Hier ist unsere Übersetzung von zwei schriftlichen Antworten von L’Ouvrier Communiste an die Anarchistinnen und Anarchisten von Lotta Anarchica.
Ausschnitte aus einer Diskussion mit dem Anarchismus – L’Ouvrier Communiste
Antwort an Lotta Anarchica
Unter dem Titel „Zeichen der Zeit” widmet uns die Zeitung der anarchistisch-kommunistischen Gruppen, die zur Italienischen Anarchistischen Union (Unione anarchica italiana) gehören, einen wichtigen Artikel von P. Felcino auf der Titelseite. Wir danken diesem Gefährten für die Bemühungen um Objektivität, die dieser Artikel zeigt. Ihre Aufrichtigkeit als proletarischer Revolutionär ist eine Erholung von den „leninistischen” Diskussionsmethoden der Bolschewiki. Gefährte Felcino versucht dagegen, unsere Prinzipien ernsthaft zu erläutern, macht genaue Anmerkungen dazu und schlägt im Namen der Lotta Anarchica vor, eine fortlaufende Diskussion über die Presse und mit direkten Mitteln, die wir gemeinsam ausarbeiten können, zu starten. Wir nehmen diese Vorschläge gerne an, genauso wie alle anderen ähnlichen Vorschläge, die uns in Zukunft gemacht werden könnten.
Wie der Gefährte Felcino gleich zu Beginn feststellt:
„Der Krieg und die Nachkriegszeit haben so viele Fehler, Mängel und Misserfolge offenbart und so viele neue Probleme im proletarischen Lager aufgeworfen, dass wir die allgemeine Krise der Strömungen und Gruppierungen des proletarischen Kampfes in jedem Land als eine mehr als natürliche Tatsache betrachten müssen”.
Unserer Meinung nach sollte man noch hinzufügen, dass diese Ereignisse, da sie eine tödliche Krise des Weltkapitalismus darstellen, deren Auswirkungen sich ständig ausbreiten, dem proletarischen Kampf die Notwendigkeit auferlegen, jeglichen nationalen Partikularismus zu beenden und sich direkt auf das Terrain der Weltrevolution zu begeben. Wie wir später sehen werden, betrachten wir die Internationalisierung der Folgen der Krise, die Vereinigung der verschiedenen ökonomischen Schichten der Arbeiter und das Verschwinden der nationalen Grenzen in der Arbeiterbewegung als Grundlage für jede ideologische Vertiefung und Vereinigung der Revolution. Aus diesem Grund sehen wir uns nicht berechtigt, den Gefährten der Lotta Anarchica zu antworten, dass wir „die Debatte auf das Terrain und das italienische Problem beschränken, um eine politische Gruppe und Strömung in der Emigration zu sein“. Unsere Bewegung ist von Natur aus und aufgrund ihrer Elemente international, und wenn bestimmte Elemente eine besonders aktive Rolle in ihr spielen, bleibt doch die Tatsache bestehen, dass wir Deutschland als Schauplatz der entscheidendsten Erfahrungen betrachten und Frankreich, wo wir leben, als das derzeitige Terrain unserer internationalistischen Propaganda und Aktion.
Die Kommunistischen Arbeitergruppen würdigen Gorter dafür, dass er das Element der historischen Neuheit, das in der deutschen Revolution von 1918-21 enthalten war, voll und ganz erkannt hat, ein Element, das den russischen Oktober in seiner internationalen Bedeutung weit übertrifft. Was Marx für die Revolutionen des 19. Jahrhunderts, insbesondere für die Pariser Kommune, getan hatte, taten Pannekoek und Gorter im Rahmen ihrer Möglichkeiten für die deutsche Revolution. In dieser Hinsicht erkennen wir ohne Weiteres an, dass zwischen ihnen und uns eine „grundlegende Inspiration” besteht, obwohl wir uns nicht als ihre „Jünger” oder „Marxisten” im Sinne des Begriffs verstehen, den Marx selbst abgelehnt hat.
