Lange schon beschäftigt uns die Frage über den Charakter, die Funktion, die Logik und die Geschichte des Staates, daraus resultierend konsequenterweise die Abschaffung des kapitalistischen und bourgeoisen Staates-Nation. Wahrscheinlich eine Auseinandersetzung die wir noch eine ganze Weile führen werden. Niemals langweilig, niemals komplett abgeschlossen.Was für einige wie eine Last klingen mag, ist für uns die Waffe der Kritik, die nie stumpf werden soll und weiter und weiter geschärft werden muss.
Auf der Suche nach Texten von Bakunin, wo dieser vage, ambivalent und widersprechend die Begriffe „Volk“ und „Nation“ verwendet und nach dem wir einige Gefährtinnen und Gefährten zur Thematik fragten, wurde uns anstatt dessen, dieser Text weitergereicht, der in der Nummer 43 der Publikation Comunismo (spanischsprachige Ausgabe der GCI-ICG-IKG) 1999 erschien. Ein guter historischer Text, abgesehen von den üblichen Differenzen (historische Partei, Partei der Revolution, usw.), die wir schon an mehreren Stellen/Texte/usw. ablehnen und abgelehnt haben. Nicht desto trotz, erfasst dieser Text die Kritiken von Bakunin, Marx und Engels (obwohl letztere damit gehadert haben und Bakunin oft die richtige Kritik falsch argumentiert) gegen die sozialdemokratische Vorstellung des Staates, anhand der Bildung der SPD (Gothaer Programm) und überhaupt, gegen den Staat im Allgemeinen.
Wie schon oben erwähnt ist es nie falsch sich mit dem Staat auseinander zu setzen, vor allem in diesen Zeiten, wo immer mehr sogenannte und vermeintliche „Anarchistinnen und Anarchisten“ auf dem Schoße dieser landen und deren Bluthunde werden wollen. Was ist paradoxer als dass „Anarchistinnen und Anarchisten“ für Nationen-Staaten kämpfen, anstatt eben diese zu bekämpfen? Eine rein rein rhetorische Frage selbstverständlich. Diesen Text sehen wir als Beitrag der kommenden Antwort auf den Artikel von (Ex)Vertriolo. Von uns übersetzt.
Über den von der Sozialdemokratie gepriesenen „Freien Staat“
„Der koalisierten Bourgeoisie gegenüber hatte sich eine Koalition zwischen Kleinbürgern und Arbeitern gebildet, die sogenannte sozial-demokratischePartei. […] Den sozialen Forderungen des Proletariats ward die revolutionäre Pointe abgebrochen und eine demokratische Wendung gegeben, den demokratischen Ansprüchen des Kleinbürgertums die bloß politische Form abgestreift und ihre sozialistische Pointe herausgekehrt. So entstand die Sozial-Demokratie.[…] Der eigentümliche Charakter der Sozial-Demokratie faßte sich dahin zusammen, daß demokratisch-republikanische Institutionen als Mittel verlangt werden, nicht um zwei Extreme, Kapital und Lohnarbeit, beide aufzuheben, sondern um ihren Gegensatz abzuschwächen und in Harmonie zu verwandeln. Wie verschiedene Maßregeln zur Erreichung dieses Zweckes vorgeschlagen werden mögen, wie sehr er mit mehr oder minder revolutionären Vorstellungen sich verbrämen mag, der Inhalt bleibt derselbe. Dieser Inhalt ist die Umänderung der Gesellschaft auf demokratischem Wege, aber eine Umänderung innerhalb der Grenzen des Kleinbürgertums.“
– Karl Marx, „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“
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Die Sozialdemokratie als bourgeoise Partei der Arbeiterinnen und Arbeiter leitet ihr Programm aus einer Positivierung von Aspekten der gegenwärtigen Gesellschaft und aus einer Apologie der verschiedenen Institutionen der bourgeoisen Welt ab. Die Definition der Sozialdemokratie, die historisch gesehen das Bündnis (also die Auflösung) zwischen der (proletarischen) Sozialpartei und der (bourgeois) Demokratischen Partei darstellt, beinhaltet die „sozialistische“ Positivierung der Demokratie. Von Bernstein über Luxemburg bis hin zu Kautsky zielt der Reformismus immer auf die Versöhnung von Demokratie (die nichts anderes ist als die für die Warenproduktionsgesellschaft typische soziale Organisation, die die bourgeoise Diktatur garantiert) und Sozialismus ab; ein Projekt, das in allen ihren Texten (des 19. Jahrhunderts oder 20. Jahrhunderts) und sogar in ihrem eigenen Namen (sozialdemokratische Partei) zum Ausdruck kommt.
Daher ist es nicht überraschend, dass die Sozialdemokratie mit allen Mitteln versucht hat, das Gesicht des Staates zu verschönern und ihn positiv erscheinen zu lassen, indem sie die Notwendigkeit verteidigte, ihn „frei”, „volksnah-populär”, „demokratisch” usw. zu gestalten. Dies ist eine historische Tendenz, die dem bourgeoiser Staat innewohnt, da der Staat seine Funktion nur dann vollständig erfüllen kann, wenn er seine wahre Klassencharakteristik, seinen intrinsisch despotischen Charakter verbirgt und sich als volksnah-populär (und nicht als bourgeois!), als demokratisch, als Vertreter der gesamten Gesellschaft (und nicht nur der herrschenden Klasse!) und als Garant für die Verwirklichung der Ideale der Freiheit (und nicht der Diktatur!) präsentiert. .
Es ist daher ganz normal, dass diese historische Tendenz sehr früh auftrat und von diesen bourgeois Sektoren oder Parteien, nämlich den sozialdemokratischen Parteien, die speziell dazu gedacht waren, die Arbeiterinnen und Arbeiter einzubinden und zu neutralisieren, d. h. von der historischen Partei der Sozialdemokratie, unabhängig von ihrer Bezeichnung, explizit formuliert wurde. Diese Tendenz hat sich zumindest seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer Reihe von Verwirklichungen und Strukturierungen des kapitalistischen Staates niedergeschlagen, die mehr oder weniger offen von sozialistischen Parteien unterstützt wurden. Von Bismarck bis Bonaparte, vom stalinistischen Staat bis zu den Volksstaaten der sogenannten „sozialistischen Länder” bleiben die Forderungen nach den Staat populärer-volksnäher zu machen und nach der Freiheit für den bourgeoisen Staat zu verlangen, die eine dauerhafte Ideologie der kapitalistischen Diktatur, die bei unzähligen Gelegenheiten von erklärten oder versteckten Erben der klassischsten historischen Fraktion/Sektion der Sozialdemokratie verteidigt wurde: der deutschen Sozialdemokratie.
Aus diesem Grund erscheint es uns in einem so wichtigen Text über Freiheit, insbesondere über den demokratisch-bourgeoisen Freiheitsanspruch als Ausdruck der warenproduzierenden Entwicklung der Gesellschaft, unverzichtbar, einen Anhang über den klassischen sozialdemokratischen Anspruch auf einen freien Staat aufzunehmen (ein Anspruch, der demokratische Forderungen wie „die Freiheit der Wissenschaft”, „die Gewissensfreiheit” usw. enthält). Da die Forderung nach einem freien Staat nicht von der Forderung nach einem Volksstaat (der ebenfalls ein demokratischer Staat ist) getrennt werden kann, ist es verständlich, dass wir es für relevant hielten, diese Forderungen gemeinsam zu analysieren und sie zusammen der Kritik unserer Partei zu unterziehen.
Auf der Grundlage des oben Gesagten und inspiriert von klassischen Texten revolutionärer Militanter wollen wir unsere historische Konzeption der revolutionären Zerstörung des Staates hervorheben. Wir sagen:
- Zwischen der kapitalistischen Gesellschaft und der kommunistischen Gesellschaft gibt es eine Übergangszeit, in der der Staat nichts anderes sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats (die despotische Zerstörung der Warenproduktionsgesellschaft).
 - dass dieser Staat natürlich nicht im Namen der Freiheit gebildet wird, sondern auf der Notwendigkeit beruht, seine Gegner zu unterwerfen und die Diktatur der Profitrate zu zerstören, die die kapitalistische Gesellschaft beherrscht;
 - dass genau aus diesen Gründen (da er seine Selbstauflösung in sich trägt) dieser Staat kein Staat im traditionellen Sinne des Wortes ist1.
