Gefunden auf libcom, dieser Text wird der erste zu einer kommenden Textreihe sein die sich mit der Frage der (Arbeiterinnen und Arbeiter-)Selbstverwaltung auseinandersetzen wird. Es gab schon mehrere Texte die sich mit dieser Frage beschäftigten, diese Reihe soll aber mit einem Text von Alfredo Maria Bonanno enden, der sich in den 1970ern intensiv sich mit dieser Frage/Thematik/Debatte beschäftigte. Die zentrale Frage in dieser Debatte/Thematik ist ob die Selbstverwaltung der Produktionsmittel im Kapitalismus möglich, bzw. erstrebenswert ist. Diese Auseinandersetzung ist schon alt und fand im deutschsprachigen Raum unter der sogenannten Sozialisierungsdebatte vor über hundert Jahren schon statt. Die bisherigen Texte dazu sind hier zu finden: Kritik (und Auseinandersetzung) an der Selbstverwaltung.
(1967 Paul Mattick) Arbeiterkontrolle
Nach der sozialistischen Theorie führt die Entwicklung des Kapitalismus zu einer Spaltung der Gesellschaft in eine kleine Minderheit von Kapitalbesitzern und eine große Mehrheit von Lohnarbeitern und damit zum allmählichen Verschwinden der besitzenden Mittelklasse der unabhängigen Handwerker, Bauern und kleinen Ladenbesitzer. Diese Konzentration des Produktionsvermögens und des allgemeinen Reichtums in immer weniger Händen erscheint als eine Verkörperung des „Feudalismus” in der modernen Industriegesellschaft. Kleine herrschende Klassen bestimmen über Leben und Tod der gesamten Gesellschaft, indem sie die Produktionsmittel und damit die Regierungen besitzen und kontrollieren. Dass ihre Entscheidungen wiederum von unpersönlichen Marktkräften und dem zwanghaften Streben nach Kapital gesteuert werden, ändert nichts an der Tatsache, dass diese Reaktionen auf unkontrollierbare ökonomische Ereignisse auch ihr ausschließliches Privileg sind.
In den für die heutige Gesellschaft typischen Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit haben die Produzenten keine direkte Kontrolle über die Produktion und die Produkte, die sie hervorbringt. Manchmal können sie durch Lohnkämpfe eine Art indirekte Kontrolle ausüben, die das Verhältnis zwischen Löhnen und Profiten und damit den Verlauf oder das Tempo des Kapitalexpansionsprozesses verändern kann. Im Allgemeinen bestimmt der Kapitalist die Produktionsbedingungen. Die Arbeiter müssen zustimmen, um zu existieren, denn ihr einziger Lebensunterhalt ist der Verkauf ihrer Arbeitskraft. Solange der Arbeiter die ausbeuterischen Bedingungen der kapitalistischen Produktion nicht akzeptiert, ist er nur insofern „frei“, als er frei ist zu verhungern. Dies wurde lange vor der Entstehung der sozialistischen Bewegung erkannt. Schon 1767 erklärte Simon Linguet, dass Lohnarbeit nur eine Form der Sklavenarbeit ist. Seiner Meinung nach war sie sogar schlimmer als Sklaverei. „Es ist die Unmöglichkeit, auf andere Weise zu leben, die unsere Landarbeiter dazu zwingt, den Boden zu bebauen, dessen Früchte sie nicht essen, und unsere Maurer dazu, Gebäude zu errichten, in denen sie nicht leben werden. Es ist die Not, die sie auf die Märkte treibt, wo sie auf Herren warten, die ihnen die Gnade erweisen, sie zu kaufen. Es ist die Not, die sie zwingt, vor dem Reichen auf die Knie zu fallen, um von ihm die Erlaubnis zu erhalten, ihn zu bereichern … Was hat ihm die Abschaffung der Sklaverei gebracht? … Er ist frei, sagt ihr. Ach. Das ist sein Unglück. Der Sklave war seinem Herrn wegen des Geldes, das er ihn gekostet hatte, wertvoll. Aber der Handwerker kostet den reichen Wollüstling, der ihn beschäftigt, nichts … Diese Männer, so heißt es, haben keinen Herrn – sie haben einen, und zwar den schrecklichsten, den tyrannischsten aller Herren, nämlich die Not. Sie ist es, die sie in die grausamste Abhängigkeit treibt.“1 Zweihundert Jahre später ist das im Wesentlichen immer noch so. Zwar ist es nicht mehr die nackte Not, die die Arbeiter in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern zwingt, sich der Herrschaft des Kapitals und den Machenschaften der Kapitalisten zu unterwerfen, aber ihre mangelnde Kontrolle über die Produktionsmittel, ihre Stellung als Lohnarbeiter kennzeichnet sie nach wie vor als eine beherrschte Klasse, die nicht in der Lage ist, ihr Schicksal selbst zu bestimmen.
Das Ziel der Sozialisten war damals und ist auch heute noch die Abschaffung des Lohnsystems, was das Ende des Kapitalismus bedeutet. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts entstand eine Arbeiterbewegung, die diese Transformation durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel erreichen wollte. Die gewinnorientierte Produktion sollte durch eine Produktion ersetzt werden, die den tatsächlichen Bedürfnissen und Bestrebungen der assoziierten Produzenten entspricht. Die Marktwirtschaft sollte einer Planwirtschaft weichen. Soziale Existenz und Entwicklung würden dann nicht mehr von der unkontrollierbaren fetischistischen Expansion und Kontraktion des Kapitals bestimmt, sondern von den kollektiven bewussten Entscheidungen der Produzenten in einer klassenlosen Gesellschaft.
Als Produkt der bourgeoisen Gesellschaft ist die sozialistische Bewegung jedoch an die Launen der kapitalistischen Entwicklung gebunden. Sie nimmt entsprechend den wechselnden Schicksalen des kapitalistischen Systems unterschiedliche Formen an. In Zeiten und an Orten, die der Bildung eines proletarischen Klassenbewusstseins nicht förderlich sind, wächst sie nicht oder verschwindet praktisch. Unter den Bedingungen des kapitalistischen Wohlstands neigt sie dazu, sich von einer revolutionären in eine reformistische Bewegung zu verwandeln. In Zeiten sozialer Krisen kann sie von den herrschenden Klassen vollständig unterdrückt werden.
Alle Arbeitsorganisationen sind Teil der allgemeinen sozialen Struktur und können, außer in rein ideologischer Hinsicht, nicht konsequent antikapitalistisch sein. Um innerhalb des kapitalistischen Systems gesellschaftliche Bedeutung zu erlangen, müssen sie opportunistisch sein, d. h. sie müssen die gegebenen sozialen Prozesse nutzen, um ihre eigenen, aber noch begrenzten Ziele zu erreichen. Es scheint nicht möglich zu sein, revolutionäre Kräfte langsam in mächtigen Organisationen in einer Vollversammlung zu sammeln, die bereit sind, in günstigen Momenten zu handeln. Nur Organisationen, die die bestehenden sozialen Grundverhältnisse nicht stören, können an Bedeutung gewinnen. Wenn sie mit einer revolutionären Ideologie starten, führt ihr Wachstum zwangsläufig zu einer Diskrepanz zwischen ihrer Ideologie und ihren Funktionen. Da sie zwar gegen den Status quo sind, aber auch in ihm organisiert sind, müssen diese Organisationen aufgrund ihrer eigenen organisatorischen Erfolge letztendlich den Kräften des Kapitalismus erliegen.
Am Ende des Jahrhunderts waren die traditionellen Arbeiterorganisationen – sozialistische Parteien und Gewerkschaften/Syndikate – keine revolutionären Bewegungen mehr. Nur eine kleine Linke innerhalb dieser Organisationen behielt ihre revolutionäre Ideologie bei. Lenin und Luxemburg sahen die Notwendigkeit, den reformistischen und opportunistischen Evolutionismus der etablierten Arbeiterorganisationen zu bekämpfen, und forderten eine Rückkehr zur revolutionären Politik. Während Lenin dies durch die Schaffung einer neuen Art revolutionärer Partei erreichen wollte, die zentral gesteuerte organisierte Aktivitäten und Führung betonte, bevorzugte Rosa Luxemburg eine allgemeine Stärkung der Selbstbestimmung der Arbeiterklasse sowie innerhalb der sozialistischen Organisationen durch die Abschaffung bürokratischer Kontrollen und die Aktivierung der Basis.
