Aus archives autonomies entnommen, die Übersetzung ist von uns.
Zur Kritik der politischen Ökonomie: Theorien der Dekadenz, Dekadenz der Theorie – Teil 1: Die Methodik
Le Communiste Nr. 23 – November 1985
Einleitung
In diesem ersten Beitrag befassen wir uns mit dem methodologischen Aspekt, der allen Dekandenz-Visionen gemeinsam ist und eine unverzichtbare Voraussetzung für ihre vertiefte Kritik darstellt. Fast alle Gruppen, die sich heute als Verteidiger der kommunistischen Perspektive verstehen, berufen sich auf eine dekadente Sichtweise nicht nur der kapitalistischen Produktionsweise, sondern der gesamten Abfolge von Klassengesellschaften (Wertzyklus), und zwar anhand zahlreicher „Theorien”, die von der „Marktsättigung” über den „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus”, vom „dritten Zeitalter des Kapitalismus” bis zur „realen Herrschaft”, vom „Stillstand der Produktivkräfte” bis zum „tendenziellen Fall der Profitrate”… Was uns zunächst interessiert, ist der gemeinsame Inhalt all dieser Theorien, die moralisierende und zivilisatorische Sichtweise, die sie vermitteln.
Die Mythen vom „Fortschritt und der Zivilisation”
Der einzige kommunistische Standpunkt ist der der Totalität, doch für uns ist die konkrete Totalität und damit die einzige Realität diejenige, die von den „natürlichen Gemeinschaften” (dem sogenannten Urkommunismus) zum integralen Kommunismus führt. Nur ausgehend von diesem historischen Bogen kann man die menschliche Vorgeschichte verstehen (und somit bewusst darauf einwirken) und den Kommunismus als eine vollendete Tatsache betrachten. Die bourgeoise Sichtweise ist immer eine Sichtweise der Unmittelbarkeit: gleichzeitig eine Vision der Unvermeidbarkeit ihrer Weltherrschaft und ein verzweifelter Versuch, ihren Fortbestand zu sichern (Ende der Geschichte).
„D. h. es ist gerade so wenig ein Zufall wie ein rein theoretisch-wissenschaftliches Problem, daß die Bourgeosie theoretisch in der Unmittelbarkeit stecken bleibt, während das Proletariat darüber hinausgeht. In dem Unterschied dieser beiden theoretischen Einstellungen drückt sich vielmehr die Verschiedenheit des gesellschaftlichen Seins beider Klassen aus. (…) Für die Bourgeoisie steigt ihre Methode unmittelbar aus ihrem gesellschaftlichen Sein empor und darum haftet die bloße Unmittelbarkeit als äußerliche aber eben deshalb unüberwindliche Schranke ihrem Denken an.“ (G. Lukacs: „Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats“ – Geschichte und Klassenbewusstsein)
In ihrem Sieg über alle ihr vorausgegangenen Produktionsweisen musste die Bourgeoisie die Gültigkeit der von ihr verkörperten Produktionsweise ideologisch rechtfertigen, und neben „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ auch den Fortschritt, die historische Entwicklung hin zum demokratischen Ideal, das sie verkörperte (Evolutionismus). Die Bourgeoisie stellte somit alle ihr vorausgegangenen Produktionsweisen als „barbarisch” und „wild” dar, die im Laufe der historischen „Entwicklung” nach und nach „zivilisiert” wurden. Die kapitalistische Produktionsweise ist natürlich die Verkörperung und der Endpunkt der Zivilisation und des Fortschritts. Die evolutionistische Sichtweise passt also gut zum kapitalistischen Sozialwesen, und es ist kein Zufall, dass sie auf alle Wissenschaften angewendet wurde (also auf alle Teilinterpretationen der Realität aus bourgeoiser Sicht): Naturwissenschaft (Darwin), Demografie (Malthus), Geschichte, Logik, Philosophie (Hegel) … Die ultimative Rechtfertigung der kapitalistischen Produktionsweise an sich ist das Ergebnis dieser Entwicklung, die vollständige Verwirklichung der Zivilisation und des Fortschritts dank des Aufkommens der vollendeten Demokratie1. Für die Bourgeoisie bedeutet es, sich als das Ende der Geschichte oder genauer gesagt als die lebendige Verwirklichung der Zivilisation darzustellen, immer mehr alle ihr vorausgegangenen Produktionsweisen (und erst recht die natürlichen Gemeinschaften, den „Urkommunismus”) als Ausdruck einer unbeschreiblichen Barbarei zu interpretieren und mit apokalyptischen Beschreibungen der Pest unter dem Feudalismus, der asiatischen Barbarei von Attila und den Hunnen, des Feuerkrieges und anderer „Schrecken” der primitiven Gemeinschaften zu überbieten. Für uns, die wir von der Sichtweise des gesamten historischen Bogen – vom Urkommunismus bis zum integralen Kommunismus –2 ausgehen, geht es hingegen darum, zu erkennen, inwiefern der Zwangsmarsch des Fortschritts und der Zivilisation immer mehr Ausbeutung, die Produktion von Mehrarbeit (und für den Kapitalismus allein die Umwandlung dieser Überarbeit in Mehrwert) bedeutete, ja sogar die tatsächliche Durchsetzung der Barbarei durch die immer totalitärere Herrschaft des Werts (wobei der Kapitalismus sowohl der Höhepunkt als auch die vollständige Verwirklichung nicht der „Geschichte”, sondern des Wertkreislaufs, des Kreislaufs der Klassengesellschaften ist).
„Unser „offizielles” Schema ist dagegen ganz anders: Vor-Vor-Geschichte (für euch die Barbarei) des Urkommunismus – die Vorgeschichte der Menschheit, von der eure kriegerischen Epen erzählen und die voller heftiger Klassenkämpfe ist (die ihr als Abfolge von Zivilisationen oder Verwirklichung der Werte des Geistes bezeichnet) – Geschichte, die mit der Abschaffung der Klassen beginnt, deren unerschöpfliche Fruchtbarkeit ihr leugnet und die wir selbst nur in geringem Maße erahnen können.“ (Bordiga: „Kommunismus und menschliche Erkenntnis“)
Ausgangspunkt ist der Zyklus der Klassengesellschaften, die Auflösung der natürlichen Gemeinschaften durch den Tausch – die Entwicklung des Werts durch verschiedene Produktionsweisen, die aufeinander folgen und/oder gleichzeitig existieren – die Vereinigung und höhere Synthese der Klassengesellschaften in der ersten universellen Produktionsweise: dem Kapitalismus (der sich somit als Höhepunkt des Zyklus der Klassengesellschaften, als Vereinigung und Vereinfachung/Verschärfung der Klassenwidersprüche durch die immer polarisiertere Konfrontation zwischen den beiden Grundklassen: Proletariat gegen Bourgeoisie) ist die einzige Methode, um den unvermeidlichen Sieg des Kommunismus als Auflösung der Klassenantagonismen, als Beginn der bewussten Menschheitsgeschichte zu verstehen.
Die klassische ideologische Rechtfertigung der Bourgeoisie in ihrem Verständnis der Entwicklung der Klassengesellschaften geht also von ihrer Klassenvoraussetzung aus, von der Sichtweise, die ihrem sozialen Wesen entspricht. Deshalb rechtfertigt sie den Sieg der revolutionären Klassen, die ihr vorausgingen (nach dem Vorbild ihres eigenen Sieges), mit dem Verfall und der Überholtheit der Gesellschaften, in denen diese revolutionären Klassen für die Durchsetzung einer neuen Produktionsweise kämpften; und sieht in jedem Schritt eine „Aufstiegsphase” (also ohne Widersprüche), die zu einem bestimmten Zeitpunkt ihren Höhepunkt erreicht, um dann zu verfallen und eine „neue Phase” des Niedergangs einzuleiten, die einzige Periode, in der der Antagonismus zwischen der herrschenden Klasse und der revolutionären Klasse möglich ist (A.d.Ü., sich zu entwickeln).
Das ABC des revolutionären Marxismus (A.d.Ü.,, der kommunistischen Bewegung) ist jedoch die permanente Existenz der Bewegung und damit eines grundlegenden Widerspruchs, der sie ausmacht:
„Was die dialektische Bewegung ausmacht, ist gerade das Nebeneinanderbestehen der beiden entgegengesetzten Seiten, ihr Widerstreit und ihr Aufgehen in eine neue Kategorie. Sowie man sich nur das Problem stellt, die schlechte Seite auszumerzen, schneidet man die dialektische Bewegung entzwei.“ (Marx: Das Elend der Philosophie)
„Während der ganze Gegensatz nichts anders ist als die Bewegung seiner beiden Seiten, während eben in der Natur dieser beiden Seiten die Voraussetzung der Existenz des Ganzen liegt(…)” (Marx: Die heilige Familie)
Für Klassengesellschaften gilt daher: Sobald eine neue Produktionsweise, eine „neue Kategorie“, entsteht, entsteht zwangsläufig als „Voraussetzung für die Existenz des Ganzen“ ein neuer grundlegender Widerspruch, der „nichts anderes ist als die Bewegung seiner beiden Pole“, d. h. nichts anderes als der Antagonismus zwischen der herrschenden Klasse – der lebendigen Verkörperung der bestehenden Produktionsweise – und der revolutionären Klasse (die nur im Proletariat gleichzeitig revolutionäre Klasse und ausgebeutete Klasse ist), die den Widerspruch (die Negation) in sich trägt, weil sie ein anderes Gesellschaftsprojekt, eine neue Produktionsweise in der Entstehung vorantreibt. Innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft ist das Proletariat also „(…)es ist die negative Seite des Gegensatzes, seine Unruhe in sich, das aufgelöste und sich auflösende Privateigentum.“ (Marx: Die heilige Familie). Wenn, wie Marx klar sagt: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft (der Klassen, Anm. d. Red.) ist die Geschichte des Klassenkampfes“ (Kommunistisches Manifest), dann ist dieser Kampf, die treibende Kraft des prähistorischen Zyklus der Klassengesellschaften, offensichtlich ständig. Die antagonistischen Klassen stehen sich ständig gegenüber; um diese Konfrontation in erträglichen Grenzen zu halten und das unpersönliche Interesse der herrschenden Klasse zu wahren, gibt es den Staat (die Organisation der herrschenden Klasse als Macht); ständig entwickelt sich der Widerspruch zwischen konservativer und revolutionärer Kraft immer stärker. Es gibt also nicht zwei Phasen: eine, in der der Klassenwiderspruch (also der Widerspruch zwischen den gesellschaftlichen Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen) nicht existiert, eine fortschreitende Phase, in der die „neue” Produktionsweise ohne Antagonismen ihre zivilisatorischen Errungenschaften entwickelt…und eine Phase, in der sie nach der „progressiven Entwicklung ihrer Errungenschaften” veraltet wäre und zu zerfallen beginnen würde, wodurch erst dann ein Klassenantagonismus entstehen würde. Die Dynamik der Klassengesellschaften ist nicht wie ein Berg mit einem Aufstieg, einem Gipfel und einem Abstieg, sondern – gemäß der materialistischen Dialektik – immer mehr ein Antagonismus zwischen der herrschenden Klasse und der revolutionären Klasse, bis dieser Widerspruch in einer höheren Einheit (Negation der Negation) aufgelöst wird, die der Überwindung der beiden Pole der vorherigen Einheit entspricht, also als neue Bewegung zweier widersprüchlicher Pole.