 
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Lange bevor sich die ersten sozialdemokratischen Parteien offiziell bildeten, war der Antagonismus zwischen Revolution und Konterrevolution schon klar um die Frage des Staates und vor allem um das Programm, das darauf abzielte, den Staat freier zu machen. Tatsächlich, zur Zeit der sogenannten „Französischen Revolution”, als Republikaner aller Couleur dazu aufriefen, den Staat freier zu machen, politische Rechte verkündeten und die Freiheit der Staatsbürger verteidigten, bezeichneten Revolutionäre diese Freiheit auf staatlicher Ebene als Lüge für die Ausgebeuteten; Schon damals sagten sie, dass jede Art von Freiheit des Staates, alle Formulierungen von Gleichheit und Freiheit in Bezug auf Rechte aus sozialer Sicht absolut nichts bedeuten und dass die politische Befreiung ein bourgeoies Märchen ist, das darauf abzielt, Ausbeutung und soziale Unterdrückung aufrechtzuerhalten.
Während der sogenannten „Französischen Revolution“ war die Unterscheidung zwischen dem bourgeoisen Programm, dem reformistischen Programm für Arbeiterinnen und Arbeiter, dem sozialdemokratischen Programm in Bezug auf die Freiheit des Staates und dem revolutionären Programm, das vom Proletariat in seinem Kampf entwickelt und bekräftigt wurde, bereits klar ausgeprägt.
Zum Beispiel erklärt Buonarroti in seinem Buch „Verschwörung für der Gleichen”, dass diejenigen, die an der revolutionären Verschwörung teilnahmen („die Freunde der Gleichheit”), wussten, dass eine Verfassung, egal wie demokratisch sie auch sein mag, kein Glück garantieren kann, und dass es daher vor allem wichtig war, „den Widerspruch, den unsere Institutionen geschaffen haben, zu zerstören […] und den natürlichen Feinden der Gleichheit die Mittel zum Täuschen, Einschüchtern und Spalten zu entziehen: […] Schließlich wussten sie, und da die Erfahrung ihre Sichtweise schon viel zu lange bestätigt hat, dass die Einführung der verfassungsmäßigen Ordnung der Wahlen ohne diese Vorbedingungen bedeutet, die Macht den Freunden aller Missbräuche zu überlassen und für immer die Möglichkeit zu verlieren, das öffentliche Glück zu sichern.” Im Anschluss daran fügt Buonarroti diese bedeutende Anmerkung hinzu: „Solange die Dinge so bleiben, wie sie sind, wird die freieste politische Form nur für diejenigen von Vorteil sein, die ohne Arbeit auskommen können …“2
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Wir werden jetzt einige wichtige Absätze des Programms zitieren, das vom Gothaer Kongress der Deutschen Arbeiter verabschiedet wurde. Der Gothaer Kongress fand vom 22. bis 27. Mai 1875 statt und markierte die Gründung der deutschen Sozialdemokratie als große „marxistische“ Massenpartei3. Diese Partei sollte zum Vorbild für die Sozialdemokratie der ganzen Welt werden. Diese Organisation – fortan Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands genannt – ist das Ergebnis der Fusion, die auf diesem Kongress zwischen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands, den sogenannten „Marxisten” oder Eisenachern unter der Führung von Bebel und Liebknecht, und dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, der lassallianischen Organisation unter der Führung von Hasenclever, Tölcke und anderen, vollzogen wurde4.
„Die Arbeiterklasse wirkt für ihre Befreiung zunächst im Rahmen des heutigen nationalen Staats, sich bewußt, daß das notwendige Ergebnis ihres Strebens, welches den Arbeitern aller Kulturländer gemeinsam ist, die internationale Völkerverbrüderung sein wird.“
„„Von diesen Grundsätzen ausgehend, erstrebt die deutsche Arbeiterpartei mit allen gesetzlichen Mitteln den freien Staat – und – die sozialistische Gesellschaft …“
„Die deutsche Arbeiterpartei verlangt,um die Lösung der sozialen Frage anzubahnen, die Errichtung von Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe unter der demokratischen Kontrolle des arbeitenden Volks. “
– Auszüge aus dem Programm der Deutschen Arbeiterpartei, 1875–
Es ist offensichtlich, dass der Schlüssel der bourgeoisen Politik für die Arbeiterinnen und Arbeiter immer darin besteht, das Proletariat in den Staat zu integrieren. Ebenso wird die Emanzipation nicht als Bruch mit der bourgeoisen Ordnung insgesamt verstanden, sondern als Bruch mit etwas, das laut der Deutschen Arbeiterpartei „im Rahmen des heutigen nationalen Staats“ liegt. Selbst die offensichtliche konzeptionelle Verwirrung, die allen sozialdemokratischen Formulierungen zum Staat eigen ist, ist Teil der Strategie, die darauf abzielt, das Proletariat in eine Politik einzubinden, die es im Rahmen des Staates hält. Nicht nur die Tatsache, dass der Staat die organisierte Macht der herrschenden Klasse ist, wird ignoriert und verschleiert, sondern auch die Unklarheit über seine Natur wird beibehalten, sodass es immer unklar bleibt, ob man über den Regierungsapparat oder über ein Land, über eine bestimmte Situation, einen bestimmten Staat oder über die gegenwärtige Gesellschaft spricht: Die Begriffe des „heutigen nationalen Staates“ fassen all diese Verwirrungen zusammen, weil sie versuchen, das Proletariat in einer nationalen Politik zu fangen und seine Aufteilung nach Ländern aufrechtzuerhalten. Diese programmatischen Unklarheiten und Verwirrungen bilden den ideologischen Hintergrund für die späteren marxistisch-leninistischen Konzepte, die für den „Sozialismus in nur einem Land”, den Arbeiterinnen- und Arbeiter-Staat (ob degeneriert oder nicht), die Volksstaaten und ganz allgemein für alle demokratischen Volksrepubliken, die in diesem Jahrhundert in Russland, China, Osteuropa, Albanien, Kuba und Korea entstanden sind, charakteristisch sind. Deshalb ist die revolutionäre Kritik, die die revolutionäre Partei im Laufe ihrer Geschichte zu dieser Frage geübt hat, so wichtig.
Das offizielle Programm der Sozialdemokratie betont:
A. „Freiheitliche Grundlage des Staats.”.
B. „Die deutsche Arbeiterpartei verlangt als geistige und sittliche Grundlage des Staats: 1. Allgemeine und gleiche Volkserziehung durch den Staat. Allgemeine Schulpflicht …”
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Angesichts dieser schwülstigen Diskurse darüber, wie man den Staat freier, volksnaher-populärer, demokratischer machen könne, … reagierten alle Revolutionäre der damaligen Zeit.
Unabhängig von den programmatischen Meinungsverschiedenheiten, die wir mit Bakunin haben mögen, möchten wir vor allem die hervorragende Kritik dieses Gefährten an der sozialdemokratischen Vorstellung vom Volksstaat und freien Staat hervorheben; es war eine offene, heftige, klare und öffentliche Kritik, die sogar Marx und Engels inspirierte.
„Zwischen einer Monarchie und einer Republik, un sei es der demokratischsten, gibt es nur einen einzigen wesentlichen Unterschied: in der ersteren wird as Volk im Namen des Monartchen von der Beamtenschaft, zum großen Nutzen der privilegierten, besitzenden Klassen, aber auch für ihre eigenen Taschen, unterdrückt und ausgeraubt; jetzt nur im Namen eines Volkswillens. in der Republik ist es das Scheinvolk, das legale Volk, das Volk, das angeblich durch den Staat repräsentiert wird, welches das lebendige und reale Volk unterdrückt und unterdrücken wird. Aber für das Volk wird es keineswegs leichter, wenn der Stock, mit dem man es schlägt, Stock des Volkes genannt wird.”
– M.Bakunin, Staatlichkeit und Anarchie, Ullstein Materialien, Seite 439 –
Die Klarheit dieser programmatischen Aussagen zeigt, wie ungleichmäßig die Bildung des Proletariats zu einer revolutionären Partei, die sich gegen jeden bourgeoisen Staat stellt, verläuft; sie ebnen entscheidend den Weg für die Kritik an Demokratie, Volksrepublik und politischer Freiheit.
