphorie der aufgewühlten Massen mitreißen lassen und ihre eigenen Zweideutigkeiten im trüben Meer des Nationalismus ertränken, indem sie spontan ihre latenten, aber noch nicht verlorenen Loyalitäten wieder bekräftigen.
Hinzu kommt die objektive Tatsache der nationalen Form des Kapitalismus und damit seiner Arbeiterbewegung, die nicht durch ein rein ideologisches Bekenntnis zum Internationalismus überwunden werden kann, wie es ein loses beratendes Gremium wie die Zweite Internationale leisten kann. Die verschiedenen nationalen Organisationen, aus denen sich diese Institution zusammensetzte, unterschieden sich untereinander hinsichtlich ihrer effektiven Kräfte in ihren jeweiligen Ländern und damit auch hinsichtlich ihrer Möglichkeiten, die nationale Politik zu beeinflussen. Was würde geschehen, wenn es der sozialistischen Bewegung eines Landes gelänge, die Bourgeoisie an der Kriegführung zu hindern, während dies der Bewegung eines anderen Landes nicht gelänge? Auch wenn „der Hauptfeind im eigenen Land steht“, kann ein ausländischer Feind dennoch eine Nation angreifen, die durch ihre sozialistische Opposition wehrlos geworden ist.
Die Erkenntnis, dass der Weg zum Sozialismus in der ungleichen kapitalistischen Entwicklung, die sich auch im ungleichen Klassenbewusstsein der arbeitenden Bevölkerung zeigt, ein Hindernis findet, veranlasste Marx und Engels, in imperialistischen Konflikten das eine oder andere Land zu bevorzugen und sich auf die Seite derjenigen zu stellen, die die größten Aussichten auf eine sozialistische Zukunft haben. Sie konnten sich eine kapitalistische Entwicklung ohne nationale Kriege nicht vorstellen, und sie zögerten nicht, ihre Präferenzen hinsichtlich des Ausgangs dieser Kriege zu äußern. Der Pazifismus ist keine marxistische Tradition. Es war also nicht allzu schwierig, die sozialistische Akzeptanz des Krieges zu rationalisieren und sogar die Namen von Marx und Engels zu ihrer Unterstützung anzuführen.
Ungeachtet der scheinbar allgemeinen Erkenntnis, dass im Zeitalter des Imperialismus alle Kriege Eroberungskriege sind, war es den Sozialisten immer noch möglich zu behaupten, dass sie aus ihrer Sicht auch defensiver Natur sein können, insofern sie die Zerstörung fortschrittlicherer Nationen durch sozial weniger fortgeschrittene Länder verhindern, was einen Rückschlag für den Sozialismus im Allgemeinen bedeuten würde. In der Tat wurde dies für die Mehrheit der Sozialisten in allen kriegführenden Nationen zur fadenscheinigen Rechtfertigung für die Teilnahme am imperialistischen Krieg, wobei jede nationale Organisation ihre eigenen fortschrittlicheren Bedingungen gegen die Rückständigkeit des feindlichen Landes verteidigte. Angeblich war es die Barbarei des russischen autokratischen Gegners, die die Verteidigung einer kultivierten Nation wie Deutschland verlangte, so wie es der barbarische aggressive Militarismus des noch halbfeudalen Deutschlands war, der die Verteidigung demokratischerer Nationen wie England und Frankreich rechtfertigte. Aber solche Rationalisierungen verdeckten lediglich die tatsächliche Unfähigkeit und den Unwillen, sich dem kapitalistischen Krieg auf die einzig wirksame Weise zu widersetzen, nämlich durch revolutionäre Aktionen. Die internationale Arbeiterbewegung war nicht mehr oder noch nicht eine revolutionäre Bewegung, sondern eine, die sich mit sozialen Reformen zufrieden gab und deshalb von einer Bourgeoisie geduldet wurde, die diese Zugeständnisse noch ohne Schaden für sich selbst gewähren konnte. Die Antikriegsresolutionen, die auf den Kongressen der Internationale verabschiedet wurden, waren nicht mehr als ein Pfeifen im Dunkeln und so undurchsichtig formuliert, dass sie praktisch unverbindlich waren.