Die Dekandez-Visionen sind also methodologisch undurchsichtige Visionen, die nicht der proletarischen Sichtweise entsprechen, sondern der bourgeoisen Sichtweise des Evolutionismus und des Immediatismus (= Gradualismus). Wie wir bereits in einem anderen Text angedeutet haben3:
„Die Theorie der fallenden Kurve vergleicht die historische Entwicklung mit einer Sinuskurve: Jedes System, zum Beispiel das bourgeoise, beginnt mit einer Aufwärtsphase, erreicht einen Höhepunkt, beginnt dann zu sinken, bis es einen Tiefpunkt erreicht, woraufhin ein anderes System seinen Aufstieg beginnt. Diese Sichtweise ist die des gradualistischen Reformismus: keine Erschütterungen, keine Sprünge, keine Schübe. Die marxistische Sichtweise lässt sich (der Klarheit und Kürze halber) in mehreren Zweigen darstellen, in Kurven, die alle bis zu ihren Spitzen (in der Geometrie: singuläre Punkte oder Scheitelpunkte) ansteigen, auf die ein heftiger, fast senkrechter Absturz folgt, und am Ende entsteht ein neues Gesellschaftssystem; wir haben einen weiteren historischen Aufschwungszweig. (…) Die gängige Behauptung, der Kapitalismus befinde sich in seinem absteigenden Ast und könne nicht wieder aufsteigen, enthält zwei Fehler: einen fatalistischen und einen gradualistischen.“ (Bordiga: Treffen von Rom 1951 in Invariance Nr. 4)
Für den Feudalismus zum Beispiel:
„Ab dem 15. Jahrhundert waren die Staatsbürger der Städte für die Gesellschaft unverzichtbarer geworden als der Feudaladel. Die Bedürfnisse des Adels selbst waren gewachsen und hatten sich so verändert, dass selbst für ihn die Städte unverzichtbar geworden waren. (…) Ein gewisser Welthandel hatte sich entwickelt. Während der Adel immer überflüssiger wurde und die Entwicklung immer mehr behinderte, wurde die Bourgeoisie in den Städten zur Klasse, die den Fortschritt der Produktion und des Handels sowie der politischen und sozialen Institutionen verkörperte. (…) Ihre Beziehung zum Land zeigt sich ganz typisch, nämlich gegen das Land gerichtet, in den Verbrauchssteuern und den Abgaben an den Stadttoren (Zölle) und den indirekten Steuern im Allgemeinen. (…)“ („Abfolge der Produktions- und Gesellschaftsformen in der marxistischen Theorie“ – Fil du Temps Nr. 9)
Dieser Text liefert interessante Elemente, auch wenn er weitgehend die mechanistische Sichtweise der Abfolge der Produktionsweisen aus einer nicht-globalen und linearen Perspektive wiedergibt, die später die Grundlage für die stalinistisch-strukturalistischen Verfälschungen bilden sollte.
Das Zentrum der feudalen Produktionsweise war also das Land (und nicht mehr die Stadt wie im alten Rom, zum Beispiel), die sich um Festungen, „Burgen” vereinigte. Diese wurden nicht durch den Antagonismus zwischen Leibeigenen (ausgebeutete Klasse) und Adel (ausbeutende Klasse) zerstört, sondern durch die Bourgeoisie, deren wichtigste Waffe das Geld war. In gleicher Weise zeigt uns Bordiga für die Dynamik des Kapitalismus wie für die aller anderen Klassengesellschaften:
„Die marxistische Auffassung vom Untergang des Kapitalismus besteht keineswegs darin, zu behaupten, dass dieser nach einer historischen Phase der Akkumulation erschöpft ist und sich selbst ausleert. Das ist die These der pazifistischen Revisionisten. Für Marx wächst der Kapitalismus unaufhörlich über alle Grenzen hinaus; die Kurve des weltweiten kapitalistischen Potenzials steigt nicht an, um dann langsam wieder abzufallen, sondern steigt bis zu einer plötzlichen und gewaltigen Explosion, die die Ära der kapitalistischen Produktionsweise beendet und das Profil der Kurve verändert. In diesem revolutionären Sprung zerbricht die politische Maschine des kapitalistischen Staates und macht Platz für die des Proletariats, die im Laufe der Entwicklung verfallen wird.“ (Bordiga: „Dialog mit den Toten“ 1956)
Abgesehen natürlich von der groben Aushöhlung der materialistischen Dialektik stellen die dekadenten Visionen eine schwerwiegende Verfälschung des praktischen Verständnisses des revolutionären Kampfes selbst dar. Wenn es tatsächlich die Gesellschaft selbst ist, die an einem bestimmten Punkt zerfällt, gibt es fast keinen Grund mehr, einen immer größer werdenden Widerspruch zwischen den antagonistischen Klassen zu sehen (obwohl wir gesehen haben, dass „die Geschichte aller Gesellschaft bis heute die Geschichte des Klassenkampfes ist“…), da der Zusammenbruch der Gesellschaft „automatisch“ ist, sogar Teil des natürlichen „Alterungsprozesses“ von Gesellschaften. Der revolutionären Klasse bleibt also nur, friedlich (wie die Bourgeois auf das Erbe ihrer Eltern warten) auf das tödliche Ende dieses Alterungsprozesses zu warten. Das ist der von Bordiga angeprangerte „Fatalismus“ der Konterrevolution. Aber zusätzlich zu diesem gradualistischen Fatalismus gibt es noch die voluntaristische Folge, die genauso falsch ist wie die vorherige und insbesondere für den Dekadentismus (A.d.Ü., also die Dekadenz der Theorie) der Trotzkisten typisch ist. Für diese ist nämlich „die Produktivkräfte aufgehört haben zu wachsen“ (im Falle des Kapitalismus seit 1914!), ist das System bereits „objektiv“ tot; es bleibt dann nur noch, diesem Tod den letzten „subjektiven“ Stoß zu versetzen, indem man willentlich eine neue Internationale schafft, die dem Ganzen den letzten kleinen Schubs geben soll, damit das gesamte System zusammenbricht. Das ist es, was die „Kinder des Propheten” seit vierzig Jahren (A.d.Ü., mitlerweile seid Dekaden) erwarten, während sie sich mit einem konterrevolutionären Programm in alle Richtungen verausgaben4. Außerdem ist anzumerken, dass die Behauptung „die Produktivkräfte sind seit 1914 nicht mehr gewachsen” (die bei den Trotzkisten – den Lambertisten der KPI – besonders karikaturistisch ist und bei den „klügeren” zu einer „Verlangsamung des Entwicklungstempos der Produktivkräfte” relativiert wird, und insbesondere bei der Gruppe „Socialisme ou Barbarie“, die sich auch in dieser Frage als Vorläufer des modernistischen Revisionismus erwies, sowohl in den sogenannten ökonomischen Fragen als auch in ihren politischen Implikationen) wird direkt durch die einfache Feststellung einiger Dekadenz-Anhänger selbst widerlegt:
„Die weltweite Industrieproduktion lag 1848 um 36 % über dem Niveau von 1937 und um 74 % über dem von 1929. Zwischen 1878 und 1948 stieg die weltweite Industrieproduktion um das 11-fache. Im gleichen Zeitraum stieg die Weltbevölkerung von 1,5 Milliarden auf 2,3 Milliarden Menschen, was einem Anstieg von etwa 50 % entspricht.” (Castoriadis: „Die vorübergehende Konsolidierung des Weltkapitalismus”, Socialisme ou Barbarie Nr. 3 – 1949)
So wird deutlich, wie bestimmte Dekadenz-Theoretiker (in diesem Fall Castoriadis) selbst die „materielle”, „objektive“ Grundlage der Dekadenz-Theorien selbst liquidieren, und ihnen bleibt dann nur noch, sich auf die „moralische Dekadenz“ zu berufen, so wie es eine Gruppe wie die FOR („Alarme“) tut. In ähnlicher Weise hatten wir bereits in unserer Einleitung zur Polemik über „Die Ursachen der imperialistischen Kriege“ (Polemik zwischen Bilan-Prométéo und der Mehrheit der Ligue des communistes internationalistes de Belgique – Tendenz Hennaut) in Le Communiste Nr. 6, dass die Vorstellung von Dekadenz eng mit der Verteidigung des „Arbeitercharakters der UdSSR“ verbunden ist, der sowohl den Stalinisten als auch den Trotzkisten so wichtig ist.