„Das heißt, kein Staat, wie demokratisch auch seine Formen sein mögen, und sei es die röteste politische Republik – was mit Volksrepublik ja nur im Sinne jener unter dem Namen Volksvertretung bekannten Lüge bezeichnet werden kann – kein Staat also kann dem Volke das geben, was es braucht, nämlich die freie Organisation der eigenen Interessen von unten nach oben, ohne jede Einmischung, Bevormundung oder Nötigung von oben, weil jeglicher Staat, selbst der republikanischte und demokratischte, und sogar der Pseudo-Volksstaat, wie ihn Marx geplant hat, letzten Endes nichts anderes darstellt, als die Beherrschung der Massen von oben nach unten, durch eine intellektuelle und eben dadurch privilegierte Minderheit, die angeblich die wahren Interessen des Volkes besser erkennt, als das Volk selbst.“
– M.Bakunin, Staatlichkeit und Anarchie, Ullstein Materialien, Seite 439 –
Bakunin hat alle Arten von Staat und vor allem die demokratischen Ideen vom Volksstaat und freien Staat ziemlich rigoros kritisiert. Leider hat er diese Sichtweise mit einer nationalistischen und rassistischen Sicht auf die Ereignisse vermischt, was ihn dazu gebracht hat, einige Völker als etatistisch und andere als nicht etatistisch zu sehen; er hat die Aussagen der Sozialdemokratie zum Volksstaat und freien Staat als Teil eines deutschen etatistischen Komplotts gesehen. Bakunin, der Marx und Engels als die mächtigen Anführer dieser Partei ansah (siehe unten), schrieb ihnen fälschlicherweise die gesamte bourgeoise Politik der deutschen Sozialdemokratie zu, eine Politik, für die sie nicht einmal verantwortlich waren, die sie aber nie aufgehört hatten zu kritisieren. Marx und Engels haben jedoch, sicherlich aus Opportunismus, ihre Kritik nicht öffentlich gemacht und nie offen ihren Bruch mit der Sozialdemokratie verkündet, den sie privat so oft angekündigt hatten5; diese Realität hat zweifellos zur Entstehung von Bakunins falscher Meinung und zur Verwirrung beigetragen. Das Ergebnis all dessen war, dass die tatsächlichen Klassenunterschiede zwischen den sozialdemokratischen und den revolutionären Positionen, zwischen den Anhängern des freien Staates und denen, die die Abschaffung des Staates anstrebten, hinter den Streitigkeiten zwischen den Marxisten und den Bakuninisten, zwischen „Autoritären” und „Anarchistinnen und Anarchisten“ oder sogar zwischen verschiedenen nationalistischen und rassistischen Strömungen: hinter der Opposition zwischen den „historischen Völkern“ auf der einen Seite und den slawischen und lateinischen Völkern auf der anderen Seite.
Aber kommen wir zurück zum echten Bruch zwischen Revolution und Konterrevolution, zur Kritik der Revolutionäre am sozialdemokratischen Programm, das auf eine Reform des Staates auf liberaler und demokratischer Grundlage abzielte:
„Ist dies nicht ein neuer Beweis für die Wahrheit, die wir unermüdlich verteidigen, in der Überzeugung, daß die schnellste Lösung aller sozialen Probleme davon abhängt, daß sie allgemein verstanden wird, die Wahrheit nämlich, daß der Staat, und zwar jeder Staat, und sei er auch in die liberalsten und demokratischten Formen gehüllt, notwendigerweise auf Vormachtstellung, auf Herrschaft, auf Zwang, d. h. auf Despostismus – wenn Sie wollen, auf verstecktem, aber dann um so gefährlicherem – begründet ist.“
– M.Bakunin, Staatlichkeit und Anarchie, Ullstein Materialien, Seite 450 –
Ähnlich wie die Kritik von Marx und Engels geht auch Bakunins Kritik von der Ablehnung der Idee der Emanzipation des Staates aus. Genau wie die von Marx und Engels bezieht seine Analyse ihre Stärke aus der Kritik am Volksstaat und am freien Staat. Aber Bakunin hatte den Mut, sich klar und öffentlich außerhalb und gegen die Sozialdemokratie zu positionieren. Er verstand ihre historische Funktion (und erkannte dabei vollkommen ihren totalen Antagonismus zur IAA) und definierte die Sozialdemokratie als das, was sie wirklich ist: eine bloße bourgeoise Partei für Arbeiter.
„[…] daß innerhalb eines Staates keine Befreiung des Proletariats möglich ist, und daß die erste Bedingung für eine Befreung die Zerstörung des Staates ist. Aber eine solche Zerstörung ist nur bei einträchtiger Zusammenarbeit des Proletarats aller Länder möglich, die zunächst auf wirtschaftlichem Gebiet zu organisieren gerade Aufgabe der Internationalen Arbeiterassoziation ist. […]
Aber die österreichischen Arbeiter haben diese notwendigen ersten Schritte nicht getan und deshalb nicht getan, weil sie beim ersten Schritt durch die deutsch-patriotische Propaganda Liebknechts und anderer Sozialdemokraten zurückgehalten wurden, die wohl mit ihm im Juli 1868 nach Wien gekommen waren. Ihr Ziel war gerade, den sicheren sozialen Instinkt der österreichischen Arbeiter vom Weg der internationalen Revolution abzubringen und ihn auf die politische Agitation zugunsten der Gründung eines einzigen, von ihnen Volksstaat genannten Staates, eines pangermanischen natürlich, zu lenken – mit einem Wort, die Verwirklichung des patriotischen Ideals des Fürsten Bismarck, lediglich auf sozialdemokratischen Boden und durch sogenannte legale Volksagitation.
Diesen Weg dürfen nicht nur die Slawen, sondern auch die deutschen Arbeiter aus dem einfachen Grund nicht gehen, weil ein Staat – und möge er sich zehnmal Volksstaat nennen und mit den demokratischsten Formen ziehen – für das Proletariat notwendigerweise zum Gefängnis wird. […] Infolgedessen werden wir es nicht unterlasse, unsere slawischen Brüder zu überreden, in die Reihen der sozialdemokratischen Partei deutschen Arbeiter einzutreten, an deren Spitze vor allem in einer Art Duumvirat – ausgestattet mit diktatorischen Vollmachten – Marx und Engels stehen und hinter ihnen oder unter ihnen Bebel, Liebknecht und einige jüdische Literaten, sondern wir müssen im Gegenteil alle Anstrengungen darauf verwenden, das slawische Proletariat von dem selbstmörderischen Bündnis mit dieser Partei abzubringen, die keineswegs eine Volkspartei ist, sondern ihrer Richtung, dem Ziel und den Mitteln nach eine rein bourgeoise und dazu noch ausschließlich deutsch, d. h. für die Slawen tödliche Partei.
Je energische aber das slawische Proletariat um seiner Rettung willen nicht nur ein Bündnis, sondern auch eine Annäherung an diese Partei ablehnen muß – womit wir nicht die Arbeiter in der Partei, sondern die Organisation der Partei und hauptsächlich ihre immer und überall bourgeoise Führung meinen – desto enger muß es sich um eben dieser Rettung willen an die Internationale Arbeiterassoziation annähern und sic mit ihr verbünden. Keineswegs darf die deutsche sozialdemokratische Partei mit der Internationale verwechselt werden.6 Das politisch-patriotische Programm der ersteren hat nicht nur fast nichts mit dem Programm der letzteren gemein, es steht sogar völlig im Widerspruch dazu.
– M.Bakunin, Staatlichkeit und Anarchie, Ullstein Materialien, Seite 468 –
Wie viele andere revolutionäre Gefährten und Gefährtinnen war sich Bakunin klar darüber, dass je liberaler, populärer-volksnaher und demokratischer die Erklärungen zum Staat sind, desto konterrevolutionärer sind die Aktionen der Partei, die sie formuliert. Er hat total verstanden, dass je liberaler und demokratischer eine Gesetzgebung oder eine Verfassung ist, desto mächtiger ist der Staat, der sie vorantreibt.
„[…] dann werden sie […] die für das Volk um so gefährlicher sind, je liberaler und demokratischer ihre öffentlichen Erklärungen sind..“
– M. Bakunin, Staatlichkeit und Anarchie, ebenda, Seite 471 –
„Man muß schon ein Esel, ein Ignorant, ein Verrückter sein, wenn man glaubt, dass irgendeine Konstitution, sogar die liberalste und demokratischste, dieses Verhältns des Staates zum Volk zum Besseren ändern könnte (…)“
– M. Bakunin, Staatlichkeit und Anarchie, ebenda, Seite 481 –
Wenn er hier diese liberalen und demokratischen Formen der Herrschaft anprangert, betont Bakunin zu Recht, dass sie die Diktatur und den Despotismus nicht nur überhaupt nicht einschränken, sondern sogar noch verstärken.