Da der Marxismus die Ideologie der dominierenden sozialistischen Parteien war, drückte sich die Opposition gegen diese Organisationen und ihre Politik auch als Opposition gegen die marxistische Theorie in ihren reformistischen und revisionistischen Interpretationen aus. Georges Sorel2 und die Syndikalisten waren nicht nur davon überzeugt, dass sich das Proletariat ohne die Führung der Intelligenz emanzipieren könne, sondern dass es sich auch von den Elementen der Mittelklasse befreien müsse, die normalerweise die politischen Organisationen kontrollierten. Der Syndikalismus lehnte den Parlamentarismus zugunsten revolutionärer Gewerkschaften/Syndikate ab. Nach Sorels Ansicht würde eine sozialistische Regierung die soziale Stellung der Arbeiter in keiner Weise verändern. Um frei zu sein, müssten die Arbeiter ausschließlich auf eigene Aktionen und Waffen zurückgreifen. Der Kapitalismus habe bereits das gesamte Proletariat in seinen Industrien organisiert. Es blieb nur noch, den Staat und das Eigentum zu beseitigen. Um dies zu erreichen, brauchte das Proletariat weniger sogenannte wissenschaftliche Erkenntnisse über notwendige gesellschaftliche Entwicklungen als vielmehr eine Art intuitive Überzeugung, dass Revolution und Sozialismus das unvermeidliche Ergebnis ihrer eigenen fortwährenden Kämpfe waren. Der Streik wurde als revolutionäre Ausbildung der Arbeiter angesehen. Die zunehmende Zahl von Streiks, ihre Ausweitung und ihre zunehmende Dauer deuteten auf einen möglichen Generalstreik hin, also auf die bevorstehende soziale Revolution.
Der Syndikalismus und internationale Ableger wie die Guild Socialists in England und die Industrial Workers of the World in den Vereinigten Staaten waren bis zu einem gewissen Grad Reaktionen auf die zunehmende Bürokratisierung der sozialistischen Bewegung und ihre klassenkollaborationistischen Praktiken. Auch die Gewerkschaften/Syndikate wurden wegen ihrer zentralistischen Strukturen und ihrer Betonung spezifischer Berufsinteressen auf Kosten der Bedürfnisse der proletarischen Klasse angegriffen. Aber alle Organisationen, ob revolutionär oder reformistisch, ob zentralistisch oder föderalistisch, neigten dazu, in ihrem eigenen stetigen Wachstum und ihren alltäglichen Aktivitäten den wichtigsten Faktor für den sozialen Wandel zu sehen. In der Sozialdemokratie waren es die wachsende Mitgliederzahl, der sich ausbreitende Parteiapparat, die steigenden Wahlergebnisse und eine stärkere Beteiligung an bestehenden politischen Institutionen, die als Weg in die sozialistische Gesellschaft angesehen wurden. Bei den Industrial Workers of the World hingegen wurde das Wachstum ihrer eigenen Organisationen zu einer einzigen großen Gewerkschaft/Syndikat gleichzeitig als „Bildung der Struktur der neuen Gesellschaft innerhalb der Hülle der alten“ gesehen.3
In der ersten Revolution des 20. Jahrhunderts waren es aber die unorganisierten Massen der Arbeiter, die den Charakter der Revolution bestimmten und ihre eigene, neue Organisationsform in den spontan entstehenden Arbeiterräten schufen. Die russischen Räte, oder Sowjets, der Revolution von 1905 entstanden aus einer Reihe von Streiks und dem Bedürfnis nach Komitees der Aktion und Vertretung, um sich mit den betroffenen Industrien und den staatlichen Behörden auseinanderzusetzen. Die Streiks waren insofern spontan, als sie nicht von politischen Organisationen oder Gewerkschaften/Syndikate ausgerufen wurden, sondern von unorganisierten Arbeitern, die keine andere Wahl hatten, als ihren Arbeitsplatz als Sprungbrett und Zentrum ihrer organisatorischen Bemühungen zu betrachten. Im Russland jener Zeit hatten politische Organisationen noch keinen wirklichen Einfluss auf die Masse der Arbeiter, und Gewerkschaften/Syndikate existierten nur in embryonaler Form. „Die Sowjets“, schrieb Trotzki, „waren die Verwirklichung eines objektiven Bedürfnisses nach einer Organisation, die Autorität hat, ohne Traditionen zu haben, und die sofort Hunderttausende von Arbeitern umfassen kann. Eine Organisation, die darüber hinaus alle revolutionären Tendenzen innerhalb des Proletariats vereinen kann, die sowohl Initiative als auch Selbstbeherrschung besitzt und, was das Wichtigste ist, innerhalb von 24 Stunden ins Leben gerufen werden kann.“ … [Während) „Parteien Organisationen innerhalb des Proletariats waren, waren die Sowjets die Organisation des Proletariats.“4
Im Wesentlichen war die Revolution von 1905 natürlich eine bourgeoise Revolution, die von der liberalen Mittelklasse unterstützt wurde, um den zaristischen Absolutismus zu brechen und Russland über eine Konstituierende Vollversammlung zu den Bedingungen zu führen, die in den weiter entwickelten kapitalistischen Nationen herrschten. Soweit die streikenden Arbeiter politisch dachten, teilten sie weitgehend das Programm der liberalen Bourgeoisie. Das galt auch für alle bestehenden sozialistischen Organisationen, die die Notwendigkeit einer bourgeoise Revolution als Voraussetzung für die Bildung einer starken Arbeiterbewegung und einer zukünftigen proletarischen Revolution unter fortgeschritteneren Bedingungen akzeptierten.
Das Sowjetsystem der Russischen Revolution von 1905 verschwand mit der Niederschlagung der Revolution, um in der Februarrevolution von 1917 mit noch größerer Kraft zurückzukehren. Es waren diese Sowjets, die die Bildung ähnlicher spontaner Organisationen in der deutschen Revolution von 1918 und, in etwas geringerem Maße, die sozialen Umwälzungen in England, Frankreich, Italien und Ungarn inspirierten. Mit dem Rätesystem entstand eine Organisationsform, die die Selbstaktivitäten sehr breiter Massen entweder für begrenzte Ziele oder für revolutionäre Ziele führen und koordinieren konnte, und zwar unabhängig von, in Opposition zu oder in Zusammenarbeit mit bestehenden Arbeiterorganisationen. Vor allem aber zeigte der Aufstieg des Rätsystems, dass spontane Aktionen nicht in formlosen Massenaktionen verpuffen müssen, sondern zu Organisationsstrukturen von mehr als nur vorübergehender Natur führen können.
Die Russische Revolution von 1905 stärkte die linken Oppositionen in den sozialistischen Parteien des Westens, allerdings noch mehr in Bezug auf die Spontaneität ihrer Massenstreiks als auf die Organisationsform, die diese Aktionen annahmen. Der reformistische Bann war gebrochen; die Revolution wurde wieder als reale Möglichkeit gesehen. Im Westen würde es aber keine bourgeoise Revolution, sondern eine reine Revolution der Arbeiterklasse geben. Trotzdem wurde die positive Einstellung zur russischen Erfahrung noch nicht in eine Ablehnung der parlamentarischen Methoden der reformistischen Parteien der Zweiten Internationale umgewandelt.
II
Die Aussicht auf eine Wiederbelebung revolutionärer Politik im Westen erwies sich zunächst als illusorisch. Nicht nur die „Revisionisten“ innerhalb der sozialistischen Bewegung, für die, wie ihr führender Sprecher Eduard Bernstein sagte, „das Ziel ist nichts, die Bewegung ist alles“ war, sondern auch die sogenannten orthodoxen Marxisten glaubten nicht mehr an die Wünschbarkeit oder Notwendigkeit einer sozialen Revolution. Sie hielten zwar noch am alten Ziel – der Abschaffung des Lohnsystems – fest, doch sollte dieses nun schrittweise mit den legalen Mitteln der demokratischen Institutionen der bourgeoise Gesellschaft erreicht werden. Mit der Mehrheit der Wähler für eine sozialistische Regierung könne der Sozialismus schließlich per Regierungsbeschluss eingeführt werden. In der Zwischenzeit würden Gewerkschaften/Syndikate und Sozialgesetze das Los der Arbeiter verbessern und ihnen ermöglichen, am allgemeinen sozialen Fortschritt teilzuhaben.
Die Miseren des Laissez-faire Kapitalismus brachten nicht nur eine sozialistische Bewegung hervor, sondern auch verschiedene Versuche der Arbeiter, ihre Lebensbedingungen mit nicht-politischen Mitteln zu verbessern. Neben den Gewerkschaften/Syndikaten entstand eine Genossenschaftsbewegung als Mittel zur Flucht aus der Lohnarbeit und als vergeblicher Widerstand gegen das herrschende Prinzip des allgemeinen Wettbewerbs. Vorläufer dieser Bewegung waren die frühen kommunistischen Gemeinschaften in Frankreich, England und Amerika, die ihre Ideen von utopischen Sozialisten wie Owen und Fourier ableiteten.
