(Italien) Weiße Räume und schwarze Buchstaben

Gefunden auf anarkiviu, die Übersetzung ist von uns

(Italien) Weiße Räume und schwarze Buchstaben

Über die repressive Operation „Sibilla“

Vom 20.01.2022

Verärgerung oder Unzufriedenheit mit der Macht auszudrücken, ist nichts für uns. In der Überzeugung, dass es nicht nur eine unüberbrückbare Kluft zwischen Freiheit und Autorität gibt, sondern dass die erstere der Ausdruck einer unreduzierbaren Andersartigkeit gegenüber der letzteren ist und dass beide unvereinbar und unversöhnlich sind, halten wir an der festen Überzeugung fest, dass die einzig mögliche Beziehung zur Macht die des Krieges ist. Entweder man erträgt sie oder man zerstört sie. Deshalb führt die Gleichgültigkeit gegenüber dem Staat und dem Kapital zu Resignation, Ergebung und schließlich zur Kapitulation. Wir Anarchisten haben eine Vorstellung von Freiheit, die zu weit gefasst ist, um „befriedigt“ werden zu können. Diese unsere Idee definiert und beansprucht – dort, wo die Theorie in der Praxis einfließt – die allumfassende und absolute Freiheit zum Ausdruck zu bringen, die sich über jede Herablassung gegenüber der Macht lustig macht, die die falschen demokratischen „Freiheiten“, die uns zugestanden werden, wirkungsvoll zertrümmert, die in einer ewigen Sehnsucht nach Revolte die Figuren und Strukturen der Macht mit Aktionen angreift und den Raum und die Zeit der Autorität umstürzt.

Manchmal, vor allem wenn das Bewusstsein willenlos ist, gelingt es der schwerfälligen Präsenz des Staates in allen Bereichen der Existenz und des täglichen Lebens, seine fleißigen Gegner zurückzudrängen, die damit beginnen, die Verwirklichung ihrer Projekte auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Feindseligkeit wird zu Gleichgültigkeit. So wird das Ziel allmählich zu dem der Aufrechterhaltung eines Antagonismus, der mit mehr oder weniger mit radikalem Wunschdenken geschmückt ist. Anstatt die Welt der Autoritäten zu zerstören, ziehen wir es vor, uns aus ihr zurückzuziehen und unsere eigene „kleine Welt“ aufzubauen. Wir widmen uns nur unser selbst, unseren Terminen, unseren Beziehungen, bishin zur „Selbstverwaltung“ und „Selbstbestimmung“ von Umgebungen und Situationen.

Aber kann es diese „Welt“ geben, einen Raum, in dem wir die Erfüllung unseres Wunsches nach einer von jeglichem Zwang freien Existenz finden können? Kann sie dann mit der Außenwelt koexistieren? Kurzum, gibt es eine Möglichkeit zu entkommen? Das glaube ich nicht. Die italienischsprachige anarchistische Bewegung war in den letzten Jahrzehnten lange Zeit voll von diesen Überzeugungen über einen möglichen „Ausbruch“ aus der Realität, getarnt mit der üblichen radikalen und alternativen Rhetorik. Letztlich ist es die „übliche“ Suche nach Gründen – sich erst selbst gegenüber, dann anderen gegenüber – für ihre fast völlige Untätigkeit gegen die Macht. Jeder Vorwand ist also gut und das „Feuer der Leidenschaften“, wie wir es vor einiger Zeit unsachgemäß betrachtet hatten, kann nun getrost in die Schublade gesteckt werden, in der wir auch andere mehr oder weniger jugendliche Überschwenglichkeiten abgelegt haben.