„Diese beiden falschen Thesen waren untrennbar miteinander verbunden: Man konnte nur behaupten, dass der Kapitalismus aufgehört habe zu wachsen, wenn man die UdSSR als nicht kapitalistisch betrachtete. (…) Damit der Leser verstehen kann, inwieweit wir 1936 den Höhepunkt der stalinistischen und trotzkistischen These von der „sozialistischen Industrialisierung” und dem „Ende des kapitalistischen Wachstums” erlebt haben, muss man nur die Zahlen zum Wachstum der Industrieproduktion der „am schnellsten wachsenden kapitalistischen Macht“, den Vereinigten Staaten, mit denen zum fantastischen Wachstum der UdSSR zur gleichen Zeit vergleichen.“ (Siehe Le Communiste Nr. 6)
Außerdem müssen wir beachten, dass:
„Auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs konnte der Kapitalismus vorübergehend die Fesseln seiner Entwicklung sprengen und seine weltweite Herrschaft ausbauen. Eine einzige Zahl verdeutlicht seine fantastische Expansion: Das BIP der USA, des kapitalistischen Giganten, erreichte 1952 300 Milliarden Dollar, verdreifachte sich und erreichte 20 Jahre später eine Billion Dollar.“ (Le Communiste Nr. 6)
„Nie zuvor in seiner Geschichte hatte der Kapitalismus so hohe Wachstumsraten erlebt. In Frankreich lag die durchschnittliche Wachstumsrate zwischen 1950 und 1972 bei 5,1 %, gegenüber 1,6 % zwischen 1870 und 1913 und 0,7 % zwischen 1913 und 1950. In der gesamten kapitalistischen Welt war das Wachstum in den letzten zwanzig Jahren mindestens doppelt so schnell wie zwischen 1870 und 1914, also in der Zeit, die allgemein als Hochphase des Kapitalismus angesehen wurde. Die Behauptung, das kapitalistische System sei seit dem Ersten Weltkrieg in eine Phase des Verfalls und Niedergangs eingetreten, ist einfach lächerlich geworden…“. (P. Souyri, ehemaliges Mitglied der marxistischen Strömung innerhalb von Socialisme ou Barbarie und Gründer von Pouvoir Ouvrier: „La dynamique du capitalisme au XXème siècle“ – Payot Verlag)
* * *
Wieder einmal liegt die Gemeinsamkeit aller Dekadenz-Theorien (und damit auch der sozialen Praxis ihrer Anhänger) in der Negation/Zerstörung der dialektischen Methode. Nachdem sie willkürlich einen Höhepunkt für jede Produktionsweise festgelegt haben, bestimmen sie deren fortschreitende, „aufsteigende“ Phase und bestätigen damit die Ideologie der herrschenden Klasse dieser Zeit (was auf politischer Ebene nicht der aktiven Unterstützung des Kommunismus, sondern des bestehenden Systems gleichkommt, dessen Rechtfertigung unter dem Vorwand der Fortschrittlichkeit d. h. die Negation/Ablehnung der Interessen der ausgebeuteten Klassen und damit des revolutionären Proletariats innerhalb dieser Produktionsweise), und dann bestimmen sie die Phase des Niedergangs, die sie als perfekte Moralisten mit dem „Verfall der Sitten” begründen, durch das Auftauchen (man fragt sich, warum gerade dann und nicht zu einem anderen Zeitpunkt) von Klassenwidersprüchen. Und das alles, als ob in der ersten Phase die Einheit „Produktionsweise” nicht ihre eigene Negation, ihren eigenen Widerspruch in sich trüge und dieser erst nach einer gewissen Zeit zum Vorschein käme! (Wie lange?) Aber lass uns mal ehrlich sein: Entweder basiert jede Klassengesellschaft ständig auf einem Klassenantagonismus – das ist die marxistische These – oder dieser Widerspruch verschwindet während einer jeder Produktionsweise eigenen Aufschwungphase (oder wird „sekundär“ …), und wir landen unweigerlich wieder bei der bourgeoisen These vom Evolutionismus hin zu immer größerem Fortschritt, auch wenn dieser Fortschritt willkürlich zu einem bestimmten Zeitpunkt und/oder in einem bestimmten Gebiet aufgrund opportunistischer Zufälle, die wir später erklären werden, gestoppt wird. Und so ist es kein Zufall, dass unsere Anhänger der Dekadenz-Theorie (aller Schulen) sich in einem gemeinsamen Chor mit allen reaktionären Schakalen wiederfinden, die vom „Untergang des Abendlandes” schreien, von den Zeugen Jehovas über die europäisch-zentristischen Neonazis bis hin zu den Anhängern von Moon! Und wenn sich die Anhänger der Dekandez-Theorie in dieser düsteren Gesellschaft wiederfinden, dann deshalb, weil sie in Wirklichkeit sie dieselbe reaktionäre und konterrevolutionäre Perspektive des Progressismus (Positivismus des vulgären Materialismus) einer aufsteigenden Phase vertreten und daher anschließend antithetisch die allgemeine Verschlechterung dessen argumentieren müssen, was sie als absteigende Phase definieren… Die Anhänger der Dekadenz-Theorie sind also bis zu einem bestimmten Zeitpunkt pro-sklavereistisch, bis zu einem anderen Zeitpunkt pro-feudal…… kapitalistisch bis 1914!!! Aufgrund ihres Kultes des Fortschritts sind sie also jedes Mal gegen den Klassenkampf der Ausgebeuteten und gegen kommunistische Bewegungen, die das Pech haben, in der „falschen Phase” zu entstehen, weil sie ihrer Meinung nach ihre Ausbeuter unterstützen müssten, die sie als noch fortschrittlich ansehen, da sie diese im Interesse der menschlichen Entwicklung ausbeuten und massakrieren! Das Lächerliche wird tragisch, wenn die Anhängern der Dekadenz-Theorie Stellung beziehen müssen, zum Beispiel zur Pariser Kommune, die sich, wie jeder weiß, „in der Hochphase des Kapitalismus” auflehnte. Wie perfekte Clowns machen sie eine Pirouette: „Das war ein Unfall der Geschichte”… Babeuf und die Enragés, Blanqui, Marx und die Tausenden von proletarischen Kämpfern auch? Aber noch einmal: Entweder sind diese Bewegungen Ausdruck der Beständigkeit des Klassenkampfs und damit der kommunistischen Bewegung (in allen Klassengesellschaften, deren Erben wir heutigen Kommunisten sind!) und die unveränderliche Aufgabe der Kommunisten darin besteht, ihre revolutionäre Führung zu übernehmen, oder aber diese Bewegungen (umso mehr, wenn es sich um das Proletariat als Träger der kommunistischen Lösung der Klassenantagonismen handelt) gegen den Lauf der Geschichte gehen (die Kommunisten wären dann nicht mehr die Erben des Kampfes der ausgebeuteten Klassen der Vorgeschichte, sondern die der Ausbeuter!) und die kommunistische Bewegung würde in jeder aufsteigenden Phase zu einer reaktionären Bewegung werden! Innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise existiert das Proletariat und kämpft unveränderlich als Klasse, wenn es für die Verteidigung seiner eigenen und ausschließlichen historischen Interessen kämpft. Wenn es sich mit irgendeiner bourgeoisen Fraktion verbündet, so fortschrittlich und humanistisch sie auch sein mag, existiert es nicht mehr als Klasse und ist nur noch eine Masse von durch die Demokratie atomisierten Staatsbürgern (das ist die Tendenz, nur noch „variables Kapital” zu sein), die den verschiedenen bourgeoisen Fraktionen (republikanisch gegen royalistisch, faschistisch gegen Volksfronten…) als Manövriermasse dient. Sobald also die kapitalistische Produktionsweise auftaucht, wird der Klassenkampf zur ständigen Auseinandersetzung zwischen den beiden Polen des kapitalistischen Widerspruchs Proletariat/Bourgeoisie. Das Proletariat steht in seinem Kampf für seine historischen Interessen daher in direktem Gegensatz zu allen bourgeoisen Fraktionen und ist unveränderlich: aus Prinzip gegen alle Fronten und lehnt jedes Bündnis mit irgendeiner bourgeoisen Fraktion als tödlich ab. Das hat übrigens jedes Mal die Erfahrung der Arbeiterkämpfe gezeigt, wo das Proletariat, wenn es seine Klassenunabhängigkeit verlor, um sich mit dieser oder jener bourgeoisen Fraktion zu verbünden, diesen Verlust seiner historischen Perspektive mit Blut bezahlte; sei es 1789, 1848, 1871… …
Im Widerspruch zwischen Bourgeoisie und Proletariat (wie in jedem Widerspruch) ist die qualitative Auflösung (Negation der Negation) nie die einseitige Bestätigung eines der Pole. Wenn also im antagonistischen Verhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat die Bourgeoisie sich fast vollständig totalitär durchsetzen kann (insbesondere, wie wir gesehen haben, wenn das Proletariat seine Klassenunabhängigkeit verliert), wird der Widerspruch aus dynamischer Sicht nie ganz beseitigt, das Proletariat, der negierende Pol, nie vollständig „verdaut“ und mit dem „variablen Kapital“ gleichgesetzt werden kann. Es gibt immer einen Widerspruch, auch wenn dieser durch ein Kräfteverhältnis, das so stark ist, dass ein Pol den anderen deutlich überwiegt, stark abgeschwächt wird. Aber unvermeidlich taucht der Widerspruch auf einer höheren Ebene der Auseinandersetzung wieder auf, durch eine immer stärkere Polarisierung zwischen den beiden Elementen des Widerspruchs. Was der bourgeoise Pol also nur erreichen kann, wenn er seinen Negator – zum Beispiel durch Krieg – fast vollständig zerstört, ist, die unvermeidliche kommunistische Auflösung des Widerspruchs in die Zukunft zu verschieben. Die materialistische Dialektik ist die immer stärkere, immer antagonistischere Auseinandersetzung zwischen den beiden Polen des Widerspruchs, und zwar nicht bis zu einem „Höhepunkt”, auf den ein „Abstieg” folgt, sondern bis zur Auflösung dieses Widerspruchs durch das Entstehen einer „höheren Einheit” (Negation der Negation) – eine höhere Qualität, die weder mit dem positiven Pol (These) noch mit dem negativen Pol (Antithese) qualitativ etwas zu tun hat. Die Entwicklung des Widerspruchs (= die Bewegung) bedeutet also immer mehr die Verschärfung (den Kampf) der beiden Pole, die sich in ihrer Auseinandersetzung gegenseitig verstärken, bis zum dialektischen Moment der Auflösung durch die Negation der Negation. Die Klassenkonfrontation hat nichts mit der vulgären Logik der „kommunizierenden Röhren” zu tun, die einen Pol umgekehrt proportional schwächen, wenn der erste sich verstärkt; im Gegenteil, aus einer globalen Perspektive ist es ein immer stärker verschärftes Kräfteverhältnis, eine immer antagonistischere Konfrontation… bis zu ihrer Auflösung. Die Dialektik, die durch eine quantitative und qualitative Veränderung die „Auflösung“ hervorbringt, hat also nichts mit einer einfachen Addition der Pole des Widerspruchs oder mit der einseitigen Behauptung eines seiner Pole zu tun. Im Gegenteil, „Auflösung“ bedeutet eine doppelte Negation, die über die einfache Negation des negierenden Pols innerhalb der widersprüchlichen Einheit hinausgeht. In unserem Beispiel, der Einheit „Kapitalismus”, in der der grundlegende Widerspruch Bourgeoisie (These) – Proletariat (Antithese) ist, ist die Auflösung dieses Widerspruchs nicht die einseitige Behauptung des negierenden Pols (eine „proletarische Gesellschaft”!?),, sondern der Kommunismus (klassenlose Gesellschaft), der somit die doppelte Negation beinhaltet, wobei das Proletariat die Bourgeoisie negiert und sich selbst als Negator negiert – die Selbstnegation des Proletariats als Negation der Negation, als Auflösung der Widersprüche aller Klassengesellschaften in und durch das Entstehen einer klassenlosen Gesellschaft, des Kommunismus, der weltweiten menschlichen Gemeinschaft.
