Kronstadt Journal VIII

Kronstadt Journal VIII

„Genossen, meine Schüler der industriellen, Roten Armee und Seefahrt & Schulen!

Beinahe dreißig Jahre lebte ich in tiefer Liebe für das Volk und brachte, soweit es in meinen Kräften lag, bis zur jetzigen Stunde Licht und Kenntnisse allen, die danach dürsteten. Die Revolution von 1917 gab meiner Arbeit größeren Spielraum, vermehrte meine Tätigkeit, und ich widmete mich mit größter Energie dem Dienste meines Ideals.

Das kommunistische Schlagwort „Alles für das Volk“ begeisterte mich mit seiner Würde und Schönheit, und im Februar 1920 trat ich in die Russische Kommunistische Partei als Kandidatin ein. Aber der „erste Schuß“, abgefeuert gegen die friedliche Bevölkerung, gegen meine innigst geliebten Kinder, von denen sich etwa siebentausend in Kronstadt befinden, erfüllt mich mit dem Schrecken, man möchte mich als Teilhaberin an der Verantwortlichkeit für das so vergossene Blut der Unschuldigen betrachten. Ich fühle, daß ich nicht länger an das, das sich selbst durch eine teuflische Tat geschändet hat, glauben und es propagieren kann. Daher habe ich mit dem ersten Schuß aufgehört, mich als Mitglied der Kommunistischen Partei zu betrachten.“ Maria Nikolajewna Schatel (Lehrerin). (Izvestia, Nr. 6, 8. März 1921.), aus Alexander Berkmans – Die Kronstadt Rebellion

Kaum hatten die Kämpfe am 8. März begonnen, verkündete der Petrograder Sowjet triumphierend, dass die Aufständischen bereits „in voller Flucht“ seien. Am selben Tag war Lenin bei der Eröffnungssitzung des Zehnten Parteitags in Moskau ebenso zuversichtlich über den Ausgang. „Ich habe noch nicht die neuesten Nachrichten aus Kronstadt“, sagte er, „aber ich habe keinen Zweifel daran, dass dieser Aufstand, hinter dem sich die vertraute Gestalt des Generals der Weißen Garde abzeichnet, innerhalb der nächsten Tage, wenn nicht Stunden, liquidiert wird.“ Paul Avirch, Kronstadt 1921

„Lenin schwieg über Kronstadt bis zum 8. März, bis zu seiner zweiten Rede auf dem Zehnten Parteitag, bis zu dem Zeitpunkt, als die Bolschewiki begannen, Kronstadt zu bombardieren, was am 7. März um 18.45 Uhr geschah. Es gab einen Grund für Lenins Schweigen: Er bereitete die größte und blutigste Provokation vor, er tat alles, was möglich war, um die Kronstädter zu einer bewaffneten Selbstverteidigung zu provozieren, die er als eine von französischen Kapitalisten, Weißgardisten und ihren Generälen angezettelte Rebellion erklären konnte. In Kronstadt gab es jedoch weder eine Rebellion noch ein Komplott, und niemand hatte im Sinn, etwas in dieser Art vorzubereiten. Lenin provozierte um der Parteiinteressen willen, um des Absolutismus der Partei und seiner eigenen Person willen absichtlich die Matrosen, Rotarmisten und Arbeiter von Kronstadt dazu, zu ihrer eigenen Verteidigung zu den Waffen zu greifen.

Der zehnte Parteitag begann am 8. März und endete am 16. März 1921. In seiner „Eröffnungsrede“ versäumte es Lenin natürlich nicht, die Diskussion abzukürzen, indem er die Delegierten auf die Gefahr hinwies, die von Parteistreitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten ausging; und natürlich rief er zur Einheit auf, was für ihn die Stabilisierung des Status quo der Partei bedeutete.