Um klar Schiff mit erbärmlichen Vorwänden zu machen, die jeder findet, um sein Bewusstsein zum Schweigen zu bringen und einen Schleier der Gleichgültigkeit zwischen ihn und die „Außenwelt“ zu legen, müssen wir uns mit drei Aspekten befassen. Erstens hat es nie eine Möglichkeit gegeben, dieser Realität zu entkommen: Jedes Gärtchen, jede „glückliche Insel“ (sei es ein physischer Raum oder eine Konklave von Intellektuellen), überlebt nur dank der Toleranz des Kapitals. Zweitens gibt es nur eine Welt: die, in der wir leider leben müssen und aus der es – was immer man auch sagen mag – unmöglich ist, zu entkommen. Vor allem weil die Macht heute sogar mehr als in der Vergangenheit unsere tägliche ideologische Teilnahme für ihren Zweck fordert , oder besser gesagt unsere direkte Beteiligung an ihre Bedürfnisse abverlangt. Unsere Weigerung oder unsere Desertion in dieser Hinsicht hat immer Konsequenzen, ob große oder kleine. Schließlich ist eine Freiheit, die jenseits meiner Tür endet oder sich außerhalb meiner Komfortzone erschöpft, illusorisch, falsch: Sie ist keine Freiheit.

Freiheit ist ein komplexes Konzept, das sich einer einfachen Kategorisierung entzieht und dennoch für diejenigen, die bereit sind, sich mit seiner Anziehungskraft zu befassen und seine Reichweite zu erkunden, unmittelbar verständlich bleibt. Deshalb wird jede Art von „Freiheit“, die uns von irgendjemandem gewährt wird, nicht nur immer als Betrug entlarvt, sondern auch aktiv bekämpft werden, eben weil sie unweigerlich das Prinzip der Autorität teilt und zum Ausdruck bringt. Die Freiheit kennt weder die Logik des Kalküls (und lässt somit keine Art von „Gradualismus“ zu) noch die der Erhaltung: Unsere Sehnsucht nach ihr wendet sich heftig gegen jedes Kalkül, das auf den Aufstand abzielt, und gibt jede Logik auf, die auf die Erhaltung des Lebens abzielt. Sich von Staat und Kapital fernzuhalten bedeutet, das Leben selbst zu bewahren, es in der oberflächlichen Gleichgültigkeit einzufrieren, die allzu bequem und leicht zu ertragen ist. Meiner Meinung nach beginnt man erst zu leben durch die Konfrontation mit dem Staat,dem Kapital und in der Konfrontation mit der Autorität .. Erst wenn das Leben in die Dimension des Risikos eintritt, wird es zu einer treibenden Kraft, zur Kraft der Utopie.

In der gegenwärtigen historischen Epoche können wir noch deutlicher sehen, dass es immer weniger Raum für ein Leben gibt, das ausschließlich auf die Kultivierung der eigenen absichernden Bedürfnisse ausgerichtet ist. In allen Bereichen der sozialen Realität gibt es immer weniger Raum für Mediation, für Reformismus. Es wird immer schwieriger, unsere Entscheidungen zu verschleiern und es wird immer deutlicher, dass bestimmte Überzeugungen oder eingeschlagene Wege, anstatt zu einer Bereicherung (sogar zu einer Bereicherung unseres „Kampfgepäcks“) zu führen, schon längst eine Kapitulation vor der Macht bedeuten. Wir leben in einer Zeit, in der Desinteresse, Untätigkeit, mangelnde Solidarität und Untätigkeit gepriesen oder sogar zu echten „Tugenden“ erhoben werden. Dies zeigt sich auch in jenen Kreisen, die von vielen als Träger oder Verteidiger eines gewissen Antagonismus gegenüber dem aktuellen Stand der Dinge angesehen werden.

Es ist unnötig, in diesen Zeilen zu betonen, wie sehr solche Lobreden und vermeintlichen Tugenden für den Staat und das Kapital funktional sind. Es ist traurig mitanzusehen angesichts dieser sehr Situation, in der sogar große soziale Schichten der ausgebeuteten Massen das Recht einfordern, in die Gesellschaft der Kontrolle integriert zu werden. Die repressive Zuspitzung von den westlichen Demokratien wird tagtäglich mehr angezogen und es bildet sich heraus dass – während die Demokratien ihre formale Hülle intakt halten – sie sich schnell „entwickeln“, oder besser gesagt, zeigen, was sie schon immer waren; nun, angesichts all dessen denke ich, dass wir noch einmal den Wert und die Bedeutung unserer anarchistischen und revolutionären Optionen bekräftigen müssen. Wir Anarchisten haben einen Traum, der ein unbändiger Ausdruck der Gründe des Lebens gegen das gehorsame Dasein, die Demütigung, die Unterwerfung ist, die die Macht in unserem Bewusstsein zu erzeugen versucht. Deshalb glauben wir, dass die Freiheit vor allem hier und jetzt in der Auflehnung gegen jede Macht, in dem wilden Wunsch nach der praktischen und konkreten Zerstörung der Autorität liegt.