Wie Felcino betont, ist es für uns entscheidend, „unser Verständnis der Probleme der sozialen Revolution und der damit verbundenen Aufgaben zu vertiefen”, und nicht, dieser oder jener scholastischen Tradition treu zu bleiben. Aber gerade deshalb wäre es sinnlos, uns als Elemente auf dem Weg zum traditionellen Anarchismus zu betrachten. Wir sind nicht nur „noch weit davon entfernt”, wie Lotta Anarchica aufrichtig feststellt, sondern betrachten dies auch als eine bereits überwundene Etappe. Weder der Staatskommunismus noch der libertäre Anarchismus, wie wir sie kennen, repräsentieren in unseren Augen die Ideologie, die das Proletariat durch die permanente Weltrevolution entwickelt hat: Es geht darum, alle derartigen begrenzten Ideologien zu überwinden, und nicht um den Sieg einer revolutionären Tradition über eine andere.
Wir sind nicht, wie andere uns vielleicht verwechseln, Befürworter „eines bestimmten Programms“, sondern vielmehr des endgültigen Programms. Und Felcino hat Recht, wenn er die „informativen Prinzipien“, auf denen unsere Propaganda derzeit basiert, als Bausteine eines internationalen Programms für die kommunistische Bewegung der Arbeiter betrachtet; als Meilensteine, die von der Geschichte gesetzt wurden und die nur die Geschichte vollenden kann. Seine Ausdrucksweise ist nicht immer fröhlich und auch nicht ohne Zweideutigkeiten. Aber sie bietet uns die Gelegenheit, die wesentlichen Punkte unserer Ideologie zu verdeutlichen.
Was du jetzt lesen wirst, ist aus La Lotta Anarchica entnommen:
„Kommen wir nun zu den Fakten. Was sind die Gründungsprinzipien der Kommunistischen Arbeitergruppen? Wir können sie wie folgt zusammenfassen:
1) Es gibt kein Programm, das verhindern kann, dass eine politisch-soziale Gruppierung in konterrevolutionäres Terrain abrutscht;
2) Der Parlamentarismus, eine Institution des bourgeoisen Regimes mit dem offensichtlichen Ziel der Korruption und Klassenkollaboration, kann weder das Mittel des revolutionären Proletariats für den Kampf gegen das bourgeoise Regime und für dessen Sturz sein, noch das Instrument für das Funktionieren der sozialen Organismen von morgen;
3) Der Gewerkschaftswesen/Syndikalismus – da gewerkschaftliche Aktionen der breiten Massen zur Verteidigung ihrer unmittelbaren materiellen Interessen heute von der gewerkschaftlichen/syndikalistischen Bürokratie in den Sumpf der Zwangsschlichtung gedrängt werden und von der ganzen Palette der Funktionäre und der Arbeiteraristokratie in Klassenkollaboration, Korruption, Spaltungen und Reibereien in den Reihen des Proletariats aufgelöst werden – kann nicht das Organ sein, das den Anforderungen des heutigen Kampfes für den Sturz des bourgeoisen Regimes gerecht wird. Diesem Ziel dienen besser die proletarischen revolutionären Fabrikkomitees, die nicht Ausdruck einer Partei sind, sondern aller klassenbewussten und revolutionären Strömungen innerhalb des Proletariats. Das Klassenkonzept des Proletariats verweigert den intellektuellen Elementen der Bourgeoisie, die zur proletarischen Ideologie übergegangen sind, jeglichen Wert, „deren Aufgabe darin bestehen würde, materielle Zustände und lebenswichtige Elemente der Klasse zu veranschaulichen, die spontan entstehen würden, und andererseits den Aufbau der kommunistischen Gesellschaft zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen”.
