Wer diese Kritik ließt, wird in den Genuss der kritischen Gedanken von Jacques Ellul geraten. Seine hervorragende Werke die sich mit der Kritik an der Entfremdung, der Industrialisierung, wie auch mit der Geschichte der Insurrektionen-Revolution- usw., beschäftigen, waren für uns selbst nicht nur ein Novum, sondern auch sehr bereichernd. Wir laden jede Person, die besser Französisch spricht als wir, seine Werke zu übersetzen.
Ansonsten handelt es sich hier um eine hervorragende Kritik an den Fetischismus, und Mythologisierung des Protests (und seinen diversen Ausdrücken), der nicht das Wesen dieser Gesellschaft in Frage stellt, sondern nur seine ihr inhärenten Formen verändern will.
„Der empörte Politikverbraucher zeigt denselben existenziellen Autismus wie jeder andere Verbraucher auch. Soziale Probleme sind für ihn nur die, die er als sein unmittelbares Problem annehmen kann. Also das, was seine Interessen betrifft, und sonst nichts. Wenn er an die von Zwangsräumungen Betroffenen denkt, denkt er an Eigentum; wenn er an die Arbeitslosen denkt, denkt er an das Recht auf Arbeit; wenn er die Banken anprangert, denkt er natürlich an sein Geld; und wenn er sich über Korruption beschwert, tut er dies wegen der geringen Rentabilität seiner Stimme.“
Also eine Kritik an den Reformismus – der nicht wirklich einer ist, denn der Reformismus, zumindest historisch, hatte immer noch das Ziel den Kapitalismus und seine Verwaltungsorgane und seine Institutionen abzuschaffen, so zumindest die Theorie – und seiner Exaltation, wie durch Vollversammlung (oder Plenas), als geistiger Orgasmus für eine nicht-existierende Praxis, denn nicht die Vollversammlungen (Räte, Soviets, egal wie man sie nennen will) sind das Ziel einer revolutionären Bewegung gegen die herrschende Ordnung, sondern ihre Fähigkeit Dinge zu Organisieren, also gesellschaftliche Probleme zu lösen. Anders gesagt, die Kritik am Partizipativen, als ob dabei sein alles wäre, was wirklich passiert ist nebensächlich.Also eine Kritik an den gegenwärtigen Nullsummenspiel heutiger Proteste, die jeweiligen Aufstände und soziale Eruptionen ausgenommen, die sich als radikal präsentieren, es aber nicht sein können, sondern ganz klar Instrumente der Rekuperation sind. Die Kritik befasst sich mit den sogenannten Protesten im Spanischen Staat die den Namen 15M trugen und von 2011 bis 2012 andauerten.
Es ist sehr wichtig wenn Anarchistinnen und Anarchisten sich fragen wie sie in sozialen Kämpfen intervenieren können, aber dies ergibt überhaupt gar keinen Sinn wenn wir nicht in der Lage sind diese einzuordnen und jeden Protest als den Vorläufer irgendeiner Phantasie hoch krönen. Abgesehen davon dass wir mit einer Kritik meistens besser vorankommen, als mit einer falschen ideologisierten Praxis.
Die hier formulierte Kritik von Cul de Sac (was eine Publikation war), könnte an vielen Ereignissen im deutschsprachigem Raum auch angewandt werden können, vergangene wie gegenwärtige. Zum Schluss, es gibt einige Punkte, wie immer, die wir nicht teilen, wie die Vorschläge der „Flucht“ vor dem kapitalistischen und technologischen Kollaps (oder Zusammenbruch), aber im großen und ganzen eine tolle Kontribution. Diesen Text, den wir eigentlich seid Jahren übersetzen wollten, haben wir jetzt doch noch schnell übersetzt, als ein Beitrag unserer Antwort auf den Text „Über die üblichen alten – geliebten – Themen -Über Kommunismus und Individualismus (mit einem Blick auf den Nihilismus)“, in Bezug auf die beiden Texte (Vetriolo) DIE NIHILISTISCHE PHASE, wie auch Ein paar kritische Gedanken zu „Die nihilistische Phase”.
Für die Anarchie, für die weltweite klassenlose Gesellschaft freier Menschen!
Bis dahin, The Nightmare Continues (Discharge)
15M. Gehorchen als Form der Rebellion
Thesen über die Empörung und ihre Zeit
(15M. Obedecer bajo la forma de la rebelión
Tesis sobre la indignación y su tiempo)
Erste Ausgabe: Juni 2012
Erweiterte Ausgabe: Mai 2016
Autor: Colectivo Cul de Sac
Vom 15M und sein weiteres Leben
Vorwort zur vorliegenden Ausgabe
I
Das Buch, das du in den Händen hältst, wurde im November 2011 geschrieben, als die Hitze der Ereignisse des Frühlings langsam abkühlte und die Besetzung der Plätze nachließ, um einem allgemeinen Gefühl Platz zu machen, dass „sich etwas bewegt hatte”. Unsere Reflexion war damals schlagkräftig: Die Empörung (indignacion) oder die sogenannte 15M-Bewegung war nicht der Beginn eines Zyklus sozialer Transformation, sondern eine Rückkehr zum Gehorchen in Form der Rebellion. Trotz ihrer Heterogenität und der gegensätzlichen Strömungen, die in ihrem Inneren herrschten, zeigten die Vollversammlungen auf den Plätzen auf unübertreffliche Weise die Grenzen auf, denen soziale Forderungen in der Blütezeit und im Niedergang unserer Zeit unterliegen. Alles, was auf der Liste der Gründe für die Empörung fehlte (oder nur von einer extrem kleinen Minderheit genannt wurde), war genau das, was einige von uns für am wichtigsten hielten, um dagegen anzukämpfen. Deshalb sorgten unsere Schlussfolgerungen für einige Kontroversen, weil wir diese Mobilisierung kritisierten, anstatt mitzuhelfen, sie in Richtung unserer eigenen Vorstellungen zu lenken. Unsere Erfahrung war zwar begrenzt (wir haben mit unterschiedlicher Intensität und Beteiligung an verschiedenen Vollversammlungen in verschiedenen Städten teilgenommen), aber eine Analyse der Ereignisse nur wenige Monate nach dem 15. Mai überzeugte uns bereits davon, dass jegliche Illusionen hinsichtlich der Entwicklung/Fortschritts dieser „Bewegung” ungerechtfertigt waren, insbesondere für diejenigen, die eine radikale Veränderung unserer Lebensweise anstrebten.
Einige haben unsere Kritik schnell als „zu hart” oder als „zum ungünstigsten Zeitpunkt” abgetan, als „die Leute endlich anfingen, politisch wach zu werden und auf die Straße gingen”. Als wir darauf hinwiesen, dass jenseits der angeblichen Vollversammlungsformen der Großteil der Inhalte, die die Empörung auslösten, auf eine zukünftige Einbindung in eine Art Organisation hindeuteten, die eine Art „Sozialdemokratie 2.0” vertreten würde, nahmen uns nur wenige ernst. Heute scheint uns das, was wir damals gesagt haben, wahrer denn je. Und sowohl unsere damaligen Kritiker als auch diejenigen (die Mehrheit), die nichts von dieser Kontroverse wussten, laden wir ein, diese Thesen über die Empörung und ihre Zeit zu lesen, mit der Absicht, über die gegenwärtige Situation der Verwirrung nachzudenken und dabei vielleicht nicht einen Ausweg, aber zumindest die Aspekte des Problems zu erkennen, die wir für am relevantesten halten.
II
Der Zerfall der heutigen Gesellschaft bietet immer wieder Gelegenheiten, uns zu überraschen und uns zu zwingen, unsere Meinung zu ändern. Wenn wir damals die Empörung oder die 15M-Bewegung kritisiert haben, könnten wir heute fast in Versuchung geraten, sie zu vermissen, schon allein deshalb, weil damals mehr Leute auf den Straßen protestierten als politische Talkshows im Fernsehen schauten und voller Hoffnung für einen Generationswechsel in der Politik stimmten. Aber wir werden hier nicht revidieren, was wir 2011 gesagt haben, denn in vielerlei Hinsicht ist heute das Realität geworden, was wir damals nur als Möglichkeit angedeutet haben. Die Formen der Lüge ändern sich so schnell, dass nach der letzten Aufführung der Farce immer ein noch schlimmerer Epilog zu erwarten ist.
Aber wir sparen uns auch die dumme Bemerkung „Wir haben es euch ja gesagt”, denn unter bestimmten Umständen ist es kein Grund zur Freude, wenn die Realität uns Recht gibt. Als wir die Empörung kritisierten, wiesen wir auf das mögliche Auftreten eines „starken Mannes” (oder einer starken Organisation) hin, der bzw. die gefordert werden würde, um die notwendigen Ordnungsmaßnahmen zu ergreifen, um die Frühlingsunruhen zu unterdrücken, die im Mai 2011 auf den Plätzen ausgebrochen waren, aber wir hätten uns nicht vorstellen können, dass dies in dieser Form geschehen würde. Auf jeden Fall dachten wir immer noch, dass sich, wenn diese Möglichkeit eintreten würde, auch andere Möglichkeiten eröffnen würden, die sich ihr entgegenstellen würden und die dem Rückfluss der Welle der Empörung widerstehen müssten, um nicht vollständig mitgerissen und von der Bildfläche verschwinden zu müssen. Aber auch wenn wir mit unserer Einschätzung der Lage teilweise richtig lagen, haben wir uns in unseren innersten Wünschen geirrt, und wenn sich Erfolg und Misserfolg so vermischen, hat das Ergebnis immer einen bitteren Beigeschmack.
Da wir keine Notwendigkeit haben, unsere Argumente zu beschönigen, um eine Wahlmehrheit zu gewinnen, überlassen wir es unseren Kritikern, uns dafür zu verurteilen, dass wir den Text 15M. Obedecer bajo la forma de la rebelión (15M. Gehorchen als Form der Rebellion) erneut veröffentlichen, so wie er geschrieben wurde, mit nur wenigen Änderungen, um Anachronismen zu vermeiden. Seit seiner ersten Fassung sind fünf Jahre vergangen, und wir denken, dass vieles von dem, was darin geschrieben steht, heute noch genauso aktuell ist. Sogar einige seiner Vorhersagen über den Verlauf dieser #spanishrevolution haben sich überraschend genau bewahrheitet. Aber wir fanden es wichtig, dieses Buch jetzt neu aufzulegen, vor allem wegen dem, was noch kommt. Letztendlich ist es nicht so wichtig, was wir damals gedacht haben oder was wir heute über die Situation denken, sondern was jeder einzelne tun kann, um sich dem Hamsterrad dieses „Verfassungsprozesses” zu entziehen, der mit seinem Jargon den Bereich des Diskutierbaren zerstört hat und für viele zur einzigen möglichen Alternative geworden ist.
Auch diesmal können wir uns von der Last befreien, in unserer Kritik originell oder neuartig sein zu müssen; da die Realität darauf besteht, die alten Lügen von jeher in neuem Gewand und mit einem informellen Look zu wiederholen, mussten wir es riskieren, so unaktuell wie möglich zu sein und statt neu zu schreiben, erneut zu veröffentlichen, was wir damals schon geschrieben hatten.
III
Seitdem die 15M-Bewegung an Kraft verloren hat und sich die Bedingungen des sozialen Verfalls, unter dem wir leiden, verschärft haben, ist die Möglichkeit, dass eine Alternative für einen institutionellen Wandel entsteht, immer realer geworden. Wir wissen bereits, welche Folgen halbherzige und offen verratene Revolutionen hatten, sodass man sich vorstellen konnte, wie die Pendelbewegung einer Rebellion aussehen würde, die darauf abzielte, neue Bedingungen zu schaffen, unter denen Gehorsam leichter fiel. Im besten Fall war die Empörung ein Aufschrei der Überdrüssigkeit (A.d.Ü., aber auch ekel) angesichts der gegenwärtigen Unterdrückung (und in einigen, eher marginalen Fällen wurden Themen von höchster Bedeutung angesprochen1); im schlimmsten Fall war sie nichts weiter als die Forderung nach einer besseren Ordnung und ein verzweifelter Appell an andere, die Macht zu übernehmen und sie mit mehr Entschlossenheit auszuüben. Zu unserem Unglück haben wir in den letzten Jahren miterlebt, wie das Schlimmste vor unseren Augen Gestalt annahm. Von den verschiedenen „Mareas” (Bewegungen) und „Marchas por la dignidad” (Märschen für Würde) ging es in kürzester Zeit zur Einrahmung der Unzufriedenheit in eine Wahlalternative, die sich weder als Partei noch als Bewegung oder gar als das Gegenteil davon bezeichnen wollte und die unter dem Namen Podemos eine zweite Transition und eine Form der sozialen Befriedung vorschlug, deren „überwältigender Erfolg” zum großen Teil darauf zurückzuführen ist, dass es nur noch sehr wenig zu befriedigen gab.
Für diejenigen, die dachten, es reiche aus, die Wahlenthaltungsquoten als Zeichen für eine bevorstehende Niederlage der repräsentativen Politik zu interpretieren, waren die Kommunal- und Regionalwahlen und die anschließenden Parlamentswahlen ein herber Rückschlag. Und darüber freuen wir uns nicht. Dass eines der Nachfolgeprojekte der 15M-Bewegung die Form von Podemos angenommen hat, zeigt uns, dass sich die Gesellschaft tatsächlich mobilisiert und „bewusst wird”, aber in eine Richtung, die einige von uns nicht einschlagen wollen, unabhängig davon, wer sich das Recht anmaßt, uns zu einem neuen Horizont der Erlösung zu führen.
Wir glauben aber nicht, dass das politische Abdriften von Podemos am Ende den Lauf der Dinge bestimmen wird – das würde ihnen eine Bedeutung geben, die sie nicht haben –, sondern dass das Fehlen einer konsequenten Opposition mit radikaler Kritik entscheidend sein könnte, wenn es darum geht, den bereits stattfindenden Niedergang der Industriegesellschaft insgesamt anzugehen. Das soll nicht heißen, dass wir die ultimative Wahrheit dieser Kritik besitzen oder dass wir in der Lage sind, jede Entscheidung an den Kreuzungen, denen wir gegenüberstehen, zu klären. Wir haben einfach keine andere Wahl, als zu sagen, was wir denken, auch wenn es vielen nicht gefällt, das zu hören. Denjenigen, die uns vorwerfen, dass der sogenannte „Verfassungsprozess” noch im Gange ist und seine Ergebnisse nicht so schnell beurteilt werden können, können wir nur sagen, dass für uns in diesem Fall gestern schon zu spät war.
Andererseits sollten wir nicht ungeduldig sein oder uns von der Dringlichkeit mitreißen lassen. Die demokratische Erneuerung und das Zusammenrücken um Podemos und seine verschiedenen gemeinsamen Kandidaturen auf kommunaler und regionaler Ebene enttäuschen sehr schnell einen Teil derjenigen, die auf das kleinere Übel gesetzt haben. Diejenigen, die sich der Falle bewusster waren und eine strategische Position einnehmen wollten, die die institutionelle und parteipolitische Einbindung als eine Art Trojanisches Pferd der „sozialen Bewegungen” behandelt, müsste man fragen, wo genau diese Mobilisierungen heute stehen und welche Landschaft der Verwüstung/Trostlosigkeit wir vorfinden werden, wenn das parlamentarische Abenteuer scheitert – also „erfolgreich” ist.