Allen Dekadenz-Konzepten ist also eine gleiche bourgeoise Sichtweise der fortschreitenden und evolutionären Entwicklung der menschlichen Geschichte gemeinsam (auch wenn diese für jede Produktionsweise zeitlich auf einen Zeitpunkt begrenzt ist, ab dem diese Produktionsweise nicht mehr als „fortschrittlich“ angesehen wird). Da der Klassenantagonismus, wie wir gesehen haben, dauerhaft und immer stärker ausgeprägt existiert, bleibt den Anhängern der Dekadenz-Theorie nur noch die ideologische Rechtfertigung, die moralisierende Argumentation (und welche Moral kann es geben, wenn nicht immer die der herrschenden Klasse! Die kommunistische Bewegung entwickelt keine „neue proletarische Moral”, sondern eine Anti-Moral, die aktive Negation jeglicher Klassenmoral) einer übergeordneten Dekadenz, die (als vulgäre Materialisten, die sie sind) die Dekadenz der Produktionsverhältnisse widerspiegelt. „Die Ideologie zerfällt, die alten moralischen Werte brechen zusammen, das künstlerische Schaffen stagniert oder nimmt protestierende Formen an, Obskurantismus und philosophischer Pessimismus breiten sich aus”. Die Frage, die sich hier stellt, ist, wer der Autor dieser Passage ist: Raymond Aron? Le Pen? Oder Monseigneur Lefebvre…? Nein, es handelt sich um die Broschüre der CCI: „La décadence du capitalisme“ (Die Dekadenz des Kapitalismus), Seite 34! Die gleiche moralisierende Rede entspricht also der gleichen evolutionistischen Sichtweise, die von allen Priestern der Linken, der Rechten oder der „Ultra-Linken“ vertreten wird. Als ob die herrschende Ideologie zerfällt, als ob die grundlegenden moralischen Werte der Bourgeoisie zusammenbrechen! In Wirklichkeit erleben wir eher eine immer stärkere Bewegung der Zersetzung/Neubildung: Alte Formen der herrschenden Ideologie werden disqualifiziert und bringen jedes Mal neue ideologische Neubildungen hervor, deren Inhalt, bourgeoiser Kern immer gleich bleibt. Das sehen wir am starken Wiederaufleben religiöser Ideologien (und derjenigen, die sie in der Realität anwenden) auf der ganzen Welt: von der „Renaissance des Islam” über die Reisen des Handelsvertreters Johannes Paul II. bis hin zur vielfältigen Entwicklung von Sekten und der Wiederbelebung östlicher Religionen…. und damit die doppelte Bewegung der Zersetzung und Neugestaltung der vielgestaltigen Einheit der ideologischen Strukturen des weltweiten bourgeoisen Staates. Genauso, auch wenn der Antifaschismus nicht mehr so angesagt ist wie vor dem Zweiten Weltkrieg, erleben wir eine starke Neugestaltung demokratischer und humanistischer Mythen5 (die sich konkret in der Rückkehr vieler Länder, ehemaliger „faschistischer Diktaturen”, zum „freien Spiel der demokratischen Rechte und Freiheiten” zeigen, Griechenland, Spanien, Portugal, Argentinien, Brasilien, Peru, Bolivien… ), von der Verteidigung der (bourgeoisen) Menschenrechte bis hin zu stinkenden Kampagnen wie „Rühr meinen Kumpel nicht an”, von „Anti-Terror”-Kampagnen bis hin zu denen für Äthiopien… Jedes Mal geht es um Kampagnen, die die bourgeoise Tendenz zu einem neuen globalen Gemetzel ideologisch und praktisch vorbereiten, und zwar durch die terroristische und totalitäre Aufrechterhaltung des sozialen Friedens, den sie repräsentieren und verstärken. Die herrschende Ideologie bildet eine Gesamtheit (mit ihren vielfältigen und unterschiedlichen phänomenologischen Ausdrucksformen), die die relative Stärke der ihr zugrunde liegenden Klasse zum Ausdruck bringt. In diesem Sinne sind Ideologien – materielle Kräfte – aktive Elemente im Klassenkampf, Waffen, die die Bourgeoisie in ihrem Kampf gegen das Proletariat schärft. Es kann also nicht die Rede davon sein, sie als bloße „Ideen” zu betrachten, die in der „Überbau-Sphäre” schweben; im Gegenteil, die Bourgeoisie hat selbst mit ihrer begrenzten Sichtweise (begrenzt aus der Perspektive ihres sozialen Klassenwesens) enorm aus der Vergangenheit gelernt und den Einsatz ihrer ideologischen Waffen entsprechend verfeinert. Der Verstärkung der kinetischen Gewalt (offener Terror) entspricht die ergänzende Verstärkung der Entwicklung der potenziellen („ideologischen“) Gewalt, die beide den atomisierten Staatsbürger, das freie, gleiche, wahlberechtigte und Fußballmannschaft unterstützende bourgeoise Individuum von seiner Geburt bis zu seinem Tod immer vollständiger beherrschen…
Die Dekadenz-Visionen in ihrer bourgoisen methodologischen Essenz, die Negation der materialistischen Dialektik, der Kult des Fortschritts, der Evolution, der Zivilisation, der Wissenschaft, der Moral… sind daher dem kommunistischen Standpunkt fremd und stehen somit in direktem Widerspruch zum Verständnis und zur unveränderlichen Praxis des Proletariats, das für die Verteidigung seiner historischen Interessen kämpft. Gestern, heute und morgen verteidigen (und zeichnen sich aus) die Kommunisten durch die Verteidigung der Unveränderlichkeit des revolutionären Programms: weltweite soziale Revolution, Diktatur des Proletariats zur Abschaffung des Lohnsystems, weltweite menschliche Gemeinschaft.
„Wir haben keine gemeinsamen Ideale und stammen auch nicht aus einem gemeinsamen zivilisatorischen Stammbaum. Wir haben klar gesagt, dass wir uns nicht auf eure liberale Forderung als Hebel für soziale und ökonomische Forderungen stützen können. Nicht, dass der Liberalismus auf halbem Weg stehen bleibt und wir alleine weitermachen müssten: Der Liberalismus steht von Anfang an im Weg zu unserem sozialen Ziel.“
(A. Bordiga: Kommunismus und menschliche Erkenntnis)
Die Dekadenz: Negation der universellen und weltweiten Substanz des Kapitalismus
Wir haben bereits die Auf-Blüte-Niedergang-Kurve kritisiert, nun müssen wir auf die Bedeutung der Anwendung dieser bourgeoisen Theorie auf die Geschichte der kapitalistischen Entwicklung selbst eingehen.
Wie wir bereits in anderen Texten6 dargelegt haben, bekräftigt die kapitalistische Produktionsweise von Anfang an ihren Charakter, ihr universelles und unmittelbar weltweites Wesen. Der Kapitalismus – als weltweites soziales Verhältnis – vereint alle ihm vorausgegangenen Produktionsweisen, löst sie auf, gliedert sie (auch wenn sie phänomenologisch soziale Verhältnisse beibehält, deren aus der Vergangenheit geerbte Form, wie die Sklaverei, noch heute existiert), die aber in Wirklichkeit vollständig in die kapitalistische Produktionsweise subsumiert sind, die in Wirklichkeit nur verschiedene Verkleidungen des Lohnverhältnisses sind, integriert sie, und zwar jedes Mal mit dem Ziel (seinem ständigen und einzigen Ziel), immer mehr Mehrwert zu produzieren. Das Ziel der kapitalistischen Produktion ist also die Produktion von immer mehr Wert, oder genauer gesagt, der Kapitalismus definiert sich als Wert, der sich verwertet, als eine Bewegung der Verwertung einer immer größer werdenden Anhäufung von Wert (W —> W‘), „Wert, der größer ist als er selbst“ (Marx: Das Kapital). Die Substanz des Werts ist jedoch – unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise – die abstrakte Arbeit (soziale und globale Abstraktion der verschiedenen und vielfältigen konkreten Arbeiten, der verschiedenen physiologischen Energieaufwendungen), der Tausch der Ware Arbeitskraft gegen ein Äquivalent, das nicht dem geschaffenen Wert entspricht, sondern der Reproduktion der Arbeitskraft selbst (Differenz zwischen der notwendigen Arbeit und der Mehrarbeit = Mehrwert). Es handelt sich direkt um ein weltweites soziales Verhältnis (die Lohnabhängigkeit), das den gesamten vorherigen Austauschprozess subsumiert und „umkehrt“.