Nachdem wir die Gedanken der Kommunistischen Arbeitergruppen grob umrissen haben, wollen wir das jetzt genauer erklären. Zuerst mal stimmen wir dem ersten Punkt zu und sagen dazu, dass die Gefahr, dass politisch-soziale Gruppierungen abrutschen, umso größer ist, wenn ihr führender Funktionsapparat konzentriert und der Kontrolle und Kritik der Mitglieder entzogen ist. Dem zweiten Punkt stimmen wir natürlich voll und ganz zu. Zum dritten Punkt haben wir ein paar Einwände. Wir stimmen der Kritik an den Gewerkschaften/Syndikate und ihrer Aktion in der gegenwärtigen Situation zu. Wir glauben, dass die Bourgeoisie vor allem durch die Entwicklung der Rationalisierung und die bewaffnete Verteidigung ihrer Privilegien die Gewerkschaften/Syndikate in eine Lage gebracht hat, in der ihre spezifische Rolle erschöpft ist, und dass es daher dringend notwendig ist, Organe zu schaffen, die der Situation besser gerecht werden und der Aufgabe besser gewachsen sind; Organe, die genau die revolutionären proletarischen Fabrikkomitees sein könnten. Wo wir nicht einverstanden sind, ist die Frage: „Sollen die Gewerkschaften/Syndikate erobert oder zerstört werden?“ Wir antworten darauf: „Weder noch.“
Da wir uns bewusst sind, dass wir unsere Prinzipien unter den Massen verbreiten müssen, können und dürfen wir kein Umfeld vernachlässigen, also auch nicht das der Gewerkschaft/Syndikate, um unser Ziel zu erreichen. Wenn wir dann, weil wir die Praxis umsetzen, aus den Gewerkschaften/Syndikate rausgeschmissen werden, ist das nicht so schlimm, weil wir unsere revolutionäre Arbeit in den proletarischen revolutionären Fabrikkomitees weitermachen können. Der größte Schaden könnte unserer Meinung nach im Gegenteil darin bestehen, die Rolle von Maramaldo zu übernehmen, was unseren reformistischen und kollaborationistischen Gegnern den Vorwand liefern würde, uns als Feinde des Volkes und seiner Institutionen zu brandmarken, mit leicht vorhersehbaren Folgen.
Was die revolutionären proletarischen Fabrikkomitees angeht, können wir sogar sagen, dass die Idee für uns nichts Neues ist. Wir haben sie schon auf der Konferenz für proletarische Einheit unterstützt, die im Sommer 1925 mitten auf dem Land in der Nähe von Legnano stattfand. Der Vorschlag wurde von Delegierten aus ganz Italien unterstützt, stieß aber bei den Vertretern der Kommunistischen Partei auf Ablehnung, weil er ihre Versuche politischer Spekulation durchkreuzte.
Lass uns diesen schon zu langen Aufsatz mit ein paar Anmerkungen zu unserem Klassenbegriff abschließen. Unserer Meinung nach ist die Existenz der Arbeiter-/Proletarierklasse, auch wenn es nicht einfach ist, ihre Grenzen zu definieren, eine offensichtliche Tatsache. Weniger offensichtlich ist dagegen die Existenz eines Teils der Arbeiter-/Proletarierklasse, der bewusst revolutionär ist oder sogar dazu werden kann. Wenn es so eine Möglichkeit gäbe, würde das die reformistische Auffassung gegenüber der revolutionären Auffassung rechtfertigen, denn wenn dieser Teil der Arbeiterklasse die große Mehrheit der Gesellschaft ausmacht, würde die soziale Transformation keinen aufständischen Umsturz erfordern. Vielmehr findet diese Klasse ihren Ausdruck und ihre Mission in ihrer bewusst revolutionären Minderheit, die bewusst als solche handeln muss, ohne jedoch den Beitrag der ursprünglich bourgeoisen Elemente abzulehnen, die aus ideologischen und emotionalen Gründen zu ihrer Klasse übergelaufen sind, um für ein höheres Ideal von Gerechtigkeit und Freiheit zu kämpfen. Diesen Elementen jeglichen Kampfeswillen oder jede Kampfesfähigkeit abzusprechen, bedeutet, die Existenz des idealistischen Faktors zu leugnen und sich auf den plattesten ökonomischen Determinismus zurückzuziehen. Das ist die historische Wahrheit, und sie wird durch bewundernswerte Beispiele von Selbstverleugnung und Opferbereitschaft veranschaulicht, die uns von Giganten wie Marx, Bakunin, Liebknecht, Kurt Eisner und so vielen anderen überliefert wurden, die, obwohl sie keine Proletarier im üblichen Sinne des Wortes waren, sich ganz der Sache des Proletariats verschrieben haben.