Weder mit Begeisterung zu wählen noch diesen „Patriotismus der Unteren” (A.d.Ü., gemeint sind die armen Schichten der Gesellschaft, also das Proletariat) zu übernehmen, hat gereicht, um einige der schlimmsten Merkmale unserer Lebensweise auch nur oberflächlich zu verändern. Die Versuche einer gewissen Kosmetik im „kulturellen” Bereich eines naiven Linkstum, wo dieser eine gewisse Macht hatte, endeten in großer Lächerlichkeit oder beunruhigenden Grotesken (wie im Fall der Puppenspieler, die der Verherrlichung des Terrorismus beschuldigt wurden2). Bei den wirklich wichtigen Themen, die übrigens nie zu den Prioritäten gehörten, die die Empörung ausgelöst haben, mussten die „Kräfte des Wandels“ dem ersten Teil dieser Formel viel mehr Gewicht geben und den zweiten Teil vergessen.
Die Grenzen der Entwicklung/Fortschritts unserer Lebensweise werden immer noch nicht offen angesprochen, weil wir mit dem Spiel um Parlamentssitze beschäftigt sind, das jetzt mit offener Obszönität und peinlicher Überinterpretation inszeniert wird. Dabei sind diese Grenzen in vielen Fällen schon überschritten worden, was zur Zerstörung von Lebensbedingungen geführt hat, die im Laufe mehrerer Generationen nur schwer wiederhergestellt werden können. Die Wurzeln des sozialen Verfalls sind tief, und keine politische Revolution (sei sie reformistisch, linkspopulistisch, neoliberal, sozialdemokratisch oder sonst wie) kann sie auch nur ansatzweise verstehen, solange sie sich nicht vom Mythos des Fortschritts und der ökonomischen Entwicklung/Fortschritts löst. Die Argumente sind bekannt, die Fakten für alle sichtbar, aber unter bestimmten Umständen wird es zur wichtigsten Aufgabe, auf das Offensichtliche hinzuweisen.
Wir sollten uns offenbar mitten in einer revolutionären Phase befinden, aber tatsächlich scheint es, als würde die revolutionäre Bewegung mit demselben Regime, das sie zu zerstören sucht, in Einklang treten.
Simone Weil, Reflexionen über die Ursachen der Freiheit und der sozialen Unterdrückung
Was bedeuten die Unruhen, in denen wir leben? Stehen sie im Einklang mit der einzigen Revolution, die diese Gesellschaft braucht, oder sind sie eher überholte Bewegungen, die nur die bereits feststehenden Tendenzen unserer Gesellschaft bestätigen?
Jacques Ellul, Ist die Revolution möglich?
Vorbemerkung
Kritische Distanzierung und begrenzte Erfahrung
Diese Thesen bilden ein Versuch, sich kritisch von der Bewegung der Empörten, auch 15M genannt, zu distanzieren. Jede Distanzierung dieser Art erfordert naturgemäß eine begrenzte Erfahrung. Das heißt, dass wir nicht versucht haben, alle Ausdrucksformen, die seit dem 15. Mai 2011 unter dem mehrdeutigen Begriff „Empörung” stattfanden, detailliert zu untersuchen. Wer eine detaillierte Geschichte der Ereignisse oder eine beschreibende Darstellung des Lebens im Zeltlager sucht, wird hier nicht fündig. Eine gesunde Skepsis gegenüber dem Geschehen hat uns davor bewahrt, uns zu sehr zu begeistern, sodass wir später auch nicht enttäuscht wurden. Diese Broschüre kann daher nicht als Abrechnung mit der Bewegung der Empörten oder ähnliches bezeichnet werden. Wir sind nicht empört über die Empörten, wie jemand gesagt hat. Wir glauben einfach, dass die Ereignisse eher eine Niederlage der historischen Bestrebungen nach sozialer Emanzipation ausdrücken als deren Chance oder, wie einige Pedanten sagen, deren „Aktualisierung”.
Angesichts der vorhersehbaren Gedenkfeiern und Revivals, die ab dem 15. Mai stattfinden könnten, wollen wir mit diesen Thesen zumindest eine Warnung aussprechen und diejenigen, die eine radikale Transformation der Ordnung, unter der wir leiden, anstreben, zur Besonnenheit aufrufen.
Auf diesen wenigen Seiten finden sich Zitate in Anführungszeichen, ohne dass Quellenangaben gemacht werden. Es genügt zu sagen, dass wir ungestraft zwei Bücher von Jacques Ellul – unter anderem – geplündert haben, die für unser Vorhaben sehr nützlich waren. Ihre Titel lauten Autopsie der Revolution und Ist die Revolution möglich?, und sie wurden in den 1970er Jahren in Frankreich veröffentlicht.
Wie man sieht, ist die Perspektive weder originell noch neu. Wir sehen das als eine Tugend an.
April 2012
Die Empörung
Mit Vorliebe verlangen die geschworenen Feinde der Institutionen, man müsse dies oder jenes, meist Wünsche zufällig konstituierter Gremien, institutionalisieren.
Th. W. Adorno Marginalien zu Theorie und Praxis
I
Wer in der sogenannten „Bewegung der Empörten” eine revolutionäre Bewegung sehen wollte, hat sich getäuscht. Das war sie nicht, ist sie nicht und will sie auch nicht sein. Diejenigen, die sich trotz allem zu ihren „Sprechern” erhoben haben, haben sich zu viel Mühe gegeben, um klarzustellen, dass sie nichts Grundlegendes an der heutigen Gesellschaft verändern wollen, als dass man das weiterhin ignorieren könnte. Nein, es handelt sich nicht um eine revolutionäre Bewegung – sie ist nicht einmal reformistisch im historischen Sinne des Wortes –, und hier werden wir versuchen zu erklären, warum.
Aber es ist auch kein harmloses Vergnügen einiger weniger Studenten und linker Aktivisten. Es ist keine Verschwörung, um die Massen mit irgendwelchen dunklen Absichten zu mobilisieren. Es ist etwas viel Schlimmeres als all das.
II
Bevor wir anfangen, müssen wir klarstellen, dass wir, wenn wir die Rolle der Empörten hinterfragen, keine der Kritiken akzeptieren, die die extreme Rechte an ihnen geübt hat. Einige der hier vorgebrachten Argumente mögen für bestimmte Progressive reaktionär klingen. Zu unserer Verteidigung sagen wir nur, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen „ein konsequenter Reaktionär als Revolutionär gelten würde und umgekehrt”. Um es klarer zu sagen: Als einige Medien die Empörten als Terroristen bezeichneten, war das eine schreckliche Ungerechtigkeit, da sie absolut nichts getan hatten, um diese Bezeichnung zu verdienen.
Unsere Solidarität mit den Menschen, die während der Mobilisierungen unter der Repression des Staates gelitten haben, wird durch die Kritik an den Zielen, die implizit und explizit die Empörung ausgelöst haben, nicht beeinträchtigt.
III
Die Empörung hatte zu keinem Zeitpunkt das Ziel, die bestehende Ordnung zu stürzen, sondern sie zu verbessern. Gewohnt, Politik wie jedes andere Industrieprodukt zu konsumieren, begnügte sich diese vermeintliche Rebellion damit, denen, die ihnen täglich ihren Brei servieren, eine Beschwerde vorzulegen. So war der Geist, der dazu führte, dass die Plätze und Straßen besetzt wurden, größtenteils die Empörung des betrogenen Verbrauchers. Etwas wütender als sonst, verwirrt durch das neue Szenario, in dem ihre Forderungen stattfanden, unklar darüber, an wen ihre Beschwerde gerichtet war, aber im Grunde genommen mit der gleichen Haltung, die die einsame Menge auszeichnet, die jedes Wochenende ziellos durch die Einkaufszentren schlendert. Neu ist, dass diese Passivität eine radikale Form angenommen hat – also das, was manche heutzutage unter diesem Begriff verstehen.
Angeblich ging es darum, die repräsentative und parteipolitische Politik in Frage zu stellen, aber wenn das jemals passiert ist, dann nur, um neue Anführer, neue Parteien und neue Gesetze zu fordern. Wenn die Polizei in Frage gestellt wurde, dann nur, um die Rolle der Polizei im Inneren zu stärken – die Kommissionen für „Respekt“ oder „interne Organisation“ haben als wirksame Gedankenpolizei fungiert. Die erste Bedingung dieser angeblichen Revolution war, dass nichts außerhalb der zivilen Ordnung passieren durfte. Sobald diese Vereinbarung feststand, konnte man über alles reden. Auf diese Weise hat die Vollversammlungsform Inhalte gedeckt, die aufgrund ihrer Natur die Existenz von Vollversammlungen negierte. Das hat seinen Verdienst, denn es ist gelungen zu zeigen, dass es möglich ist, in einer Vollversammlung zu beschließen, die Bedingungen der Ausbeutung, unter denen wir leiden, aufrechtzuerhalten und diese unmenschliche Ordnung zu stärken und gleichzeitig zu glauben, dass man genau das Gegenteil tut. Es ist, als würden die Verurteilten vor einem Erschießungskommando in einer souveränen Vollversammlung darüber diskutieren, ob sie sich selbst den Gnadenschuss geben sollen.
IV
Der Einsatz für die Radikalisierung der Bewegung, was von manchen als Argument für ihre Teilnahme in ihr verteidigten, geht von zwei fatalen Fehlern heraus. Der erste ist ein Fehler der Einschätzung: Eine Radikalisierung war nicht möglich, weil diese Empörung in keine bestimmte Richtung ging, sondern eher ein Schrei der Ohnmacht war. Sie hatte nicht die Absicht, jemanden zu bedrohen, und konnte dies in der Form, in der sie entstand, auch gar nicht.
Der zweite Fehler ist konzeptioneller Natur: Dass es einen Interessenkonflikt gibt, heißt nicht, dass keine der gegnerischen Seiten ernsthaft eine Transformation der sozialen Ordnung in Betracht zieht, um ihn zu lösen. Die Interessen der meisten Empörten und die der Eliten mögen sich derzeit nicht decken, aber im Grunde teilen sie eine Welt, Werte und ein Ziel: Fortschritt und ökonomische Entwicklung.
Es ist daher eine arrogante Dummheit, etwas zu radikalisieren, das von Anfang an nicht gegen die Ordnung ist, sondern sie fördert, mit ihr zusammenarbeitet und ihr zeigt, wo sie ihren Druck anpassen muss, um besser zu funktionieren. Dass die Gruppen an der Macht nicht besonders interessiert sind an dem, was ihre Mitarbeiter ihnen entgegenbrüllen, oder dass es sie sogar nervt, deren Wutanfälle ertragen zu müssen, ändert nichts an der Natur der Sache. Wenn die Polizei Lohnerhöhungen fordert, gerät sie ebenfalls in Konflikt. Sind sie deshalb die nächsten Revolutionäre? Einige Empörte würden, so befürchten wir, mit Ja antworten. Sie suchen ihren Platz in der aktuellen Lage und werden die Zugeständnisse, die sie erreichen, mit aller Kraft verteidigen, so gering sie auch sein mögen.
V
Die Empörten haben keine Fragen von vorrangiger Bedeutung für das Funktionieren der Gesellschaft in Frage gestellt. Dass sie auf eine ungerechte Ordnung reagiert haben, bedeutet nicht, dass sie diese überhaupt verstanden haben. Gerade weil sie das nicht getan haben, hatte ihr Protest eine gewisse Anziehungskraft: Er gefährdete nichts Wichtiges. Gleichzeitig haben sie das Gefühl vermittelt, gegen das System zu kämpfen, ohne dessen Grundfesten anzugreifen.
Da sie das Universum des Konsums und der Hightech-Bequemlichkeiten der modernen Welt wie eine zweite Haut angenommen haben, haben sie erwartet, dass sich die Dinge „mit einem einzigen Klick” über Nacht ändern würden. Der technologische Optimismus, der die Bewegung der Empörten überall ausstrahlte, zeigt ihre größte Schwäche und nicht – wie die Medien und viele ihrer naiveren Teilnehmer behaupteten – ihre unbestreitbare Stärke. Die unkritische Annahme von Technologien als Werkzeuge der Emanzipation ist ein weiteres Beispiel für die Unfähigkeit dieser Bewegung, die Welt zu verstehen, mit der sie angeblich konfrontiert ist. Nicht zu wissen, ja nicht einmal als Hypothese zuzulassen, dass die Welt der neuen Technologien nichts anderes ist als die perfektionierte Fortsetzung einer historischen Unterdrückungsordnung, zeugt von einer überraschenden Kurzsichtigkeit für diejenigen, die sich als Feinde der herrschenden sozioökonomischen Ordnung bezeichnen oder sich als „Antikapitalisten” bezeichnen.
Aber es gibt noch mehr: Viele der Massenvollversammlungen auf den Plätzen ähnelten eher einem Forum oder einem Internet-Chat als den Vollversammlungserfahrungen unserer jüngsten Vergangenheit – von denen viele Empörte nichts wussten und auch nichts wissen wollten. Der anonyme Kommentar, der diesmal statt der Tastatur das Megafon benutzte, war eine Sekunde nach seiner Äußerung schon ohne Bedeutung; sofort folgte ein anderer Kommentar, der genau das Gegenteil behaupten konnte und das gleiche Schicksal erlitt. Wie im Internet funktionierte die Anonymität perfekt, um allem Gesagten eine solide Inkonsistenz zu verleihen. Das Gewicht der Worte zwischen zufällig versammelten Personen ohne vorherige Verbindungen wird leichter, weshalb viele Leute radikal wurden, wenn sie an der Reihe waren, zu sprechen, um sich dann hinzusetzen, ohne sich um irgendetwas kümmern zu müssen, was sie gesagt hatten. Das war alles andere als eine Debatte über Ideen oder eine Organisation für Aktionen. Es war die telematische Beteiligung, die sich zu jeder Zeit widerspiegelte, ohne dass viele der Teilnehmer dies bemerkten, so sehr ist das digitale Gebot der Interaktivität und Kommunikation als Selbstzweck verinnerlicht.
Dieser Aspekt hat die Medien in ihrer umfassenden Berichterstattung über die Empörung am meisten begeistert und sie dazu veranlasst, die Ereignisse der Bewegung zu kommentieren, die in Verbindung mit Facebook, Twitter und dem sogenannten Arabischen Frühling entstanden war. Diesmal musste die Desinformationsstrategie im Dienste der Ordnung keine bekannten Anführer und Stars schaffen, um die Rebellion der Öffentlichkeit zu präsentieren. Es genügte, einen Wechsel der Akteure vorzunehmen und den sozialen Netzwerken die Hauptrolle bei der Organisation einer Bewegung ohne Anführer zu übertragen. Als sie sich so dargestellt sahen – im Grunde genommen sehr treffend –, bekräftigten viele Empörte ihren Glauben, von jeglicher Vermittlung (vor allem von Gewerkschaften/Syndikate und Parteien, nicht von anderen wichtigeren Vermittlern) befreit zu sein, und fühlten sich in all ihren Reformforderungen legitimiert. So wurden die Internetnutzer wie durch Zauberei vom Sessel vor dem Computerbildschirm zur Vollversammlung, vom Sofa zum Platz, zu Gesetzgebern auf der Straße. Die Bilder im Fernsehen, die Titelseiten der Zeitungen, die Talkshows im Radio, die Auftritte in Unterhaltungssendungen (von Ana Rosa bis Buenafuente) vermittelten vielen ein Gefühl von unvergleichlicher Stärke und Kohärenz. Ihre Erfahrung mit Politik war so dürftig, dass sie davon einfach beeindruckt sein mussten. Und so ließen sie sich ohne große Umstände auf dieses groteske Spektakel ein.