„Ihr, Genossen, müsst wissen“, erklärte er, „dass alle unsere Feinde, und ihr Name ist Legion – unzählige ausländische Publikationen wiederholen und verstärken die zahllosen Gerüchte, die unsere bourgeoisen und petite-bourgeoise Feinde hier in der Sowjetrepublik in Umlauf bringen, nämlich: wenn es Diskussionen gibt, bedeutet das, dass es Streit gibt; wenn es Streit gibt, muss es Uneinigkeit geben; und Uneinigkeit bedeutet, dass die Kommunisten geschwächt sind und die Zeit gekommen ist, ihre Schwäche auszunutzen. Dies ist die Losung einer uns feindlich gesinnten Welt geworden. Wir dürfen das nicht einen einzigen Moment lang vergessen. Wir müssen zeigen, dass wir, welchen Luxus der Diskussion wir uns in der Vergangenheit zu Recht oder zu Unrecht auch immer erlaubt haben, jetzt die Notwendigkeit einer größeren Harmonie und Einheit als je zuvor erkennen. Wir müssen uns, nachdem wir die Fülle der Plattformen, Schattierungen, feinen Abstufungen der Meinungen auf unserem Parteitag gebührend berücksichtigt haben, sagen, dass wir, so sehr wir hier auch uneins und zerstritten sein mögen, so viele Feinde haben und die Aufgabe, vor der die Diktatur des Proletariats in einem bäuerlichen Land steht, so groß ist, dass formale Solidarität nicht genügt. Von nun an können wir uns nicht die geringste Spur von Fraktionierung leisten, egal wo und wie sie in der Vergangenheit aufgetreten sein mag.“ Grigori Petrowitsch Maximow, Die Guillotine bei der Arbeit

 

Der Leitartikel in der Iswestija vom 8. März analysiert diesen verhängnisvollen „ersten Schuss“ wie folgt. „Sie begannen die Bombardierung von Kronstadt. Nun, so sei es; wir sind bereit. Wir werden unsere Kräfte messen.“

„Sie beeilen sich zu handeln, und ja, sie sind gezwungen, sich zu beeilen. Die Werktätigen Russlands begreifen trotz aller kommunistischen Lügen, welch große Anstrengung der Befreiung aus dreijähriger Sklaverei im revolutionären Kronstadt geschaffen wird. Die Schlächter sind entnervt. Das Opfer ihrer schamlosen Bestialität, Sowjetrussland, entschlüpft ihrer Folterkammer, und mit ihr entschlüpft die Herrschaft über das werktätige Volk endgültig aus ihren verbrecherischen Händen.“

„Die kommunistische Regierung wird ein SOS senden. Das wochenlange Bestehen des freien Kronstadt ist der Beweis für ihre Machtlosigkeit. Noch ein Augenblick und die würdige Antwort unserer ruhmreichen revolutionären Schiffe und Festungen wird das Schiff der sowjetischen Piraten versenken. Sie sind zum Kampf mit dem revolutionären Kronstadt gezwungen, das die Fahne ‚Macht den Sowjets und nicht den Parteien‘ erhoben hat.“ Stepan Petritschenko, Die Wahrheit über Kronstadt

 

In der Nr. 6 der Izvestia, 8. März, stand im Leitartikel: „Für was wir kämpfen“ folgendes:

„Die Arbeiterklasse hatte gehofft, durch die Oktoberrevolution ihre Befreiung zu erreichen. Aber es folgte eine nur noch größere Versklavung der menschlichen Persönlichkeit.

Die Macht der Polizei- und Gendarmeriemonarchie fiel in die Hände von Usurpatoren – den Kommunisten – die, statt dem Volk Freiheit zu geben, ihm nur die beständige Furcht der Tscheka einflößten, die durch ihre Greuel Selbst das Gendarmenregime des Zarismus übertrifft. … Am schlechtesten und verbrecherischsten von allem ist die geistige Kabale der Kommunisten: sie legten ihre Hand auch auf die innere Welt der arbeitenden Massen und zwangen jeden, nach der kommunistischen Vorschrift zu denken.