Dieser Traum wirft ständig brennende und drängende Fragen auf, die unsere Aufmerksamkeit, unser Engagement und damit unsere revolutionäre Gesinnung fordern: Was bedeutet es, das Leben zu leben? Sind unsere Prinzipien, unsere Praktiken wirklich Ausdruck eines permanenten sozialen Krieges, der keine Skrupel zulässt? Ist Anarchismus für uns ein „Zeitvertreib“? Es handelt sich um Fragen, die, wenn sie richtig gestellt werden, für diejenigen, denen die Anarchie am Herzen liegt, eine Qual sein können, gerade weil sie, noch bevor sie als Fragen einer methodischen Ordnung gestellt werden, die überraschende Fähigkeit haben, die Radikalität, die den Problemen zugrunde liegt, sofort zu enthüllen, indem sie die fraglichen Gründe für den Anarchismus und seinen unvermeidlichen Platz innerhalb der Dimension des Risikos beleuchten, der einzigen Dimension, in der die Freiheit, nach der wir uns sehnen, erahnt werden kann.

Die repressive Operation „Sibilla“, die am 11. November mit Dutzenden von Durchsuchungen, der Verhaftung von zwei Gefährten (darunter ein bereits inhaftierter Alfredo Cospito) und vier weiteren restriktiven Maßnahmen (die etwas mehr als einen Monat später von einem Gericht aufgehoben wurden) begann – eine repressive Operation, die sich vor allem gegen die anarchistische Zeitung „Vetriolo“ richtete, von der die repressiven Kräfte alle Exemplare beschlagnahmten, die sie finden konnten – erlaubt es mir, einige Beobachtungen zu machen, die nicht einmal so „neu“ sind, über Desinteresse, Untätigkeit, Entsolidarisierung, Untätigkeit. Diese miserablen Entscheidungen und Bedingungen, die seit der ersten Ausgabe von „Vetriolo“ unter anderem ein Aspekt der scharfen und radikalen Kritik sind, sind in der Tat der unmittelbare Ausdruck dessen, was wir kurz und bündig als Resignation und Kapitulation vor dem Staat und dem Kapital definieren können.

In Anbetracht der Tatsache, dass die von der Staatsanwaltschaft Perugia durchgeführten Ermittlungen bei der nationalen Anti-Terror-Staatsanwaltschaft die Handlungen einer vorangegangenen und viel konsequenteren Ermittlung der Staatsanwaltschaft Mailand (die sich auf die Zeitung, auf Gefährten in der Redaktion und anderen Gefährten richtet), die Gelegenheit ergreifen, um – ohne umständliche „Formalitäten“ – auf einen der beiden Hauptvorwürfe gegen uns einzugehen, den der Anstiftung zu einer Straftat mit dem erschwerenden Umstand des terroristischen Zwecks, ein Vorwurf, der in der Tat später in die „Sibilla“-Ermittlungen aufgenommen wurde, wahrscheinlich auf Anweisung eines Richters oder Polizeibeamten im Rahmen der bereits erwähnten, seit einiger Zeit auf nationaler Ebene laufenden Koordinierung zwischen den verschiedenen Staatsanwälten, die sich mit „Aktivitäten im Kampf gegen das anarchisch-insurrektionalistische Phänomen“ beschäftigen. Meine Überlegungen konzentrieren sich nicht so sehr auf die konkrete Anschuldigung – gegen die ich mich nicht verteidigen möchte -, sondern ich nutze diese repressive Maßnahme, um einige Überlegungen über das Wesen anarchistischer Öffentlichkeit und Theorie anzustellen.