Die zentralen Fragen bei jedem Aufstand, der diesen Namen verdient, waren jedoch, die Produktion lahmzulegen, die Versorgung der Stadt zu boykottieren, die Kommunikation des Staatsapparats zu ersticken, eigene Mittel zu schaffen und den Feind auf günstigem Terrain zu überfallen. Es ging darum, den Moment der Konfrontation zu schaffen, nicht als treuer Zuschauer darauf zu warten, dass etwas passiert. Der magische Kreis, der um die Plätze und die heiligen Versammlungen gezogen wurde, machte in vielen Fällen die Polizeisperre überflüssig. Niemand würde sich von dort wegbewegen, solange die Aufführung dauerte. Das Wichtigste war, den Rhythmus der Stadt nicht zu stören, im Dialog mit den Medien ein gutes Bild abzugeben, Botschaften an die Vertreter des Staates zu senden… kurz gesagt: keine Konfliktsituationen zu schaffen. Diejenigen, die versuchten, etwas in die entgegengesetzte Richtung zu tun, hatten in den Empörten ihre ersten Kritiker und Polizisten.
Das Produktionsmodell, das Wirtschaftswachstum, die Energieabhängigkeit und die fortschreitende Zerstörung des Planeten, die Millionen von Menschen, die zu Elend und Krieg verdammt sind, um den westlichen Konsum, die Mobilität und den Komfort aufrechtzuerhalten, wurden nicht in Frage gestellt… zumindest nicht in der Praxis. Den industriellen und militärischen Produktionskomplex zu stoppen, ist viel schwieriger und riskanter, als seine Symbole und Vertreter zu bekämpfen. Deshalb hat der Konflikt die bestehenden Herrschaftsverhältnisse, die angeblich die Welle der Empörung ausgelöst hatten, nicht im Geringsten untergraben.
Wenn eine der am meisten geforderten Sachen die Reform des Wahlgesetzes war, wie sollte man dann die anderen Themen angehen, die eigentlich die aktuelle Gesellschaftsordnung stützen? Selbst wenn man die Parteienpolitik einfach abschaffen und das Parlament auflösen würde, wie sollte man dann die komplizierte Frage der Energieversorgung unter dem aktuellen Monopol einiger weniger multinationaler Konzerne oder das internationale Transportnetzwerk, das für den Warenverkehr vom Ölpreis abhängt, angehen?
Die Empörten würden sagen, dass diese Fragen gegenüber ihrem Vorschlag für eine politische Reform zweitrangig sind. Wir sagen das Gegenteil: Es gibt keine politische Reform, die die Probleme der globalisierten Industriegesellschaft löst. Es wird keine Garantie für politische Freiheit geben, solange unsere Lebensbedingungen unter dem Joch einer so schrecklichen Abhängigkeit auf globaler Ebene entstehen und sich reproduzieren. Die wahren Ursachen der Unterdrückung werden nie thematisiert werden, solange wir mit dem D’Hondt-Verfahren anfangen. Der angebliche politische Realismus derjenigen, die das Gegenteil behaupten und lautstark fordern, sie dürften an der Verwaltung des Desasters mitwirken, muss mit der größten Verachtung belohnt werden.
VI
Die Welle der Empörung konnte nicht lange anhalten, und wir bedauern das nicht. Das Schlimmste steht uns jedoch noch bevor. Der Rückgang dieser angeblichen revolutionären Bewegung wird diejenigen wegfegen, die radikalere Argumente gegen die auferlegte Ordnung vorbringen. In einigen Städten hat die 15M-Bewegung bereits die notwendigen Schritte unternommen, um sich als politische Plattform zu etablieren, und damit dem Ruf derjenigen entsprochen, die von Anfang an eine verantwortungsvolle und zivile Haltung gefordert haben.
Sie mussten nicht lange darauf bestehen. Eine Zeitung, die sich selbst als Sprachrohr der 15M-Bewegung in Madrid bezeichnet, hat ihre erste Ausgabe mit folgendem Satz auf der Titelseite eröffnet: „15M ja, Radikale nein”. Man muss denjenigen dankbar sein, die so offen sagen, was sie denken, und ihre Interessen klar darlegen. Wer immer noch von einer möglichen Manipulation spricht, die eine Radikalisierung der Bewegung verhindert, sollte die entsprechenden Schlussfolgerungen ziehen. Es ist an der Zeit, eine unbequeme Frage zu stellen: Was hat sich seit dem 15. Mai 2011 verändert? Die beruhigende, weil offensichtliche Antwort wäre „nichts”… Aber in Wirklichkeit hat sich etwas verändert: Die 15M-Bewegung hat einen Teil der Bevölkerung, der bisher nur desillusioniert war, dazu gebracht, sich mit anderen Mitteln für die Verteidigung der bestehenden Ordnung einzusetzen.
In der Verwirrung der ersten Tage gab es noch Zweifel an der möglichen Entwicklung der Ereignisse. Jetzt ist das offensichtlich nicht mehr der Fall. Wenn es vor der Besetzung der Plätze schon wenig Möglichkeiten für radikale Kritik gab, so gibt es jetzt noch weniger. Diejenigen, die bereit waren, ihre Argumente abzuschwächen oder zu mildern, um sich der empörten Masse anzunähern, haben bereits erfahren, mit welcher Gastfreundschaft die Trägheit der Staatsbürgerschaft diejenigen in ihre Mitte aufnimmt, die sie bis gestern noch als unerwünscht behandelt hat. Wenn Unterwerfung so tief verwurzelt ist, nutzt sie die Form der Rebellion, um ihren Verzicht zu bekräftigen.
Der fatale Fehler derjenigen, die von der Nachwehen dieser Welle konformistischer und digitalisierter Rebellion weggefegt werden könnten, war zu denken, dass jeder, der die Politik oder genauer gesagt „die Politiker” in Frage stellt, zur Anarchistin und zum Anarchisten werden würde; dass jeder, der sich über eine Ungerechtigkeit empörte, bereit wäre, sie mit allen Konsequenzen zu bekämpfen; dass alle, die sich im Kreis setzten und vier Grundregeln für das Sprechen in einer Vollversammlung lernten, den Autoritarismus ablehnten… und so weiter und so fort.
Es ist verständlich, dass viele glauben wollten, dass so etwas auch in ihrer Stadt, ihrem Dorf oder ihrem Viertel passieren würde, wenn auch nur in kleinem Maßstab. Die Liquidierung radikaler und revolutionärer Kritik ist in den letzten Jahrzehnten so weit fortgeschritten, dass das, was manche als „Ausbruch aus dem politischen Ghetto” bezeichnen, fast zu einer Obsession geworden ist. Wir verstehen das; die Atmosphäre ist erdrückend, aber man könnte die Frage stellen: Ausbrechen, aber wohin? Wir sollten uns den Optimismus für die neuen schlechten Zeiten aufheben, die zweifellos kommen werden.
VII
Das vergangene 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Institutionalisierung von Gewalt und technisch geplanten Vernichtung. Die mit Blut und Feuer durchgesetzte Modernisierung hat weltweit Millionen direkte und indirekte Opfer gefordert. In den ersten zehn Jahren des 21. Jahrhunderts hat sich die strukturelle Gewalt nur noch verstärkt, die militärischen Interventionen haben nicht aufgehört, und die Ausgaben der Staaten für die Ausrüstung und Ausbildung ihrer Armeen und Polizisten übersteigen bei weitem alle anderen Investitionen. Der Genozid geht weltweit weiter, und von einem Weltkrieg ist jetzt nicht mehr die Rede, weil der Kriegszustand nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist. Der industrielle Fortschritt ist eine Kriegsmaschine, die in guten Zeiten weniger Kanonen und mehr Butter produzieren kann. Aber die guten Zeiten sind längst vorbei.
Bevor man sich mit pazifistischen Argumenten und naiven Appellen an die ethische Überlegenheit den Mund füllt, sollte man sich vielleicht an all die Leichen erinnern, auf denen die gewaltfreien Werte der heutigen Gesellschaften aufgebaut sind.
Die Empörten haben all das ignoriert und sich auf die Verteidigung eines bedingungslosen Pazifismus gestürzt, der sie von Anfang an zu Gedankenpolizisten gemacht hat. Die Fortgeschrittensten in der Mentalität von Bullen forderten dazu auf, „die Gewalttätigen” anzuzeigen, während sie die Polizeikräfte als „Kollegen in Blau”3 bezeichneten. Man musste brav sein und „ihnen keinen Grund geben”; so funktioniert der empörte Staatsbürger der Postmoderne: Er ist der Meister des Pazifismus, solange die Polizei in der Nähe ist, um denen, die Gründe geben, Prügel zu verabreichen.
Es handelt sich hierbei nicht um eine Anekdote über den kriegerischen Pazifismus. In ihrer Einstellung gegenüber politischer Gewalt hat sich der Faschismus geringer Intensität offenbart, der bei einem Teil der Empörten vorherrschte. Es waren genau die, die Schule, Arbeit, Gesundheitsversorgung … und Polizei forderten, um all das zu sichern. Selbst als ihnen der Schädel eingeschlagen wurde, zeigten einige weiterhin mit dem Finger auf „die üblichen Unruhestifter” und ignorierten dabei, wer den Schlagstock in der Hand hielt, als er auf ihren Schädel niedersauste. Opfer eines massiven Stockholm-Syndroms oder soziale Basis für ein künftiges Regime von Recht und Ordnung?
Keine grundlegende Veränderung wird in unseren entwickelten Gesellschaften ohne ein gewisses Maß an Gewalt stattfinden. Wer das leugnet, mag zu diesem Zeitpunkt ein gutgläubiger Idealist sein, aber wenn er die Polizei verteidigt, weil „sie auch Arbeiter sind”, kann man ihn nur wie den schlimmsten Polizisten behandeln. Für viele Empörte gab es kein akzeptables Maß an Gewalt gegen die Ordnung, weil sie ein wesentlicher Teil ihrer Reproduktion sind.
Das Leben gegen die Angriffe eines aufgezwungenen Sozialsystems zu verteidigen, das weltweit Elend, Zerstörung und Tod verursacht, nennt man legitime Notwehr. Aber oft müssen wir mit denen zusammenleben, die jede Konfrontation mit der Bereitschaftspolizei als revolutionären Akt verherrlichen. Infantile Rufe nach der Ekpyrosis – diesem reinigenden Feuer der Welt –, das nie ganz eintrifft; Banalisierung der Konfrontation durch eine Ästhetik, die sich damit zufrieden gibt, von den Medien als „gefährlich” bezeichnet zu werden, obwohl sie selten mehr als die eigene körperliche Unversehrtheit bedroht. Denjenigen, die „mit dem Gesicht, als wollten sie das Glas von Böhmen zerbrechen, unwissentlich daran arbeiten, es zu reinigen und zu ordnen”, müssen wir sagen: Dass uns die nächsten Jahrzehnte solche ungleichen Auseinandersetzungen bescheren, in denen die Ordnungskräfte ungestraft eine unbewaffnete Mehrheit massakrieren können, wird niemals ein Grund zur Freude sein. Auch wenn Gewalt gegen das derzeitige Regime legitim ist, ist es dumm, sie als wünschenswert anzusehen.
VIII
Der empörte Politikverbraucher zeigt denselben existenziellen Autismus wie jeder andere Verbraucher auch. Soziale Probleme sind für ihn nur die, die er als sein unmittelbares Problem annehmen kann. Also das, was seine Interessen betrifft, und sonst nichts. Wenn er an die von Zwangsräumungen Betroffenen denkt, denkt er an Eigentum; wenn er an die Arbeitslosen denkt, denkt er an das Recht auf Arbeit; wenn er die Banken anprangert, denkt er natürlich an sein Geld; und wenn er sich über Korruption beschwert, tut er dies wegen der geringen Rentabilität seiner Stimme.
In allem, was revolutionär erscheint, schlüpft als letztes Ziel die eiserne Wiederherstellung der Ordnung ein. Wenn er rebelliert, tut er das, um bessere Herren zu fordern. Sein Motto lautet: fordern, um dann schweigen zu können. Aber wir haben hier bereits über das Neue an dieser Welle der Empörung gesprochen: Sie hat jeden Versuch des Denkens oder der Aktion, der über die kurzsichtigsten Forderungen hinausgeht, mitgerissen. Mit Hilfe von Vollversammlungsmethoden wurde der nachhaltigen Kapitulation die Souveränität übertragen.
Auf der anderen Seite gibt es keine Verschwörung im Hintergrund dieser Mobilisierungen; so optimistisch können wir nicht sein. In ihrer Spontaneität sind sie der beste Ausdruck dessen, was wir vom postmodernen historischen Subjekt erwarten können: eine Mischung aus Forderungen, Verbesserungsvorschlägen und Sanktionen von Rechten, die oft widersprüchlich und für die Lösung lebenswichtiger Probleme nutzlos sind, aber die Aura des Partizipativen besitzen. Die Vollversammlungen und Arbeitsgruppen, die zur Zusammenarbeit bereit waren, erfüllten am Ende die Rolle von parlamentarischen Komitees, die Gesetzesvorschläge einbringen, allerdings in ihrer miserabilistischen Version. Und genau das ist die Rolle, die ihnen die Geschichte zugedacht hat. Eine Geschichte, die mit Blut und Feuer geschrieben wurde von denen, die wirklich die Macht haben und die Welt (und uns mit ihr) auf den selbstmörderischen Weg der industriellen Entwicklung/Fortschritts führen. Zu entscheiden, wie wir diese Katastrophe gemeinsam bewältigen können, uns als Teil „desselben Bootes” zu verstehen, um den Kurs festzulegen, wäre sehr gut, wenn das Boot nicht schon längst sinken würde und viele bereits ertrunken wären, über Bord des Fortschritts gestoßen, in Gefängnissen eingesperrt, in Elend und Hunger verrottet, durch endlose Kriege massakriert oder einer sinnlosen Existenz ausgesetzt, die von der Akkumulation von Banalitäten betäubt sind, süchtig nach allem, was ihnen das Gefühl der Leere nimmt, das sich mit jedem Schritt erneuert, alle dazu verdammt, in ihrem Leben für ein Leben zu bezahlen, das sie sich nicht ausgesucht haben.