„Damalsahnte noch niemand diese Wahrheit, die heutzutage auch der dümmste Despot kennt, dass nämlich die sogenannten konstitutionellen Regierungsformen oder die einer Volksvertretung kein Hindernis für staatlichen, militärischen, politischen und finanziellen Despotismus sind, sondern seine innere Festigkeit und Stärke beträchtlich erhöhen können, indem sie ihn gleichsam legalisieren und ihm den trügerischen Anschein einer Volksregierung verleihen.“
– M. Bakunin, Staatlichkeit und Anarchie, ebenda, Seite 538 –
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Was Marx betrifft, so entwickelte er (und in gewissem Maße auch Engels) dieselbe Kritik am freien und Volksstaat. Schon früh kritisierte er die mit dem Staat verbundene Vorstellung von Freiheit, nach der der Mensch sich selbst befreit, indem er den Staat befreit: („[…] daß der Staat ein Freistaat sein kann, ohne daß der Mensch ein freier Mensch wäre.“) (Karl Marx, „Zur Judenfrage“, 18437). Nachdem er das Gothaer Programm gelesen hatte, kritisierte Marx sofort heftig die ökonomische und soziale Idee dahinter und konzentrierte sich dabei auf den berühmten „freien Staat“:
„
Zunächst nach II erstrebt die deutsche Arbeiterpartei „den freien Staat“.
Freier Staat – was ist das?
Es ist keineswegs Zweck der Arbeiter, die den beschränkten Untertanenverstand losgeworden, den Staat „frei“ zu machen. Im Deutschen Reich ist der „Staat“ fast so „frei“ als in Rußland8. Die Freiheit besteht darin, den Staat aus einem der Gesellschaft übergeordneten in ein ihr durchaus untergeordnetes Organ zu verwandeln, und auch heutig sind die Staatsformen freier oder unfreier im Maß, worin sie die „Freiheit des Staats“ beschränken.
Die deutsche Arbeiterpartei – wenigstens, wenn sie das Programm zu dem ihrigen macht – zeigt, wie ihr die sozialistischen Ideen nicht einmal hauttief sitzen, indem sie, statt die bestehende Gesellschaft (und das gilt von jeder künftigen) als Grundlage des bestehenden Staats (oder künftigen, für künftige Gesellschaft) zu behandeln, den Staat vielmehr als ein selbständiges Wesen behandelt, das seine eignen „geistigen, sittlichen, freiheitlichen Grundlagen“ besitzt.
Und nun gar der wüste Mißbrauch, den das Programm mit den Worten „heutiger Staat“, „heutige Gesellschaft“ treibt, und den noch wüsteren Mißverstand, den es über den Staat anrichtet, an den es seine Forderungen richtet!
Die „heutige Gesellschaft“ ist die kapitalistische Gesellschaft, die in allen Kulturländern existiert, mehr oder weniger frei von mittelaltrigem Beisatz, mehr oder weniger durch die besondre geschichtliche Entwicklung jedes Landes modifiziert, mehr oder weniger entwickelt.
[…]
Jedoch haben die verschiednen Staaten der verschiednen Kulturländer, trotz ihrer bunten Formverschiedenheit, alle das gemein, daß sie auf dem Boden der modernen bürgerlichen Gesellschaft stehn, nur einer mehr oder minder kapitalistisch entwickelten. Sie haben daher auch gewisse wesentliche Charaktere gemein. In diesem Sinn kann man von „heutigem Staatswesen“ sprechen, im Gegensatz zur Zukunft, worin seine jetzige Wurzel, die bürgerliche Gesellschaft, abgestorben ist.
Es fragt sich dann: Welche Umwandlung wird das Staatswesen in einer kommunistischen Gesellschaft untergehn? In andern Worten, welche gesellschaftliche Funktionen bleiben dort übrig, die jetzigen Staatsfunktionen analog sind? Diese Frage ist nur wissenschaftlich zu beantworten, und man kommt dem Problem durch tausendfache Zusammensetzung des Worts Volk mit dem Wort Staat auch nicht um einen Flohsprung näher.
– K. Marx, Kritik des Gothaer Programms –
Wie Bakunin und alle Revolutionäre von gestern und heute verurteilte Marx das Bestreben, den Staat freier oder volksnaher-populärer zu gestalten. Er widerlegte, dass man durch die Ausschmückung des Wortes „Staat“ mit diesen Adjektiven auch nur einen Deut näher an die Lösung des Problems herankommt, und schließlich stellte er die kommunistische Position klar gegen die bürgerlich-demokratische Lösung des Volks- und Freistaats:
„Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als dierevolutionäre Diktatur des Proletariats.“
– K. Marx, Kritik des Gothaer Programms –
Bei derselben Gelegenheit verurteilte Marx die Forderungen der Sozialdemokratie als Teil des alten bourgeoisen Programms – des demokratischen Programms –, eines Programms, das in der kapitalistischen Gesellschaft bereits verwirklicht worden war. Ansonsten ist es sehr aufschlussreich, dass bereits zu dieser Zeit die Konzepte, die Ziele, das „Programm“ der Sozialdemokratie aus der Idealisierung der Demokratie hervorgingen, aus der idealistischen Verbesserung dessen, was zu dieser Zeit in der bürgerlichen Welt bereits existierte:
„Das Programm nun hat es weder mit letzterer zu tun, noch mit dem zukünftigen Staatswesen der kommunistischen Gesellschaft.
Seine politischen Forderungen enthalten nichts, außer der aller Welt bekannten demokratischen Litanei: allgemeines Wahlrecht, direkte Gesetzgebung, Volksrecht, Volkswehr etc. Sie sind bloßes Echo der bürgerlichen Volkspartei, des Friedens- und Freiheitsbundes. Es sind lauter Forderungen, die, soweit nicht in phantastischer Vorstellung übertrieben, bereits realisiert sind. Nur liegt der Staat, dem sie angehören, nicht innerhalb der deutschen Reichsgrenze, sondern in der Schweiz, den Vereinigten Staaten etc. Diese Sorte „Zukunftsstaat“ ist heutiger Staat, obgleich außerhalb „des Rahmens“ des Deutschen Reichs existierend.“
– K. Marx, Kritik des Gothaer Programms –
Aber die Sozialdemokratie als nationale Partei der Versöhnung der Klassen war nicht mal mit diesem bourgeoisen Programm konsequent und hat nicht mal wie eine radikale bourgeois-demokratische Partei gehandelt. Es ist klar, wie W. Liebknecht selbst später vom Parlament aus bestätigen würde, dass diese Partei nie eine revolutionäre Partei war, sondern eine Partei der Reformen. Darin zeigte sich das Wesen der Sozialdemokratie: Sie versprach den anderen bourgeoisen Parteien, dass sie ihr Ziel des freien Staates mit legalen Mitteln erreichen würde: „[…] die Deutsche Arbeiterpartei strebt mit allen legalen Mitteln nach dem freien Staat“ (Gothaer Programm).
Marx prangerte Demokratismus und Legalismus an und stellte sie der alten revolutionären Position gegenüber, indem er daran erinnerte, dass der Klassenkampf mit Gewalt und Waffengewalt gelöst werden würde.