Zu den Aspekten, die diesen Vorwurf der Aufstachellung stützen, gehört die angebliche „Geheimhaltung“ der Zeitung, die von den Carabinieri der Sondereinsatzgruppe zwanghaft als solche definiert wird, und zwar auf der Grundlage der üblichen Schlussfolgerungen und Annahmen, die die Realität selbst – sogar vor einem Richter, der mehr oder weniger ein Garant dafür ist – zu widerlegen sucht. Diese Definition der „klandestinen Zeitung“ ist notwendig, um die These zu untermauern (die auf der üblichen repressiven Überzeugung beruht, dass sich Anarchisten auf einer „doppelten Ebene“ treffen und zusammenschließen: auf einer expliziten, offenen, auf der anderen klandestinen, illegalen), dass sich „hinter“ der Zeitung eine spezifische Organisation verbirgt, die sich der Durchführung von Sprengstoff- und Brandanschlägen widmet und so die Aktion der Anarchisten auf italienischem Gebiet „wiederbelebt“.

Die Repressionsorgane haben wiederholt geschrieben, insbesondere unter Bezugnahme auf die Anklage der Anstiftung zu Verbrechen, dass die Zeitung „strategische Konzepte für die Ausrichtung und dem Mechanismus der aufstachelnden Propaganda mit der konkreten Fähigkeit, die Begehung bestimmter nicht schuldhafter Verbrechen gegen die internationale und interne Persönlichkeit des Staates zu provozieren, mit dem Ziel, durch die Ausübung von Gewalt seine rechtliche, politische, ökonomische und soziale Ordnung zu untergraben“ zum Ausdruck brachte. Warum haben sich die Carabinieri die Mühe gemacht, eine so verworrene Formulierung wie „strategische Konzepte für die Ausrichtung und dem Mechanismus der aufstachelnden Propaganda“ auszuarbeiten? Denn der „Vetriolo“ hat in den letzten fünf Jahren für die italienischsprachige anarchistische Bewegung einen wichtigen Raum dargestellt, in dem konkrete, artikulierte und tiefgreifende Analysen über den Staat und das Kapital, über das Wesen und die Ursprünge des Staates, über die gegenwärtigen Bedingungen der Ausbeutung zu finden sind, über die „autoritäre Wende einer neuen Form“ (so wie wir die Zuspitzung der Konflikte noch vor der Coronavirus-Epidemie versucht haben zu formulieren), über die theoretisch-praktische Verbindung des Anarchismus, über die anarchistische revolutionäre Methodologie, über Illegalität und Propaganda der Tat, über Internationalismus und die Notwendigkeit der Internationale. Der Angriff auf das Projekt „Vetriolo“ rührt vor allem daher, dass dieses Blatt weder ein Container, noch das Ergebnis einer in sich geschlossenen Redaktion war: Es ist reich, fast überquellend vor Analysen, vor ätzender Gesellschaftskritik, und für diejenigen, die es in den letzten Jahren redigiert, diskutiert und materiell verbreitet haben, war es keine Medaille, kein Preis, keine Fahne, die man schwenken konnte, um in irgendeinem Gemüsegarten wahrgenommen zu werden.

Der Angriff auf diese Zeitung war für den repressiven Staatsapparat geradezu ein Imperativ: Es war nicht die Frage, ob eine repressive Maßnahme gegen die Zeitung stattfinden würde, sondern wann . In Anbetracht der Ergebnisse der Operation in Form von Verhaftungen (die im Übrigen, wie bereits erwähnt, nach einem Monat annulliert wurden) ist es vernünftig zu sagen, dass die Situation viel schlimmer hätte sein können, da der Staatsanwalt die Verhaftung von sieben Gefährten und einem Begleiter beantragt hat. Auch die Absicht, die Haftsituation des Gefährten Alfredo Cospito in bedrückender und restriktiver Weise zu verschärfen, scheint vorerst gescheitert zu sein (abgesehen von den Maßnahmen zur Zensur der Korrespondenz, die ihm regelmäßig zugesandt wird).