Das Wichtigste an den Empörten waren nicht ihre Parolen, das, was sie lautstark verkündeten, sondern das, was sie verschwiegen, worüber sie einfach schweigen mussten. Empörung worüber? Über die Unmenschlichkeit der Welt, in der wir leben, und die unterdrückerische Rolle jedes Staates, oder über die Immobilienpreise und die Nutzlosigkeit von Hochschulabschlüssen, um einen gut bezahlten Job zu finden? Worüber empört sich die westliche Mittelklasse? Der seit Mai von den Medien geförderte und angeheizte Trubel ist nach den letzten Parlamentswahlen einer überwältigenden Stille gewichen. Ein Schweigen, das mit dem andauernden Genozid einhergeht und zu dem die Empörten wenig oder gar nichts zu sagen hatten. Das ist nicht ihr Problem. In der Menge sieht man niemanden, im Geschrei hört man niemanden. Sie haben bereits ihre Forderungen gestellt. Sie haben wie der Gehängte mit den Füßen gestampft, und die Kameras waren da, um es in die ganze Welt zu übertragen. Die sozialen Netzwerke sind schon zusammengebrochen und die Titelseiten einiger Zeitungen waren voll davon. Sehr gut. Und jetzt? Die Stille macht uns zu schaffen: Deshalb wird das Geschrei in absehbarer Zeit wiederkommen. Tatsächlich „kann man immer große Bewegungen im Namen großer Ideen starten, das heißt, die Dummköpfe unterhalten”.
Für die Empörten ist es wichtig, den Grund für ihre Empörung aufrechtzuerhalten und die wenigen Privilegien zu verteidigen, die sie noch haben. Indem sie schreien, dass wir Opfer sind, verschweigen sie, dass wir für die meisten Menschen auf diesem Planeten, für die Benachteiligten der westlichen Welt und der wohlmeinenden Empörung, im Grunde genommen ihre Henker sind.
IX
Die 15M-Bewegung, die Bewegung der Empörten oder wie auch immer man sie nennen mag, war nicht der Anfang von etwas Neuem, sondern eher das qualvolle Ende dessen, was die revolutionären Bestrebungen Mitte des 19. Jahrhunderts hätten sein können. Es geht nicht mehr um soziale Utopien, um die Eroberung der Macht oder darum, die Kräfte der Industrie der Selbstverwaltung der Arbeiterinnen und Arbeiter zu unterwerfen. Es geht auch nicht um die Revolte des Alltags und die aufständische Fantasie gegen die Standardisierung des Daseins, noch um den Kampf für die nationale Befreiung oder die Verteidigung eines von der Modernisierung bedrohten Territoriums. Die 15M-Bewegung hat das Zeichen unserer Zeit auf vorbildliche Weise zum Ausdruck gebracht: Sie hat auf populäre und vollversammlungsorientierte Weise die Bedingungen einer beispiellosen historischen Niederlage eingefordert; sie hat ihren Anspruch bekundet, die Bedingungen eines unhaltbaren Lebens zum geringen Preis des Vergessens der vergangenen Unterdrückung, der Rechtfertigung der gegenwärtigen und der Vorbereitung der zukünftigen aufrechtzuerhalten.
Ein Zyklus ist zu Ende gegangen. Von nun an werden Demonstrationen, Streiks, Vollversammlungen und die Besetzung des öffentlichen Raums auf diese im Fernsehen inszenierte Niederlage verweisen. Für einige war die Empörung der Beginn eines gewissen sozialen Bewusstseins; für uns bedeutet sie das Ende einer Illusion, die bittere Erkenntnis, dass es nicht ausreicht, die gleiche Unterdrückung zu teilen, um ein freies Bewusstsein und eine transformative Aktion zu entwickeln. Ganz im Gegenteil. In den Szenarien, die durch die Erschöpfung des industriellen und kapitalistischen Modells eröffnet werden, werden die Bewegungen, die überall entstehen werden, einen ausgesprochen reaktionären Charakter haben, auch wenn sie in ihrer Form eine direkte Demokratie fordern werden – natürlich unterstützt durch die neuen Kommunikationstechnologien –, die mehr als beunruhigende Züge aufweist.
Die Subjekte dieser Mobilisierungen werden diejenigen sein, die zu extremem Individualismus indoktriniert wurden, ohne andere historische Bezugspunkte als ihre eigenen verletzten Interessen, zutiefst unsolidarisch mit dem Rest einer Welt, die sie nicht kennen und die sie auch nicht kennenlernen wollen, es sei denn, sie kann mit einer Billigfluglinie besucht werden; nach Jahrzehnten der ideologischen Konditionierung durch die Massenmedien sind sie bis ins Mark manipulierbar und unempfindlich gegenüber jeglicher Aggression von oben. Das sind die Subjekte der Empörung. Die wenigen, die vor dem 15. Mai noch ein eigenes Urteilsvermögen und ein klares Bewusstsein für die Ursachen der Unterdrückung hatten, hatten sich dies im täglichen Kampf erarbeitet. Sie werden leider die ersten Opfer dieser neuen Form der sozialen Befriedung sein.
X
Von jetzt an werden die Empörung und ihre politische Organisation ein weiterer Feind sein, den diejenigen bekämpfen müssen, die diese soziale Organisation zerstören wollen, anstatt zu ihrer Verbesserung beizutragen.
Von den fast sieben Milliarden Menschen, die heute auf unserem Planeten leben, überlebt mehr als die Hälfte in städtischen Gebieten, wo ihre Fähigkeiten und ihre Autonomie zerstört werden und sie nur dazu taugen, die Lebensbedingungen einer kleinen Gruppe von Privilegierten zu produzieren und zu reproduzieren, die Luxus und Sorglosigkeit genießen. Mehr als eine Milliarde Arbeiterinnen und Arbeiter leiden unter Entwürdigung und Elend in den großen Müllhalden, die die globale Urbanisierung für sie geschaffen hat, Opfer des leisen Genozids, den die ökonomische Entwicklung Tag für Tag in den zynisch als „Entwicklungsländer” bezeichneten Territorien verübt. In den entwickelten Regionen der Welt, wo eine Minderheit immer noch bestimmte Privilegien hat, die auf Millionen anonymer Toten beruhen, nehmen die Einrahmung und Militarisierung von Konflikten weiter zu. Asthenie und Depression tun das in gleichem Maße. Rießige Knäste und Beruhigungsmittel: Das ist das Rezept für die nächsten Jahre. Während sich die Kriege um natürliche Ressourcen verschärfen und Tausende von verbrannten Flächen an den Rändern der entwickelten Welt hinterlassen, erfordert die Einordnung in die neue Weltordnung innerhalb ihrer Herrschaftsgebiete kasernenartige Disziplin und ständige ideologische Konditionierung. Fremdenfeindliche Politik, die Mobilisierung von Einwanderern und ihre Inhaftierung in Internierungslagern, die Zunahme der Gefängnispopulation und die Verschärfung der Strafvollzugssysteme… alles deutet auf eine harte Politik hin, die das Szenario der globalen Krise erfordert.
Unterdessen bieten die Künstlichkeit des Lebens (seine genetische Veränderung, seine krankhafte Vermittlung durch die neuen Kommunikationstechnologien) und das Monopol einiger weniger Eliten auf die Ressourcen des gesamten Planeten bieten die Vision einer neuen Revolution, die diesmal nicht mehr darauf abzielt, das Reich des Überflusses auf der Erde zu verwirklichen, sondern die Folgen der sozialen und ökologischen Katastrophe abzufedern, in der die Industrialisierung der Welt gipfelt. Diese „konservative Utopie” vergisst oft zu erwähnen, dass mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung in ihren Berechnungen nicht berücksichtigt wird: Sie sind überflüssig, und deshalb wird still und leise an ihrer Vernichtung gearbeitet, während die Propaganda weiterhin das virtuelle Leben im Netz oder ewige Jugend durch Klonen oder unberührte Landschaften einer nachhaltigen Industrialisierung mit Elektroautos, Atomkraftwerken und Windparks verspricht.
Sich dem zu stellen, ist eine Aufgabe für Jahrhunderte, für die Empörung wenig nützt. Die Aktion gegen die Ordnung muss sich gegen ihre materiellen Grundlagen, ihre Energiequellen, ihre strategischen Enklaven des Waren- und Informationsverkehrs richten. Das bedeutet, sich mit militarisierten Staaten mit den wohl ausgefeiltesten Mitteln der Zerstörung auseinanderzusetzen, die die Menschheit je gesehen hat. Wie jemand, der mit den Demonstrationen der unterwürfigen Empörung nichts zu tun hat, sagte: „Man muss dort zuschlagen, wo es wehtut”, und keine Staatsbürgervollversammlung hat das getan. Sie hat es aus den Gründen, die wir hier dargelegt haben, nicht einmal in Betracht gezogen und wird es auch nicht tun.
Ja, wir wissen, dass das Bild, das sich durch die Erschöpfung und den Niedergang des industriellen und kapitalistischen Modells ergibt, nicht ermutigend ist. Deshalb ist es wichtig, sich nicht zu sehr mit seinen letzten Zuckungen aufzuhalten (wir denken, dass die Welle der Empörung genau das ist) und ihnen nicht so leichtfertig die Kategorie von Revolutionen zuzugestehen. Es gilt zu sagen: Wenn sie Revolutionäre sind, sind wir es nicht, und wenn wir es sind, sind sie es nicht. Die Enormität der zu bewältigenden Aufgaben kann dazu führen, dass jeder Versuch einer Veränderung eher in einer Niederlage endet, mit der daraus folgenden Demoralisierung. Und an Moral mangelt es uns nicht gerade.
Für Millionen von Menschen ist schon der Gang zur Toilette ein tägliches Abenteuer. Am Rande des Hungertodes, in Slums lebend, den Kloaken der westlichen Zivilisation, versorgen etwa eine Milliarde Arbeiter in Sklaverei die globalisierte Industrie der entwickelten Ländern mit Arbeitskräften. Diese weltweite Reservearmee ist das schrecklichste Gegenstück zu dem Proletariat, das die revolutionären Theorien des 19. und eines Teils des 20. Jahrhunderts inspirierte. In der entwickelten Welt verschwand die industrielle Arbeiterklasse nach und nach, integriert durch den Konsum, in ihren kämpferischsten Bereichen unterdrückt, umgewandelt und im Generationswechsel tertiarisiert. Wie positioniert sich die wohlmeinende Empörung gegenüber diesen Problemen?
Wir verstehen, dass für viele die Lösung darin besteht, wegzuschauen und ihre persönliche Rebellion gegen Zwangsräumungen wegen Nichtzahlung von Hypotheken, für den Zugang zu Bildung oder für die Rentenreform zu führen. Leider wird ihre angebliche Rebellion nicht darüber hinausgehen. Wenn sie zu wichtigeren Fragen Stellung beziehen müssen, werden sie sich ohne Wenn und Aber auf die Seite der Ordnung stellen. Am Ende ihrer Liste von Forderungen muss es jemanden geben, der ihnen zuhört und etwas damit macht. Alles andere ist ihnen egal. Leider ist „alles andere” genau das, was mit mehr Entschlossenheit bekämpft werden muss.
XI
Ein Teil der sogenannten libertären Bewegung oder einige Gruppen, die sich selbst als anarchistisch bezeichnen, wollten sich als Avantgarde der Empörung profilieren. Trotz ihrer Bemühungen, ihre Beteiligung aus pädagogischen Gründen zu rechtfertigen oder sich in den Mittelpunkt der Mobilisierungen zu stellen, um sicherzustellen, dass diese horizontale oder vollversammlungsorientierte Praktiken anwenden, berücksictigten viele Formen der politischen Intervention einer klassischen entristische Strategie der Ultra-Linken. Was man in diesem Sinne in vielen Zeltlagern erleben konnte, zeigte die Miseren, die sich im Milieu der politischen Radikalität seit langem angesammelt hatten. Die jahrelange Selbstkritik an den Organisationsformen, der Reformismus, der Glaube an die Mobilisierung der Massen, die identitäre Rekurs usw. half wenig angesichts der Welle der Empörung. All diese kritischen Positionen schienen sich in dem Maße zu verwässern, wie die Zahl der Teilnehmer an den Vollversammlungen auf den Plätzen zunahm. Es scheint also, dass die Betonung des Qualitativen, der Radikalität der Argumente gegenüber der zahlenmäßigen Stärke, der Nichtvertretung von Partikularinteressen gegenüber der Selbstorganisation, nichts anderes war als eine Form, aus der Not eine Tugend zu machen. Nach einem langen Marsch durch die Wüste der sozialen Frage löste der empörte Aufruf, sich einer Bewegung anzuordenen, deren Profile von Anfang an mehr als zweifelhaft waren, bei vielen Anarchistinnen und Anarchisten eine überraschende Kehrtwende zu ihren Gunsten aus.
Oder vielleicht auch nicht so überraschend.
Nach der gnadenlosen politischen Marginalisierung und der Teilnahme an einer Gegenkultur voller selbstbezogener und ästhetischer Posen – die oft an reinen Wahnsinn grenzten – war die Sichtweise der „Menschen auf der Straße” stärker als jede Überlegung oder strategische Abwägung. Überzeugt davon, vor einem immer wieder aufgeschobenen historischen Moment zu stehen, und jede Kritik an der Beteiligung mit der Begründung abtretend, man wolle sich „die Hände nicht schmutzig machen”, glaubte man, dass der Anarchismus inmitten des Trubels etwas zu sagen habe. Tatsächlich hatte er etwas zu sagen, vorausgesetzt, es ähnelte in keiner Weise der radikalen Kritik, die die soziale Ordnung, in der wir leben, erfordert. Wir entdeckten damals, dass „man die Menschen nicht nach ihren Motiven beurteilen konnte, sondern nach der Tatsache, dass sie auf der Straße waren”, dass die libertäre Pädagogik „ihre Zeit brauchte”, dass viele auf den Plätzen „Anarchisten waren, ohne es zu wissen”… Viele Anarchistinnen und Anarchisten waren nicht einmal über die üblichen Parolen hinaus solche: Selbstorganisation, Selbstverwaltung, alle Macht den Vollversammlungen… Parolen, die übrigens sowohl bei den Protestcamps im Mai als auch bei einem Arbeitskonflikt mit Mercadona verwendet werden konnten. Wenn die Empörung vielen Libertären eines gezeigt hat, dann, dass sie sogar zu spät kamen, um Reformisten zu sein. Angesichts dessen konnte ein empörter Mensch mit Sinn für Humor ohne sich zu schämen sagen, dass Anarchisten in Wirklichkeit Reformisten sind, ohne es zu wissen.
In einigen Städten konnte das Gewicht ernsthafterer autonomer und libertärer Elemente zwar zeitweise den staatsbürgerlichen Zaun durchbrechen. Die Frage ist: Zu welchem Preis? Jeder wird seine eigene Antwort auf diese unangenehme Frage haben. Einige konnten angesichts der harten Realität, die sich auf den Plätzen durchsetzte, in ihrer Verzweiflung sagen: „Wenn das außerhalb des politischen Ghettos so ist, dann lang lebe das Ghetto!“ Was nicht gerade eine sehr ermutigende Schlussfolgerung ist.