1909, in der ersten Blüte seiner sozialistischen Bekehrung, schrieb Upton Sinclair ein Manifest, in dem er die Sozialisten und die Arbeiter Europas und der Vereinigten Staaten aufrief, sich der Gefahr des herannahenden Weltkriegs bewusst zu werden und sich zu verpflichten, dieses Unheil durch die Androhung eines Generalstreiks in allen Ländern zu verhindern. Er schickt das Manifest an Karl Kautsky zur Veröffentlichung in der sozialistischen Presse. Hier ist Kautskys Antwort:
„Ihr Manifest gegen den Krieg habe ich mit großem Interesse und herzlicher Sympathie gelesen. Dennoch bin ich nicht in der Lage, es zu veröffentlichen, und Sie werden weder in Deutschland noch in Österreich oder Russland jemanden finden, der es wagen würde, Ihren Aufruf zu veröffentlichen. Er würde sofort verhaftet werden und einige Jahre Gefängnis wegen Hochverrats bekommen…. Mit der Veröffentlichung des Manifests würden wir unsere eigenen Genossen in die Irre führen, ihnen mehr versprechen, als wir erfüllen können. Niemand, auch nicht der revolutionärste unter den Sozialisten in Deutschland, denkt daran, sich dem Krieg durch Insurrektion und Generalstreik zu widersetzen. Wir sind zu schwach, um das zu tun…. Ich hoffe, dass wir nach einem Krieg, nach dem Debakel einer Regierung, stark genug sein werden, um die politische Macht zu erobern…. Das ist nicht nur meine persönliche Meinung, in diesem Punkt ist sich die ganze Partei, ohne Ausnahme, einig…. Sie können sicher sein, dass niemals der Tag kommen wird, an dem die deutschen Sozialisten ihre Anhänger auffordern werden, für das Vaterland zu den Waffen zu greifen. Was Bebel ankündigte, wird nie geschehen, denn heute gibt es keinen Feind, der die Unabhängigkeit des Vaterlandes bedroht. Wenn es heute Krieg geben wird, dann nicht zur Verteidigung des Vaterlandes, sondern zu imperialistischen Zwecken, und ein solcher Krieg wird die gesamte Sozialistische Partei Deutschlands in energischer Opposition finden. Das können wir versprechen. Aber wir können nicht so weit gehen und versprechen, dass diese Opposition die Form der Insurrektion oder des Generalstreiks annehmen wird, wenn es nötig ist, noch können wir versprechen, dass unsere Opposition in jedem Fall stark genug sein wird, um den Krieg zu verhindern. Es wäre schlimmer als nutzlos, mehr zu versprechen, als wir erfüllen können4.“
Während sich Kautskys Pessimismus in Bezug auf die Möglichkeit, den herannahenden Krieg zu verhindern, als richtig erwies, erwies sich seine optimistische Einschätzung der Antikriegsposition der deutschen Arbeiterbewegung als völlig irrig. Im Übrigen war dies keine deutsche Besonderheit, sondern hatte, mit leichten Abwandlungen, in allen kriegführenden Nationen seinen Äquivalent. Natürlich gab es Ausnahmen von der Regel, aber der tatsächliche Ausbruch des Krieges zeigte, dass die großen Mehrheiten innerhalb der organisierten Arbeiterschaft und innerhalb der Arbeiterklasse insgesamt nicht nur bereit waren, den imperialistischen Krieg zu unterstützen, sondern dies sogar mit Begeisterung taten, was Kautsky dazu zwang, sich mit der Tatsache abzufinden, dass „die Internationale ein Instrument des Friedens, aber in Zeiten des Krieges unbrauchbar war.“ So einfach es war, über die Verhinderung eines Krieges zu diskutieren, so schwierig war es, zu handeln, wenn er kam. Der fait acompli (A.d.Ü., vollendete Tatsache) der herrschenden Klassen reichte aus, um Bedingungen zu schaffen, die eine internationale Bewegung über Nacht zerstörten, die jahrzehntelang versucht hatte, den bourgeoisen Nationalismus durch die Entwicklung von proletarischem Klassenbewusstsein und Internationalismus zu überwinden.
In Anlehnung an einen alten Slogan, der sich auf die französische Nation bezog, erklärte Marx einst: „Das Proletariat ist revolutionär oder es ist nichts.“ Im Jahr 1914 war es offensichtlich ein Nichts, da es sich anschickte, sein Leben für die imperialistischen Vorstellungen der Bourgeoisie hinzugeben. Die sozialistische Ideologie erwies sich als nur oberflächlich, unfähig, dem konzertierten Ansturm der gewohnten bourgeoisen Ideologie zu widerstehen, die das nationale mit dem allgemeinen Interesse identifiziert. Die Arbeiterklasse als Ganzes stellte sich den herrschenden Klassen für Kriegszwecke zur Verfügung, während sie in Friedenszeiten ihre Klassenposition akzeptierte. Die kapitalistische Realität wiegt schwerer als die sozialistische Ideologie, die noch keine tatsächliche, sondern nur eine potenzielle gesellschaftliche Kraft darstellt. So schwierig es auch ist, die vereinheitlichende Kraft der bourgeoisen Ideologie und ihren Einfluss auf die breiten Massen zu verstehen, so sehr ändert diese Schwierigkeit selbst nichts an der Kraft der traditionellen Ideologie. Erstaunlich war vielmehr, wie schnell sich die sozialistische Bewegung selbst den Erfordernissen des imperialistischen Krieges unterwarf und damit aufhörte, eine sozialistische Bewegung zu sein. Es war, als ob es überhaupt keine sozialistische Bewegung gegeben hätte, sondern nur eine Scheinbewegung ohne die Absicht, nach ihren Überzeugungen zu handeln.