Produzentengenossenschaften waren freiwillige Zusammenschlüsse zur Selbstbeschäftigung und Selbstverwaltung ihrer eigenen Tätigkeiten. Einige dieser Genossenschaften entwickelten sich unabhängig, andere in Verbindung mit den Arbeiterbewegungen. Durch die Bündelung ihrer Ressourcen konnten die Arbeiter eigene Werkstätten einrichten und ohne die Einmischung von Kapitalisten produzieren. Ihre Möglichkeiten waren jedoch von Anfang an durch die allgemeinen Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft und ihre Entwicklungstendenzen begrenzt, die ihnen nur eine marginale Existenz ermöglichten. Die kapitalistische Entwicklung bringt die wettbewerbsorientierte Konzentration und Zentralisierung des Kapitals mit sich. Das größere Kapital vernichtet das kleinere. Die Genossenschaftswerkstätten waren auf spezielle Kleinbetriebe beschränkt, die nur wenig Kapital benötigten. Bald zerstörte die kapitalistische Ausbreitung auf alle Industriezweige ihre Wettbewerbsfähigkeit und verdrängte sie vom Markt.
Verbrauchergenossenschaften waren erfolgreicher und einige von ihnen übernahmen die Produktionsgenossenschaften als Lieferanten. Aber Konsumgenossenschaften können kaum als Versuche der Arbeiterkontrolle angesehen werden, selbst wenn sie aus den Bestrebungen der Arbeiterklasse entstanden sind. Bestenfalls können sie ein gewisses Maß an Kontrolle über die Verteilung der Löhne sichern, denn Arbeiter können doppelt ausgebeutet werden – an der Produktionsstätte und auf dem Markt. Die Kosten des Warenverkehrs sind unvermeidbare Nebenkosten der Kapitalproduktion, die die Kapitalisten in Händler und Unternehmer spalten. Da jeder in seinem eigenen Tätigkeitsbereich nach Gewinnmaximierung strebt, sind ihre ökonomischen Interessen nicht identisch. Unternehmer haben daher keinen Grund, Verbrauchergenossenschaften abzulehnen. Derzeit sind sie selbst damit beschäftigt, die Trennung von Produktions- und Handelskapital aufzuheben, indem sie beide Funktionen in einem einzigen Produktions- und Vertriebsunternehmen zusammenfassen.
Die Genossenschaftsbewegung wurde problemlos in das kapitalistische System integriert und war sogar ein wichtiger Teil der kapitalistischen Entwicklung. Selbst in der bourgeois ökonomischen Theorie wurde sie als Instrument des sozialen Konservatismus angesehen, weil sie die Sparneigung der unteren Schichten der Gesellschaft förderte, durch Kreditgenossenschaften die ökonomische Aktivitäten steigerte, durch genossenschaftliche Produktions- und Vermarktungsorganisationen die Landwirtschaft verbesserte und die Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse von der Produktion auf den Konsum lenkte. Als kapitalistisch orientierte Institution blühte die Genossenschaftsbewegung auf und wurde schließlich zu einer Form des kapitalistischen Unternehmens unter vielen, das auf die Ausbeutung seiner Arbeiter ausgerichtet war und diesen in Streiks für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen als Gegner gegenüberstand. Die allgemeine Unterstützung der Verbrauchergenossenschaften durch die offizielle Arbeiterbewegung – im krassen Gegensatz zu einer früheren Skepsis und sogar völligen Ablehnung – war lediglich ein weiteres Zeichen für die zunehmende „Kapitalisierung” der reformistischen Arbeiterbewegung. Das weit verbreitete Netzwerk von Verbrauchergenossenschaften in Russland bot den Bolschewiki jedoch ein fertiges Verteilungssystem, das bald in eine staatliche Einrichtung umgewandelt wurde.
Die Aufteilung/Spaltung des „Kollektivismus“ in Produzenten- und Verbrauchergenossenschaften war eine Reflexion in gewisser Weise der Opposition der syndikalistischen Bewegung zur sozialistischen Bewegung. Die Verbrauchergenossenschaften umfassten Mitglieder aller Klassen und strebten Zugang zu allen Märkten. Sie waren nicht gegen eine Zentralisierung auf nationaler oder sogar internationaler Ebene. Der Markt der Produzentengenossenschaften war jedoch ebenso begrenzt wie ihre Produktion, und sie konnten sich nicht zu größeren Einheiten zusammenschließen, ohne die Selbstkontrolle zu verlieren, die ihre Daseinsberechtigung ausmachte.
Es war das Problem der Kontrolle der Arbeiter über ihre Produktion und ihre Produkte, das die Syndikalisten von der sozialistischen Bewegung unterschied. Soweit dieses Problem für Letztere noch bestand, lösten sie es für sich mit dem Konzept der Verstaatlichung, das den sozialistischen Staat zum Hüter der Produktionsmittel der Gesellschaft und zum Regulator ihres ökonomischen Lebens sowohl in Bezug auf die Produktion als auch auf die Verteilung machte. Erst in einer späteren Entwicklungsphase würde diese Regelung Raum für eine freie Assoziation sozialisierter Produzenten und das Absterben des Staates schaffen. Die Syndikalisten befürchteten jedoch, dass der Staat mit seinen zentralisierten Kontrollen sich nur selbst verewigen und die Selbstbestimmung der arbeitenden Bevölkerung verhindern würde.
Die Syndikalisten stellten sich eine Gesellschaft vor, in der jede Branche von ihren eigenen Arbeitern verwaltet wird. Alle Gewerkschaften/Syndikate würden zusammen nationale Verbände bilden, die keine Regierungsmerkmale hätten, sondern lediglich etatistische und administrative Funktionen zur Verwirklichung eines wirklich kollektivistischen Produktions- und Verteilungssystems erfüllen würden. Der Syndikalismus war vor allem in Frankreich, Italien und Spanien verbreitet, aber in allen kapitalistischen Ländern vertreten, in einigen mit Abwandlungen, wie bei der bereits erwähnten I. W. W. und den Guild Socialists. Nicht nur in Bezug auf das Endziel, sondern auch im alltäglichen Klassenkampf unterschieden sich die Syndikalisten von den parlamentarischen Sozialisten und den gewöhnlichen Gewerkschaften/Syndikaten durch ihre Betonung direkter Aktionen und durch eine größere Militanz.
Obwohl die Sorge um die endgültigen Ziele verfrüht war, beeinflusste sie dennoch das tatsächliche Verhalten ihrer Verfechter. Die schnelle Bürokratisierung der zentralisierten sozialistischen Bewegung und der Gewerkschaft/Syndikate nahm den Arbeitern zunehmend ihre Eigeninitiative und unterwarf sie der Kontrolle einer Führung, die ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen nicht teilte. Die Gewerkschaften/Syndikate verloren ihre frühe Verbindung zur sozialistischen Bewegung und verkamen zu Berufsverbänden, die sich nur noch für Lohnverhandlungen und, wo möglich, für die Bildung von Arbeitsplatzmonopolen interessierten. Die syndikalistische Bewegung war weit weniger bürokratisiert, nicht nur, weil sie die kleinere der beiden Hauptströmungen der Arbeiterbewegung war, sondern auch, weil das Prinzip der industriellen Selbstkontrolle auch den alltäglichen Klassenkampf beeinflusste.
Von Arbeiterkontrolle im Rahmen der kapitalistischen Produktion zu sprechen, kann nur die Kontrolle über die eigenen Organisationen bedeuten, denn der Kapitalismus setzt voraus, dass den Arbeitern jede wirksame soziale Kontrolle vorenthalten wird. Mit der „Kapitalisierung” ihrer Organisationen, wenn sie zum „Eigentum” einer Bürokratie und zum Instrument ihrer Existenz und Reproduktion werden, verschwindet jedoch die einzig mögliche Form der direkten Arbeiterkontrolle. Zwar kämpfen die Arbeiter auch dann noch für höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und bessere Arbeitsbedingungen, aber diese Kämpfe ändern nichts an ihrer Machtlosigkeit innerhalb ihrer eigenen Organisationen. Diese Aktivitäten als eine Form der Arbeiterkontrolle zu bezeichnen, ist in jedem Fall irreführend, denn bei diesen Kämpfen geht es nicht um die Selbstbestimmung der Arbeiterklasse, sondern um die Verbesserung der Bedingungen innerhalb der Grenzen des Kapitalismus. Das ist natürlich möglich, solange die Produktivität der Arbeit schneller gesteigert werden kann als der Lebensstandard der Arbeiter.