Auf jeden Fall wurde klar, dass eine Rückkehr zu den üblichen marginalen Praktiken (Vollversammlungen von vier oder fünf Personen und desillusionierter Aktivismus) ein bitterer Schlag wäre. Das ist sicherlich möglich: Das Leugnen von Beweisen ist eine Eigenschaft, die der Anarchismus der postmodernen Zeit sehr gut gelernt hat. Es ist sehr bequem, die Selbsttäuschung auf die anderen zu projizieren, auf diese amorphe und entfremdete Masse, von der man immer verschont bleibt, wenn man sie benennt. Aber es ist auch unfruchtbar. Genauso wie es unfruchtbar ist, jeden zu loben, der im Mai in Bademantel und Pantoffeln auf den Platz ging, um einen Spaziergang zu machen, und sich das Megafon schnappte, um zu sagen, „wie schlecht alles ist“. Es sei darauf hingewiesen, dass man mit kleinen Unterschieden dasselbe am Ende vieler Gespräche und Debatten in jedem besetzten Sozialen Zentrum lange vor dem 15. Mai (und, wie wir befürchten, auch danach) hören konnte.
In vielerlei Hinsicht war die Empörung authentischer als jede anarchistische Gruppe, die bereit war, sich unter dem Geschrei Gehör zu verschaffen. Und mit „echter” meinen wir, dass sie genau die Rolle spielte, die der historische Moment von ihr verlangte: dabei zu helfen, die Ordnung auf neuen Grundlagen neu zu gründen und sich dann ordentlich zurückzuziehen. Diese Forderung funktionierte zwar perfekt als Propaganda für bestimmte progressive Kreise und junge Leute, die plötzlich um ihre Zukunft besorgt waren, aber nicht einmal der naivste der Empörten träumte davon, sie zu erfüllen. Tatsächlich war für viele, die es nie gewagt hatten, selbstständig zu denken, schon die Aussage „Ich will die Welt verändern” ein subversiver Akt an sich: In der Öffentlichkeit zu sprechen war eine Katharsis, die Jahre der Trägheit wettmachte. Daraus zu schließen, dass sich in den Massenkundgebungen auf den Plätzen eine Art politisches Bewusstsein entwickelte, ist nur etwas für unheilbare Voluntaristen.
Wäre der Anarchismus zu diesem Zeitpunkt etwas gewesen, hätte er gegenüber der Empörung gehandelt und nicht an ihrer Seite. Viele haben dies zu spät erkannt. Zu ihrem relativen Trost muss man sagen, dass keine historische Chance verpasst wurde, dass die „Revolution” nicht zum x-ten Mal verraten wurde. Es gibt keinen Grund zur Trauer.
Auf jeden Fall sollten wir endlich die Vorstellung loswerden, dass die revolutionäre Veränderung der Gesellschaft, in der wir leben, eine Frage des Grades ist: dass man von einem Protest zu einem Aufstand und von dort zur totalen Revolution gelangt, je nachdem, wie stark die Konfrontation mit der Polizei ist oder ob Anarchistinnen und Anarchisten dabei sind. So funktioniert das nicht. Wichtig ist die Art dieser Veränderung. Und genau darum ging es schon immer.
Die Empörung ist ein Kind einer Zeit, die, ob es uns gefällt oder nicht, auch unsere Zeit ist. Diese Zeit zu verstehen, ist eine unverzichtbare (wenn auch nicht ausreichende) Voraussetzung, um sie ablehnen zu können.
Ihre Zeit
Es ist eine Welt der Attribute ohne Menschen entstanden, eine Welt der Erfahrungen ohne den Menschen, der sie erlebt.
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften
XII
Die Zeit, in der wir leben, erzeugt die Gegenbewegungen, die sie braucht, um ihre Verfallsfrist zu verlängern. Die Anzeichen für die Erschöpfung des kapitalistischen Akkumulationsmodells seit mehr als vierzig Jahren haben, weit entfernt vom Zusammenbruch, der zyklisch in jeder seiner Rezessionskrisen angekündigt wird, zu seiner Durchsetzung auf vielfältige Weise geführt. Zu den bereits alten (und immer noch geltenden) Mitteln der Repression und des Krieges sind die Konsolidierung der Staaten als einzige Garanten des öffentlichen Lebens, die massive Entwicklung der Propaganda und die immer detailliertere technische Organisation des Lebens hinzugekommen.
Die soziale Spaltung und der Niedergang der großen Massenbewegungen hatten zwei Folgen, die wir uns bis heute erklären müssen: den Zerfall der westlichen Arbeiterklasse und das Aufkommen der Gegenkultur. Das ist hier nicht der richtige Ort, um diese Transformationen in extenso zu beschreiben, und andere haben das schon viel besser gemacht, als wir es könnten. Jedenfalls haben die zunehmende Verbourgeoisierung der Arbeiterklasse in den entwickelten Ländern, ihre politische Teilnahme für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen und die Erfüllung vieler dieser Forderungen der angeblich revolutionären Klasse den Boden unter den Füßen weggezogen. Die Teilsiege, die die Arbeiter durch ihre Kämpfe erzielten, bedeuteten auch ein Bekenntnis der herrschenden Klassen zur Ausweitung des Modernisierungsprojekts. In diesem Kräfteverhältnis bestand der Erfolg des Nachkriegskapitalismus darin, ein Leben ohne Überraschungen zu bieten und eine Vielzahl von Produkten (warenartiger, politischer und kultureller Art) auf den Markt zu bringen, die ihn nach und nach als imago mundi festigten und die schrittweise Integration der Arbeiterinnen und Arbeiter durch den Zugang zum Konsum förderten. Zugang zu materiellen Gütern, was der neue Glaube an ein ökonomisches Wunder ideologisch in einem breiten gesellschaftlichen Konsens im kapitalistischen Block und andererseits in der politischen Einrahmung der Arbeiterorganisationen im sowjetischen Block besiegelte. Der Nichtangriffspakt, den die Politik des New Deal darstellte, ist nach wie vor der Ort, auf den diejenigen schielen, die heute ihr Recht einfordern, im Kapitalismus zu bleiben, ohne allzu sehr darunter zu leiden.
Kurz vor dem Zusammenbruch dieses Modells der Nachkriegsakkumulation, in den 1970er Jahren, spielte die Gegenkultur eine zentrale Rolle in den neuen revolutionären Bestrebungen, die nicht mehr nur den Arbeitsplatz oder den Druck auf die Löhne oder die Formen der Umverteilung des Reichtums verändern wollten, sondern das Leben selbst. Für den Teil der Bevölkerung, der noch nicht in die Lohnmasse integriert war – vor allem junge Studenten –, war die Aussicht auf eine Welt der Fließbandarbeit so unerträglich geworden, dass ihre Unruhe eine Zeit der Revolten auf der ganzen Welt auslöste. Als nach dem Löschen des Feuers die Ordnung wiederhergestellt wurde, geschah dies auf einer Höhe, die der Herausforderung, die die Revolten gestellt hatten, gerecht wurde. Und so behielt sie den Teil dieser Gegenkultur bei, der direkt den Interessen des neuen Kapitalismus diente, und modernisierte ihre Formen der sozialen Regulierung, wodurch eine spätere konterrevolutionäre Periode eingeleitet wurde, deren Zeugen wir noch heute sind.
Bereits Ende der 60er Jahre war es zu spät, die notwendige Revolution anzugehen, denn um das Leben zu verändern, musste man trotz allem zu einer Zeit zurückkehren, in der die industrielle Entwicklung/Fortschritts noch nicht in so großem Maßstab vorangetrieben wurde. Wenn damals der Angriff auf die Klassengesellschaft teils als Tragödie, teils als Farce erlebt wurde, so ist heute das Tragische der unumstößliche Charakter der Farce, den jede soziale Mobilisierung aufweist. Heutzutage dient die Mobilisierung ausschließlich der Verteidigung des Bestehenden und nicht seiner radikalen Infragestellung. Die Vermittlung durch Kleinparteien, Gewerkschaften/Syndikate, Umweltgruppen, NGOs und Assoziationen hat in den letzten zwanzig Jahren des letzten Jahrhunderts die notwendige Arbeit geleistet, um jeden Konflikt zu entschärfen und ihn systematisch in die Gefangenschaft der Industriegesellschaft und der Realpolitik zurückzuführen. Wenn die Empörung etwas zum Ausdruck gebracht hat, dann war es ihr Anspruch, diese Vermittler nicht mehr zu brauchen, weil sie selbst ausreicht, um diese Gefangenschaft zu verteidigen. Nachdem man also die Darstellung der empörten Rebellion miterlebt hat, hat man das Gefühl, einem unheimlichen Maskenball beigewohnt zu haben, bei dem diejenigen, die an den guten Willen der Menschen auf der Straße und an die Illusion der Zahl appellierten, die historische Niederlage ignorieren mussten, die eine massive Mobilisierung zur Verteidigung des entfremdeten Lebens ermöglichte.
Und die Beteiligung war nicht mal so groß, wie die Medien es dargestellt haben (warum dieses Interesse daran, die Repräsentativität dieser Bewegung zu betonen?). Die Journalisten sagten, und viele der Teilnehmer glaubten das auch, dass die Besetzungen der Plätze die Stimme der sozialen Unzufriedenheit repräsentierten; etwas, das, wie die Ergebnisse der Parlamentswahlen im November gezeigt haben, weit übertrieben war. So war es die historische Aufgabe der organisierten Empörung, das, was nur nach Überleben in Indolenz schrie, politisch zu lenken. Aber die Organisatoren der Unzufriedenheit konnten nicht für die ganze Gesellschaft sprechen. Vor allem, weil es fraglich ist, ob es so etwas überhaupt gibt. Seit einem Jahrhundert hat sich eine Art Adjektiv-Manie verbreitet: die Industriegesellschaft, die Wohlstandsgesellschaft, die Massen-, Bürokratie-, Konsum-, Spektakel-, globale, Kommunikations-, Risikogesellschaft, die Netzwerk-, digitale, flüßige, unbeständige Gesellschaft… Was wir böswillig als Versuch verstehen können, der Tatsache zu entkommen, dass das zu beschreibende Substantiv immer weniger Substanz hat. Ohne übertreiben zu wollen: Man könnte sagen, dass die Kulmination der Moderne eine Masse ohne Gesellschaft hervorgebracht hat. Da die äußeren Grenzen der Ordnung in ihrem Inneren so klar definiert sind, vermittelt der fortschreitende Zerfall das Bild einer Vielfältigkeit ohne Subjekt und ohne Ende. Da die Schar der Postmodernen diese Situation bereits ausreichend kommentiert und das Formlose, Unbestimmte und Immaterielle dieser Multitude bejubelt hat, sparen wir uns weitere Beschreibungen. Es wäre traurig, wenn es nicht so verzweifelt wäre.
Man kann immer mit Recht sagen: „Und wenn ich verzweifelt bin, was geht mich das an?“ Aber heute bietet uns nicht einmal die Verzweiflung eine sichere Stütze, denn es scheint, dass im Laufe der Zeit gerade sie – die roheste Verzweiflung – die Energien und Empörungen mobilisieren wird, die sich in den nächsten Jahrzehnten angesammelt haben. Den Anstiftern von Bränden wird es nicht an Gelegenheiten mangeln, ihrer Poesie in freien Versen freien Lauf zu lassen. Zu unserem Unglück werden wir größere Verluste als den der guten Literatur zu beklagen haben.
Im Laufe dieser Transformationen hat sich der Kreis der Unterdrückung so perfekt geschlossen, dass das Bewusstsein, um überleben zu können, versucht hat, sich positiv in Richtung einer kompromisslosen Verteidigung der guten Repräsentation zu wandeln. Die einfache Negation des Bestehenden schien nicht möglich, weil es keinen Ort mehr gab, an den man sich außerhalb der verfälschten Welt, in der wir leben, zurückziehen konnte. Die Zeit der Anfechtung der Totalität durch Massenproteste ist längst vorbei, und die neuen Schauplätze, an denen sich das Bewusstsein der Unterdrückung und die Leidenschaft für die Freiheit äußern, werden diejenigen sein, an denen die Konterrevolution keine Antworten mehr auf die sich abspielende Katastrophe geben kann. Die bestehende Ordnung anzufechten setzt voraus, dass man eine Idee von Gerechtigkeit und Freiheit verteidigt, aber diese Worte sind so sehr mit Dreck beworfen worden, dass heute niemand mehr wagt, sie auszusprechen.
XIII
Die Revolution ist Massenware geworden. Einerseits sind die heutigen Gesellschaften voll von „revolutionären” Ereignissen, und andererseits sprießen Rebellentypen schnell aus dem Boden und verbreiten sich entlang der Seitenstreifen der Autobahn des Fortschritts.
Die Zeiten haben uns gelehrt, mit einer Unmenge revolutionärer Momente zu leben. Von der Revolution einer Zahnpasta gegen Karies über verschiedene nationale und demokratische Revolutionen bis hin zur IT-Revolution muss jedes Ereignis, um sich der Öffentlichkeit zu präsentieren, einen revolutionären Anstrich haben, der es begehrenswert macht. Wenn die Spielweise einer Fußballmannschaft als revolutionär bezeichnet wird oder die Industrialisierung der Landwirtschaft als grüne Revolution in die Geschichte eingeht, können wir nur feststellen, dass „die Revolution in die Spur der Gewohnheiten geraten ist”.
Man könnte sagen, dass das wirklich Radikale dieser perverse Sprachgebrauch ist, der unterworfenen Subjekten revolutionäre Objekte vorschlägt und uns zwingt, mit heraushängender Zunge hinter den Zeiten der Industrie herzulaufen. Diese Situation ist nichts Neues. Sie besteht schon seitdem Werbung und Propaganda durch die Massenmedien die kollektive Vorstellungswelt prägen. Wir haben nicht alle Konsequenzen aus der Sentenz gezogen, die besagt: „Es wächst eine Generation heran, die mehr Wörter aus dem Fernsehen gelernt hat als von ihrer Mutter.”
Die Verallgemeinerung dieser häuslichen Revolutionen im 20. Jahrhundert, die für alle zugänglich waren, führte zu einem Wandel, dessen wir uns noch nicht ganz bewusst sind. Jetzt sind es die Dinge – industriell hergestellt –, die einen revolutionären Charakter haben, nicht die Menschen oder Gruppen oder sozialen Klassen. Um an dem revolutionären Ereignis teilhaben zu können, muss das Subjekt nur gehorchen und kaufen (aus vorgegebenen Optionen mit größtmöglicher Freiheit wählen), mit der vorgegebenen Geschwindigkeit konsumieren und immer in der Avantgarde der modernen Zeit stehen. Die Teilnahme ist obligatorisch. Eine Person ohne Handy wird sofort verdächtig. Wer lieber liest, als sich Videos auf YouTube anzusehen, ist kurz davor, sich in einen Höhlenmenschen oder, schrecklich, in einen aufgeklärten Kleinbourgeois zu verwandeln.
Man kann einen ganz einfachen Test machen: Wenn man bei einen gesellschaftlichen Treffn von sich selbst sagt, man sei ein Revolutionär, wird man spüren, wie die Blicke der Gesprächspartner, eine Mischung aus Vorwurf und Überraschung, denen sehr ähnlich sind, die man erhalten würde, wenn man gesagt hätte: „Ich komme gerade vom Mars”. Wenn man aber behauptet, dass das neue E-Book eine echte Revolution in der Art und Weise darstellt, wie man Bücher speichert und wie man mit dem Lesen umgeht, wird niemand etwas sagen. Tatsächlich ist das E-Book revolutionär; man kann nicht so arrogant sein, sich auf seine Höhe zu stellen, ohne als jemand mit „totalitären” Neigungen oder etwas viel Schlimmerem zu gelten: als jemand, der irgendeine Art von Ressentiments gegen die Technologie hegt.