Der Zusammenbruch der sozialistischen Bewegung und der Zweiten Internationale wurde propagandistisch als „Verrat“ an den Prinzipien und an der Arbeiterklasse dargestellt. Dies ist natürlich ein Rückgriff auf Idealismus und eine Leugnung der materialistischen Geschichtsauffassung. Tatsächlich hatten, wie wir oben festgestellt haben, die Veränderungen, die die Bewegung im Rahmen der allgemeinen kapitalistischen Entwicklung durchlaufen hatte, alle programmatischen Prinzipien längst in die rein ideologische Sphäre verbannt, wo sie jeden Zusammenhang mit dem opportunistischen Verhalten der Bewegung verloren. Der pragmatische Opportunismus der reformistischen Bewegung besaß keine Prinzipien mehr, die er „verraten“ konnte, sondern passte seine Aktivitäten an das an, was im Rahmen des Kapitalismus möglich war. Zweifelsohne waren die auf den internationalen Kongressen und in den einzelnen Ländern geäußerten Antikriegshaltungen echte Überzeugungen und die Sehnsucht nach einem immerwährenden Frieden ein echter Wunsch, und zwar bereits aufgrund der weit verbreiteten Befürchtung, dass der Krieg zur Zerstörung der sozialistischen Bewegung führen würde, da der bourgeoise Staat seine interne Opposition unterdrücken könnte, um den Krieg effektiver zu führen. Nicht gegen den Krieg zu sein, schien eine Möglichkeit zu sein, sich persönlich und organisatorisch abzusichern, aber das allein erklärt noch nicht den Eifer, mit dem die sozialistischen Parteien und Gewerkschaften/Syndikate ihre Dienste für den Krieg und sein erhofftes siegreiches Ende anboten. Dahinter steckte die Tatsache, dass diese Organisationen zu beachtlichen bürokratischen Institutionen geworden waren, die ihre eigenen Interessen im kapitalistischen System und im Nationalstaat verfolgten. Diese Errungenschaft wiederum hatte sowohl den Lebensstil als auch die allgemeine Einstellung derjenigen verändert, die die bürokratischen Positionen innerhalb der Arbeiterorganisationen besetzten. Waren sie einst Proletarier gewesen, die sich ihrer Klasseninteressen bewusst waren, so waren sie es nun nicht mehr, sondern fühlten sich als Angehörige der Mittelschicht (midde class) und änderten ihre Sitten und Gewohnheiten entsprechend. Abgegrenzt von der eigentlichen Arbeiterklasse und einem bequemen Routinismus verfallen, waren sie weder willens noch in der Lage, ihre Anhängerschaft zu ernsthaften Antikriegsaktivitäten zu bewegen. Selbst ihre harmlosen Mahnungen für den Frieden fanden mit der Kriegserklärung ein jähes Ende.
Sicherlich gab es Minderheiten innerhalb der Führung, der Basis und der Arbeiterklasse, die gegen die Kriegshysterie, die die breiten Massen erfasste, immun blieben, aber sie fanden keine Möglichkeit, ihre Standhaftigkeit in bedeutende Aktionen umzusetzen. Als der Krieg Realität wurde, sahen sich selbst die konsequentesten internationalen Sozialisten wie Keir Hardie von der britischen Independent Labour Party gezwungen, zuzugeben, „dass die Jungs, wenn sie erst einmal losgezogen sind, um die Schlachten ihres Landes zu schlagen, nicht durch Uneinigkeit zu Hause entmutigt werden dürfen“5. Da Sozialisten und Nicht-Sozialisten gemeinsam in den gegnerischen Schützengräben standen, schien es nur vernünftig, „die Jungs“ zu unterstützen und sie mit dem Nötigsten für die Kriegsführung zu versorgen. Der Krieg gegen den ausländischen Feind erforderte, kurz gesagt, die Beendigung des Klassenkampfes im Inland.
Der Triumph der Bourgeoisie ist ebenso absolut wie allgemein. Natürlich begann die Minderheit, die an sozialistischen Prinzipien festhielt, sofort, wenn auch nur im Verborgenen, den Widerstand gegen den Krieg zu organisieren und die internationale sozialistische Bewegung neu zu gründen. Aber es dauerte Jahre, bis ihre Bemühungen ein wirksames Echo fanden, zunächst in der Arbeiterklasse und dann in der Bevölkerung insgesamt.
1Die Position von Engels in dieser Frage wurde von dem Leninisten und ukrainischen Nationalisten Roman Rosdolsky in seinem Buch Friedrich Engels und das Problem der „Geschichtslosen Völker“ (Frankfurt: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 4, 1964) leidenschaftlich kritisiert.
2A.d.Ü., oder auch Vorreiternation.
3F. Engels, Briefe an Bebel (1879) (Berlin: Dietz, 1958), S. 41.
4Upton Sinclair, My Lifetime in Letters (Columbia, Mo.: University of Missouri Press, 1960), pp. 75-76.
5W. T. Rodgers and B. Donoughue, The People into Parliament (New York: Viking, 1966), p. 73.