„Da man nicht den Mut hat, […] die demokratische Republik zu verlangen, […] so hätte man auch nicht zu der <weder „ehrlichen“ noch würdigen> Finte flüchten sollen, […] Dinge, die nur in einer demokratischen Republik Sinn haben, von einem Staat zu verlangen, der nichts andres als ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflußter, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus ist […]; <und diesem Staat obendrein noch zu beteuern, daß man ihm dergleichen „mit gesetzlichen Mitteln aufdringen zu können wähnt!>
Selbst die vulgäre Demokratie, die in der demokratischen Republik das Tausendjährige Reich sieht und keine Ahnung davon hat, daß grade in dieser letzten Staatsform der bürgerlichen Gesellschaft der Klassenkampf definitiv auszufechten ist – selbst sie steht noch berghoch über solcherart Demokratentum innerhalb der Grenzen des polizeilich Erlaubten und logisch Unerlaubten.“
– K. Marx, Kritik des Gothaer Programms –
Dann griff Marx die anderen politischen Forderungen des bourgeoisen Sozialismus an, die für diesen freien Staat, den die Sozialdemokratie so sehr anstrebte, typisch waren. Er betonte, dass diese Forderungen nichts anderes als die „gute Seite“ einer elenden, bereits existierenden bourgeoisen Gesellschaft seien. Er überarbeitete also die verschiedenen Forderungen, in denen die Begriffe „Freiheit“ und „volksnah-populär“ vorkamen, und stellte sie in einen anderen Zusammenhang: progressive Steuern, „Wissenschaftsfreiheit“, „Gewissensfreiheit“, „volksnahe, allgemeine und gleiche Bildung“ … all diese Dinge waren vom bourgeoisen Staat bereits erreicht worden:
Daß man in der Tat unter „Staat“ die Regierungsmaschine versteht oder den Staat, soweit er einen durch Teilung der Arbeit von der Gesellschaft besonderten, eignen Organismus bildet, zeigen schon die Worte: „Die deutsche Arbeiterpartei verlangt als wirtschaftliche Grundlage des Staats: eine einzige progressive Einkommensteuer etc.“ Die Steuern sind die wirtschaftliche Grundlage der Regierungsmaschinerie und von sonst nichts. In dem in der Schweiz existierenden Zukunftsstaat ist diese Forderung ziemlich erfüllt. Einkommensteuer setzt die verschiednen Einkommenquellen der verschiednen gesellschaftlichen Klassen voraus, also die kapitalistische Gesellschaft. Es ist also nichts Auffälliges, daß die Financial Reformers von Liverpool – Bourgeois mit Gladstones Bruder an der Spitze – dieselbe Forderung stellen wie das Programm.“
– K. Marx, Kritik des Gothaer Programms –
Dann widerspricht Marx der These der Deutschen Arbeiterpartei, die „[…] Forderungen als intellektuelle und ethische Grundlage des Staates: 1. Allgemeine und gleiche Volkserziehung …“ fordert, und sagt:
„Gleiche Volkserziehung? Was bildet man sich unter diesen Worten ein? Glaubt man, daß in der heutigen Gesellschaft (und man hat nur mit der zu tun) die Erziehung für alle Klassen gleich sein kann? Oder verlangt man, daß auch die höheren Klassen zwangsweise auf das Modikum Erziehung – der Volksschule – reduziert werden sollen, das allein mit den ökonomischen Verhältnissen nicht nur der Lohnarbeiter, sondern auch der Bauern verträglich ist?“
„„Allgemeine Schulpflicht. Unentgeltlicher Unterricht.“ Die erste existiert in Deutschland, das zweite in der Schweiz [und] den Vereinigten Staaten für Volksschulen. […]
„Ganz verwerflich ist eine „Volkserziehung durch den Staat“.“
– K. Marx, Kritik des Gothaer Programms –
Marx kritisiert die Absicht der Sozialdemokratie, „den Staat zum Volkserzieher zu ernennen!“.
„Freiheit der Wissenschaft“ lautet ein Paragraph der preußischen Verfassung. Warum also hier?
„Gewissensfreiheit“! Wollte man zu dieser Zeit des Kulturkampfes dem Liberalismus seine alten Stichworte zu Gemüt führen, so konnte es doch nur in dieser Form geschehen: Jeder muß seine religiöse wie seine leibliche Notdurft verrichten können, ohne daß die Polizei ihre Nase hineinsteckt. Aber die Arbeiterpartei mußte doch bei dieser Gelegenheit ihr Bewußtsein darüber aussprechen, daß die bürgerliche „Gewissensfreiheit“ nichts ist außer der Duldung aller möglichen Sorten religiöser Gewissensfreiheit, und daß sie vielmehr die Gewissen vom religiösen Spuk zu befreien strebt. Man beliebt aber das „bürgerliche“ Niveau nicht zu überschreiten.“
– K. Marx, Kritik des Gothaer Programms –
Das Konzept des freien Staates ist der zusammengefasste Ausdruck9 all dieser besonderen bourgeoisen Freiheiten, also der bourgeoisen Freiheit im engeren Sinne, der Freiheit des Austauschs, der Freiheit des Privateigentums, der Freiheit der Ausbeutung, der Befreiung der Arbeit, wie wir im Haupttext über Freiheit gesagt haben. Daher ist es völlig logisch, dass auch das Gothaer Programm die Befreiung und Emanzipation der Arbeit lobt, eine Apologie, die historisch aus einer Korrektur/Revision des Satzes aus dem Kommunistischen Manifest resultiert, in dem für die Emanzipation der Arbeiterklasse plädiert wird. Marx und Engels kritisieren offensichtlich auch diese Behauptung der Sozialdemokratie.
„[Dann kommen] die windigen Diskurse über die ‚Befreiung der Arbeit’ anstelle der Emanzipation der Arbeiterklasse, weil die Arbeit heutzutage zu frei ist!”
– Brief von Engels an Bebel, 12. Oktober 1875 – [Unsere Übersetzung]
Wenn man jetzt das Programm als Ganzes betrachtet, kommt Marx zu dem Schluss, dass es nichts anderes ist als ein Kompromiss zwischen dem Glauben an die Demokratie und dem Glauben an den Staat, was total gegen die Interessen des Proletariats und sein revolutionäres Programm geht:
„Doch das ganze Programm, trotz alles demokratischen Geklingels, ist durch und durch vom Untertanenglauben der Lassalleschen Sekte an den Staat verpestet oder, was nicht besser, vom demokratischen Wunderglauben, oder vielmehr ist es ein Kompromiß zwischen diesen zwei Sorten, dem Sozialismus gleich fernen, Wunderglauben.”
– K. Marx, Kritik des Gothaer Programms –
Auch Engels kritisiert das Programm und die aus Gotha hervorgegangene Partei:
„[…] das Prinzip des Internationalismus der Arbeiterbewegung wird in jeder Hinsicht völlig abgelehnt […].
[…] Als seine einzige sozialeForderung stellt das Programm die Lassalle’sche Staatshilfe in ihrer krassesten Form dar, wie sie Lassalle von Buchez geklaut hat. […] Unsere Partei könnte sich kaum noch mehr erniedrigen10! Der Internationalismus ist auf das Niveau von Amand Goegg gesunken, der Sozialismus auf das des bourgeoisen Republikaners Buchez, der die Sozialistenmit dieser Forderung konfrontierte, um sie zu verdrängen!“
– Brief von Engels an Bebel, 18.–28. März 1875 –
Auch der freie Volksstaat ist ein zentraler Punkt in Engels‘ Kritik:
„ Der freie Volksstaat wird zum freien Staat. Grammatikalisch gesehen ist ein freier Staat ein Staat, in dem der Staat gegenüber seinen Staatsbürgern frei ist, also ein Staat mit einer despotischen Regierung. Das ganze Gerede über den Staat sollte aufgegeben werden, vor allem nach der Kommune, die aufgehört hatte, ein Staat im eigentlichen Sinne zu sein11. Der Volksstaat wurde uns von den Anarchisten bis zum Überdruss vorgehalten, obwohl Marx in seiner Anti-Proudhon-Schrift [„Das Elend der Philosophie“, Anm. d. Red.] und danach im Kommunistischen Manifest klar sagt, dass sich der Staat mit der Einführung der sozialistischen Gesellschaftsordnung von selbst auflöst und verschwindet12. Da der Staat aber nur eine Übergangsinstitution ist, die im Kampf, in der Revolution, dazu genutzt wird, die Feinde mit Gewalt in Schach zu halten, ist es totaler Quatsch, von einem freien Volksstaat zu reden; solange das Proletariat den Staat noch nutzt, nutzt es ihn nicht zum Zweck der Freiheit, sondern zur Unterdrückung seiner Feinde, und sobald von Freiheit die Rede sein kann, hört der Staat als solcher auf zu existieren. Wir würden daher vorschlagen, den Begriff „Gemeinwesen” allgemein anstelle von „Staat” zu verwenden; es ist ein gutes altes deutsches Wort, das sehr gut für das französische „Commune” verwendet werden kann.”