Wenn die Revolution mittlerweile sogar in der Suppe4 ist – instant, der billige Witz soll uns verziehen sein – , dann deshalb, weil die Abhängigkeit von ihr in einem Ausmaß zugenommen hat, das vor nur zweihundert Jahren noch unvorstellbar gewesen wäre. Je mehr also der revolutionäre Charakter betont wird, desto weniger ist er zu sehen, und je mehr von Revolution die Rede ist, desto mehr wird sie domestiziert.
Zur Zeit der amerikanischen (1786) und französischen Revolution (1789) gab es Fabriken nur an ein paar bestimmten Orten, und die für den internationalen Kapitalismus, wie wir ihn heute kennen, so bedeutsamen Kanäle von Erie und Panama waren noch nicht fertig. Als Marx und Engels das Kommunistische Manifest (1848) schrieben, war noch kein Unterwasserkabel zwischen England und Frankreich verlegt worden, und es dauerte fast vierzig Jahre, bis in einer europäischen Stadt (nämlich 1884 in Timisoara, Rumänien) zum ersten Mal eine elektrische Straßenbeleuchtung installiert wurde. Als 1871 die Pariser Kommune ausgerufen wurde, waren Maschinenpistolen und Handgranaten noch unbekannt, und das erste Telefon wurde erst 1876 patentiert. Bei der Sozialen Revolution in Spanien 1936 gab es zwar schon den Staat, aber das Auto war immer noch ein Spielzeug für Reiche, kaum jemand konnte sich vorstellen, dass wir mal in jedem Haus eine Waschmaschine und einen Kühlschrank haben würden, und die Atombombe sollte erst ein paar Jahre später zum Einsatz kommen. Während der Kubanischen Revolution (1959) und dem Mai 1968 in Frankreich hat keiner der Beteiligten über Twitter oder Facebook kommuniziert, und die Atomunfälle von Three Mile Island, Tschernobyl und Fukushima waren noch nicht passiert.
Diese Revolutionen, die noch immer in der kollektiven Vorstellung präsent sind, hatten es mit einer ganz anderen sozialen Ordnung zu tun als wir heute. Der Modernisierungsprozess ließ noch einige Lücken, die heute geschlossen sind. Andere werden sich im Zuge des Niedergangs des industriellen Modells öffnen, aber in den Reflexionen der Vergangenheit dieser Revolutionen Inspiration für den gegenwärtigen Kampf zu suchen, bedeutet, sich dazu zu verurteilen, weder den Ort noch den Zeitpunkt zu sehen. Deshalb ist es zu einem sinnlosen Ritual geworden, sich auf sie zu berufen. In unserer Zeit komplexer und voneinander abhängiger Gesellschaften ist es einfach eine Illusion, an eine Revolution zu denken, die auf einer relativ einfachen industriellen und ökonomischen Entwicklung beruhte – Illusion: Realitätsprinzip der Leichtgläubigen/Naiven.
Gerade weil eine soziale Revolution dieser Art undenkbar und in vielerlei Hinsicht undurchführbar geworden ist, versucht man uns in jedem Bereich unserer Existenz einen Surrogat aufzuzwingen. Da das Individuum nicht in der Lage ist, sich dem zu stellen, was ihn am Leben hält – der industriellen Produktion und der technologischen Entwicklung –, überträgt es den Objekten dieser Industrie die Transformation einer Welt, die es nur noch als Konsumenten-Konsumierten akzeptiert. Am Ende dieses Dereliktionsprozesses (oder, wenn man so will, beim Austausch einer Unterdrückung gegen eine andere) findet er angeblich glänzend den menschlichen Zustand wieder, den er zu Beginn aufgegeben hat, sowie eine neue „Autonomie”, die auf der Vervielfachung technischer Prothesen und unvermeidbaren Abhängigkeiten basiert.
Das von diesen kleinen Revolutionen gesättigte Subjekt hat keine Zeit mehr, seine Wünsche zu entwickeln, und muss seine Reflexe an die ständig neuen anpassen, die ihm aufgezwungen werden. Seitdem die Industrie das Monopol auf die transformative Aktion in der Welt innehat – nicht umsonst hat sich der Begriff „industrielle Revolution” durchgesetzt –, hat die Idee der Emanzipation ihre inspirierende Kraft verloren und sich zu einer Vielzahl von Banalitäten degradiert, die das Szenario der alltäglichen Unterdrückung auf dem ganzen Planeten schmücken. Eine Revolution zu fordern, die im Sinne dieser Geschichte voranschreitet und uns Zugang zu ihren materiellen Vorteilen verschafft, bedeutet also, sich in der Avantgarde der zeitgenössischen Herrschaft zu stellen. Nicht mehr und nicht weniger.
Zweifellos ist es notwendig, „die Notbremse zu ziehen” im Zug des selbstmörderischen Fortschritts, aber was, wenn es schon zu spät ist? Was, wenn die angesammelte Trägheit sogar diese ursprüngliche Haltung des „Nein-Sagens” schon nutzlos gemacht hat? Würden wir uns dann in reine Rebellion ohne Ziel und Zukunft, in bloße verzweifelte Reaktion stürzen?
Hier stoßen wir auf das zweite Problem, nämlich dass diese Art von desillusionierter Rebellion heutzutage total normal ist und genau durch diese katastrophale Einstellung gefördert wird, die schon lange Teil der offiziellen Propaganda ist: there is no alternative. In einer abgeschwächten Version sieht sich der romantische Rebell mitten im Sturm der technologischen Entwicklung als Prinzip und Ursache jeder Anfechtung der historischen Realität. Die „Überschreitung“, auf die sich die Rebellion von heute beruft, ist zur Norm geworden, und die vermeintliche Norm einer „bourgeoisen und kapitalistischen“ Welt, gegen die man bkämpfen muss, ist verschwunden. Es klingt kontrovers, aber die Rebellion appellierte weniger an die Veränderung der Welt als vielmehr an die Negation dieser Veränderung, und darin lag ihr Vorteil und ihre Tragik. Gerade die Tragik, der heldenhafte Tod des Rebellen, stand im Mittelpunkt der romantischen Poetik und warnte vor dem, was in der Welt verloren ging, und weniger vor dem, was zu gewinnen war.
Die Rebellion unserer Zeit, die auch als Produkt verbreitet ist, zeigt sich in zwei Varianten: dem Vertreter der Gegenkultur und dem ewig unzufriedenen Konsumenten. Natürlich gibt es Grenzen zwischen beiden, und diese sind heute viel durchlässiger als gestern, aber weniger als morgen. Auf jeden Fall teilen beide das Verlangen nach Überschreitung. Das geht so weit, dass die Überschreitung stattfindet, damit jemand sie konsumieren kann, und der kulturelle Konsum der Überschreitung wird unerlässlich, um den Wunsch nach neuen Überschreitungen zu erneuern. Hier liegt das Geheimnis dieser Verwandlung: Damit Rebellion allgemein akzeptiert wird, muss sie die Ordnung akzeptieren; ebenso müssen Prozesse der Partizipation geplant werden, damit sie stattfinden können. So kann der Rebell unserer Zeit sich nicht mehr auf einen positiven Wert berufen, für den es sich zu opfern lohnt. Vielmehr lehnt er die Vorrangstellung eines Wertes gegenüber einem anderen ab, und zwar im Namen seiner unveräußerlichen Entscheidungsfreiheit.
Das hat zwei Konsequenzen: Erstens banalisiert es die Tragödie des Todes des Rebellen (schließlich musste man denken, dass etwas es wert war, dafür sein Leben zu geben), und zweitens ist die Freiheit an nichts gebunden, sie wird abstrakt und inhaltslos. Beides ermöglicht es, sich durch Rebellion an den ständigen Krampf anzupassen, zu dem die technologische Gesellschaft geworden ist. Der Zwang ist ihr Motor und ihr Endziel, deshalb braucht sie Konflikt und Antagonismus, deshalb stachelt sie jederzeit zur Rebellion an. Die demokratisierte, institutionalisierte und konsumierbare Rebellion ist das Abbild der industriellen Produktion der Existenz. Deshalb mangelt es in mehr als einer Hinsicht nicht an Rebellen: Es gibt eher zu viele.
Der Schlusspunkt ist großartig: Der rebellische Mensch konsumiert revolutionäre Objekte. Und so bleibt alles beim Alten. Jeder wählt nach seiner rebellischen Laune, seinem Wunsch nach sofortiger Befriedigung, die Revolution, die er konsumieren möchte, und der Gegenwert, der Erfolg seines Vorhabens, wird nicht mehr die Transformation der Gesellschaft sein – das machen die Technik und der Staat schon sehr gut –, sondern seine schmerzlose Anpassung an sie.
XIV
Seit 1945 bedeutete die Entwicklung der industrialisierten Gesellschaften die Konsolidierung der technischen Organisation der Produktion und der staatlichen Organisation des öffentlichen Lebens. Wenn diese Strukturen und Institutionen einst eine Art Hülle für den sozialen Körper sein wollten – vor allem mit der Entwicklung der keynesianischen ökonomischen Politik und dem Ideal des Welfare State oder Wohlfahrtsstaates –, so wurden sie im Laufe der Zeit zu einem wesentlichen und unverzichtbaren Bestandteil der sozialen Verfassung des Menschen. Sie wurden „vom Panzer zum Skelett”. So führte die Strukturierung moderner Gesellschaften um die Massenproduktion und die Regierung der Staaten-Nation zu einer bis dahin unbekannten Globalisierung der Ökonomie. Eine Globalisierung, die auf dem massiven Verbrauch fossiler Brennstoffe und der zunehmenden Mobilität sowohl der industriell hergestellten Waren als auch der Menschen beruhte, die durch ihren Konsum den Lebensstandard einer idealen Mittelklasse anstreben wollten. Der Erfolg in den westlichen Ländern war überwältigend. Der Mythos der unbegrenzten ökonomischen Entwicklung verwüstete den Planeten und unterwarf alle Menschen seinem Joch. Die vergiftete Frucht dieser Explosion der Abundanz war die Verurteilung eines Großteils der Weltbevölkerung zu einer grausamen Abhängigkeit. Abhängigkeit von der technischen Organisation der Produktion und von Formen der sozialen Regulierung, die nur auf das Wachstum der staatlichen Organisation abzielen konnten.
Heute haben sich diese Bedingungen nur noch verschärft und auf immer mehr Orte der Welt ausgeweitet. Wenn also unsere modernen Gesellschaften Füße aus Öl haben, dann besteht ihr Körper aus Technologie und Industrie und ihr Kopf aus staatlicher und internationaler Bürokratie. Unsere Welt unterscheidet sich stark von den historischen Revolutionen, die wir kennen, und daher sollte eine transformative Bewegung diese Veränderungen berücksichtigen, wenn sie nicht reine Fantasie bleiben will. Und genau das ist unser größtes Problem: Die Institutionen, gegen die wir uns stellen müssen, sind genau die, die zu Garanten unserer unmittelbaren Lebensgrundlage geworden sind. Die Befriedigung unserer Grundbedürfnisse erfordert zunehmend technologische und bürokratische Vermittlung. Gesellschaften mit relativer Autonomie, die vom globalen Warenverkehr abgeschnitten sind, wurden durch den Fortschritt vernichtet – oder sind so marginalisiert, dass sie nur noch als folkloristische Souvenirs der Verwüstung fungieren. So hat das Ziel der Befreiung des Menschen von der Unterdrückung durch Not und natürliche Knappheit zur Unterwerfung unter so bedrückende soziale Verhältnisse geführt, dass diese sich schließlich in das Innerste jedes Individuums integriert haben. Aus diesem Grund sahen viele soziale Bewegungen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts keinen anderen Weg als die Forderung nach genau dem, was eigentlich Gegenstand der Negation sein sollte. Und in dieser Situation befinden wir uns immer noch. Aber heute in viel größerem Ausmaß und mit immer dringlicheren Anzeichen für eine Erschöpfung des Akkumulationsmodells. Deshalb befindet sich die „soziale Revolution” weiterhin in einer Sackgasse, aus der sie nicht von heute auf morgen herauskommen wird. Um diese Situation richtig zu verstehen, muss man langfristig denken, was natürlich nicht so gut zu den Ideen von sozialen Unruhen oder Frühlingsrevolten passt.
Da das, was uns unterdrückt, zu einem wichtigen Teil unseres Lebens geworden ist, sieht jeder Kampf gegen die soziale Ordnung schon lange wie eine Art Selbstverletzung aus, die natürlich fast niemand will. Die Auswirkungen, die diese Situation auf die Vorstellungen von sozialem Wandel hat, sind komplex und reichen von Forderungen nach Degrowth (A.d.Ü., auch als Wachstumskritik bekannt) über neue Spiritualitäten bis hin zu katastrophalen Warnungen aller Art. Auf jeden Fall haben sie alle einen Hauch von Hoffnungslosigkeit – was übrigens sehr logisch ist –, der oft mit erlösendem Aktivismus bekämpft wird, in einem ungleichen Wettstreit mit der hektischen Aktivität der Warenwelt. Die Globalität des sozialen Zusammenbruchs, der sich aus der ökonomischen Entwicklung ergibt, führt dazu, dass die Organisation des Überlebens zunehmend auf lokaler Ebene als Form des Widerstands und der Integration übernommen wird. Aber genau diese Organisation des Überlebens führt dazu, dass neben den Lebensbedingungen, die wir erhalten wollen, auch das überlebt, was letztendlich dazu bestimmt ist, sie zu zerstören.
XV
Die Forderungen nach „menschlichem Maßstab” und einer Rückkehr zum Lokalen laufen Gefahr, unter der Mitwirkung der Verursacher des Zusammenbruchs umgesetzt zu werden. Die Zeit der Empörung ist auch die Zeit, in der „das Kleine” an Bedeutung gewinnt, immer auf Kosten der großen Fragen, die ad infinitum aufgeschoben werden. Denn klein ist nicht immer schön. Wir können nicht ausschließen, dass im Zuge des Zerfalls der modernen Welt regionale regionale Ökonomien für eine Art Überlebenspopulismus und eine in sich geschlossene Gesellschaftsordnung eintreten, die den kleinen Pol Pots, die als Messiasse der letzten Stunde aus dem Boden schießen, in den Schoß fallen würde.
Solange der internationale Handel über das auf dem Verbrauch fossiler Brennstoffe basierende Containersystem funktioniert und der Finanzmarkt seine Integration in das dichte globale Computernetzwerk fortsetzt, können Ökodörfer ohne allzu große Probleme gegründet werden. Das sind Logiken, die sich derzeit nicht gegenseitig behindern. Im Extremfall kann man sagen, dass bestimmte Abspaltungen von der Welt der Waren als Ventil für den Druckkessel dienen, zu dem die Weltwirtschaft geworden ist. Genauso wie Tauschhandel und Produzenten- und Verbrauchergenossenschaften perfekt mit der Geldpolitik der EZB und den Richtlinien des IWF koexistieren.