„Die Umkehrung kommt also daher, dass die letzte Stufe des freien Tausches der Tausch der Arbeitskraft als Ware, als Wert gegen eine Ware, gegen Wert ist; dass sie als objektivierte Arbeit gehandelt wird, während ihr Gebrauchswert in lebendiger Arbeit besteht, d. h. in einer Tätigkeit, die Tauschwert schafft. Die Umkehrung kommt daher, dass der Gebrauchswert der Arbeitskraft als Wert selbst das Wert schaffende Element, die Substanz des Wertes und die Substanz ist, die den Wert erhöht. Der Arbeiter gibt also in diesem Tausch als Äquivalent für die in ihm objektivierte Arbeit seine lebendige, wertschaffende und wertsteigernde Arbeitszeit. Er verkauft sich als Wirkung, aber als Ursache, als Tätigkeit, wird er vom Kapital absorbiert und in ihm verkörpert. So kehrt sich der Austausch ins Gegenteil um, und die Gesetze des Privateigentums – Freiheit, Gleichheit, Eigentum: Eigentum an der eigenen Arbeit und Freiheit, darüber zu verfügen – kehren sich um in Eigentumslosigkeit für den Arbeiter und in Entfremdung von seiner Arbeit und in ein Verhältnis zu dieser Arbeit wie zu fremdem Eigentum und umgekehrt.
(Marx: Grundrisse Band II – „Das Kapitel vom Kapital“)
Die Substanz des Werts ist also direkt soziale und weltweite Abstraktion von lebendiger Arbeit, was die gleichzeitige Existenz des Weltmarkts (eines Marktes, der seinen weltweiten Charakter immer mehr ausbaut) mit sich bringt.
„Im Handel zwischen Nationen verwirklicht sich der Wert der Waren universell. Dort tritt ihnen auch ihr zukünftiger Wert gegenüber, in Form der universellen Währung – der Weltwährung, wie James Stewart sie nennt, der Währung der großen Handelsrepublik, wie Adam Smith sagte. Nur auf dem Weltmarkt funktioniert die Währung in ihrer ganzen Kraft als Ware, deren natürliche Form gleichzeitig die soziale Verkörperung der menschlichen Arbeit im Allgemeinen ist. Ihre Seinsweise wird ihrer Idee angemessen.“
(Marx: Das Kapital – Kapitel III – „Die allgemeine Währung“)
Die Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise geht einher mit der Entstehung von Zentren der Kapitalkonzentration an verschiedenen Orten der Welt, historisch gesehen in Lissabon, London, Venedig, Potosí, Amsterdam, Brügge, Konstantinopel, New York, Shanghai und den zahlreichen Handelsposten in Afrika, Asien und Amerika…. sie haben den direkt internationalen Charakter der kapitalistischen Produktionsweise eindeutig materialisiert, auch wenn diese nicht „direkt” mit ihren „zivilisatorischen Errungenschaften” (aber auch formal heute nicht mehr!) in jedem Fleckchen der Erde zu spüren ist. Umso mehr, als die Bewegung des Kapitals (der Wettbewerb) es dauerhaft dazu zwingt, dort zu investieren, wo der Gewinn am größten ist, was eine ständige Bewegung zwischen verschiedenen Polen der Akkumulation, Konzentration und Organisation zur Folge hat… die „historischen“ Pole werden verdrängt (so sehr, dass heute einige „historische Zentren“, insbesondere Westeuropa, wie beispielsweise Portugal, zu einer Verödung verkommen sind, die den sogenannten „unterentwickelten Ländern“ würdig ist! Dritte-Weltisten und Eurozentristen, was sagt ihr dazu?) durch „neue Pole” der Konzentration (die alle genauso kapitalistisch sind) wie São Paulo, Israel, Hongkong, Japan, Südafrika, Kalifornien, Sibirien …
„Das Kapital, das heute in den Vereinigten Staaten ohne Geburtsurkunde auftaucht, ist nichts anderes als das Blut der Fabrikkinder, das gestern in England kapitalisiert wurde.”
(Marx: Das Kapital)
Das Wesen des Kapitals ist der Wettbewerb zwischen verschiedenen Kapitalien, der eine ständige Bewegung der Akkumulationspole bestimmt, „Geld zieht immer mehr Geld an”.
„Konzeptionell gesehen ist der Wettbewerb nichts anderes als die innere Natur des Kapitals, dessen wesentliche Bestimmung sich als Wechselwirkung der verschiedenen Kapitalien zeigt und verwirklicht, als innere Tendenz des Kapitals, die als äußere Notwendigkeit auftritt.“
(Marx: Grundrisse – Band I)
Die Bewegung zwischen diesen verschiedenen Polen der Kapitalkonzentration (die dialektisch zu Polen der Verödung führen) und damit der Konzentration des Klassenkampfs ist die Bewegung des Kapitals selbst, das von seinem Ursprung bis zu seinem Verschwinden die ganze Welt als Feld und Grenze seiner widersprüchlichen Entwicklung hat.
„Die Entdeckung der Goldfelder Amerikas, die Versklavung der Eingeborenen, ihre Verschleppung in die Minen oder ihre Ausrottung, die Anfänge der Eroberung und Plünderung Ostindiens, die Verwandlung Afrikas in eine Art Handelswildnis für die Jagd auf schwarze Häute – das sind die idyllischen Verfahren der ursprünglichen Akkumulation, die den Beginn des Kapitalismus ankündigten. Unmittelbar danach bricht der Handels- und Weltkrieg aus, der den ganzen Globus zum Schauplatz macht. Er beginnt mit dem Aufstand Hollands gegen Spanien, nimmt er gigantische Ausmaße im Kreuzzug Englands gegen die Französische Revolution an und dauert bis heute in Piratenexpeditionen wie den berühmten Opiumkriegen gegen China an.“
(Marx: Das Kapital)
Was Marx hier meisterhaft aufzeigt, ist nicht nur die Tatsache, dass seit den Anfängen des Kapitalismus der Weltmarkt als „Schauplatz“ der kapitalistischen Zivilisation existiert, sondern auch der direkt imperialistische Charakter des Kapitals, das nicht auf dieses oder jenes Datum warten musste, um sich durch die systematische Ausplünderung der Welt durchzusetzen; es musste nicht auf eine „höchste Stufe“ warten, um weltweit wettbewerbsfähig, also imperialistisch zu sein. So global das Wesen des Kapitals ist, so direkt imperialistisch ist es auch.
„Es ist die notwendige Tendenz des Kapitalismus, sich die Produktionsweise in jeder Hinsicht unterzuordnen ihn der Herrschaft des Kapitals zu unterwerfen. Innerhalb einer bestimmten nationalen Gesellschaft geschieht dies zwangsläufig, schon allein durch die Umwandlung aller Arbeit in Lohnarbeit durch das Kapital. Was die ausländischen Märkte betrifft, so erzwingt das Kapital die Ausbreitung seiner Produktionsweise durch den internationalen Wettbewerb.“
(Marx: Grundrisse – Band II)
Nachdem diese grundlegenden Präzisierungen vorgenommen wurden, wollen wir uns nun mit der restriktiven, undynamischen und konterrevolutionären Bedeutung der Anwendung der Dekandez-Theorien auf die Geschichte der kapitalistischen Produktionsweise befassen. Die logische Folge aller Dekandez-Visionen – genau wie die der Bourgeoisie – ist die lange und schrittweise Eroberung (die logischerweise bis heute andauern müsste!) des Weltmarktes (der also ursprünglich nicht existierte!) von einem Punkt (vorzugsweise Westeuropa) aus in Richtung der restlichen Welt… Diese Visionen sind also aktive Negationen des internationalen Wettbewerbs, des Weltmarktes als Feld des internationalen Austauschs, der durch den Umlauf der den Wert repräsentierenden universellen Währung verwirklicht wird: der sozial abstrahierte menschliche Arbeit auf globaler Ebene. Wer von internationalem Handel, universeller Währung, Wert spricht, spricht zwangsläufig von der vollständigen Existenz des Weltmarktes als Voraussetzung für das Entstehen der kapitalistischen Produktionsweise (auch wenn dieser Weltmarkt durch die Entwicklung des Handels mit immer mehr Waren ständig wächst).
Tatsächlich sind die Einschränkungen/Negationen der Dekandez-Visionen doppelt: sowohl in zeitlicher als auch in räumlicher Hinsicht. In zeitlicher Hinsicht: Die Dekandez-Visionen legen eine Zäsur in der Zeitlinie des Kapitalismus fest (die klassischste ist die Zäsur von 1914…), um ab diesem Zeitpunkt den Kapitalismus als „objektiv“ senil zu definieren (vor allem, weil der Weltmarkt endlich fertig wäre!!), woraufhin (und erst ab diesem Zeitpunkt) „die Ära der kommunistischen Revolution beginnen würde“7. Im Raum: Verschiedene Momente (1848, 1871, 1914…) würden die „fortschreitende Entwicklung” des Kapitalismus in diesem oder jenem geopolitischen Raum abschließen. Bei dieser Variante geht es darum, Zonen zu definieren, in denen aufgrund der Entwicklung der Produktivkräfte (einseitige Sichtweise auf den positiven Pol des Kapitals, ohne dessen logische Folge, die Verödung, zu sehen die Wüste!), die kommunistische Revolution „direkt auf der Tagesordnung“ stünde (z. B. Westeuropa ab 1848), und andere Gebiete, in denen es um eine „doppelte Revolution“ auf dem Spiel stünde, beispielsweise in Russland 1917 (eine „politisch“ proletarische und „sozial“ bourgeoise Revolution – eine degenerierte bordigistische Version der permanenten Revolution, die Trotzki so sehr am Herzen lag), und wieder andere, in denen es noch um die „bourgeois-nationale Revolution“ ginge (eine formalistische Rechtfertigung für die Unterstützung nationaler Befreiungskämpfe). Nun ist aber klar, dass in der bourgeoisen Sichtweise die letztere Variante formal die kohärenteste ist, da sie (immer aus der Sicht der der Bourgeoisie eigenen Progressivität) nur die Konzentrationspole des Kapitals berücksichtigt, um zu definieren, „welche Art von Revolution auf der Tagesordnung steht“. Abgesehen natürlich von der nicht-globalen und nationalen (um nicht offen nationalistisch zu sagen) Sichtweise der kapitalistischen Produktionsweise muss man auch komischerweise sehen, dass bestimmte „historische“ Zonen der Kapitalentwicklung (und damit Gebiete, in denen die kommunistische Revolution schneller „an der Tagesordnung“ wäre) aufgrund der Verlagerung der Konzentrationspole (und der damit einhergehenden Verödung) wieder zu Gebieten werden würden, in denen zunächst eine andere Art von Revolution stattfinden müsste. (Es ist zum Beispiel „komisch”, sich an die Zickzackkurs einer Gruppe wie der „KPI – Kommunistisches Programm” bei der Definition der geopolitischen Gebiete im Nahen Osten und in Lateinamerika zu erinnern, wo bestimmte Gebiete je nach ihrer Irrfahrt innerhalb der bourgeoisen Ideologie von einem Tag auf den anderen von einer Art Revolution in eine andere übergingen! Ob die Beschränkung der kapitalistischen Produktionsweise auf ein Datum oder auf eine räumlich begrenzte Vision (dieser oder jener Bereich zu dieser oder jener Zeit) beschränkt ist, in beiden Fällen handelt es sich um die Negation des weltweiten Charakters des Kapitalismus und damit um die Negation des direkt internationalistischen Charakters des Proletariats, das seit dem Entstehen des Kapitals Träger der weltweiten kommunistischen Revolution ist.