– Brief von Engels an Bebel, 18.-28. März 1875 –
Nachdem Engels seine völlige Ablehnung des gesamten Programms zum Ausdruck gebracht hat, kündigt er zusammen mit Marx an, dass sie öffentlich ihre Verantwortung übernehmen werden, was sie, wie bekannt und oben erwähnt, aus völlig verwerflichen Opportunitätsgründen niemals tun werden. Ebenso wenig werden sie eine öffentliche Kritik an der Sozialdemokratie und ihrem Programm üben, was bis heute die Vermischung von Marx/Engels und Sozialdemokratie ermöglicht:
Ich werde mich zurückhalten, obwohl fast jedes Wort in diesem Programm, das übrigens ziemlich langweilig geschrieben ist, Kritik einlädt. Es ist so, dass Marx und ich, sollte es angenommen werden, eine neue Partei, die auf dieser Grundlage gegründet wird, niemals anerkennen könnten und sehr ernsthaft überlegen müssten, welche Haltung – sowohl öffentlich als auch privat – wir ihr gegenüber einnehmen sollten. Denkt daran, dass wir im Ausland für jede Äußerung und jede Aktion der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands verantwortlich gemacht werden. Zum Beispiel von Bakunin in seinem Werk „Staatlichkeit und Anarchie”, in dem wir für jedes unüberlegte Wort, das Liebknecht seit der Gründung des „Demokratischen Wochenblatts” [die demokratische Zeitung, die von 1868 bis 1869 unter Liebknechts Leitung in Leipzig herausgegeben wurde, Anm. d. Red.] Leute denken, wir würden von hier aus die ganze Show leiten, aber du weißt genauso gut wie ich, dass wir uns kaum jemals in die inneren Angelegenheiten der Partei eingemischt haben […]. Aber wie du selbst erkennen wirst, markiert dieses Programm einen Wendepunkt, der uns sehr wohl dazu zwingen könnte, jegliche Verantwortung gegenüber der Partei, die es annimmt, abzulehnen.“
– Engels‘ Brief an Bebel, 18.-28. März 1875 –
oOo
In diesem Brief, wie auch in der gesamten Korrespondenz von Marx und Engels aus dieser Zeit, wird deutlich, dass Bakunins treffende und scharfe Kritik an der sozialdemokratischen Praxis und der Konzeption des freien Staates einen enormen Einfluss auf Marx und Engels hatte. Wenn man dagegen die Texte von Marx und Engels sowie von Bakunin gegen den Staat ohne Vorurteile liest, fällt auf, dass es entscheidende programmatische Übereinstimmungen gibt, obwohl die politischen Differenzen zu dieser Zeit voll ausgeprägt waren, typisch für eine Phase der Niederlage und der unvermeidlichen sektiererischen Erneuerung, die mit dieser Phase einherging. Leider werden die Übereinstimmungen zwischen diesen revolutionären Militanten dem Sektierertum nicht standhalten, und bald wird die gesamte Bewegung durch Hass und brüderliche Kämpfe zwischen Gruppen von Militanten, die unterdrückt werden sollen, geschwächt sein.
Wir wollen hier nicht auf die Details dieser Polemik eingehen und auch nicht auf die groben Verfälschungen eingehen, die von den verschiedenen Fraktionen der sozialdemokratischen Partei (von den republikanischen „anarchistischen” bis zu den demokratisch-populären „Kommunisten”) vorgenommen wurden, aber wir wollen betonen, dass das, was über diese Polemik gesagt wurde, was in Form einer Spaltung zwischen Marxisten und Anarchistinnen/Anarchisten populär gemacht wurde, zutiefst falsch ist. Diese falsche Polarisierung hat ihren Ursprung in der sektiererischen Sichtweise, die diese Militanten gegenseitig vertreten. So wurde Bakunins Standpunkt, der einen populistischen und demokratischen Marx kritisierte, der gar nicht existierte, durch Marx‘ Sichtweise auf Bakunin ergänzt: ein Bakunin, der ständig mit allen möglichen bourgeoisen Organisationen (wie der berühmten Liga für Frieden und Freiheit) zusammenarbeitete, ein Bakunin mit einem reformistischen Projekt, das darauf abzielte, „die Klassenunterschiede abzuschaffen” statt die Klassen selbst… Eine ernsthaftere Untersuchung von Bakunin würde zeigen, dass er nie der Populist, Demokrat oder Antiautoritär war, zu dem ihn der offizielle „Anarchismus” später gemacht hat (und sie machten ihn sogar zu einem Republikaner); eine sorgfältige Untersuchung würde im Gegenteil zeigen, dass er ein konsequenter Verfechter internationalistischer Organisationsstrukturen mit einem klar revolutionären Programm war. Außerdem war er, wie alle echten Revolutionäre, durch die Bewegung selbst dazu gebracht worden, die Notwendigkeit einer Diktatur zur Beendigung des Kapitalismus anzuerkennen und zu akzeptieren; auch wenn Bakunin, anders als Marx und Engels, die diese immer offen als Diktatur des Proletariats bezeichneten, für eine eher konspirative, geheimnisvolle und elitäre Vorstellung von der revolutionären Diktatur war:
„Wir im Gegenteil werden alle Leidenschaften nähren, erwecken und entfesseln und die Anarchie hervorrufen müssen, und als unsichtbare Lotsen im Volkssturm müssen wr ihn leiten nicht durch eine sichtbare Macht, sondern durch die kollektve Diktatur aller Alliierten. Eine Diktatur ohne Schärpe, ohne Titel, ohne offizielles Recht, die desto mächtiger ist, weil sie keinen Anschein der Macht hat.“13
– Brief von Bakunin an Richard, 1. April 1870 – Staatlichkeit und Anarchie, Ullstein Materialien, S. 744.
Die Fälschung der Geschichte, die die Sozialdemokratie über die Spaltung zwischen Marxisten und Anarchistinnen und Anarchisten gemacht hat, ist enorm, aber wir werden diese kritischen Kommentare beenden, indem wir eher auf den gemeinsamen Inhalt der Angriffe der Revolutionärinnen und Revolutionäre gegen den freien Staat eingehen. Was für Revolutionärinnen und Revolutionäre wirklich wichtig ist, geht nämlich über die Kritik dieser Fälschung und die Erklärung der echten Polemik hinaus.
Es wäre für uns ein Leichtes, den „anarchistischen” und „kommunistischen” ideologischen Familien auf provokante, aber gleichzeitig sehr anschauliche Weise die totale Gegensätzlichkeit dessen entgegenzusetzen, was allgemein gesagt wird. Auf diese Weise könnte man Marx – ganz entgegen der gängigen Meinung – wegen seines „libertären und spontanen” Ansatzes kritisieren, der ihn kurz nach seinem Streit mit Bakunin zu der unverantwortlichen Ansicht veranlasste, dass die Partei des Proletariats keine internationale formelle Organisation mehr brauche und dass die Auflösung der IAA notwendig sei. Ebenso könnte man sich mit dem völlig „parteiischen” Charakter Bakunins befassen, der ihn dazu veranlasste, innerhalb dieser Internationalen eine fraktionistische Politik zu verfolgen14. Aber aus der Perspektive der Durchsetzung des revolutionären Programms ist der allgemeine Antagonismus zwischen der Reformierung oder Zerstörung des Staates eine grundlegendere Realität. Und es ist kein Zufall, dass genau dieser Antagonismus von den verschiedenen sozialdemokratischen Strömungen in den Hintergrund gedrängt wird, während sie die Polemik zwischen Marx und Bakunin fördern.
Im Gegensatz zu dieser Verdunkelung wollen wir hier betonen, dass Marx, Bakunin und viele revolutionäre Militanten der damaligen Zeit das Konzept des freien und volksnahen Staates der Sozialdemokratie kritisierten und dass diese Kritik sie natürlich dazu brachte, (sicherlich noch in einer verwirrten und embryonalen Form) die Notwendigkeit der revolutionären Diktatur und der Zerstörung jeglichen Staates zu bekräftigen.
Natürlich gibt es auch hier, in der Bekräftigung dieser Notwendigkeit der revolutionären Diktatur, einen qualitativen Unterschied zwischen Marx und Bakunin, auch wenn man wieder einmal Positionen finden kann, die in völligem Widerspruch zu dem stehen, was allgemein gesagt wird. Normalerweise wird uns Marx als Befürworter und Bakunin als Gegner der Politik dargestellt. Es stimmt, dass einige Aspekte ihrer Polemik diese Form annahmen und diese Terminologie verwendeten. Aber die Realität sieht ganz anders aus. Marx versteht die Diktatur des Proletariats als eine soziale und historische Notwendigkeit, um die Gesellschaft des Kapitals abzuschaffen, eine Notwendigkeit, in der die subjektive, freiwillige, politische Aktion materiell determiniert ist und offen verkündet werden muss. Und umgekehrt führt die sogenannte unpolitische Haltung von Bakunin, zusammen mit seiner Nichtanerkennung der sozialen Diktatur des Proletariats und seiner Ablehnung der historischen Notwendigkeit der Diktatur als soziale Frage (gegen das Gesetz des Werts), zu einer komplett voluntaristischen, geheimen und daher politisierenden Vorstellung von der Diktatur und der Partei.