Die grundlegende Kontrolle über die Arbeitsbedingungen und die Mehr(wert)-Erträge (surplus-yields) der Produktion bleibt immer in den Händen der Kapitalisten. Wenn es den Arbeitern gelingt, ihren Arbeitstag zu verkürzen, werden sie es nicht schaffen, die von den Kapitalisten ausgebeutete Mehrwert-Arbeit zu reduzieren. Denn es gibt zwei Möglichkeiten, Mehr(wert)-Arbeit (surplus-labour) zu erzwingen: die Verlängerung des Arbeitstages und die Verkürzung der Arbeitszeit, die zur Erzeugung des Lohnäquivalents erforderlich ist, durch technische und organisatorische Innovationen. Da das Kapital eine bestimmte Profitrate erzielen muss, werden die Kapitalisten die Produktion einstellen, wenn diese Rate gefährdet ist. Der Zwang zur Kapitalakkumulation kontrolliert den Kapitalisten und zwingt ihn, seine Arbeiter zu kontrollieren, um die für den Akkumulationsprozess notwendige Mehr(wert)-Arbeit zu erhalten. Er strebt nach Gewinnmaximierung und kann aus Gründen, die er nicht beeinflussen kann, nur das Minimum erreichen. Einer dieser Gründe kann der Widerstand der Arbeiter gegen die mit der Gewinnmaximierung verbundenen Ausbeutungsbedingungen sein. Aber das ist das Maximum, das die Arbeiter innerhalb des kapitalistischen Systems erreichen können.
III
Der Verlust der Kontrolle der Arbeiter über ihre eigenen Organisationen war natürlich eine Folge ihrer Zustimmung zum kapitalistischen System. Sowohl organisierte als auch nicht organisierte Arbeiter passten sich der Ökonomie an, weil sie ihre Bedingungen verbessern konnte und im Laufe ihrer eigenen Entwicklung weitere Verbesserungen versprach. In einer solchen nicht-revolutionären Situation waren reformistische sozialistische Parteien und zentral gesteuerte Berufsverbände die wirksamen Organisationsformen. Auch die aufgeklärte Bourgeoisie sah in letzteren Instrumente des Industriefriedens durch Tarifverträge. Die Kapitalisten standen nicht mehr den Arbeitern gegenüber, sondern deren Vertretern, deren Existenz auf dem Kapital-Arbeitsmarkt, also auf dem Fortbestand des Kapitalismus beruhte. Die Zufriedenheit der Arbeiter mit ihren Organisationen spiegelte ihren eigenen Verlust an Interesse an gesellschaftlicher Veränderung wider. Die sozialistische Ideologie wurde nicht mehr von den tatsächlichen Bestrebungen der Arbeiterklasse getragen. Diese Situation kam bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs durch den Chauvinismus, der die Arbeiter aller kapitalistischen Nationen erfasste, dramatisch zum Vorschein.
Der linke Radikalismus basierte auf dem, was seine reformistischen Gegner als „Katastrophenpolitik” bezeichneten. Die Revolutionäre erwarteten nicht nur eine Verschlechterung des Lebensstandards der arbeitenden Bevölkerung, sondern auch ökonomische Krisen, die so verheerend waren, dass sie soziale Umwälzungen hervorrufen würden, die letztendlich zur Revolution führen würden. Sie konnten sich eine Revolution ohne ihre objektive Notwendigkeit nicht vorstellen. Und tatsächlich kam es nur in Zeiten sozialer und ökonomischer Katastrophen zu sozialen Revolutionen. Die durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten Revolutionen waren das Ergebnis katastrophaler Zustände in den schwächeren imperialistischen Mächten und warfen zum ersten Mal die Frage nach der Kontrolle der Arbeiter und der Verwirklichung des Sozialismus als reale Möglichkeit auf.
Die Russische Revolution von 1917 war das Ergebnis spontaner Bewegungen, die gegen die immer unerträglicher werdenden Bedingungen im Verlauf des erfolglosen Krieges protestierten. Streiks und Demonstrationen eskalierten zu einem allgemeinen Aufstand, der von einigen Militäreinheiten unterstützt wurde und zum Sturz der zaristischen Regierung führte. Die Revolution wurde von einer breiten Schicht der Bourgeoisie unterstützt, aus der auch die erste provisorische Regierung gebildet wurde. Obwohl die sozialistischen Parteien und Gewerkschaften/Syndikate die Revolution nicht initiiert hatten, spielten sie eine größere Rolle als 1905. Wie in jenem Jahr hatten auch 1917 die Sowjets zunächst nicht die Absicht, die provisorische Regierung zu ersetzen. Im Verlauf des revolutionären Prozesses übernahmen sie jedoch immer mehr Verantwortung, sodass die Macht praktisch von den Sowjets und der Regierung geteilt wurde. Die weitere Radikalisierung der Bewegung unter sich verschlechternden Bedingungen und die schwankende Politik der bourgeois und sozialistischen Parteien verschafften den Bolschewiki bald die Mehrheit in den entscheidenden Sowjets und führten zum Staatsstreich vom Oktober, der die bourgeois-demokratische Phase der Revolution beendete.
Die wachsende Stärke der Bolschewiki innerhalb der revolutionären Bewegung war auf ihre bedingungslose Anpassung an die wirklichen Ziele der aufständischen Massen zurückzuführen, nämlich das Ende des Krieges und die Enteignung und Verteilung der Landgüter durch die Bauern. Bereits bei seiner Ankunft in Russland im April 1917 machte Lenin klar, dass für ihn die Existenz der Sowjets das Streben nach einer bourgeois-demokratischen Ordnung ablöste. Sie sollte durch eine Republik der Arbeiterräte ersetzt werden. Als Lenin jedoch die Vorbereitung des Staatsstreichs forderte, sprach er von der Ausübung der Staatsmacht nicht durch die Sowjets, sondern durch die Bolschewiki. Da die Mehrheit der Sowjetdelegierten Bolschewiki waren oder sie unterstützten, hielt er es für selbstverständlich, dass die von den Sowjets gebildete Regierung eine bolschewistische Regierung sein würde. Und das war natürlich auch der Fall, obwohl einige linke Sozialrevolutionäre und Sozialisten Posten in der neuen Regierung bekamen. Aber um die Vorherrschaft der Bolschewiki in der Regierung aufrechtzuerhalten, mussten die Arbeiter sowie die Bauern weiterhin Bolschewiki als ihre Vertreter in die Sowjets wählen. Dafür gab es keine Garantie. So wie die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die einst die Mehrheit stellten, sich plötzlich in der Minderheit wiederfanden, konnte sich auch für die Bolschewiki die Lage wieder ändern. Die Macht auf Dauer zu behalten, bedeutete für die bolschewistische Partei, sich das Monopol der Regierung zu sichern.
Doch so wie Lenin die Sowjetmacht mit der Macht der bolschewistischen Partei gleichsetzte, sah er in deren Regierungsmonopol nur die Verwirklichung der Herrschaft der Sowjets. Schließlich gab es nur die Wahl zwischen einem parlamentarischen bourgeoisen Staat und dem Kapitalismus und einer Arbeiter- und Bauernregierung, die die Rückkehr der bourgeoisen Herrschaft verhindern würde. Da sie sich als Avantgarde des Proletariats und dieses als Avantgarde der „Volksrevolution“ betrachteten, wollten die Bolschewiki für die Arbeiter und Bauern das tun, was diese möglicherweise nicht für sich selbst tun konnten. Unbewacht waren die Sowjets durchaus in der Lage, ihre Machtpositionen für die Versprechungen der liberalen Bourgeoisie und ihrer sozialreformistischen Verbündeten aufzugeben. Um den „sozialistischen“ Charakter der Revolution zu sichern, mussten die Sowjets bolschewistische Sowjets bleiben, auch wenn dies die Unterdrückung aller antibolschewistischen Kräfte innerhalb und außerhalb des Sowjetsystems erforderte. In kurzer Zeit wurde das Sowjetregime zur Diktatur der bolschewistischen Partei. Die entmachteten Sowjets wurden nur noch formal beibehalten, um diese Tatsache zu verschleiern.