Schließlich müssen wir eine der grundlegenden Konsequenzen des unmittelbar und unveränderlich universellen Charakters der kapitalistischen Produktionsweise hervorheben: die Nicht-Existenz sogenannter „außerkapitalistischer Märkte” aus globaler Sicht. Wie wir gesehen haben, ist der Weltmarkt die Voraussetzung für das Entstehen/die weltweite Vorherrschaft der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die aufgrund ihrer Natur alle ihr vorausgegangenen Produktionsweisen (und deren gesellschaftliche Verhältnisse) unter sich subsumiert. So setzt das Kapital alle seine Voraussetzungen selbst, es ist selbst „Selbstvoraussetzung“ seiner weltweiten Herrschaft, sobald es als Produktionsweise auftritt, setzt es seinen universellen Charakter (und darin liegt seine wesentliche „Originalität“) en bloc und weltweit und damit den Widerspruch Proletariat/Bourgeoisie. Im Extremfall würden wir sagen, dass die sogenannten „außerkapitalistischen“ Märkte, wenn sie existieren, nur ganz am Rande als Selbstversorgungssysteme existieren, die so unproduktiv (= aus kapitalistischer Sicht unrentabel) sind, dass die kapitalistische Produktionsweise, obwohl sie den gesamten Planeten beherrscht, sie aufgrund ihres Uninteresses formal bestehen lässt (dies ist der Grenzfall bei diesem oder jenem Stamm im „Mato Grosso” oder in „Neuguinea”…), oder sie werden direkt beherrscht und unterworfen (= subsumiert), weil es einen (durch Geld vermittelten) Austausch zwischen ihnen und der kapitalistischen Produktionsweise gibt. Dadurch verschwinden sie als „außerkapitalistische Märkte”. Der Austausch – der natürlich in der globalen Zirkulationssphäre stattfindet – ist der unmittelbare Motor für die Auflösung/Integration aller vorkapitalistischen Produktionsweisen, auch wenn einige Formen davon ergänzend zur totalen Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise weiterbestehen. In den sogenannten „außerhalb des Kapitalismus liegenden” Märkten den eigentlichen Motor der kapitalistischen Entwicklung zu sehen (denn diese wären die „einzige solvente Nachfrage” – These von Rosa Luxemburg) zu sehen, bedeutet im Wesentlichen, nicht zu verstehen, dass das eigentliche Problem die notwendigerweise immer größere Produktion von Mehrwert (und nicht dessen Realisierung) ist und dass somit der Austausch zwischen kapitalistischer und „außerkapitalistischer” Produktion einen Unsinn darstellt, da er direkt die Existenz und Herrschaft des Weltmarktes bedeutet, und aufgrund dieses Austauschs die Zerstörung (Nicht-Existenz) der sogenannten „außerhalb des Kapitalismus liegenden Märkte”, die nach Luxemburgs eigener These beim ersten Austausch verschwinden.
„Die allgemeine Überproduktion entsteht nicht dadurch, dass die Arbeiter oder Kapitalisten relativ zu wenig Waren konsumieren, sondern dadurch, dass ihre Produktion zu stark ist: Sie ist nicht zu stark für den Konsum, sondern für das richtige Verhältnis zwischen Konsum und Verwertung. Die Produktion ist zu stark für die Verwertung.”
(Marx: Grundrisse – Band I)
Entweder gibt es die sogenannten „außerkapitalistischen“ Märkte und sie sind die „Lunge“ der kapitalistischen Entwicklung, und dann müsste diese nicht erst seit 70 Jahren, sondern schon seit mehreren Jahrhunderten im Niedergang begriffen sein (wenn nicht sogar schon „selbstzerstört“), oder aber die Existenz dieser sogenannten „außerkapitalistischen Märkte“ im „besten Fall“ für den Kapitalismus völlig uninteressant (da der Mehrwert nicht aus dem Austausch entsteht, sondern aus der Differenz zwischen notwendiger und überflüssiger Arbeit innerhalb der kapitalistischen Produktion8), oder aber sie sind direkt als ergänzende Formen des Kapitalismus subsumiert und somit nicht „außerhalb des Kapitalismus“, sondern direkt in den Weltmarkt, in die kapitalistische Produktionsweise integriert und von dieser beherrscht werden. Die Frage nach den sogenannten „außerhalb des Kapitalismus liegenden Märkten” hat ihren Ursprung wieder in der nicht globalen und progressiven Sichtweise der kapitalistischen Produktionsweise, in der einseitigen Betrachtung des Kapitals aus der Perspektive seines positiven Pols (Konzentration, Industrialisierung, Fabriken, Reichtum, Fortschritt … das ist die apologetische Sichtweise des Kapitals auf sich selbst) und nicht seiner Gesamtheit, seines positiven und negativen Pols (Wüstenbildung, Verarmung, Hungersnöte, zerstörerische Kriege, Slums), die sich alle in Bewegung befinden. Das Wesen aller Dekadenz-Theorien, unabhängig von ihren unterschiedlichen ideologischen Rechtfertigungen, bedeutet daher die Negation der universellen und weltweiten Substanz des Kapitalismus, das Unverständnis der Herrschaft des Werts, d. h. der abstrakten Arbeit; in diesem Sinne sind sie bourgeoise Visionen.
Theorien der Dekadenz: Apologie des sozialdemokratischen Reformismus und damit des Kapitals
Zum Abschluss dieses ersten Beitrags wollen wir nun einige politische Konsequenzen betrachten, die sich aus den Dekadenz-Visionen ergeben.
Der Ursprung der Dekadenz-Theorien (Theorien vom „Zeitwandel” und von der „Einleitung einer neuen Phase des Kapitalismus: seiner Niedergangsphase”…) findet sich „seltsamerweise” in den 1930er Jahren wieder, wo sie sowohl von den Stalinisten (Varga) als auch von den Trotzkisten (Trotzki selbst) und bestimmten Sozialdemokraten (Hilferding, Sternberg…) und Akademiker (Grossmann) theoretisiert. Nach der Niederlage der revolutionären Welle von 1917-23 begannen also einige Produkte des Sieges der Konterrevolution, eine lange Phase der „Stagnation” und des „Niedergangs” zu theoretisieren. Diese Theorie ermöglichte es im Nachhinein, eine formale Kohärenz zwischen den „Errungenschaften der Arbeiterbewegung des vorigen Jahrhunderts” (hier geht es natürlich um die „Errungenschaften” der Bourgeoisie in der Sozialdemokratie: Gewerkschaften/Syndikate, Parlamentarismus, Nationalismus, Pazifismus, „Kampf für Reformen”, Kampf um die Eroberung des Staates, Ablehnung revolutionärer Aktionen…) und aufgrund des „Zeitwandels” (ein klassisches Argument, um alle Revisionen/Verrätereien des historischen Programms zu rechtfertigen) die Entstehung „neuer Taktiken”, die dieser „neuen Phase” angemessen waren, die von der Verteidigung des „sozialistischen Vaterlandes” für die Stalinisten bis zum „Übergangsprogramm” von Trotzki und zur Ablehnung der gewerkschaftlichen/syndikalistischen Form zugunsten der Räte für die „Ultra-Linken” reichten (siehe Pannekoek: Die Arbeiterräte – Hrsg. Bélibaste). Alle bestätigen so unkritisch die Vergangenheit und vor allem den sozialdemokratischen Reformismus, der mit einem Handgriff gerechtfertigt wird, weil er „in der Aufschwungphase des Kapitalismus“ stattfand… Aber jede Strömung zieht aus dem „Zeitwandel“ die politischen Konsequenzen, die zu ihrer eigenen Ideologie passen. Der „Zeitwandel” ermöglicht es somit im Nachhinein jedem, jede Position zu rechtfertigen, während er sich formal immer auf eine andere Zeit beruft, in der andere Positionen gültig gewesen wären. So funktionieren alle Revisionisten: Sie sind immer formal mit dem revolutionären Programm einverstanden (für gestern, aber nicht mehr für heute!), aber „man muss verstehen, Gefährten, dass sich der Kapitalismus weiterentwickelt hat, dass er andere Probleme aufwirft…“.Und wieder einmal sind die Kommunisten die „Iguanodons der Geschichte”, diejenigen, für die sich nichts grundlegend geändert hat, diejenigen, für die die „alten Methoden” des direkten Kampfes, Klasse gegen Klasse, die gewaltsame und weltweite Revolution, der Internationalismus, die Diktatur des Proletariats… immer noch – gestern, heute, morgen – gültig sind. Die Kommunisten sind also diejenigen, die praktisch die historische Unveränderlichkeit der Interessen des Proletariats und damit seines Programms verteidigen. Der Mythos vom „Zeitwandel“ wird natürlich in beide Richtungen benutzt: Während es für die meisten Anhänger der Dekadenz-Theorie (Trotzkisten, Stalinisten …) darum geht, ihren offenen Verrat am revolutionären Programm (im Einklang mit der Sozialdemokratie) zu rechtfertigen, geht es für die „Ultra-Linken“ darum, unter Beibehaltung einer pseudo-sozialdemokratischen (II. Internationale) Abstammung zu erklären, warum die konterrevolutionären Praktiken der Sozialdemokratie heute nicht mehr gültig sind (und gestern also gültig waren!).