Das sind unsere Vorstellungen, die wir wie folgt zusammenfassen: „Das Proletariat hat potenziell alle Eigenschaften und Attribute, um eine kommunistische Gesellschaft zu verwirklichen, und es wird dies umso eher erreichen, je mehr es theoretische Klarheit und Rücksichtslosigkeit in seinen Kampf einbringt.“
Nachdem wir die wichtigsten Stellen aus dem Vortrag und der Kritik des Gefährten Felcino zitiert haben, wollen wir die folgenden wesentlichen Punkte klarstellen:
1) Die programmatischen und organisatorischen Statuten einer Gruppe oder Partei haben nicht nur unabhängig vom aktiven und bewussten Inhalt der Organisation keinen Wert, sondern sie haben nur in Bezug auf eine bestimmte Situation und eine bestimmte revolutionäre Phase einen Wert, und ihre spätere Beibehaltung führt automatisch dazu, dass sie reaktionär werden.
2) Genau das ist der Fall bei ideologischen und organisatorischen Formen, die sich auf die Zeit des vorimperialistischen Kapitalismus beziehen, wie zum Beispiel parlamentarische Parteien. Die demokratische Eroberung der Macht hatte Mitte des letzten Jahrhunderts eine revolutionäre proletarische Bedeutung im Sinne einer historischen Abkürzung zum hochentwickelten Kapitalismus, einer Liquidierung der rückständigen Klassen mit Hilfe der radikalen Bourgeoisie und einer Vergesellschaftung des Kapitalismus, die selbst die Unterdrückung des gesamten Kapitalismus objektiv möglich machte. Heute haben dieselben Formeln nur noch eine offen reaktionäre Bedeutung, da der Kapitalismus durch seine eigene Entwicklung zu den unlösbaren Widersprüchen der Weltkrise gelangt ist, die nur durch die Abschaffung des gesamten Kapitalismus beseitigt werden können.
3) In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überarbeiteten Marx und Engels selbst ihre politischen Prinzipien, nachdem die revolutionären Versuche, den kapitalistischen Staat zu erobern, gescheitert waren. Sie erkannten die vorrangige Rolle des ökonomischen Antriebs der Arbeiterklasse in der Entwicklung zur Reife des Kapitalismus. Sie nahmen dann einen zunehmend radikalen Standpunkt ein und erkannten allmählich den spontanen und unmittelbar kommunistischen, staatsfeindlichen Charakter der proletarischen Revolution, da die objektiven Bedingungen in Westeuropa und die praktische Erfahrung (wie die Pariser Kommune) sie zu solchen Schlussfolgerungen führten.
In ihrer politischen Entwicklung folgten die großen Begründer des libertären Kollektivismus, insbesondere Bakunin, derselben allgemeinen Linie. Wenn diese Revolutionäre in ihren doktrinären Positionen radikaler waren, dann vor allem insofern, als die Simplizität der Theorie, die ihren designierten Interpreten viel Spielraum ließ, durch einen gewissen de facto Opportunismus ergänzt wurde (den sie in einigen Fällen bis zu einem fast unglaublichen Grad trieben).