Der Begriff der „strategische Konzepte für die Ausrichtung und dem Mechanismus der aufstachelnden Propaganda“ bezieht sich auf einen dreifachen Aspekt. Erstens ist es das Ergebnis der Tatsache, dass der Repressionsapparat nicht in der Lage war, irgendeinen Anarchisten für einen Großteil der Brandstiftungen und Sprengstoffanschläge anzuklagen, die sich in den Jahren 2017-2020 ereignet haben, und auch keinen Prozess wegen mehrere dieser Taten zu führen. Seit 2017 vergleichen die Repressionskräfte die in den Ausgaben der Zeitung veröffentlichten Artikel mit den Bekennerschreiben von mindestens einem Dutzend Aktionen, um nicht nur konzeptionelle Ähnlichkeiten, sondern auch stilistische und lexikalische Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen zu finden. Die Absicht war, neben der Aufrechterhaltung einer imposanten Überwachungsaktivität in Bezug auf die Zeitung, mindestens einen der Verdächtigen mit mindestens einer der fraglichen Handlungen „in Verbindung zu bringen“. Um letztendlich eine Reihe von Verhaftungen aufgrund spezifischer Anschuldigungen vornehmen zu können, in Verbindung mit dem Vorwurf zur Anstiftung und Begehung von Straftaten und zur subversiven Vereinigung zu terroristischen Zwecken sowie zur Untergrabung der demokratischen Ordnung. Nachdem sie also festgestellt hatten, dass es in einigen Artikeln, insbesondere in den drei Teilen des Interviews „Welche Internationale?“ des Gefährten Alfredo Cospito, begriffliche Übereinstimmungen mit einigen der Kommuniqués gab, beschlossen sie, diese nette Definition von „strategische Konzepte für die Ausrichtung und dem Mechanismus der aufstachelnden Propaganda“ zu prägen, eine Definition, die – wie alle Bullenakten – nur dazu dient, sich den Hintern abzuwischen.

Zweitens gibt es in den letzten Jahren eine wachsende Tendenz seitens der Staatsorgane, den revolutionären Aufstand und damit die Durchführung von Aktionen durch anarchistische Gefährten auf eine vorhergehende „Aufstachellungsarbeit“ einiger anarchistischer Publikationen zurückzuführen. Warum? Sicherlich, denn ihr Ziel sind die Veröffentlichungen als solche. Aber nicht nur das: Die Absicht ist, Zeitungen und Zeitschriften anzugreifen, um eine Anpassung der Theoriebildung und sogar der Verwendung eines regressiven Vokabulars zu erzwingen. Die Theorie muss „stumpf“ werden, unfähig, an der Realität zu kratzen, Unterschiede herauszuarbeiten – denn nur durch „Spaltung“ setzen sich anarchistische Ideen durch, nicht durch „Inklusion“ (der Anarchismus tritt nicht für eine Art „inklusiven“ Theoriepluralismus ein). Der Staat bewegt sich in diese Richtung, denn schließlich ist das Niveau der Konfrontation längst auf einem Minimum, so dass es – aus seiner Sicht – gut wäre, wenn sich die Anarchisten mäßigen würden, indem sie entschlossenen und radikalen Veröffentlichungen sowohl in der Theorie als auch in der revolutionären Intransigenz ein Ende setzen und damit Passivität, Desistenz, Untätigkeit in Kauf nehmen.

Die fast „zwanghafte“ Definition des Begriffs „klandestin“, die bestimmten anarchistischen Zeitungen und Zeitschriften gegeben wird, ist ein Ausdruck dieser Anpassung nach unten, die der Staat gegenüber den Anarchisten zu fördern beabsichtigt: Ziel ist es, eine Art „Klandestinität“ der anarchistischen Veröffentlichungen und Aktivitäten in den Räumen und auf den Straßen zu fördern. Dieses Ziel ist sicherlich nicht neu. In den 1990er Jahren war es stets die ROS („Gruppierung für Sondereinsätze“) der Carabinieri, das die „interne Zirkulation“ bestimmter anarchistischer Publikationen wie „Anarchismo“ und „Provocazione“ bestimmte. Heute wird „Vetriolo“, wie schon in den letzten Jahren mit der letzten Ausgabe von „Croce Nera Anarchica“ und mit dem Blatt „KNO3“, auch als klandestin gewertet, weil es deren aktualisierte Version für den„internen Gebrauch“ von vor dreißig Jahren sein soll. Die fast schon erklärte Absicht ist, dass wir uns in einem kleinen Loch, in einer Ecke verstecken sollen, in der wir noch leichter kontrolliebar sind, als wir es ohnehin schon sind.