Einer der Knackpunkte ist also – unabhängig davon, wie man den „Zeitenwandel“ nutzt – die Klassencharakter der Sozialdemokratie und die Fortsetzung der Verteidigung ihrer Grundpositionen innerhalb der degenerierten Kommunistischen Internationale und innerhalb der Strömungen, die nicht oder nicht ausreichend mit dieser gebrochen haben. Für uns ist das Wichtigste, dass die historischen Interessen und Bedürfnisse des Proletariats die historische Beständigkeit seines Programms bestimmen, ebenso wie dessen Einzigartigkeit (Ablehnung von sogenannten Minimalprogrammen, Übergangsprogrammen …). Die Sozialdemokratie – die II. Internationale – (und ihre „nationale Partei“ als Anführerin: die deutsche Sozialdemokratie) entstand mitten in der Konterrevolution, die nach der Niederschlagung der Pariser Kommune begann. Die historische Aufgabe der Sozialdemokratie bestand nicht darin, den Kampf für die Zerstörung des Systems zu organisieren (was der unveränderliche Standpunkt der Kommunisten ist) sondern die durch die Konterrevolution zersplitterten Arbeitermassen zu organisieren, um sie zu erziehen und sie bestmöglich in das System der Lohnabhängigkeit einzubinden. Der Marxismus war damals nicht mehr Ausdruck des historischen und revolutionären Kampfes des Proletariats, sondern eine neue radikale Ideologie, die dazu diente, (gegen weniger „liberale“ bourgeoise Fraktionen) positiv und wissenschaftlich die Notwendigkeit zu rechtfertigen, das Proletariat als Nicht-Klasse, als bloßes variables Kapital (= Kampf für Reformen) zu integrieren. Daraus ergaben sich direkt die ständigen Praktiken der Sozialdemokratie: nicht der direkte Kampf gegen das Kapital, sondern „Pseudokämpfe” für das allgemeine Wahlrecht (in Wirklichkeit die systematische Umleitung der ersteren auf das Terrain der bourgeoisen Legalität), friedliches und automatisches Wachstum des Kapitalismus zum Sozialismus dank der Erlangung des Wahlrechts…Und damit auch Parlamentarismus (Beteiligung am Staat und an „bourgeoisen” Regierungen (siehe Millerand, der sich bereit erklärte, in die Regierung von Waldeck-Rousseau in Frankreich einzutreten)), Wahlkampf, Legalismus, Nationalismus, Demokratismus, Kulturalismus (da man den Arbeitern „beibringen musste, richtig zu wählen”), Pazifismus, Gewerkschaftswesen/Syndikalismus (Verhandlungen im Rahmen des Systems eines „gerechten” Preises für die Arbeitskraft) …Und auch wenn Marx und Engels gewisse Vorbehalte gegenüber der Gründung der Sozialdemokratie hatten (siehe die Kritik an den Programmen von Gotha und Erfurt), unterstützte der alternde Engels sie mit seinem ganzen Gewicht und vermachte Kautsky die „marxistische Lehre” (daher sein mythischer Nimbus als Garant der „Orthodoxie”) , der es so schaffte, den Marxismus komplett zu ideologisieren und zu einer Theorie/Praxis der sozialen Reform, der fortschrittlichen und schrittweisen Stärkung des kapitalistischen Systems zu machen.
„Nach dem Einheitstag werden Engels und ich eine kurze Erklärung veröffentlichen, in der wir darauf hinweisen, dass wir mit dem fraglichen Grundsatzprogramm nichts zu tun haben (…).“
„Im Übrigen ist das (Gothaer) Programm wertlos, selbst wenn man von der Heiligsprechung der Lassalle’schen Glaubensartikel absieht.”
(Begleitbrief von K. Marx an M. Bracke – 1875)
Marx verstand sogar ganz klar, was auf dem Spiel stand, und obwohl er privat seine Ablehnung deutlich zum Ausdruck brachte (siehe zahlreiche Briefe), billigte er durch sein öffentliches Schweigen die Entstehung einer hybriden deutschen Sozialdemokratie nach Lassalle, die reformistisch und Proudhon näher stand als ihm selbst (ganz zu schweigen vom eigentlichen Anführer, dem berühmten Dr. Dühring).
„Diese Leute sind bis zum Überdruss von bourgeoisen und kleinbourgeoisen Ideen durchdrungen. Hätten diese Herren eine kleinbourgeoise sozialdemokratische Partei gegründet, wäre das ihr gutes Recht gewesen. Aber in einer Arbeiterpartei sind sie ein Fremdkörper. Der Bruch mit diesen Leuten ist nur eine Frage der Zeit. Dieser Moment scheint übrigens gekommen zu sein: „Ihr betrachtet diese Leute immer noch als Genossen der Partei. Das können wir nicht.“
(Marx – Engels: Brief vom 17.-18. September 1879)
Und trotzdem waren es genau diese von Marx angeprangerten bourgeoisen Tendenzen, die die Sozialdemokratie ab der Gründung der Zweiten Internationale (1. Kongress 1889) komplett beherrschten. Selbst als Bernstein begann, den tatsächlichen Klasseninhalt der Sozialdemokratie offen auszusprechen, nämlich ihre reformistische und konterrevolutionäre Funktion (mit dem berühmten Satz: „Das Ziel ist nichts, die Bewegung ist alles“), haben sich die Pseudo-Orthodoxen à la Kautsky, Plechanow, Vollmar und sogar Luxemburg nicht grundsätzlich dagegen, sondern theoretisierten vielmehr eine „Verbindung“ zwischen Reform und Revolution, d. h. sie rechtfertigten faktisch den Reformismus, während sie formal das „revolutionäre Ideal“ für eine immer fernere und utopischere Zukunft aufrechterhielten.
„Die Zweite Internationale wurde zum aktiven Zentrum der bourgeoisen sozialen Entwicklung; nach einem internationalen Kampf gegen 1/ -die revolutionären Elemente, wie die linken Fraktionen, die sie kritisierten 2/ -und die anarchistisch-kommunistische Bewegung, die gewaltsam von den Kongressen von 1891 ausgeschlossen wurde, 1893 und 1894, ist die II. Internationale nie degeneriert, sie entstand, als es keine revolutionäre Perspektive gab, daher ihre von Anfang an vollständige Beteiligung am politischen System der Bourgeoisie.”
(J-Y Beriou: „Théorie révolutionnaire et cycles historique„ (Revolutionäre Theorie und historische Zyklen): Nachwort zum Buch „Le socialisme en danger“ (Der Sozialismus in Gefahr) von F. Domela Nieuwenhuis – Verlag Payot)
Natürlich gab es zu verschiedenen Zeiten innerhalb der internationalen Sozialdemokratie linke Oppositionen, die übrigens sehr hart bekämpft und meist ausgeschlossen wurden, was einmal mehr den im Wesentlichen bourgeoisen Charakter der Sozialdemokratie verdeutlicht. Beispiele hierfür sind die dänische und schwedische Linke, die sich um die Wochenzeitung „Arbedjeren” versammelt hatten und 1889 ausgeschlossen wurden; die „Jungen”, eine radikale, antiparlamentarische und reformfeindliche Opposition zur deutschen Sozialdemokratie, die 1891 ausgeschlossen wurde; F. Nieuwenhuis und die niederländischen Radikalen, die 1897 ausgeschlossen wurden, ebenso wie später im selben Land 1907, die Gründung der Gruppe „Die Tribune” (Pannekoek – Gorter – Roland-Holst …), die später eine der ersten kommunistischen Parteien der Welt in England gründete, die Gruppe von William Morris usw., ohne später die weniger radikalen, aber „berühmteren” Oppositionen der bolschewistischen Fraktion, der internationalen Radikalen in Deutschland, der SDKPIL in Polen, der abstentionistischen Fraktion in Italien zu vergessen … Aber all diese Fraktionen haben in ihrem Kampf nie wirklich den nationalistischen und bourgeoisen Charakter der Sozialdemokratie anerkannt, den diese jedoch mit aller Macht zu verkünden und praktisch zu demonstrieren suchte:
„Es versteht sich von selbst, dass wir uns an das Gesetz halten werden, denn unsere Partei ist zweifellos eine Reformpartei im strengsten Sinne des Wortes und keine Partei, die eine gewaltsame Revolution anstrebt (…) Ich lehne es in aller Form ab, dass unsere Bemühungen auf den gewaltsamen Umsturz der bestehenden Ordnung, des Staates und der Gesellschaft abzielen.“
(Liebknecht, Erklärung im Reichstag am 17.3.1879 – zitiert im Text „Marxismus oder Opportunismus: Die II. und III. Internationale“ der heute nicht mehr existierenden Gruppe „La gauche internationaliste“ – „Die internationale Linke“)
Was bleibt also vom Mythos des „Verrats vom August 1914“, wenn die Zweite Internationale seit ihrer Gründung immer dasselbe bourgeoise Programm vertreten hat? Was nötig war, war einmal mehr, mit der Sozialdemokratie zu brechen und außerhalb und gegen sie zu kämpfen, um die Proletarier und die revolutionären, anti-reformistischen Fraktionen nicht allein der anarchistischen Ideologie zu überlassen (die übrigens nie so viele kämpfende Proletarier um sich scharen konnte wie in dieser Zeit).