Es muss aber gesagt werden, dass die Rolle des Anarchismus als Bewegung, als Forderung nach einem autonomen Kampf der Massen, als Kritik am Staatssozialismus, im Allgemeinen ziemlich nützlich und fortschrittlich war, und das zu einer Zeit, die noch nicht so lange zurückliegt. Um 1900 gab es eine Art bemerkenswerte Blüte des Klassenbewusstseins in Italien, Spanien, Frankreich und schließlich in Amerika. Aber wer ist heute, wenn er Sorel, Berth, Lagardelle oder Payet liest, nicht beeindruckt von der reformistischen Sterilität, die allen literarischen Apologien der Gewalt zugrunde liegt? Es genügt, zum Beispiel das bekannte Werk von Pataud und Payet, „Wie wir die Revolution machen werden“, zu lesen, um sich von der extremen ideologischen und praktischen Oberflächlichkeit einer Konzeption zu überzeugen, in der die Revolution:
1) aus einer Schlägerei am Ende eines Treffens hervorgeht, inmitten hoher Spekulationen und in voller Blüte der Lohnbewegung;
2) ihre Gegner in drei schnellen Schritten durch die religiöse Angst der Bourgeoisie und die panische Verantwortungslosigkeit der Regierung liquidiert (die Regierung verbirgt die Wahrheit vor der Bourgeoisie, um im Amt zu bleiben, und geht dann ohne zu zögern ins Exil);
3) innerhalb von zwei Monaten die Gesellschaft im Rahmen der Nation auf den Kopf stellt, unter dem begeisterten Beifall der Kleinbourgeoisie, Kaufleute, kleinen Rentiers und Kleinindustriellen, die sich sofort um sie scharen, und dann;
4) sofort Freiheit im Bereich der Produktion und des Konsums in Form von frei verbundenen Assoziationen herstellt; mit anderen Worten, eine Rückkehr zur kleinbourgeoisen Produktion, während die großen öffentlichen Dienste unter der Verwaltung eines gewerkschaftlichen/syndikalistischen Staates bleiben. Wenn solche Tagträume schon in einem Land, das die Kommune erlebt hatte, erbärmlich waren, dann gilt das auch für diejenigen, die heute noch darauf bestehen, in den Gewerkschaften/Syndikaten den freien und heiligen Ausdruck des proletarischen Bewusstseins zu sehen – also die Organisation der Arbeiter an sich –, während die Gewerkschaft/Sydikat in Wirklichkeit ein Produkt kapitalistischer Zwänge und eine Form der Anpassung und Integration in die kapitalistische Gesellschaft ist.
Aus diesen Überlegungen ziehen wir vorsichtig nicht den Schluss, dass die anarchistische Tradition in ihrer Gesamtheit als historisch reaktionär abgelehnt werden muss. Wir sollten jedoch beachten, dass fast die gesamte revolutionäre anarchistische Bewegung im Sand des gewerkschaftlichen/syndikalistischen Reformismus versunken ist, dass selbst die antisyndikalistischen Anarchisten von Lotta Anarchica die Gewerkschaft/Syndikat (oder, falls diese fehlt, das Fabrikkomitee) als natürlichen Arbeitsbereich für die proletarischen Eliten betrachten und sich schließlich weigern, die Gewerkschaften/Syndikat durch Boykott zu zerstören, sondern deren Inhalt erobern wollen, angeblich durch eine gewerkschaftliche/syndikalistische Aktivität, die „revolutionärer“ ist als die der amtierenden Anführer.
All das bedeutet, dass die Verschmelzung von Anarchismus und gewerkschaftlichen/syndikalistischen Reformismus, die kurz nach dem Kampf des Anarchismus gegen den parlamentarischen Reformismus einsetzte, heute fast überall zu beobachten ist, und da der alte Anarchismus in der heutigen Situation ebenso wenig wiederbelebt oder genutzt werden kann wie der alte Syndikalismus oder die von Marx aufgegebenen Theorien über den Übergangs-Volksstaat usw. Die Schlussfolgerung lautet also, dass der Anarchismus nur wiederbelebt werden kann, indem man mit der Tradition der Gewerkschaft/Syndikat bricht, sich von Grund auf erneuert und letztendlich sich selbst und seine traditionellen Gegner überwindet.