Wir wollen hier nicht die Versuche lächerlich machen, fernab von kommerziellen, technokratischen und staatlichen Logiken zu leben: Wir versuchen nur, sie auf die Ebene zu stellen, auf der sie sich wirklich befinden, im Hinblick auf den notwendigen sozialen Wandel, der, wie wir gesehen haben, mehr erfordert als nur den Verzicht einiger weniger oder die Zusammenarbeit bestimmter bewusster Gruppen von Produzenten und Konsumenten. Was zählt, ist die Absicht hinter dieser Abkehr, und was ihre Verbreitung in Bezug auf die Bildung eines transformativen Bewusstseins bewirken kann, bleibt abzuwarten. Sie kann sehr wohl zu einem Zufluchtsort für eine katastrophale Idee werden, die sich letztendlich von den entscheidenden Problemen abwendet, oder aber im Gegenteil die notwendigen Voraussetzungen für eine relative Autonomie derjenigen schaffen, die sich aus freiem Entschluss der Welt stellen, die uns in ein elendes Dasein stürzt.
In den 1930er Jahren, während der Weltwirtschaftskrise, ermutigte Henry Ford seine Arbeiter, einen kleinen Gemüsegarten zu Hause anzulegen, um sich selbst mit Gemüse zu versorgen und nebenbei ihre Freizeit produktiv zu nutzen und ihren Geist von subversiven Ideen fernzuhalten. In Kinshasa sind die Straßenränder heute zu improvisierten Gemüsegärten geworden, die den Hunger einer erschöpften Bevölkerung, die in einer humanitären Krise steckt, die jeden empörten Menschen beschämen würde, ein wenig lindern.
Dass wir nicht in diesen Kategorien denken können, wenn wir etwas tun wollen? Dann wäre es besser, gar nichts zu tun. Sich das Ausmaß unserer Abhängigkeit und die Tiefe unserer Unterwerfung vor Augen zu führen, mag für viele entmutigend sein, aber es ist ein unverzichtbares Prinzip der Vernunft und Besonnenheit, an dem wir trotz allem festhalten müssen, angesichts der Irrationalität dieser Zeiten, in denen wir leben, und derjenigen, die sich empört für deren Verbesserung einsetzen.
XVI
Ein bestimmtes Konsumniveau, das mit einem vermeintlichen Wohlstand und der Verteidigung eines Lebensstandards gleichgesetzt wird, um jeden Preis aufrechtzuerhalten, ist das Ziel der sozialen Bewegungen, die sich derzeit gegen die bestehende ökonomische Ordnung stellen. Die Kämpfe gegen Privatisierungen, Kürzungen im Arbeitsrecht und bei den sozialen Rechten verlaufen auf diesem revolutionären Irrweg, der die Vorteile des Industrialisierungsprozesses der Welt erhalten will, ohne dessen schädliche Auswirkungen ertragen zu wollen. Wir wissen schon lange, dass beides untrennbar miteinander verbunden ist, und die Erfahrung der ständigen Unzufriedenheit des modernen Konsumenten bestätigt dies bei jedem Schritt. Der Konsum einer Vielzahl nutzloser Dinge ist das therapeutische Mittel schlechthin in Gesellschaften, die jeden Sinn und jede Möglichkeit verloren haben, ihre eigene Entwicklung zu überleben.
Die ersten Rohstoffe, die international gehandelt wurden, waren Tee, Kaffee, Zucker, Tabak, Parfüm, Gewürze, Opium … Tausende Tonnen von Produkten, die für uns heute so notwendig sind wie die Luft zum Atmen, obwohl sie zu ihrer Zeit nichts weiter als Luxusgüter waren. Sollen wir weiterhin so große Errungenschaften der Industrie verteidigen? Das scheinen diejenigen zu sagen, die sich gegen den aktuellen Stand der Dinge auflehnen: „Wir wollen weiterhin das haben, was wir haben, und wenn möglich noch ein bisschen mehr.“ Das Schlimmste daran ist, dass die wirklich lebensnotwendigen, grundlegenden Dinge bereits dem Prozess der Industrialisierung zum Opfer gefallen sind und wir sie nur noch durch unsere Einbindung in die gesellschaftliche Maschinerie erhalten können. Der Zugang zu fließendem Wasser, Ackerland, Saatgut, Tierhaltung und einem Dach über dem Kopf ist in den Verwaltungsprozess derer geraten, die uns die Welt in Stücken verkaufen, und heute ist es für die große Masse der Menschen, die auf diesem Planeten leben, schon sehr schwierig, ganz auf diese Vermittlung zu verzichten, ohne eine dramatische und beängstigende Situation des Mangels und der Einschränkungen in Kauf zu nehmen. Diese „Situation” passiert übrigens jeden Tag auf dem größten Teil des Planeten, aber weil wir sie ständig im Fernsehen und in den Zeitungen sehen, überrascht sie uns überhaupt nicht mehr und bietet eine Ausrede für den Zynismus „anderen geht es viel schlechter”. Wir haben uns an die Kälte der Massenproduktion gewöhnt, und jetzt scheint die Menschheit zu einem Luxusgut geworden zu sein.
Die Zeit der Empörung ist die Zeit der Verteidigung von Privilegien, nicht die Zeit der Revolution gegen die Ordnung, die sie hervorbringt. Sich dagegen zu stellen würde bedeuten, eine drastische Einschränkung vieler Annehmlichkeiten und Vergünstigungen zu akzeptieren, die uns die technische Organisation bietet, und diese Aussicht ist für die meisten nicht gerade ermutigend. Es ist eher genau das Gegenteil von dem, was sie verteidigen, wenn sie sich empören, auch wenn ihre Art, dies zu zeigen, manchmal zweideutig ist. Es könnte gar nicht anders sein, denn am Ende verteidigt man das, was uns einerseits unterdrückt und andererseits am Leben hält.
Manche sagen vielleicht, dass wir durch das Reden mit Paradoxen die Gefahr laufen, jeden Impuls zur Rebellion zu lähmen. Und hier können wir nur dem zweiten Teil dieser Aussage zustimmen. Den Lauf der ewigen Mobilität, der uns fest im Griff hat, zu lähmen, wäre vielleicht das einzige Szenario, das für Aktionen gegen die Ordnung günstig wäre. Den Fluss von Waren und Informationen auf unbestimmte Zeit zu unterbrechen, ihre Infrastrukturen zu zerstören, käme einem Blackout sehr nahe. Die Frage ist jedoch berechtigt: Wie würden wir dann überleben? An dieser Stelle kommen wir zum ersten Teil der Aussage zurück: Wir sprechen nicht mit Paradoxien, um jemanden zu beeindrucken, sondern die Realität entwickelt sich paradox, unabhängig von unseren Absichten. Das heißt übrigens nicht, dass alle Absichten zur Veränderung nutzlos sind, sondern dass sie heute einfach nicht ausreichen.
Die Vorstellungskraft, die nötig ist, um die aktuelle Situation zu überwinden, geht weit über die Forderungen unserer Zeit hinaus, egal wie radikal sie auch sein mögen. Das bewusste Auseinandernehmen dieses Systems übersteigt derzeit bei weitem die geringen Kräfte, über die die Befürworter einer sozialen Transformation verfügen. Außerdem: Wer ist schon in der Lage, für eine so wenig glänzende Zukunft zu werben? Sicherlich versuchen es einige mit verbissener Anstrengung, aber um Gehör zu finden, zeichnen sie am Ende ein so grobes Bild der emanzipatorischen Bestrebungen und der historischen Entwicklung der Unterdrückung, dass man ihnen nur Erfolg wünschen kann und dass sie endlich ihren innigen Wunsch erfüllen: als eine weitere Modeerscheinung zu verschwinden.
Für diejenigen, die sich weiterhin für die Sache der Freiheit einsetzen, steht eine gewaltige Arbeit bevor, und wir können nur hoffen, dass unser Verantwortungsbewusstsein nicht durch die widrigen Umstände geschwächt wird, dass unsere Fähigkeit, uns neue Formen des Widerstands und der Dissidenz vorzustellen, nicht durch den ständigen Ruf nach Resignation und Selbstzufriedenheit in Frage gestellt wird.
XVII
Wenn uns die Kulmination unserer Zeit etwas gebracht hat, dann ist es eine beispiellose Zunahme der Toleranz, verstanden als die Anpassung an auferlegte Bedingungen, die von denen, die darunter leiden, eine außergewöhnliche Anpassungsfähigkeit verlangt. Nach der Atomkatastrophe von Fukushima haben die für den guten Ruf der Atomenergie zuständigen Stellen die Toleranz gegenüber der Strahlenbelastung, der Kinder theoretisch ausgesetzt sein dürfen, um mehrere Punkte erhöht. Es bleibt zu hoffen, dass sich diese erstaunliche Widerstandsfähigkeit auf alle ausweitet, denn weltweit sind mehr als vierhundert Kernreaktoren in Betrieb5, und mit der Zeit wird die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls allein schon aufgrund der Veralterung jeder Technologie immer größer. Und nicht nur das: Der störungsfreie Betrieb des Kernkraftwerks ist bereits Selbstmord, wenn auch ein langsamer. Wie man sieht, scheint es, als hätten wir keine andere Wahl, als uns an diese Situation anzupassen, denn heute ist selbst den erfahrensten Nuklearingenieuren nicht klar, wie man den Betrieb eines Kernkraftwerks ohne endgültige Risiken einstellen kann. Wenn man aus all dem etwas Positives ziehen kann, dann ist es die Sichtbarkeit des Zynismus derer, die sich als Experten bezeichnen und mit einer Kälte, die ihren Verbrechen entspricht, das Risikoniveau bewerten, dem wir alle ausgesetzt sind. Das ist nicht viel, aber zu wissen, dass es Menschen mit Namen und Nachnamen gibt, die für die Verwaltung der Vernichtung zuständig sind, könnte einige zu der Überlegung veranlassen, dass es sich nicht um eine unvermeidliche Situation oder die Folge der Entwicklung einer anonymen Macht handelt, sondern dass es Verantwortungsgrade gibt, auf denen eine Aktion ergriffen werden kann, die den Umständen angemessen ist.
Unsere technologischen Errungenschaften gehen weit über das hinaus, was wir uns vorstellen können, und verlangen von uns eine tolerante Haltung gegenüber ihrer Entwicklung. So bahnt sich ein Konsens, der auf Angst und der Unfähigkeit beruht, eine Realität zu verändern, die zu monströs ist, als dass wir uns darin wiedererkennen könnten, seinen Weg in den Fortschritt unserer Zeit. Beruhigungsmittel für das Undenkbare und Jodtabletten für das Unverdauliche. Das beste Gegenmittel gegen Strahlung ist aber immer noch Intoleranz gegenüber denen, die sie uns aufzwingen.
Welcher Aufruf, Protest oder welche Forderung unserer Zeit berücksichtigt diese alles andere als anekdotische Dimension unserer Unterwerfung und die Anforderungen, die sie mit sich bringt?
XVIII
Man kann nicht sagen, dass wir uns der Katastrophe, in der wir leben, überhaupt nicht bewusst sind. Das Problem ist hier nicht so sehr die Feststellung der Katastrophe, sondern die Art des Bewusstseins, das sie erzeugt. Seit einigen Jahren beobachten wir die Entwicklung einer Art Ökumene der Katastrophe, die uns alle zu einem neuen Millenarismus und einem apokalyptischen Weltuntergang drängt. Das katastrophale Bewusstsein für die Anzeichen der Erschöpfung eines auf Technik und Staat basierenden Gesellschaftsmodells kann durchaus den Wunsch wecken, dass alles genau so bleibt, wie es ist – und das wäre die am wenigsten schädliche Haltung. Aber nichts lässt vermuten, dass die Idee eines so ordinären „Weltuntergangs”, wie sie die kulturellen Produkte des Spätkapitalismus verbreiten, nicht auch die Sehnsucht nach einem „starken Mann” (hier kann man „starke Organisation” lesen”) als Gegenstück hat, der alle Auswüchse mit einem gezielten Schlag korrigiert.
Die Argumente der Umweltschützer sind schon lange auf die Seite des kontrollierten Lebens gewechselt und versorgen die Ängstlichen mit Daten zu Verschmutzungsindizes, Vergiftungsrisiken, Umweltauswirkungen, Öko-Labels, Rückverfolgbarkeit und anderem Fachjargon. Nichts davon kann heute gegen die auferlegte Ordnung verwendet werden. Der Grad der Integration der industrialisierten Ökonomien und ihre hypertechnologische Entwicklung machen jede moralische Warnung vor ökologischen Folgen oder gesundheitlichen Auswirkungen sinnlos. Der Planet ist bereits zerstört, und es bleibt nur noch einigen Verwaltern überlassen, seine Ruinen zu verwalten.
Der neue Ökumenismus führt uns an die Hand in Richtung einer gemeinsamen Bewältigung der Katastrophe. Als Teil derselben Menschheit, die Gefahr läuft, durch ihre eigene Entwicklung vernichtet zu werden, haben wir nicht so sehr das Recht, an Entscheidungen mitzuwirken, sondern vielmehr die Pflicht, dies jederzeit zu tun. Der Staatsbürger muss ökologisch, partizipativ und demokratisch sein; sein Gewissen muss „rein” sein, immer bereit zur Zusammenarbeit und ohne allzu große Skrupel für das kleinere Übel zu entscheiden. Wir müssen zusammenarbeiten, um den Planeten zu retten, das ist der Auftrag. Wer sich weigert, sich dem Chor anzuschließen, muss sich darauf einstellen, „in Kürze wie Deserteure und Saboteure in Kriegszeiten behandelt zu werden”.
So wie die Bürokratie den Umweltschutz als unverzichtbares Prinzip übernommen hat, hat sich auch die Unternehmenskultur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in ihren Verwaltungsformen transformiert, indem sie das Verschwinden starrer und vertikaler Strukturen und die Einführung horizontaler Arbeitsteams, emotionaler Intelligenz und einer integrativen Verwaltung forderte, das alle Arbeiterinnen und Arbeiter an einem gemeinsamen Ziel beteiligt – uns ist auch diese Fachsprache bekannt: Vision und Mission, demokratische Führung, Stimmen des Systems, Mitverantwortung usw. Die neue Unternehmenskultur, die sich seit den 1970er Jahren entwickelte, nutzte die Instrumente der Vollversammlungsbeteiligung und Selbstorganisation – die zweckmäßigerweise ihres Inhalts entleert wurden –, um den neuen Herausforderungen der Marktwirtschaft zu begegnen, und propagierte so Flexibilisierung als Rezept für die ewige Jugend ihrer Unternehmen. Um zu verstehen, wie die Konflikte der Arbeiterinnen und Arbeiter nach und nach abnahmen, müsste man untersuchen, inwieweit diese Argumente der Beteiligung und des „im selben Boot sitzens” bei den Leuten, die in den Arbeitsmarkt kamen, als die Zeit der Vollbeschäftigung schon vorbei war und Arbeitslosigkeit und Unsicherheit zur Regel geworden waren, Anklang fanden.
Die Organisation der mittleren und höheren Bildung umfasst seit langem partizipative Klassen, Horizontalität und die kollektive Schaffung von „Wissen”. In vielen Schulen – die man jetzt Lerngemeinschaften nennt – haben die Kinder einmal pro Woche eine Vollversammlung. Diese Verbreitung der partizipativen Haltung, die von den Regierenden gefördert wird, ist kein Zufall, und man könnte sich fragen, inwieweit sie einen entscheidenden Einfluss auf die Form der öffentlichen Äußerungen der Empörung hatte. Angesichts der grausamen Entscheidungen, die im Rahmen der unaufhaltsamen Zerstörung des sozialen Lebens getroffen werden müssen, ist ein starker und aktiver Konsens erforderlich, und um diesen zu erreichen, sind Vertikalität und Hierarchie heute viel weniger wirksam.