In Anbetracht dieser Überlegungen ist jedoch jede Art von politischem Opportunismus zu kritisieren, der darauf abzielt, sich gegen die Definition der „klandestinen Zeitung“ zu wehren: als Anarchisten lehnen wir diese Definition nicht ab, weil wir die Klandestinität als etwas Unerwünschtes oder Unbrauchbares für die Gefährten betrachten oder weil wir sie abwerten, sondern weil eine solche Definition von den repressiven Kräften entworfen wurde; weil nicht wir es waren, die eine solche Verbreitungsform (in diesem Fall für eine Zeitung) gewählt haben, weil die Gefährten – wenn sie wirklich klandestine Publikationen schreiben – dies aus eigener Entscheidung (strategisch, kontingent, methodologisch) tun und niemals einem Diktat der repressiven Kräfte folgen, was ganz im Sinne der Letzteren ist. Angesichts dieser Aufforderung zu einer regressiven Anpassung muss die Antwort daher die gleiche sein wie immer: weder Mäßigung noch Entgegenkommen, weder Kompromisse, noch halbe Sachen.

Drittens schließlich drückt diese Definition von „strategische Konzepte für die Ausrichtung und dem Mechanismus der aufstachelnden Propaganda“ die offensichtliche Unfähigkeit des Staates aus, zu verstehen, dass die von Anarchisten durchgeführten Aktionen nicht das Ergebnis von Anstiftung sein können. Das Verhältnis zwischen der Propaganda und der Verbreitung von Ideen und der intransigenten revolutionären Aktion der Anarchisten deckt sich nicht mit dem Verhältnis zwischen einem Anstifter und einem Angestifteten. Anstiftung, die es meines Erachtens gar nicht geben kann, denn derjenige, der handelt – durch die Kraft der Dinge – hat in sich sicherlich schon eine Entschlossenheit entwickelt, die nicht „angestiftet“ werden muss, um eine Tat, eine Handlung zu vollziehen. Die Autonomie des Denkens und Handelns ist so groß, dass sie in der Praxis über die „Notwendigkeit“ der Anstiftung hinausgeht.

Anstiftung bezieht sich meiner Meinung nach auf eine Bedeutung, die weder mit dem Anarchismus noch mit den Anarchisten selbst verwandt ist: es wurde bereits gesagt, dass Anstiftung bedeutet, einen Stein zu werfen und “die Hand zu verstecken“ (italienische Redewendung). Dem stimme ich zu. Anarchistisches Denken, wie auch die Aktion, ist niemals als feige zu bezeichnen. Anarchisten propagieren ihre Ideen, sie sehen die Beschleunigung der Ereignisse durchaus als erstrebenswert an, sie wollen die Auseinandersetzungen eskalieren lassen, sie freuen sich, wenn die Figuren und Strukturen von Staat und Kapital getroffen werden, aber sie sind nicht nur „Anstifter“. Sie sind auch keine bloßen „Anstifter“, wenn sie einer allgemeinen „Verherrlichung“ der Aktion selbst die Beteiligung am globalen Kampf, die Illegalität, die Propaganda um ihrer selbst willen entgegensetzen. Deshalb setzen sie ihre Ideen mit Entschlossenheit und Konsequenz durch und führen ihre Handlungen mit einzigartigem Mut und Entschlossenheit aus.

Man muss sich auch vor Augen halten, dass der juristisch-legislative Apparat seine Terminologie und seine Konventionen immer so definiert, dass sie die Revolutionäre verunglimpfen, ihre Theorie und Praxis entstellen und versuchen, die Notwendigkeit des Kampfes als undurchführbar, inakzeptabel, als Wahnsinn oder als Ergebnis von „Feigheit“ abzutun. Es liegt an uns, nicht einzuknicken, unsere Veröffentlichungen und vor allem die Aktionen unserer Gefährten zu verteidigen.