Genau genommen ist das keine Diskussion, die wir mit Leuten wie denen von Lotta Anarchica führen wollen, sondern die angesichts der Praxis und der internationalen historischen Erfahrung ein gemeinsames Produkt sein muss. Wir werden bei anderer Gelegenheit darüber nachdenken, das einheitliche Konzept zu klären, an dem wir uns orientieren, ein Konzept, das allein die enge Wechselbeziehung zwischen den verschiedenen hier diskutierten Fragen deutlich machen kann.
Wir glauben, dass eine Frage wie die nach der Rolle der Bourgeoisie, d. h. der angehenden professionellen intellektuellen Anführer des Proletariats, kaum als besonderer Punkt unserer Grundprinzipien dargestellt werden kann, sondern zusammen mit dem Rest unseres Konzepts der Diktatur des Proletariats als permanente Klassenrevolution erklärt werden muss.
Diese letzte Formel wird das Thema unserer bevorstehenden Erklärung sein.
L’Ouvrier Communiste Nr. 11 – August 1930
Die Anarchisten und wir – Biaggios Antwort
Wir setzen unsere Diskussion mit den Gefährten von Lotta Anarchica natürlich in herzlicher Weise fort, aber nicht so weit, dass Herzlichkeit zu Diplomatie wird, denn dann würde die Häufigkeit solcher Diskussionen zu einem Manöver werden. Die Gefährten von L.A. sagen, dass der Geist der internationalen Zusammenarbeit, der uns beseelt, richtig ist, aber sie finden nur, dass unsere Position mit Umsicht, d. h. mit gebührender Zurückhaltung, eingenommen werden sollte. Wir wissen nicht, woher die Gefährten von L.A. den Grund für diese Vorbehalte nehmen, zumindest in Bezug auf uns, da sie sogar so weit gehen, zu denken, dass wir möglicherweise an der Manipulation der gesamten internationalen Bewegung beteiligt sind und sie auf einen nationalen Standpunkt beschränken, wie es die Bolschewiki getan haben. Es ist offensichtlich, dass die Gefährten in L.A. unsere Artikel nicht sorgfältig gelesen und den Kern von Gorters Kritik an Lenin nicht vollständig verstanden haben. Es ist offensichtlich, dass der Bolschewismus, wenn er im Nationalismus endete, dies aufgrund seines hybriden Inhalts aus klassenpolitischer Sicht tat, der auf die Unreife seiner ökonomischen Basis und seinen subjektiven, ideologischen Inhalt zurückzuführen war. In unserer Kritik an Lenin und Sinowjews Gegen den Strom in der zweiten Ausgabe unserer Zeitschrift haben wir klar gezeigt, dass unsere Position zu diesem Thema der des Leninismus diametral entgegensteht, und wir haben gezeigt, dass letzterer schon vor der Revolution vom Nationalismus beeinflusst war. Deshalb haben wir betont, dass das Proletariat keine Heimat hat und dass folglich alle Heimatländer, d. h. alle Kapitalismen, seine Feinde sind. Deshalb interessieren uns auch nicht die ethischen Unterschiede, die es gibt, sowie die daraus resultierenden Unterschiede in Charakter und Sprache, denn all dies hat keinen revolutionären, sondern einen reaktionären Wert. Das sind Elemente, auf denen die bourgeoise Klasse bestehen kann, nicht aber das bewusste Proletariat, das sie überwinden will. Unsere Position zum revolutionären Krieg ist ein Produkt unseres kompromisslosen Internationalismus, der sich in einem Satz zusammenfassen lässt: „Wo immer wir Proletarier sind, sind die Kapitalisten unsere Feinde, seien sie Franzosen, Engländer, Italiener oder aus irgendeinem anderen Land.“ Wir sehen, dass nach der Revolution in einem Land das Proletariat dieses Landes, nachdem es seine Bourgeoisie zerstört hat, den Kapitalismus aller anderen Länder als seine Feinde hat. Würde dieses Proletariat hingegen im Kampf einen nationalen Partikularismus beibehalten – einen gewissen Stolz auf seine besonderen Eigenschaften als „Volk“ –, dann wäre es bereits auf dem falschen Weg. Aber die Geschichte bringt eine proletarische Revolution im Westen hervor, die, selbst wenn sie zu Beginn von nationalem Partikularismus geprägt ist, wie es bei der Pariser Kommune der Fall war, später einen zunehmend internationalistischen Charakter annimmt. Das liegt daran, dass die Umstände des Proletariats letztendlich über den nationalen Partikularismus triumphieren, der sich somit der Leidenschaft der ausgebeuteten Klasse auf der Suche nach ihrer Freiheit beugen muss.