Obwohl die Bolschewiki mit dem Slogan „Alle Macht den Sowjets“ gewonnen hatten, reduzierte die bolschewistische Regierung dessen Inhalt auf „Kontrolle der Arbeiter“. Da sie ihr Sozialisierungsprogramm zunächst eher vorsichtig umsetzten, sollten die Arbeiter die noch in den Händen der Kapitalisten befindlichen Industriebetriebe nicht verwalten, sondern lediglich überwachen. Der erste Erlass zur Arbeiterkontrolle dehnte diese Kontrolle „auf die Produktion, die Lagerung, den Kauf und Verkauf von Rohstoffen und Fertigprodukten sowie auf die Finanzen der Unternehmen“ aus. Die Arbeiter üben diese Kontrolle durch ihre gewählten Organisationen aus, wie Fabrik- und Betriebskomitees, Sowjetälteste usw. Auch die Angestellten und das technische Personal sollen in diesen Komitees vertreten sein … Die Organe der Arbeiterkontrolle haben das Recht, die Produktion zu überwachen. … Geschäftsgeheimnisse werden abgeschafft. Die Eigentümer müssen den Organen der Arbeiterkontrolle alle ihre Bücher und Abrechnungen für das laufende Jahr und für die vergangenen Jahre vorlegen.”5
Kapitalistische Produktion und Arbeiterkontrolle passen aber nicht zusammen, und diese provisorische Lösung, mit der die Bolschewiki hofften, sich die Hilfe der kapitalistischen Produktionsorganisatoren zu sichern und gleichzeitig die Sehnsucht der Arbeiter nach der Übernahme der Industrie, wie es die Bauern mit dem Land gemacht hatten, ein bisschen zu stillen, konnte nicht lange gut gehen. „Wir haben nicht auf einen Schlag den Sozialismus in der gesamten Industrie verordnet“, erklärte Lenin ein Jahr nach dem Dekret über die Arbeiterkontrolle, „denn der Sozialismus kann nur dann Gestalt annehmen und sich endgültig durchsetzen, wenn die Arbeiterklasse gelernt hat, die Ökonomie zu führen … Deshalb haben wir die Arbeiterkontrolle eingeführt, obwohl wir wussten, dass es sich dabei um eine widersprüchliche und unvollständige Maßnahme handelte. Aber wir halten es für äußerst wichtig und wertvoll, dass die Arbeiter selbst die Aufgabe in Angriff genommen haben, dass wir von der Arbeiterkontrolle, die in den wichtigsten Industriezweigen zwangsläufig chaotisch, amateurhaft und unvollständig sein musste, zur Arbeiterverwaltung der Industrie auf nationaler Ebene übergegangen sind.“6
Aber der Wechsel von „Kontrolle“ zu „Verwaltung“ führte letztendlich zur Abschaffung beider. So wie die Entmachtung der Sowjets Zeit brauchte, weil erst der bolschewistische Staatsapparat aufgebaut und gefestigt werden musste, wurde auch der Einfluss der Arbeiter in Fabriken und Werkstätten nur nach und nach abgeschafft, indem zum Beispiel die Kontrollrechte von den Sowjets auf die Gewerkschaften/Syndikate übertragen und diese dann zu staatlichen Kontrollorganen der Arbeiter umgewandelt wurden. Der ökonomische Zusammenbruch, der Bürgerkrieg, der Widerstand der Bauern gegen jede Vergesellschaftung der Landwirtschaft, industrielle Unruhen und die teilweise Rückkehr zur Marktwirtschaft führten zu verschiedenen widersprüchlichen Maßnahmen, von der „Militarisierung“ der Arbeit bis zu ihrer Unterordnung unter die wiederbelebten freien Unternehmen, um die bolschewistische Regierung um jeden Preis zu sichern. Die diktatorische Politik der Regierung richtete sich nicht nur gegen ihre kapitalistischen und politischen Feinde, sondern auch gegen die Arbeiter. Das grundlegende Bedürfnis war eine Steigerung der Produktion, und da bloße Appelle die Arbeiter nicht dazu bewegen konnten, sich in gleichem oder noch größerem Maße auszubeuten, als sie es unter dem alten Regime getan hatten, übernahm der bolschewistische Staat die Funktionen einer neuen herrschenden Klasse, um die Industrie wieder aufzubauen und Kapital anzuhäufen.
Lenin sah die Russische Revolution als einen ununterbrochenen Prozess, der von der bourgeois zur sozialistischen Revolution führte. Er befürchtete, dass die Bourgeoisie lieber einen Kompromiss mit dem Zarismus eingehen würde, als eine gründliche demokratische Revolution zu riskieren. Es war daher Aufgabe der Arbeiter sowie der armen Bauern, die bevorstehende Revolution anzuführen – eine Ansicht, die auch andere Beobachter der russischen Szene wie Trotzki und Rosa Luxemburg teilten. Vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs betrachtete Lenin die russische Revolution aus einer internationalen Perspektive und sah die Möglichkeit einer Ausweitung nach Westen, die die Chance bieten könnte, die russische bourgeoise Herrschaft gleich zu Beginn zu zerstören. Es war daher unerlässlich, an der Macht festzuhalten, ungeachtet der Kompromisse und Prinzipienverstöße, die dies mit sich bringen würde, bis eine westliche Revolution die russische Revolution ergänzen und eine Form der internationalen Zusammenarbeit ermöglichen würde, in der die objektive Unreife Russlands für den Sozialismus eine weniger gewichtige Rolle spielen würde. Die Isolation der russischen Revolution machte diese Perspektive zunichte. Unter den tatsächlich eingetretenen Bedingungen an der Macht zu bleiben, bedeutete, die historische Rolle der Bourgeoisie zu akzeptieren, allerdings mit anderen sozialen Institutionen und einer anderen Ideologie.
Natürlich war es schon nötig, an der Macht zu bleiben, um die Bolschewiki selbst zu retten, denn ihr Sturz hätte ihren Tod bedeutet. Aber abgesehen davon war Lenin überzeugt, dass die Kapitalisierung Russlands unter staatlicher Führung „fortschrittlicher” und daher besser war, als die Entwicklung der liberalen Bourgoisie zu überlassen. Er war auch überzeugt, dass seine Partei das schaffen konnte. Russland, sagte er einmal, „war daran gewöhnt, von 150.000 Großgrundbesitzern regiert zu werden. Warum sollten 240.000 Bolschewiki nicht dieselbe Aufgabe übernehmen können?“ Und das taten sie auch, indem sie einen hierarchisch-autoritären Staat aufbauten und diesen auf den ökonomischen Bereich ausweiteten, wobei sie stets darauf bestanden, dass die ökonomische Kontrolle durch den Staat ökonomische Kontrolle durch das Proletariat bedeute. Dennoch, so erklärte Lenin, erfordere die Grundlage des Sozialismus „eine absolute und strenge Einheit des Willens, die die gemeinsamen Anstrengungen von Hunderten, Tausenden und Zehntausenden von Menschen lenkt … Wie kann eine strenge Einheit des Willens gewährleistet werden? Indem Tausende ihren Willen dem Willen eines Einzelnen unterordnen. Bei idealem Klassenbewusstsein und idealer Disziplin der an der gemeinsamen Arbeit Beteiligten würde diese Unterordnung ganz ähnlich aussehen wie die sanfte Führung eines Orchesterdirigenten. Fehlen ideale Disziplin und Klassenbewusstsein, kann sie die scharfe Form einer Diktatur annehmen. Wie dem auch sei, die bedingungslose Unterordnung unter einen einzigen Willen ist für den Erfolg von Prozessen, die nach dem Muster der großindustriellen Maschinenindustrie organisiert sind, absolut notwendig.“7 Nimmt man diese Aussage ernst, muss es in Russland an Klassenbewusstsein völlig gemangelt haben, denn die Kontrolle über die Produktion und das gesellschaftliche Leben im Allgemeinen nahm diktatorische Formen an, die alles bisher in kapitalistischen Nationen Erlebte übertrafen und bis heute jegliche Kontrolle durch die Arbeiter ausschließen.
All das ändert aber nichts daran, dass es die Sowjets waren, die sowohl den Zarismus als auch die Bourgeoisie gestürzt haben. Es ist nicht unvorstellbar, dass die Sowjets unter anderen inneren und internationalen Bedingungen ihre Macht behalten und den Aufstieg des autoritären Staatskapitalismus verhindern hätten können. Nicht nur in Russland, auch in Deutschland entsprach der tatsächliche Inhalt der Revolution nicht ihrer revolutionären Form. Während in Russland jedoch vor allem die allgemeine objektive Unreife für eine sozialistische Umgestaltung ausschlaggebend war, war es in Deutschland die subjektive Unwilligkeit, den Sozialismus mit revolutionären Mitteln zu verwirklichen, die maßgeblich zum Scheitern der Räterepublik beitrug.