… Das Rußland der mühselig Arbeitenden, das zuerst das rote Banner der Befreiung der Arbeit erhob, ist durchtränkt vom Blut der für den größeren Ruhm der kommunistischen Herrschaft gefallenen Märtyrer. In diesem Meer von Blut ertränken die Kommunisten alle glänzenden Versprechungen und Möglichkeiten der Arbeiterrevolution. Es ist jetzt klar geworden, daß die Russische Kommunistische Partei nicht der Verteidiger der Arbeitermassen ist, der sie zu sein sich ausgibt. Die Interessen des arbeitenden Volkes sind ihr fremd. Sie hat die Macht gewonnen und fürchtet jetzt nur, sie zu verlieren und hält daher alle Mittel für erlaubt: Ehrabschneidung, Täuschung, Gewalttätigkeit, Mord und Rache an den Familien der Rebellen.

Die lange leidende Geduld ist zu Ende. Da und dort wird das Land erleuchtet vom Feuer der Rebellion im Kampf gegen Unterdrückung und Gewalt. Die Streiks von Arbeitern haben sich vervielfältigt, aber das bolschewistische Polizeiregime hat alle Vorkehrungen gegen den Ausbruch der unvermeidlichen dritten Revolution getroffen.

Trotz alledem aber ist sie gekommen und wird von den Händen der arbeitenden Massen gemacht. Die Generale des Kommunismus sehen klar, daß es das Volk ist, das sich erhoben hat, das Volk, das zur Überzeugung gelangt ist, daß die Kommunisten die Ideen des Sozialismus verraten haben. Für ihre Sicherheit fürchtend und wohl wissend, daß nirgends ein Platz ist, wo sie sich vor dem Zorn der Arbeiter verbergen können, versuchen die Kommunisten noch immer die Rebellen durch Gefängnis, Erschießen und andere Barbareien zu terrorisieren. Aber unter der kommunistischen Diktatur zu leben ist schrecklicher als der Tod …..

Es gibt keinen Mittelweg. Siegen oder sterben! Das Beispiel ist von Kronstadt gegeben, das der Schrecken der Gegenrevolution von rechts und von links ist. Hier hat die große revolutionäre Tat stattgefunden. Hier ist das Banner der Rebellion gegen die dreijährige Tyrannei und Unterdrückung der kommunistischen Autokratie erhoben, welche den dreihundertjährigen Despotismus des Monarchismus in den Schatten gestellt hat. Hier in Kronstadt wurde der Eckstein der Dritten Revolution gelegt, welche die letzten Ketten des Arbeiters brechen und den neuen, breiten Weg zu sozialistischer schöpferischer Tätigkeit eröffnen soll.

Diese neue Revolution wird die Massen im Osten und Westen erwecken und als Beispiel neuer sozialistischer Aufbautätigkeit dienen, als Gegenstück zum regierungsmäßigen, fix und fertigen, kommunistischen „Aufbau“. Die arbeitenden Massen werden lernen, daß das bisher im Namen der Arbeiter und Bauern Geschehene nicht Sozialismus war.

Ohne einen einzigen Schuß abzufeuern, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen, ist der erste Schritt geschehen. Die arbeiten, brauchen kein Blut, sie werden es nur zur Selbstverteidigung vergießen…… Die Arbeiter und Bauern marschieren vorwärts: sie lassen hinter sich die utschredilka (Konstituierende Versammlung) mit ihrem Bourgeoisregime und die Diktatur der Kommunistischen Partei mit ihrer Tscheka und ihrem Staatskapitalismus, die um den Hals der Arbeiter die Schlinge gelegt haben und sie zu Tode zu würgen drohen.