Ökologisches Bewusstsein und soziale Partizipation sind so zum Leitmotiv des untergehenden Kapitalismus geworden. Deshalb verlangt die Propaganda, dass sie immer an vorderster Front stehen. Da die angestrebte Transformation im Sinne der historischen Entwicklung erfolgt – damit der Abstieg in die Katastrophe allmählich erfolgt und wir Zeit haben, uns daran zu gewöhnen und anzupassen –, dient die Konfrontation zwischen den Verteidigern der Ordnung und ihren angeblichen antagonistischen Kräften als Resonanzkörper für die Minimalkonsens-Vereinbarung, die lautet: „Alle zusammen und vereint in derselben Unterwerfung”. Die Zeit der Empörung ist die Zeit, in der man sich um dieses Motto schart, um sicherzustellen, dass die kommende Unterdrückung nicht einen Hauch an Legitimität verliert.
XIX
In den letzten zweihundert Jahren haben wir zu viel Realität produziert. Die tägliche Propagandabombardierung bietet uns so viel und in solcher Geschwindigkeit, dass kein Magen das aushält. Angesichts dieser Übersättigung ist es normal, dass die Fantasie verrückt spielt und man zu schmerzlindernder Flucht greift. Was sich dann ausbreitet, ist die erschreckendste Trägheit und die kindischsten Illusionen. Eine gute Mischung aus beidem konnten wir in den Tagen nach dem 15. Mai 2011 erleben.
Die Einsamkeit in der individuellen Erfahrung der Enteignung (A.d.Ü., oder Habenichtse) wurde zu keinem Zeitpunkt durch die Empörung in Frage gestellt – auch nicht durch andere, ernsthaftere Bewegungen zuvor. Im Gegenteil, sie haben eine Möglichkeit geboten, sich innerhalb dieser Masse ohne Gesellschaft, von der wir zuvor gesprochen haben, zu individualisieren. Denn unsere Zeit ist gezwungen, von Zeit zu Zeit solche massenhaften Erleichterungen anzubieten (es gibt Leute, die an der Mobilisierung teilnehmen und dann sofort zum Fernsehen oder zur Zeitung laufen, um zu erfahren, wie viele Menschen gekommen sind). Sie tut dies mit sportlichen Spektakeln, Wahlen und festlichen Demonstrationen der Unzufriedenheit. Sie entsteht in der frühesten Erziehung, an den Universitäten und am Arbeitsplatz, in den Einkaufszentren und in der trostlosen urbanen Erfahrung. Wir sollten nicht vergessen, dass die „einsame Menge” sich empört, ohne dabei aufzuhören, eine Menge zu sein.
Was im Laufe des Modernisierungsprozesses verloren gegangen ist, ist zu viel, als dass wir uns seiner Bedeutung bewusst werden könnten. Und wenn wir es tun, falls wir es tun, gibt es keine Gewissheit, dass viele Situationen rückgängig gemacht werden können. Alles deutet darauf hin, dass die Heilmittel, denen wir uns unterziehen müssen, für viele, wenn nicht sogar schlimmer, genauso schlimm sein werden wie die Krankheit. Und dieses düstere Bewusstsein für die Morbidität unserer Welt kann nicht von heute auf morgen zu einem sozialen und transformativen Bewusstsein werden. Vielmehr dient es als ideologischer Vorwand für einen Kampf auf Leben und Tod um das individuelle Überleben und die Verteidigung privater Interessen. Wir müssen mit noch schlimmeren Zeiten rechnen. An allen Fronten der sogenannten „sozialen Frage” findet ein historischer Rückzug statt – manchmal in Form einer regelrechten Flucht –, und vielleicht können wir vorerst nur an dieser Bewegung nach hinten teilnehmen, indem wir ihr etwas Würde und Sinn verleihen, ohne die Tatsachen zu leugnen. Wir könnten uns den alten Slogan zu eigen machen, der lautete: Organisieren wir den Pessimismus.
XX
Manche werden vielleicht genau den Pessimismus kritisieren, der aus fast jeder Zeile dieser Broschüre spricht. Wir müssen das einfach akzeptieren. Pessimismus ist sowieso keine Frage des Charakters oder der Wahl der Perspektive mehr, sondern drängt sich als Notwendigkeit auf, wenn wir den Zusammenbruch des sozialen Lebens und die unverblümte Niederlage der Hoffnungen auf Emanzipation sehen. Wenn wir von unserer Zeit erwarten können, dann ist es die Darstellung weiterer Empörungen, die sich den Namen „Revolutionen gegen das System” anmaßen, zunehmender Cyberaktivismus, Reformen und Teilforderungen, Niederlagen, die als glorreiche Siege inszeniert werden, von Slogans wie „Wir gehen langsam, weil wir weit gehen” und die leicht zu der Gegenfrage verleiten: „Wir tappen im Dunkeln, weil wir nicht wissen, wohin wir gehen”; wenn das auf uns wartet, können wir sicherlich keine Freudensprünge machen.
Denjenigen, die uns sagen – denn es wird sicher welche geben –, dass das alles ja schön und gut ist, aber zu theoretisch, dass unsere Aufgabe darin besteht, „uns die Hände schmutzig zu machen“ und mit den Menschen auf der Straße zu sein, um sie in den Methoden der Vollversammlungen zu schulen, und dass wir, anstatt so viel zu reden, lieber direkt zur Praxis übergehen sollten, denen können wir nur sagen: Viel Glück. Angesichts der Komplexität der Welt, in der wir leben, ist es sehr verlockend, sich hinzustellen und nichts mehr wissen zu wollen, um dann einfach drauf loszulegen mit dem, was man für am dringendsten hält, ein bisschen planlos und aus dem Stegreif: Veganismus-Workshops, Queer-Tage, ökologische Gärten, Zwangsräumungen verhindern, gegen Kürzungen demonstrieren… Aber ohne klare Vorstellungen davon, was wir tun, ist es unmöglich, bewusst gegen das vorzugehen, was uns wirklich unterdrückt. Der Grundsatz „Tu, was du denkst, denke, was du tust” ist in diesen unheilvollen Tagen am schwierigsten umzusetzen, weil der Spielraum zum Handeln und Denken, den uns die technisierte Welt lässt, immer kleiner wird. Bereits 1934 schrieb eine kluge Frau: „Nie war das Individuum einer blinden Gesellschaft so völlig ausgeliefert, und nie waren die Menschen so unfähig, nicht nur ihre Aktionen ihren Gedanken unterzuordnen, sondern überhaupt zu denken.”
Die totalisierte und technologisch integrierte Welt erfordert andere konzeptionelle Werkzeuge, eine andere Vorstellung von sozialem Wandel, andere Subjekte, die ihn vorantreiben, eine andere Prioritätenordnung, eine andere Ebene des strategischen Denkens.
Was wir brauchen, ist also nicht weniger Theorie, aber auch nicht mehr, sondern eine andere. Die Empörung hat diese Rolle nicht erfüllt; sie hat gezeigt, dass nichts zu tun war, weil die Mehrheit nie ernsthaft darüber nachgedacht hatte, dass sie etwas tun sollte.
Als Nachwort
Nach der Veröffentlichung von 15M. Obedecer bajo la forma de la rebelión (15M. Gehorchen als Form der Rebellion) im Jahr 2012 haben wir alle möglichen Kommentare bekommen. Von begeisterten Zustimmungen über Rezensionen, die den Inhalt lobten und den „Ton“ kritisierten, bis hin zu natürlich sehr harter Kritik und in einigen Fällen sogar Beleidigungen. Wir haben uns entschieden, den Lesern diese Art von Kritik zu zeigen, die wir aus einem Internetforum, unserer E-Mail und einer Rezension gesammelt haben. Wir haben die ursprüngliche Rechtschreibung und Syntax beibehalten und den Namen oder Spitznamen des Autors jedes Kommentars in Klammern gesetzt.
*Aus einem Internetforum:
Das ist der typische nervige revolutionäre Snobismus, den wir bei jeder Initiative und sozialen Bewegung ertragen müssen. (xxx)
Wenn wir diese Fehler vermeiden wollen, müssen wir den sektiererischen Chip und den Salonrevolutionarismus über Bord werfen und durch Reflexion, Realismus und Brüderlichkeit ersetzen. Vielleicht hilft uns das Lesen oder Wiederlesen der Klassiker, von denen ich spontan folgende empfehle: Über den Widerspruch (philosophische Thesen, Mao-Tse-Tung), Der „Linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus (Lenin). (anonym)
Es war höchste Zeit, dass die echten Revolutionäre sich zu Wort meldeten. Dieser Text ist nur eine oberflächliche Reflexion über die Medienberichterstattung zum 15. Mai […] Ich habe ihn nicht ganz gelesen, sondern bin auf Seite 22 hängen geblieben. Der Text ist unlesbar. Er ist banal, ohne den geringsten Inhalt, eine Parodie, genau wie im Fernsehen gezeigt […] Es ist ein mieses Skript, das es nicht mal wert ist, gedruckt zu werden. (einer)
Reformisten vs. Revolutionäre vs. Nonkonformisten Reformisten vs. Revolutionäre Konformisten vs. Nonkonformisten Konformisten… (samu)
Es ist viel zuuuuuuu heiß, um das zu lesen. (gorkamorka)
Weder Anarchismus noch Scheiße, wir müssen zurück zur PARTEI. (jonestown)
Mal ehrlich, wenn die Apokalypse kommt, will ich mir ganz sicher keine Predigten anhören müssen. Und schon gar nicht von angehenden Philosophen, Pseudorevolutionären aus der Mittelklasse mit Schuldgefühlen. Soll mich doch die Arbeiterklasse kritisieren, die Ana Rosa und Gandía Shore guckt und von Konsumorgien träumt. Denjenigen unten verzeihe ich alles. Euch nicht. Wir aus der prekären Mittelklasse kennen uns untereinander sehr gut. Wir gehen gerne bei Traficantes und Malatesta6 shoppen. (anonym)
• * •
*Aus einer E-Mail:
Betreff: Idioten
Hallo Cul de Sac:
Ich habe gerade auf der Website der Zeitung Diagonal die Rezension eures Buches 15m. Obedecer bajo la forma de rebelión gesehen, und als Indignado (A.d.Ü., Empörter) und Sohn von Marxisten, die von den Grauen (A.d.Ü., als grises, wurde die Polizei unter Franco bezeichnet weil sie graue Uniformen trugen) die gefoltert wurden, möchte ich euch sagen, dass dieses Buch auf den ersten Blick wie ein riesiger Schwachsinn wirkt.
Jetzt lass mich mal fragen: Als ihr gemerkt habt, was die Realität ist, also dass wir Indignados nur ein Haufen Reformisten, Sozialdemokraten usw. waren, seid ihr dann gegangen, wo ihr hergekommen seid, und habt euch verpisst, oder habt ihr euch bemüht, uns über die wahren revolutionären Prinzipien „aufzuklären”, wodurch neun von zehn Vollversammlungsteilnehmern nicht mehr zu den Vollversammlungen zurückgekehrt sind, weil sie eure Tiraden nicht hören wollten?
Ich sag das, weil ich aus Madrid komme und das Camp auf der Puerta del Sol von Anfang bis Ende mitgemacht hab, und genau das ist dort passiert: Eine Bande von Anarchisten – ich war mir sicher, dass es Polizisten waren, aber anscheinend hab ich mich geirrt – hat geschafft, was die Bereitschaftspolizei damals nicht geschafft hat: Zehntausende Menschen vom Platz zu vertreiben. Verdammte Lumpen. [Jano auf dem Kriegspfad]
• * •
*Aus einer im Internet veröffentlichten Rezension (Auszüge):
Das Gepläre, das den Hintergrund des Textes bildet, ist so lautstark, dass es nicht nur das Lesen beeinflusst, sondern auch die Natur des Geschriebenen von Anfang bis Ende bestimmt. Es gibt also keine Absicht, etwas zu teilen oder im besten Sinne des Wortes zu lehren, es gibt keine kritische Auseinandersetzung, die darauf abzielt, etwas zu klären. Das Gemeinsame fehlt, und es bleibt nur der Witz des Autors […], um andere mit Dreck zu bewerfen und in Arroganz zu schwelgen […] Obedecer bajo la forma de la rebelión hilft nicht, über die 15M-Bewegung nachzudenken, noch weniger, sie zu kritisieren […] Das Bild, auf das sich Obedecer bajo la forma de la rebelión bezieht, hat die gleiche Gültigkeit wie das, das Cristina Cifuentes (diese Frau mit Perlen und gestraffter Haut, die derzeitige Regierungsbeauftragte der Stadt Madrid) den Medien präsentierte, als sie erzählte, dass sie genau wisse, was und wer die 15M-Bewegung sei. […] Wir müssen zugeben, dass die Möglichkeit, die größte soziale Mobilisierung seit Jahrzehnten anhand von nur 62 Seiten zu verstehen, die nicht den geringsten Zweifel zulassen, einen gewissen Reiz hat… vor allem, wenn man weiß, dass sie einen zusätzlichen Bonus mit unfehlbaren Vorhersagen über die Zukunft enthält! […] Es gab keine „soziale Befriedung” nach dem Aufschwung und Niedergang der Empörung, wie Cul de Sac in seinem Buch behauptet. Es gibt einfach mehr Räume, mehr Vollversammlungen, mehr Kollektive… [Nando]
1In diesem Sinne könnte man die Ansätze einiger Nachbarschaftsvollversammlungen, Kommissionen oder Arbeitsgruppen wieder aufgreifen, die über den Staatsbürgerismus hinausgehen wollten, oder den Kampf gegen bestimmte industrielle Infrastrukturen. Die Arbeit dieser Gruppen entstand jedoch größtenteils nicht erst mit der 15M-Bewegung, sondern war das Ergebnis von Bemühungen, die schon vor der Besetzung der Plätze stattfanden.
2A.d.Ü., hier handelt es sich um einen Fall der 2016 im Spanischen Staat für großes Aufregen sorgte. Zwei Straßenmarionettenspieler wurden in Madrid verhaftet und der Apologie (Verherrlichung) des Terrorismus beschuldigt, weil in ihrem Marionettentheaterstück, eine Marionetten ein Transparent mit der Aufschrift „Gora Alka-ETA“ hochhielt. Der Fall wurde später von der Audiencia Nacional (Sondergericht welches sich vor allem mit Terrorismus beschäftigt) fallen gelassen.
3A.d.Ü., könnte aber auch als Genosse oder Gefährte übersetzt werden.
4A.d.Ü., hasta en la sopa, Spruch auf Spanisch, wird verwendet wenn was allgegenwärtig ist.
- 5A.d.Ü., der Stand betriebener Reaktoren lag im August von 2024 bei 439, gerade befinden sich weitere 59 in Bau und 170 sind in Planung.
 
6A.d.Ü., hier handelt es sich um zwei Buchhandlungen in Madrid.