In Deutschland zeigte sich die Kriegsablehnung in Streiks, die wegen des Patriotismus der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften/Syndikate heimlich an den Arbeitsplätzen durch Komitees der Aktion organisiert werden mussten, die verschiedene Betriebe koordinierten. 1918 entstanden überall in Deutschland Arbeiterräte und Soldatenräte, die die Regierung stürzten. Die klassenkollaborierenden Arbeiterorganisationen mussten diese Bewegung anerkennen und sich ihr anschließen, schon allein, um die revolutionären Bestrebungen zu dämpfen. Das war nicht schwer, weil die Arbeiterräte nicht nur aus Kommunisten bestanden, sondern auch aus Sozialisten, Gewerkschaftern/Syndikalisten, Unpolitischen und sogar Anhängern bourgeoiser Parteien. Die Parole „Alle Macht den Arbeiterräten“ war daher für die Revolutionäre selbstzerstörerisch, es sei denn, der Charakter und die Zusammensetzung der Räte hätten sich geändert.
Die große Masse der Arbeiter verwechselte jedoch die politische mit einer sozialen Revolution. Die Ideologie und die organisatorische Stärke der Sozialdemokratie hatten ihre Spuren hinterlassen; die Vergesellschaftung der Produktion wurde als Aufgabe der Regierung und nicht als Aufgabe der Arbeiterklasse selbst angesehen. Die Arbeiter waren zwar rebellisch, aber im Wesentlichen nur im sozialdemokratisch-reformistischen Sinne. „Alle Macht den Arbeiteräten“ bedeutete die Diktatur des Proletariats, da sie die nicht arbeitenden Schichten der Gesellschaft ohne politische Vertretung gelassen hätte. Demokratie wurde jedoch als allgemeines Wahlrecht verstanden. Die Masse derArbeiter wollte sowohl Arbeiterräte als auch die Nationalversammlung. Sie bekam beides: die Räte in einer bedeutungslosen Form als Teil der Weimarer Verfassung – aber damit auch die Konterrevolution und schließlich die Nazi-Diktatur.
Nicht anders war es in anderen Ländern – zum Beispiel in Italien, Ungarn und Spanien –, wo die Arbeiter ihren revolutionären Neigungen durch die Bildung von Arbeiterräten Ausdruck verliehen. Damit wurde klar, dass die Selbstorganisation der Arbeiter keine Garantie gegen eine Politik und Aktionen ist, die den Interessen der proletarischen Klasse zuwiderlaufen. In diesem Fall werden sie jedoch durch traditionelle oder neue Formen der Kontrolle des Verhaltens der Arbeiterklasse durch die alten oder neu etablierten Autoritäten ersetzt werden. Wenn nicht spontane Bewegungen, die in organisatorische Formen der proletarischen Selbstbestimmung münden, die Kontrolle über die Gesellschaft und damit über ihr eigenes Leben an sich reißen, sind sie dazu verdammt, wieder in der Anonymität bloßer Potenzialität zu verschwinden.
IV
Alles, was gesagt wurde, bezieht sich auf die Vergangenheit und scheint für die Gegenwart oder die nahe Zukunft keine Bedeutung zu haben. Was die westliche Welt betrifft, so hat sich nicht einmal die schwache weltrevolutionäre Welle, die durch den Ersten Weltkrieg und die Russische Revolution ausgelöst wurde, im Laufe des Zweiten Weltkriegs wiederholt. Stattdessen hat die westliche Bourgeoisie nach anfänglichen Schwierigkeiten die volle Kontrolle über ihre Gesellschaft übernommen. Sie rühmt sich einer Ökonomie mit hoher Beschäftigung, ökonomischem Wachstum und sozialer Stabilität, die sowohl den Zwang als auch die Neigung zu sozialen Veränderungen ausschließt. Zugegeben, dies ist ein Gesamtbild, das noch durch einige ungelöste Probleme getrübt wird, wie die Verbreitung verarmter sozialer Gruppen in allen kapitalistischen Nationen zeigt. Es ist jedoch zu erwarten, dass diese Mängel mit der Zeit beseitigt werden.
Es ist daher nicht überraschend, dass die scheinbare Stabilisierung und weitere Expansion des westlichen Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur zum Niedergang eines echten Arbeiterradikalismus führte, sondern auch zur Umwandlung der reformistischen sozialdemokratischen Ideologie und Praxis in die Ideologie und Praxis des Wohlfahrtsstaates der gemischten Ökonomie. Dieses Ereignis wird entweder als Integration von Arbeit und Kapital und als Entstehung eines neuen, krisenfreien sozioökonomischen Systems gefeiert oder beklagt, das die positiven Seiten von Kapitalismus und Sozialismus in sich vereint und deren negative Aspekte ablegt. Dies wird oft als postkapitalistisches System bezeichnet, in dem der Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit seine frühere Bedeutung verloren hat. Innerhalb des Systems gibt es zwar noch Raum für alle möglichen Veränderungen, aber es wird nicht mehr davon ausgegangen, dass es für eine soziale Revolution anfällig ist. Die Geschichte als Geschichte der Klassenkämpfe scheint zu Ende zu sein.
Was echt überraschend ist, sind die vielen Versuche, die immer noch gemacht werden, um den Sozialismus in diese neue Situation einzubauen. Man hofft, dass der Sozialismus im traditionellen Sinne trotz der Bedingungen, die ihn eigentlich überflüssig machen, doch noch möglich ist. Die Ablehnung des Kapitalismus, die ihre Basis in den ausbeuterischen Produktionsverhältnissen verloren hat, findet eine neue Basis im moralischen und philosophischen Bereich, wo es um die Würde des Menschen und den Charakter seiner Arbeit geht. Armut, so heißt es8, sei nie ein Element der Revolution gewesen und könne es auch nicht sein. Und selbst wenn sie es gewesen wäre, wäre dies heute nicht mehr der Fall, da Armut zu einem Randproblem geworden sei, da der Kapitalismus nun im Großen und Ganzen in der Lage sei, die Konsumbedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung zu befriedigen. Zwar sei es vielleicht noch notwendig, für unmittelbare Forderungen zu kämpfen, doch würden solche Kämpfe nicht mehr die gesamte Ordnung radikal in Frage stellen. Im Kampf für den Sozialismus muss mehr Wert auf die qualitativen als auf die quantitativen Bedürfnisse der Arbeiter gelegt werden. Was wir brauchen, ist die schrittweise Eroberung der Macht durch die Arbeiter durch „nicht-reformistische Reformen“.
Die Kontrolle der Produktion durch die Arbeiter wird als eine solche „nicht-reformistische Reform“ angesehen, gerade weil sie im Kapitalismus nicht möglich ist. Wenn das aber so ist, dann ist der Kampf für die Kontrolle (der Produktion) Arbeiter gleichbedeutend mit dem Sturz des kapitalistischen Systems, und es bleibt die Frage, wie man das erreichen kann, wenn es keinen dringenden Grund dafür gibt. Außerdem stellt sich die Frage, welche organisatorischen Mittel zu diesem Zweck eingesetzt werden sollen. Die Integration bestehender Arbeiterorganisationen in die kapitalistische Struktur war möglich, weil der Kapitalismus der Mehrheit der Arbeiterklasse bessere Lebensbedingungen bieten konnte, und wenn sich dieser Trend fortsetzt, gibt es keinen Grund anzunehmen, dass der Klassenkampf nicht aufhören wird, eine bestimmende Kraft der gesellschaftlichen Entwicklung zu sein. In diesem Fall – da der Mensch ein Produkt seiner Umstände ist – wird die Arbeiterklasse kein revolutionäres Bewusstsein entwickeln und kein Interesse daran haben, ihren gegenwärtigen relativen Wohlstand für die Ungewissheiten einer proletarischen Revolution zu riskieren. Nicht umsonst basierte Marx‘ Revolutionstheorie auf der zunehmenden Verelendung der Arbeiterklasse, auch wenn diese Verelendung nicht allein an den schwankenden Löhnen auf dem Arbeitsmarkt gemessen werden konnte.