„[…] um die Revolution zu retten und zu einem guten Ende zu bringen, selbst inmitten dieser Anarchie, braucht es die Aktion einer kollektiven, unsichtbaren Diktatur, die zwar keine Macht hat, aber dafür umso wirksamer und mächtiger ist – die natürliche Aktion aller energischen und aufrichtigen sozialistischen Revolutionäre, die über das ganze Land, über alle Länder verstreut sind, aber durch einen gemeinsamen Gedanken und Willen kraftvoll vereint sind.[…]“
Bakunins Brief an Richard, 12. März 1870 – 15
Aber es ist klar, dass Bakunin auch in diesen Aussagen und trotz der Unterschiede auf unserer Seite stand: Er hat organisiert, geführt und Willen und Gewissen als Schlüssel der Partei und der Revolution betont16, er hat die Notwendigkeit direkter Aktionen revolutionärer Militanten („unsere kleine Partei“, wie er in einigen Dokumenten sagte), um die Revolution anzuführen, verteidigt.
Nach diesen Präzisierungen wollen wir noch einmal über diese Meinungsverschiedenheiten, durch die man immer versucht, das Wesentliche zu übersehen, hinausgehen und uns daran erinnern, dass das Wichtigste zu dieser Zeit war, dass das Proletariat eine Gemeinschaft des Programms und des Kampfes entwickelte, die sich unter anderem in den praktischen und theoretischen Aktionen von Militanten wie Marx, Bakunin und vielen anderen herauskristallisierte.
Es sind nicht die Unstimmigkeiten von Marx oder Bakunin, die in dieser Phase der historischen Selbstbehauptung des Proletariats wirklich entscheidend sind. Natürlich wäre es falsch, die Unklarheiten von Marx zu übersehen, wie zum Beispiel seinen Bruch mit der Sozialdemokratie, Unklarheiten, die zu vielen programmatischen Unstimmigkeiten führten, die nicht mit seiner revolutionären Theorie übereinstimmten (zum Beispiel die Frage des allgemeinen Wahlrechts, der nationalen Befreiung oder auch der deutschen formalen Sozialdemokratie); eEbenso muss man natürlich die politisierenden Praktiken von Bakunin kritisieren, die ihn dazu bringen würden, in der Praxis den entscheidenden Elementen der revolutionären Theorie zu widersprechen (zum Beispiel sein Versuch, den Staat mit einem Dekret abzuschaffen, das zum Zeitpunkt der Besetzung des Rathauses von Lyon verabschiedet wurde, oder sein völliges Fehlen eines öffentlichen Bruchs mit der Liga für Frieden und Freiheit). Was wirklich entscheidend ist, jenseits all dieser Oszillationen, die für eine Zeit typisch sind, in der das Proletariat versucht, sich durch seine revolutionäre Praxis von der Sozialdemokratie abzugrenzen, ist die Tatsache, dass es einen offenen Kampf gibt, der diesen Bruch und die Klärung dieses historischen Antagonismus vorantreibt. Das Ziel dieses Kampfes, wie es in den Texten von Marx, Engels, Bakunin und auch von anderen internationalistischen Militanten jener Jahre ausführlich zum Ausdruck kommt, ist die Konstituierung des Proletariats als historische Kraft, die allen etablierten Ordnungen entgegensteht, der totale Bruch mit der bourgeoisen Demokratie und damit mit allen Parteien der Sozialdemokratie; sein Ziel ist die Organisation der Partei der Revolution zur vollständigen Zerstörung des Kapitals und des Weltstaates.
Genau in diesem Rahmen und auf dieser historischen Ebene unserer Partei steht unsere Kritik an der Freiheit der kapitalistischen Welt, unsere Kritik am freien Staat, am Volksstaat… Genau auf dieser Ebene stehen die Beiträge dieser alten Gefährten (die nicht als Idole zu betrachten sind), Gefährten, die die ersten Systematisierungen des historischen Antagonismus zwischen der sozialdemokratischen Lösung (dem freien, Volks-, demokratischen Staat) und der revolutionären Lösung der Staatsfrage entwickelt haben: revolutionäre Diktatur des Proletariats, um die Waren produzierende Gesellschaft zu zerstören und jeden Staat abzuschaffen17.
1In allen vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen wie auch im Kapitalismus ist der Staat als bewaffnete Organisation der Autorität, als Macht, die die erweiterte Reproduktion der gesellschaftlichen Produktions- und Ausbeutungsweise ermöglicht, par excellence eine Macht der Selbstperpetuierung. Der kapitalistische Staat als Macht der vereinigten Bourgeoisie hat die Funktion, den Kapitalismus aufrechtzuerhalten, die Kapitalisten als Klasse zu erhalten, und damit hat er die Funktion, sich selbst zu erhalten. Das Proletariat hingegen beinhaltet in seinem sozialen Kampf für die Zerstörung des Kapitalismus nicht nur die Negation des Kapitalismus, sondern auch seine eigene Negation. Aus diesem Grund ist der proletarische „Staat“ kein Staat im traditionellen Sinne des Wortes, da er auch seine eigene Auflösung, sein eigenes Aussterben beinhaltet. Er ist die aktive Negation der Diktatur des Kapitals und damit die Negation aller Arten von Diktatur und Staat.
2Buonarroti, „Conspiration pour l’Egalité dite de Babeuf” [Verschwörung für die sogenannte Gleichheit von Babeuf – Unsere Übersetzung], Les Classiques du Peuple, Editions Sociales, Seiten 45 und 46.
3Hier müssen wir zwei Sachen klarstellen. Erstens benutzen wir den Begriff „marxistisch“ im Sinne der Zerlegung, der Auflösung von Marx‘ Werk und im Sinne der Entwicklung einer marxistischen Ideologie als Ideologie des bourgeoisen Staates für die Arbeiterinnen und Arbeiter. Diese Ideologie beinhaltet die Apologie der Arbeit, der ökonomischen Zentralisierung, der Verstaatlichungen, der demokratischen Institutionen usw. Zweitens ist diese offizielle und massenhafte Formation der Sozialdemokratie nicht die erste Manifestation der Sozialdemokratie als bourgeoise Partei für die Arbeiterinnen und Arbeiter. Tatsächlich ist die Sozialdemokratie als Konzeption und historische Partei der Konterrevolution ein globaleres Phänomen, und ihr historischer Ursprung liegt weit vor der Formalisierung der Partei, von der wir hier sprechen. Sobald das Proletariat danach strebte, sich von der Bourgeoisie zu emanzipieren, sich außerhalb und gegen ihre Herrschaft zu positionieren, begannen sich auch die bourgeoise Versuche zu entwickeln, Parteien für die Arbeiterinnen und Arbeiter zu gründen. Diese Parteien waren bereit, alle Mittel einzusetzen, um eine Politik zu fördern, die den Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter diametral entgegensteht: eine Politik der Unterwerfung unter Nationen, unter Demokratie, unter Bündnisse, unter Fronten, unter die Verwirklichung demokratischer und/oder nationaler Aufgaben. So waren schon lange bevor die sozialdemokratische Partei in ihrer 1875 in Deutschland angenommenen Form entstand, ihre verschiedenen formalen Ausprägungen in mehreren Ländern aufgetaucht.
4Man muss wissen, dass das hier vorgestellte Programm der Sozialdemokratie, dessen Hauptverfasser der „Marxist” W. Liebknecht war, das Leben dieser Organisation mehr als 15 Jahre lang bestimmte, bis der Halle-Kongress am 16. Oktober 1890 die Ausarbeitung eines neuen Programmentwurfs empfahl. Diese Aufgabe wurde kurz darauf erfüllt, und das neue Programm wurde 1891 in Erfurt verabschiedet.
5Marx zum Beispiel sagt in einem Brief an Bracke: „Nach dem Koalitionskongress werden Engels und ich eine kurze Erklärung veröffentlichen und sagen, dass wir mit diesem Grundsatzprogramm nichts zu tun haben. “ (Marx‘ Brief an Bracke, 5. Mai 1875) Unter dem absurden Vorwand, dass beide Klassen der Gesellschaft es als echtes revolutionäres und sogar kommunistisches Programm betrachteten, obwohl es nichts anderes als ein bourgeois-demokratisches Programm war, haben Marx und Engels ihren Bruch damit nicht öffentlich gemacht. „Aber die Esel der bürgerlichen Zeitungen nahmen dieses Programm ernst, sie lasen hinein, was nicht darin stand, und interpretierten es als kommunistisch. Die Arbeiter scheinen das Gleiche zu tun. [Unsere Übersetzung bis hierher] Allein dieser Umstand hat es Marx und mir ermöglicht, uns nicht öffentlich von einem solchen Programm zu distanzieren. Solange unsere Gegner wie auch die Arbeiter weiterhin unsere Ansichten in dieses Programm hineinlesen, sind wir berechtigt, nichts darüber zu sagen.“ (Engels‘ Brief an Bebel, 12. Oktober 1875). Das war ein großer politischer Fehler, denn Marx und Engels haben sich zwar darauf gestützt, „was die Leute davon denken“, aber vor allem haben sie nicht gesagt, was es war. Das Proletariat und seine Avantgarde-Minderheiten haben für dieses Schweigen einen riesigen Preis bezahlt.