Für mich stellt sich daher das Problem der Anstiftung nicht, und ich bin nicht an Überlegungen zu einer möglichen Verteidigung gegen diese Vorwürfe interessiert. Ich kann nicht erkennen, dass die Justiz die Befugnis hat, unsere Theorien und Praktiken zu bewerten oder darüber zu entscheiden, geschweige denn sie zu definieren. Die Tatsache, dass meine Ideen als Aufwiegelung betrachtet werden, lässt mich jedenfalls lächeln, denn mein Wunsch, die gegenwärtige Staats- und Gesellschaftsordnung umzustürzen, ist weit mehr als eine „Anstiftung“, er übertrifft sie in der Praxis, denn nur in der Praxis kommt die Verbindung von Theorie und Praxis des Anarchismus, vollständig und tiefgreifend, zum Ausdruck, die – wie seit über 150 Jahren bekannt ist – eine ständige Umkehrung des Gedankens in die Tat und umgekehrt bewirkt. Worte können von jemandem empfangen werden, und in diesem Fall wird dieser Jemand tun, was er für richtig hält, vielleicht macht er sie sich zu eigen, behält sie oder verbreitet sie, oder sie bleiben Worte im Wind, die nicht beachtet werden, bloße Worte mit rein theoretischem Charakter. Die Aufgabe der anarchistischen Theorie besteht vor allem in der kritischen Untersuchung der Probleme, die sich von Zeit zu Zeit vor unseren Augen auftun oder unserem Bewusstsein begegnen. Auf diese Probleme geben wir eine Antwort und eine Kritik, die nicht politisch, sondern sozial ist. Das liegt daran, dass sie sich direkt im Konflikt befindet – ohne sich ihm von außen zu nähern oder ihn zu lenken – mit der Überzeugung, dass tiefer zu gehen auch bedeutet, zu kritisieren, und zu kritisieren bedeutet immer, tiefer in etwas hineinzugehen, was die oberflächliche Bedeutung, die dem Begriff der Kritik meist gegeben wird, ausschließt. In der Kritik, in der Vertiefung der Probleme, finden wir also einige der Grundlagen der anarchistischen Theorie.

Was meine eigene Erfahrung betrifft, so hatte ich das große Glück, den Anarchismus praktisch von Anfang an kennen zu lernen. Durch die Bücher und Zeitungen von Anarchisten habe ich verstanden, wie die Kraft der Negation – diese irreduzible Negation, die sich durch die Praxis durchsetzt – der Motor war, der zu revolutionärem Aufstand und individueller Revolte geführt hat. In den Worten so vieler Anarchisten habe ich meine eigene Neugier, mein eigenes Verlangen nach Entdeckung und Vertiefung gefunden, aber meine revolutionäre anarchistische Entscheidung, die ich in meinen Zwanzigern getroffen habe, kam einige Zeit später. Ich bin der Sohn von Emigranten und Proletariern, aber vor allem bin ich Anarchist, nicht weil ich aus unseren Büchern oder Zeitungen gelernt habe, die – das darf man nicht vergessen – seit ihrem Bestehen angeklagt wurden (damals alles andere als „außergewöhnlich“ war, auf Alle die verängstigten demokratischen Gutmenschen, die sich wegen ihrer missachteten ihrer „Meinungsfreiheit“ angegriffen fühlen), sondern weil ich selbst aus diesen Erfahrungen, Entscheidungen und Überzeugungen bestehe, die, wie die Solidarität mit den Gefährten im Gefängnis, auch heute noch intakt sind. Ohne Verzögerung, ohne Zögern.

Francesco Rota Sulis

Veröffentlicht auf der Website anarkiviu.wordpress.com am 20. Januar 2022 und in „Bezmotivny“, internationalistische anarchistische Zweiwochenschrift, Jahrgang II, Nummer 3, 7. Februar 2022.

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