Die Kontrolle der Produktion durch die Arbeiter setzt eine soziale Revolution voraus. Sie kann nicht schrittweise durch Aktionen der Arbeiterklasse innerhalb des kapitalistischen Systems erreicht werden. Wo sie als Reformmaßnahme eingeführt wurde, erwies sie sich als zusätzliches Mittel zur Kontrolle der Arbeiter über ihre eigenen Organisationen. Die gesetzlichen Betriebsräte nach der deutschen Revolution waren beispielsweise bloße Anhängsel der Gewerkschaften/Syndikate und agierten innerhalb ihrer begrenzten Aktivitäten. Obwohl versucht wurde, die Gewerkschaften/Syndikate durch Räte zu ersetzen, konnten diese mit Hilfe der Arbeitgeber und des Staates ihre Kontrolle über die Betriebskomitees behaupten. Diese Beziehung änderte sich auch nicht mit der Wiedergeburt des Betriebsratssystems nach dem Zweiten Weltkrieg, das durch ein sogenanntes Mitbestimmungsgesetz eingeführt wurde, das den Arbeitern ein Mitspracherecht bei Entscheidungen über Produktion und Investitionen geben sollte. Der Geist dieser gesamten Arbeitsgesetzgebung lässt sich jedoch aus Artikel 49 der deutschen Betriebsverfassungsgesetz von 1952 ableiten: „Im Rahmen der geltenden Tarifverträge arbeiten Arbeitgeber und Betriebsrat in gutem Glauben zusammen, wobei sie mit den im Betrieb vertretenen Gewerkschaft und Arbeitgeberverbänden zum Wohle des Betriebs und seiner Beschäftigten und unter Berücksichtigung des Gemeinwohls zusammenarbeiten. Arbeitgeber und Betriebsrat dürfen nichts tun, was die Arbeit und den Frieden im Betrieb gefährden könnte. Insbesondere dürfen Arbeitgeber und Betriebsrat keine Arbeitskampfmaßnahmen gegeneinander durchführen. Die Arbeitskampfmaßnahmen der Tarifparteien bleiben davon unberührt.”9
Die Mitbestimmung hat die alleinige Verfügungsgewalt des Arbeitgebers über sein Eigentum, d. h. sein Unternehmen und seine Produktion, nicht beeinträchtigt und beeinträchtigt sie auch heute nicht. Sie sollte lediglich das Recht der Vertreter der Arbeiter beinhalten, der Unternehmensleitung Vorschläge zu unterbreiten – theoretisch sogar hinsichtlich der Verwendung von Gewinnen. Vorschläge müssen jedoch nicht angenommen werden, und es gibt tatsächlich keine Anhaltspunkte dafür, dass Vorschläge, die den kapitalistischen Interessen zuwiderlaufen, jemals von der Unternehmensleitung berücksichtigt wurden. Um sinnvoll zu sein, müsste Mitbestimmung Miteigentum sein, aber das wäre das Ende des Lohnsystems. Mitbestimmung an sich ermöglicht lediglich die üblichen Aktivitäten der Gewerkschaft/Syndikate, wie Tarifverträge, Betriebsordnungen und Beschwerdeverfahren, durch die der Arbeitsfrieden aufrechterhalten wird.
Was über die Arbeiterkontrolle in Deutschland gesagt wurde, lässt sich mit einigen unwesentlichen Änderungen auf alle anderen kapitalistischen Länder übertragen, die Betriebsräte, Arbeitskomitees und ähnliche Formen der Arbeitervertretung in den Industrieunternehmen legalisiert haben. Diese Maßnahmen deuten nicht auf eine sich entwickelnde industrielle Demokratie hin, sondern dienen dazu, die bestehenden Produktionsverhältnisse zu sichern und ihre inneren Spannungen abzubauen. Sie sind kein Weg hin zu, sondern weg von einer sozialen Veränderung. Aber selbst soziale Revolutionen führen möglicherweise nicht zur Arbeiterkontrolle, wenn es den Arbeitern nicht gelingt, ihren Einfluss auf die Produktionsmittel zu sichern, und sie ihre Macht an Regierungen als alleinige Organisatoren des sozialen Transformationsprozesses abtreten. Dies war in Russland der Fall und wurde mit einigen Abänderungen zum Modell für die osteuropäischen „sozialistischen Staaten”, die als Folge des Zweiten Weltkriegs entstanden. Jugoslawien scheint jedoch eine Ausnahme zu sein, denn dort war es die Regierung, die den Arbeitern Führungsfunktionen und ein gewisses Maß an Kontrolle über ihre Produktion anbot.
Obwohl die jugoslawische kommunistische Regierung die letzte Quelle aller Macht blieb, entschied sie sich nach ihrem Bruch mit Russland für eine Politik der ökonomischen Dezentralisierung durch die Rückkehr zu Marktverhältnissen und die daraus folgende Autonomie individueller Unternehmen unter der Kontrolle von Arbeitern. Letztere übernahmen im Rahmen eines staatlich festgelegten allgemeinen Entwicklungsplans unternehmerische und verwaltungstechnische Funktionen im Wettbewerb miteinander. Innerhalb der von der Regierung festgelegten Grenzen treffen die Räte und die von ihnen gewählten Vorstände Entscheidungen über die Regelung der Arbeit, die Produktionspläne, die Lohnskalen, den Verkauf und den Einkauf, den Haushalt, Kredite, Investitionen und so weiter. Ein Direktor, der von einer gemischten Kommission aus Arbeiterräten und lokalen Behörden ernannt wird, leitet jedes Unternehmen und kümmert sich um den täglichen Betrieb, wie die Disziplin der Arbeiter, Einstellungen und Entlassungen, die Zuweisung von Aufgaben und so weiter. Er kann Entscheidungen der Arbeiterräte ablehnen, wenn sie gegen staatliche Vorschriften verstoßen.
Die Selbstregulierungsbefugnisse der Arbeiterräte werden durch ziemlich komplizierte staatliche Vorschriften eingeschränkt. Diese werden teilweise durch Regierungsverordnungen und teilweise durch lokale Behörden in Zusammenarbeit mit den Arbeiterräten eingeführt. Ein Steuersystem legt fest, über welchen Teil der Einnahmen jedes Individuum selbst verfügen kann und damit auch, wie viel Spielraum es bei Entscheidungen über Investitionen und Löhne hat. Die Gewinne werden vom Staat abgeschöpft, um seine eigenen Ausgaben zu decken und in staatliche Unternehmen zu investieren. Der Staat legt die allgemeine Steigerungsrate der persönlichen Einkommen fest, verlangt aber die Einhaltung eines Mindestlohns und lässt Anreallöhne und Prämien zur Steigerung der Arbeitsproduktivität zu. Das Sozialversicherungssystem schmälert das Bruttoeinkommen der Arbeiter um mehr als die Hälfte. Investitionen oder Desinvestitionen werden nach dem Prinzip der Profitabilität beschlossen und durch Preis-, Zins- und Kreditpolitik in die gewünschte Richtung gelenkt. Kurz gesagt, unter diesen Bedingungen bleibt die Gesamtkontrolle über die Ökonomie trotz der begrenzten Selbstkontrolle durch die Arbeiterräte so weit wie möglich in den Händen der Regierung. Letztere können zwar die Entscheidungen der Regierung nicht beeinflussen, aber die Regierung legt die Bedingungen fest, unter denen die Räte operieren.
Viel wichtiger als die Beziehung zwischen Räten und Regierung ist aber, dass es objektiv unmöglich ist, echte Arbeiterkontrolle über Produktion und Verteilung in der Ökonomie aufzubauen. Das stößt auf dasselbe Problem, das schon die frühe Genossenschaftsbewegung hatte, auch wenn es im Gegensatz zu damals nicht durch den Wettbewerb des privaten Kapitals zerstört werden kann, wenn die Regierung das anders will. „Die Arbeiter, die sich im Bereich der Produktion zu einer Genossenschaft zusammenschließen“, schrieb Rosa Luxemburg, „stehen vor der widersprüchlichen Notwendigkeit, sich mit äußerster Absolutheit selbst zu regieren. Sie sind gezwungen, die Rolle des kapitalistischen Unternehmers auf sich zu nehmen – ein Widerspruch, der das übliche Scheitern von Produktionsgenossenschaften erklärt, die entweder zu rein kapitalistischen Unternehmen werden oder, wenn die Interessen der Arbeiter weiterhin überwiegen, schließlich aufgelöst werden.“10 In einer wettbewerbsorientierten Ökonomie müssen sich die jugoslawischen Arbeiter so ausbeuten, als würden sie noch von Kapitalisten ausgebeutet. Das mag zwar erträglicher sein, ändert aber nichts an ihrer Unterordnung unter ökonomische Prozesse, die sie nicht kontrollieren können. Profitstreben und Kapitalakkumulation bestimmen ihr Verhalten und halten das damit verbundene Elend und die Unsicherheit aufrecht. Die Löhne in Jugoslawien gehören zu den niedrigsten in Europa; sie können nur steigen, solange das Kapital schneller wächst als die Löhne. Das Maß an Kontrolle, das den Arbeiterräten eingeräumt wird, fördert unsoziale Einstellungen, weil weniger Arbeiter größere Gewinne erzielen müssen, um die Einkommen der Beschäftigten zu erhöhen. Arbeiter sind arbeitslos, weil ihre Beschäftigung nicht profitabel wäre, d. h. keinen Mehrwert über ihre eigenen Reproduktionskosten hinaus bringen würde. Sie ziehen durch das gesamte kapitalistische Europa auf der Suche nach Arbeit und Lohn, die ihnen in ihrem eigenen „Marktsozialismus“ verwehrt werden. Die Integration der nationalen Volkswirtschaften in den kapitalistischen Weltmarkt unterwirft die Arbeiter nicht nur der Selbstausbeutung und der Ausbeutung durch eine neue herrschende Klasse, sondern auch der Ausbeutung durch den Weltkapitalismus über Handelsbeziehungen und ausländische Kapitalinvestitionen. Unter diesen Bedingungen von Arbeiterkontrolle zu sprechen, ist reine Verhöhnung.