Die Monstrosität des nationalen Bolschewismus ist ein Produkt der historischen Bedingungen, und die westliche Revolution kann nicht denselben Weg gehen. Der reine Internationalismus, der auf die Revolution folgte und dann durch den Leninismus mittels der Hegemonie des Bolschewismus über die internationale revolutionäre Bewegung ausgelöscht wurde, ist ein Beweis dafür. Und wir glauben, dass der proletarische Geist in Zukunft diesem Internationalismus, zu dessen überzeugten Anhängern und Erben wir uns bekennen, neue Kraft verleihen kann.
Lotta Anarchica fordert daher eine explizitere historische Begründung unserer Auffassung vom Übergangscharakter bestimmter Programme, insbesondere hinsichtlich des positiven Wertes der sozialdemokratischen Bewegung in der Geschichte. Zunächst mal sehen wir diese Bewegung nicht als einfache Manifestation parlamentarischer Zusammenarbeit: Für uns hat der Reformismus seinen Ursprung im ökonomischen Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie. Die parlamentarische Zusammenarbeit ist nur ein Aspekt dieses Kampfes. Marx hat die Natur des Reformismus, der für uns gleichbedeutend mit Syndikalismus ist, wie wir in der letzten Ausgabe auf Italienisch gesagt haben, erst spät verstanden. Er hat einen doppelten Charakter, ist evolutionär, progressiv und hat gleichzeitig eine konterrevolutionäre Tendenz. Der erste Aspekt oder die erste Tendenz zeigt sich in einer Zeit, in der sich der Kapitalismus entwickelte und in der folglich Lohnerhöhungen noch möglich waren und somit auch eine relative ökonomische und intellektuelle Verbesserung der Arbeiterklasse möglich war. Die ökonomische Bewegung, deren parlamentarische Reflexion die Sozialdemokratie oder der „Sozialismus“ ist, hat eine psychologische Entwicklung des internationalen Proletariats zur Folge, oder besser gesagt, eine Entwicklung der geistigen Fähigkeiten der proletarischen Massen. Da wir dialektische Materialisten sind, betrachten wir den Verstand, d. h. die intellektuellen Kräfte der Menschheit, nicht als etwas, das von Anfang an als immanent gegeben ist, sondern als etwas, das das Ergebnis der jahrtausendealten Erfahrung der primitiven Menschen ist. Und diese intellektuelle Kraft, die dem Leben selbst ähnelt und wie Kristalloide und Albuminoide erscheint, dieses Denken – das zunehmend zu einer kollektiven Kraft wird – unterliegt schmerzlich den Gesetzen des gnadenlosen Widerspruchs, der seinen Ursprung in der ökonomischen Grundlage hat. Und aus diesem Widerspruch ergibt sich auch der negative Aspekt der geistigen Entwicklung der proletarischen Massen: Die ökonomische Hegemonie des Kapitalismus schafft die Möglichkeit seiner intellektuellen und ethischen Hegemonie.
L’Ouvrier Communiste Nr. 13 – Januar 1931