6Bakunin dachte fälschlicherweise, dass die deutsche sozialistische Partei in der Internationale von Marx und Engels vertreten wurde, aber er hatte Recht, als er die Sozialdemokratie als bourgeoise nationale Partei bezeichnete, und er hatte auch Recht, als er behauptete, dass diese Partei der Sozialdemokratie in Realität nicht nur programmatisch gegen die Internationale war, sondern auch gegen alle Versuche, sich praktisch mit der Internationale zu organisieren. Tatsächlich war der Beitritt/die Mitgliedschaft des linken Flügels dieser Partei zur Internationale nur formal (man spricht hier nur von Bebel und Liebknecht, da die anderen nicht einmal mit der Arbeiterinternationale sympathisierten). Wie Engels in einem Brief an T. Cuno vom 7./8. März 1872 schrieb: „Die Position der Deutschen Arbeiterpartei gegenüber der Internationale war nie klar. Es gab nur einige rein platonische Beziehungen, nie eine echte Zugehörigkeit, nicht einmal von einzelnen Personen (trotz einiger Ausnahmen) …” [Unsere Übersetzung] Nachdem er daran erinnert hatte, dass aufgrund gesetzlicher Verbote nie Sektionen gegründet worden waren, betonte Engels, dass „sie sich in Deutschland darauf beschränkten, die Rechte der Mitglieder (der Internationalen NoR) einzufordern, ohne die Pflichten zu unterstützen …” [Unsere Übersetzung]
7Im selben Text fügt Marx hinzu: „Aber das Verhalten des Staats zur Religion, namentlich des Freistaats, ist doch nur das Verhalten der Menschen, die den Staat bilden, zur Religion, Es folgt hieraus, daß der Mensch durch das Medium des Staats, daß er politisch von einer Schranke sich befreit, indem er sich im Widerspruch mit sich selbst, indem er sich auf eine abstrakte und beschränkte, auf partielle Weise über diese Schranke erhebt. “ (K. Marx, Zur Judenfrage)
8Marx macht sich hier über die Behauptung des freien Staates lustig, während er sagt, dass man in Deutschland fast so „frei“ ist wie in Russland, was bedeutet, wenn man den nächsten Satz und Marx‘ Verständnis der damaligen europäischen Realität berücksichtigt, dass die Regierung in Deutschland praktisch genauso despotisch war wie das Regime in Russland, das damals als der Inbegriff des Despotismus galt. Es ist bemerkenswert, dass Marx aufmerksam genug war, diese „Freiheit“ des „Staates“ in Anführungszeichen zu setzen, um sie der wirklichen Freiheit gegenüberzustellen, die dort beginnt, wo die „Freiheit des Staates“ begrenzt ist (oder, genauer gesagt, wenn der Staat nicht mehr existiert).
9Wir halten es nicht für richtig zu behaupten, dass der freie Staat die höchste Stufe all dieser Freiheiten darstellt. Es ist klar, dass die Freiheit der Arbeit, die sich aus der Freiheit ergibt, die durch die historische Trennung des Produzenten von seinen Produktionsmitteln erreicht wurde, die wichtigste Determinante darstellt.
10Engels kritisiert die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands aus Gotha wegen ihrer Praxis und ihres Programms und bezeichnet sie als demokratische Partei, als bourgeoise Partei, als Partei der Versöhnung mit dem Staat… Aber indem er diese Organisation als „unsere Partei“ (!) bezeichnet, macht er ein extrem schwerwiegendes Zugeständnis, das bis heute unzählige und unermessliche praktische Folgen hat.
11Wenn man die Programme der Sozialdemokratie und all ihrer Epigonen liest, kann man nie genau sagen, von welcher Situation (vor oder nach der Revolution) die Rede ist, um welchen Staat (bourgeoiser Staat oder proletarischer Halb-Staat) es sich handelt (siehe zum Beispiel das Übergangsprogramm der Trotzkisten). Deshalb sah sich Engels zunächst gezwungen, den freien Staat als bourgeoiser Staat zu kritisieren und zu zeigen, dass dieser notwendigerweise despotisch ist; und erst danach spricht er vom postrevolutionären „Staat”, wobei er präzisiert, dass es sich nicht um einen „Staat” im Sinne handelt, wie dieser Begriff üblicherweise von der Sozialdemokratie und auch von denen verwendet wird, die sich als „Anarchistinnen und Anarchisten” bezeichnen.
12Angesichts des Marxismus-Leninismus, der einen Sozialismus erfunden hat, der Waren, Geld, das Wertgesetz und den „Arbeiterstaat” umfasst, ist es wichtig, das Verschwinden des Staates zu betonen, von dem Engels hier spricht, und die Grundlagen der proletarischen revolutionären Diktatur wiederherzustellen, die darauf abzielt, ein soziales System ohne Waren, ohne Privateigentum, ohne Wert usw. zu schaffen. ein sozialistisches Gesellschaftssystem, das sich selbst überflüssig gemacht hat und das Aussterben, das Verschwinden des Staates ermöglicht.
13Diese Affirmation einer geheimen und mächtigen Diktatur, die Bakunin hier aufstellt, ist keine Ausnahme in seinem militanten Leben, sondern vielmehr ein fester Bestandteil seiner gesamten „allianzorientierten” Phase, entgegen der Legende, dass dies seine antiautoritärste Phase gewesen sei. Das kann man nur verstehen, wenn man Bakunins allgemeine Praxis kennt, eine Praxis, die durch unzählige Stufen der Organisation und des Programms gekennzeichnet ist, in denen sehr offene populistische Ebenen und extrem geheime Ebenen nebeneinander bestehen; letztere sind eindeutig Anhänger des Internationalismus und des revolutionären Sozialismus, auf der Grundlage einer völlig disziplinierten und hierarchischen Organisation. Das ist zum Beispiel bei der Organisation von Y. der Fall, die auf der Grundlage einer Reihe von Kategorien aufgebaut ist, die von den internationalen Brüdern bis zu den lokalen Allianzen reichen. Bakunin legt fest, dass „alle unteren Kategorien so organisiert sein müssen, dass sie immer, mehr noch als von Rechts wegen, den Anweisungen der oberen Kategorien folgen”. -M.Bakunin, „Programm von Y [der internationalen Bruderschaft]“ – [Unsere Übersetzung], Oeuvres complètes, Band 6, Ed. Champ Libre, Seite 186.
14Guy Debord ist in „Die Gesellschaft des Spektakels“ einer der wenigen Militanten, die zumindest teilweise den Sinn der Polemik zwischen Bakunin und Marx verstanden haben. Siehe den vierten Teil dieses Buches („Das Proletariat als Subjekt und als Repräsentation“) und insbesondere These 91, aus der wir hier einen kurzen Auszug wiedergeben: „Marx, der glaubte, daß ein untrennbares Reifen der wirtschaftlichen Widersprüche und der demokratischen Erziehung der Arbeiter die Rolle des proletarischen Staates auf eine einfache Phase der Legalisierung neuer gesellschaftlicher Beziehungen, die sich objektiv durchsetzen, beschränken würde, denunzierte bei Bakunin und seinen Anhängern den Autoritarismus einer konspirativen Elite, die sich absichtlich über die Internationale gestellt hatte, mit der extravaganten Absicht, der Gesellschaft die unverantwortliche Diktatur der Revolutionärsten oder derer, die sich als solche werden bezeichnet haben, aufzuzwingen.“
15Mikhail Bakunin Letter to Albert Richard (March 12, 1870), von uns aus übersetzt.
16Es gibt einige Parteianhänger (oder Anhänger der Partei, A.d.Ü.) – vor allem unter den Bordigisten –, die glauben, dass Bordiga der Erste war, der die Partei als eine Tatsache des Gewissens und Willens bekräftigte!
17Siehe Communisme Nr. 40 (unsere zentrale Zeitschrift auf Französisch) und Comunismo Nr. 31 (unsere zentrale Zeitschrift auf Spanisch), die sich mit dem historischen Antagonismus zwischen Kommunismus und Staat befassen und den Titel „Gegen den Staat“ tragen.