So wie es keinen Sozialismus ohne Arbeiterkontrolle geben kann, kann es auch keine echte Arbeiterkontrolle ohne Sozialismus geben. Zu behaupten, dass die schrittweise Ausweitung der Arbeiterkontrolle im Kapitalismus eine reale Möglichkeit sei, spielt lediglich der weit verbreiteten Demagogie der herrschenden Klassen in die Hände, die ihre absolute Klassenherrschaft durch falsche soziale Reformen zu verschleiern versucht, die mit Begriffen wie Mitbestimmung, Beteiligung oder Mitgestaltung verkleidet werden. Arbeiterkontrolle schließt Klassenkollaboration aus; sie kann nicht Teil des Systems der kapitalistischen Produktion sein, sondern muss es abschaffen. Weder Sozialismus noch Arbeiterkontrolle sind irgendwo Realität geworden. Im Staatskapitalismus und im Marktsozialismus oder einer Kombination aus beiden befindet sich die Arbeiterklasse nach wie vor in der Position von Lohnarbeitern ohne wirksame Kontrolle über ihre Produktion und deren Verteilung. Ihre soziale Stellung unterscheidet sich nicht von der der Arbeiter in der gemischten oder ungemischten kapitalistischen Ökonomie. Überall muss der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse noch beginnen und wird erst mit der Vergesellschaftung der Produktion und der Abschaffung der Klassen durch die Beseitigung der Lohnarbeit enden.
Es ist jedoch kaum zu erwarten, dass eine Arbeiterklasse, die mit dem sozialen Status quo zufrieden ist, Machtkämpfe anstelle von Lohnkämpfen für höhere Einkommen innerhalb des bestehenden Systems führen wird. Obwohl die Verbesserungen der Lebensbedingungen der Proletarier in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern stark übertrieben sind, haben sie dennoch ausgereicht, um den Radikalismus der Arbeiterklasse auszulöschen. Auch wenn der „Wert” der Arbeitskraft immer geringer sein muss als der „Wert” der von ihr geschaffenen Produkte, kann der „Wert” der Arbeitskraft unterschiedliche Lebensbedingungen bedeuten. Er kann sich in einem zwölf- oder sechsstündigen Arbeitstag, in guten oder schlechten Wohnverhältnissen, in mehr oder weniger Konsumgütern äußern. Zu einem bestimmten Zeitpunkt bestimmen jedoch die gegebenen Löhne und ihre Kaufkraft die Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung sowie ihre Beschwerden und Bestrebungen. Verbesserte Bedingungen werden zur Gewohnheit, und die weitere Zustimmung der Arbeiter erfordert die Aufrechterhaltung dieser Bedingungen. Sollten sie sich verschlechtern, wird dies den Widerstand der Arbeiterklasse in gleicher Weise hervorrufen, wie zuvor die Verschlechterung weniger wohlhabender Bedingungen. Nur unter der Annahme, dass der vorherrschende Lebensstandard gesichert und vielleicht sogar verbessert werden kann, kann der soziale Konsens aufrechterhalten werden.
Obwohl diese Annahme durch die jüngsten Erfahrungen scheinbar bestätigt wird, ist sie nicht gerechtfertigt. Aber ihre Ungültigkeit aus theoretischen Gründen11 zu behaupten, wird keinen Einfluss auf die soziale Praxis haben, die auf der Illusion ihrer Beständigkeit beruht. Es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass sich der kapitalistische Krisenmechanismus trotz verschiedener Modifikationen des kapitalistischen Systems wieder durchsetzt. Angesichts der anhaltenden ökonomischen Stagnation in den USA und der Abflachung des westlichen ökonomischen Wachstums hat bereits eine neue Enttäuschung eingetretten. Mit der abnehmenden Wirksamkeit staatlich geförderter Produktion steigt die Notwendigkeit für den Kapitalismus, seine Profitabilität ungeachtet der damit einhergehenden sozialen Instabilität zu sichern. Die neuen ökonomischen Innovationen erweisen sich als fähig, den dem Kapitalismus innewohnenden Krisenmechanismus aufzuschieben, aber nicht zu überwinden. Angesichts dessen ist es nur logisch, dass der soziale Konsens der jüngeren Geschichte, wenn die versteckte Krise akut wird und der Scheinwohlstand in eine echte Depression mündet, einem wiederauflebenden revolutionären Bewusstsein Platz machen wird – umso mehr, als die zunehmende Irrationalität des Systems selbst für die sozialen Schichten offensichtlich wird, die noch von seiner Existenz profitieren. Abgesehen von den vorrevolutionären Bedingungen, die in fast allen unterentwickelten Ländern herrschen, und abgesehen von den scheinbar begrenzten, aber unaufhörlichen Kriegen, die in verschiedenen Teilen der Welt geführt werden, untergräbt eine allgemeine Unruhe die scheinbare soziale Ruhe der westlichen Welt. Von Zeit zu Zeit bricht sie offen aus, wie bei den jüngsten Unruhen in Frankreich. Wenn dies unter relativ stabilen Bedingungen möglich ist, ist es unter allgemeinen Krisenbedingungen sicherlich auch möglich.
Die Integration traditioneller Arbeiterorganisationen in das kapitalistische System ist für dieses nur so lange von Vorteil, wie es die versprochenen und tatsächlichen Vorteile der Klassenkollaboration garantieren kann. Wenn diese Organisationen durch die Umstände gezwungen werden, zu Instrumenten der Repression zu werden, verlieren sie das Vertrauen der Arbeiter und damit ihren Wert für die Bourgeoisie. Selbst wenn sie nicht zerstört werden, können sie durch unabhängige Aktionen der Arbeiter außer Kraft gesetzt werden. Es gibt nicht nur historische Beweise dafür, dass das Fehlen von Arbeiterorganisationen eine organisierte Revolution nicht verhindert, wie in Russland, sondern auch dafür, dass eine fest verwurzelte reformistische Arbeiterbewegung durch neue Arbeiterorganisationen herausgefordert werden kann, wie in Deutschland 1918 und durch die Vertrauensleutebewegung (A.d.Ü., Obleute) in England während und nach dem Ersten Weltkrieg. Selbst unter totalitären Regimes können spontane Bewegungen zu Aktionen der Arbeiterklasse führen, die ihren Ausdruck in der Bildung von Arbeiterräten finden, wie in Polen und im Ungarn von 1956.
Reformen setzen einen reformierbaren Kapitalismus voraus. Solange er diesen Charakter hat, existiert der revolutionäre Charakter der Arbeiterklasse nur in latenter Form. Sie wird sich ihrer Klassenposition nicht einmal mehr bewusst sein und ihre Bestrebungen mit denen der herrschenden Klassen identifizieren. Wenn aber der Kapitalismus durch seine eigene Entwicklung gezwungen wird, die Bedingungen wiederherzustellen, die zur Bildung des Klassenbewusstseins führen, wird er auch die revolutionäre Forderung nach Kontrolle der Arbeiter als Forderung nach Sozialismus wieder aufleben lassen. Es stimmt, dass alle bisherigen Versuche in dieser Richtung gescheitert sind und dass neue Versuche wieder scheitern können. Dennoch kann sich die Arbeiterklasse nur durch Erfahrungen der Selbstbestimmung, wenn auch zunächst in begrenzter Form, zu ihrer eigenen Emanzipation entwickeln.
1967
1Théorie des lois civiles, ou Principes fondamentaux de la société, pages 274, 464, 470.
2G. Sorel Reflections on Violence, 1906.
3Preamble of the Industrial Workers of the World.
4Russland in der Revolution, Dresden, 1909, pp.82, 228.
5J Bunyan and ll.H. Fisher, The Bolshevik Revolution, Stanford, 1934. p.308.
6V. L. Lenin, Questions of the Socialist Organisation of the Economy, Moscow, 173
7Ebenda.
8Zum Beispiel von Andre Gorz in seiner Strategie für die Arbeit, Boston, 1964
9Zitiert in A. Sturmthal, Workers‘ Councils, Cambridge, 1964, S. 74.
10R. Luxemburg, Reform or Revolution.
11Siee: P. Mattick, Marx and Keynes, The Limits of the Mixed Economy. (A.d.Ü., auch auf Deutsch)