Der gegenwärtige Wechsel gibt den arbeitenden Massen Gelegenheit, sich endlich freigewählte Sowjets zu sichern, die ohne Furcht vor der Parteipeitsche funktionieren werden; sie können jetzt die von der Regierung beherrschten Arbeitergesellschaften zu freiwilligen Assoziationen von Arbeitern, Bauern und arbeitenden Intelligenzleuten umgestalten. Endlich ist der Polizeiknüppel der kommunistischen Autokratie zerbrochen.“

 

In einem weiteren Artikel der Nr. 6 der Izvestia, der am 8. März, veröffentlicht wurde stand dass:

„Der erste Schuß ist gefallen. … Knietief im Blut der Arbeiter stehend eröffnete Marschall Trotzki zuerst das Feuer gegen das revolutionäre Kronstadt, das sich gegen die Autokratie der Kommunisten erhoben hat, um die wahre Macht der Sowjets zu begründen.

Ohne einen Tropfen Blut zu vergießen hatten wir, Männer der Roten Armee, Matrosen und Arbeiter von Kronstadt, uns von dem Joch der Kommunisten befreit und haben sogar deren Leben erhalten. Durch die Drohung mit Artillerie wollen sie uns jetzt wieder ihrer Tyrannei unterwerfen.

Da wir kein Blutvergießen wünschen, ersuchten wir, daß parteilose Delegierte des Petrograder Proletariats zu uns geschickt würden, um zu erfahren, daß Kronstadt für die Macht der Sowjets kämpft. Aber die Kommunisten haben unsere Forderung den Petrograder Arbeitern vorenthalten und haben jetzt das Feuer eröffnet – die gewöhnliche Antwort der Pseudo-Arbeiter- und Bauernregierung auf die Forderungen der arbeitenden Massen.

Mögen die Arbeiter der ganzen Welt wissen, daß wir, die Verteidiger der Sowjetmacht, die Eroberungen der Sozialen Revolution bewachen.

Wir werden siegen oder unter den Ruinen von Kronstadt untergehen, im Kampf für die gerechte Sache der arbeitenden Massen.

Die Arbeiter der Welt werden unsere Richter sein. Das Blut der Unschuldigen wird auf die Häupter der autoritätstrunkenen kommunistischen Fanatiker fallen.

Es lebe die Macht der Sowjets!“

„Was war also zu tun? Wie konnte die Revolution auf ihren ursprünglichen Weg zurückgeführt werden? Bis zum 8. März, als die Bolschewiki ihren ersten Angriff starteten, hofften die Aufständischen weiterhin auf friedliche Reformen. Überzeugt von der Rechtschaffenheit ihrer Sache, waren sie zuversichtlich, die Unterstützung des ganzen Landes – und insbesondere Petrograds – zu gewinnen, um die Regierung zu politischen und wirtschaftlichen Zugeständnissen zu zwingen. Der Angriff der Kommunisten markierte jedoch eine neue Phase in der Rebellion. Jede Chance auf Verhandlungen und Kompromisse kam zu einem abrupten Ende. Gewalt blieb der einzige Weg, der beiden Seiten offenstand. Am 8. März verkündeten die Matrosen eine neue Losung: Sie appellierten an die gesamte russische Bevölkerung, sich ihnen in einer „dritten Revolution“ anzuschließen, um die im Februar und Oktober 1917 begonnene Arbeit zu beenden: „Die Arbeiter und Bauern marschieren unerschütterlich vorwärts und lassen sowohl die Konstituierende Versammlung mit ihrem bürgerlichen Regime als auch die Diktatur der Kommunistischen Partei mit ihrer Tscheka und ihrem Staatskapitalismus hinter sich, deren Henkersnase sich um die Hälse der Werktätigen legt und sie zu erdrosseln droht. …. Hier in Kronstadt ist der erste Stein der dritten Revolution gelegt worden, der die letzten Fesseln von den werktätigen Massen sprengt und einen breiten neuen Weg für das sozialistische Schaffen eröffnet.“ Paul Avrich, Kronstadt 1921

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