„Man hätte Alarm schlagen müssen. Die Sozialdemokratie als sozialpatriotisch und militaristisch anprangern. Mit ihr brechen und die Arbeiter zum Bruch aufrufen. Ihre Heuchelei brandmarken. Diese Kongresse der Betrogenen anprangern. Stattdessen geben Luxemburg und Lenin ihr eine linke Deckung, loben die Kongresse usw. So machen sie sich selbst etwas vor (und, was noch schlimmer ist, sie täuschen die Arbeiter) über die Sozialdemokratie.“
(„L’Internationale“ Nr. 2 – Organ der Internationalen Linken)
Die Anwesenheit marxistischer Revolutionäre (Pannekoek, Gorter, Lenin usw.) in der Zweiten Internationale bedeutete also nicht, dass diese die Interessen des Proletariats (sowohl die „unmittelbaren” als auch die historischen) verteidigte, sondern ermöglichte es – mangels eines Bruchs –, die gesamte konterrevolutionäre Praxis der Sozialdemokratie zu billigen. Und jedes Mal, wenn Revolutionäre die II. Internationale kritisierten, wurden sie als Provokateure oder Anarchisten bezeichnet, sei es Nieuwenhuis oder später Lenin, als er die marxistische Vorstellung von der notwendigen Zerstörung des bourgeoisen Staates teilweise wieder aufgriff (siehe „Staat und Revolution“).. Der Anarchismus diente so als negatives Gegenbild zum sozialdemokratischen Reformismus; da „Marxismus” Reformismus bedeutete, blieb den Revolutionären nichts anderes übrig, als sich der anarchistischen Ideologie anzuschließen und sich in einer anderen bourgeoisen, antiautoritären, föderalistischen, verwaltenden Ideologie zu verlieren. Der „Bankrott“ der Sozialdemokratie ist in Wirklichkeit nur ein Aspekt des allgemeinen und ursprünglichen Bankrotts sowohl des sozialdemokratischen Reformismus als auch des Anarchismus, und in direkter Fortsetzung ihres gegensätzlichen, aber ebenso bourgeoisen Programms fanden sich beide Strömungen wieder, um die Proletarier aktiv zum ersten Weltgemetzel aufzurufen: Noske, Bernstein, Vandervelde, Kautsky, Plechanow, Guesdes, Jaurès… die den Kropotkin, Hervé, Grave, Cornelissen, Malato, Reclus, Almereyda… in nichts nachstanden. Das grundlegende Unverständnis für den direkt bourgeoisen Charakter der Zweiten Internationale verhinderte die Bildung einer Dritten Internationale, die sich klar von all dem sozialdemokratischen Mist abgegrenzt hätte; das Fehlen eines grundlegenden programmatischen Bruchs führte sehr schnell dazu, dass die KI der Sozialdemokratie auf das Terrain der Bourgeoisie folgte, auch wenn ihre Sprache „radikaler” war (der Parlamentarismus wurde zum Beispiel zum „revolutionären“ Parlamentarismus usw.), und das trotz der Versuche einer klareren Trennung, die von der Internationalen Kommunistischen Linken vertreten wurden. Als Beispiel sei einer ihrer am wenigsten bekannten Ausdrücke genannt: die kommunistische Linke in Belgien, die nur einer der Ausdrucksformen der kommunistischen Linken in Holland, Deutschland, England, Indien, Italien, Russland, Mexiko, den USA usw. war.
„Der Demokratismus, der heute in Wahlkampagnen und bei allen Manifestationen der Sozialdemokratie so hochgelobt wird, hat das Bedürfnis und den Sinn der direkten Anstrengung in den Massen immer mehr geschwächt. Der moderne Kommunismus ist aus einer gewaltsamen Aktion gegen diesen Demokratismus entstanden. Dieser Akt war eine Frage von Leben und Tod für die revolutionäre Bewegung. Er war die Notwendigkeit, die in Belgien die Gründung der kommunistischen Partei erforderlich machte (…). Die nationalistische Ideologie ist im Laufe der Entwicklung der kapitalistischen Staaten zum Opium geworden, das die Ermordung der Völker möglich gemacht hat. (…) In Belgien sind die immer weitergehende Einführung von gemischten Kommissionen, die Regulierung der Löhne nach dem Index, die Präsenz von Anführern der Gewerkschaften/Syndikate in den Räten der bourgeois Regierung und die immer engeren Beziehungen zu den verschiedenen bourgeois Ministerien nur einige Aspekte einer umfassenden Politik, die darauf abzielt, die revolutionäre Aktion der Gewerkschaften zu neutralisieren und sie immer mehr in Organe des bourgeois Staates zu verwandeln.“
(War Van Overstraeten – „Der kommunistische Arbeiter“ – 1921)
* * *
Die Anhänger der Dekadenz-Theorie schaffen es so nie, die echte Verbindung, die historische Konstante zwischen den revolutionären Fraktionen sowohl dieses Jahrhunderts als auch des vergangenen Jahrhunderts zu verstehen. Und sie loben auf opportunistische Weise die „Errungenschaften der Sozialdemokratie” und spucken damit auf den Kampf der revolutionären Fraktionen, die gegen den Strom, wenn auch mit großen programmatischen Schwächen, gegen die Sozialdemokratie und gegen die bourgeoise Linke gekämpft haben (oder diesen Kampf bewusst ignorieren). Die Unveränderlichkeit ist ebenso die Unveränderlichkeit aus kapitalistischer Sicht; es gibt eine Kontinuitätslinie zwischen allen Revolutionären, die das kommunistische Programm verteidigen, wie auch zwischen allen Reformisten von Proudhon, Louis Blanc, Kautsky bis hin zu unseren Marchais, Krivine und anderen Scargills… Die Funktion der Dekadenz-Theorien besteht jedoch darin, diese Kontinuität zu durchbrechen, die Unveränderlichkeit zu zerstören, um für die eine oder andere „Periode” eine konterrevolutionäre Politik zu rechtfertigen. Die konterrevolutionäre Funktion der Sozialdemokratie im letzten Jahrhundert nicht anzuerkennen, ist kein „kleiner Interpretationsfehler der Vergangenheit”, sondern bedeutet für heute direkt ein Unverständnis der Unveränderlichkeit der Methoden und der proletarischen Aktion, ein Unverständnis des revolutionären Programms, das sich zum Beispiel bei den Rätekommunisten darin zeigt, dass sie die Form der reformistischen Gewerkschaften/Syndikate durch die der „Sowjets“ ersetzen (ein Formwechsel, der „an sich“ den proletarischen Inhalt garantieren soll!), oder bei den Trotzkisten, dass der „Wechsel der Periode“ die Hervorhebung „vorläufiger Forderungen“ bedeutet, die zum Beispiel die Diktatur des Proletariats durch eine „Arbeiter- und Bauernregierung“ ersetzen…. Die Aufgaben der Kommunisten wären nicht mehr – wie immer – die Organisation des Kampfes und die weltweite Führung der Partei zur Aktion, sondern würden für die einen zu „geistigen Beratern” werden, die seit 1914 nicht mehr „eintreten” können, und für die anderen zu „Erbauern” einer Massenpartei, die „den ungebildeten Massen das Bewusstsein bringen”, usw. Der Mythos vom „Zeitenwandel“ ermöglicht es somit allen Strömungen, nicht mit der tatsächlichen Praxis der Sozialdemokratie (und ihrem bourgeoisen Charakter) zu brechen genauso wie später mit denselben (verbal radikalisierten) Praktiken innerhalb der immer mehr degenerierten „KI“ (siehe die 21 Bedingungen usw.). Die Verweise auf die Sozialdemokratie, auf die rein formale „Orthodoxie“ von Kautsky (und dann auf seine plötzliche Verwandlung in einen „Renegaten“) sind nicht nur „literarische Verweise“, sondern bedeuten in der heutigen Praxis die Reproduktion des Reformismus in verschiedenen Formen, der bourgeoisen Praxis für das Proletariat (d. h. dessen Aufrechterhaltung als Nicht-Klasse, als atomisierte Staatsbürger), sei es durch die Verteidigung der „nationalen Befreiungskämpfe”, des Demokratismus (auch und vor allem in der radikalen Form der Demokratie der „Arbeiter”, der „Vollversammlungen“), des Legalismus (grundsätzliche Terrorismusbekämpfung), der Gleichgültigkeit gegenüber Arbeiterkämpfen, die nicht im heiligen „Westeuropa“ stattfinden, des Kulturalismus (Bildungsismus sowohl der Rätekommunisten als auch der Leninisten), des Mythos der „spontan revolutionären Massen“, des „Generalstreiks mit verschränkten Armen“ … allesamt Auffassungen/Praktiken, die nicht mit der Sozialdemokratie brechen und somit in Kontinuität mit der Konterrevolution stehen.
Den sozialdemokratischen Taktiken (ohne deren bourgeoises Wesen zu verstehen) „neue Taktiken” entgegenzusetzen, die endlich (!?) durch die „Periode der Dekadenz” möglich geworden sind, bedeutet nicht, mit dem bourgeoisen Inhalt, mit der konterrevolutionären Politik zu brechen, sondern diesen Inhalt in anderen Formen zu reproduzieren, sei es in der Frage der Partei, der Räte, des Arbeiterstaates, der Gewalt, des revolutionären Defätismus, des Internationalismus usw.
Wie Marx und Engels klar sagten: Niemals, weder gestern noch heute noch morgen, sind (oder werden für eine „Periode“) Kommunisten „Sozialdemokraten“; zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus besteht dieselbe Klassengrenze wie zwischen Bourgeoisie und Proletariat:
„In all diesen Schriften bezeichne ich mich nie als Sozialdemokrat, sondern als Kommunist. Für Marx wie für mich ist es absolut unmöglich, einen so dehnbaren Ausdruck zu verwenden, um unsere eigene Auffassung zu bezeichnen.”
(Engels: Vorwort zur Broschüre des Volksstaats von 1871-75, zitiert in „Die deutsche Sozialdemokratie” – Marx – Engels, überarbeitet und korrigiert von R. Dangeville)
Die „neuen Bedingungen der Periode der Dekadenz“ sind also nur eine nachträgliche Rechtfertigung für die konterrevolutionären Positionen, die insbesondere von der Sozialdemokratie seit ihrer Entstehung im letzten Jahrhundert vertreten wurden und die heute dazu führen, dass nicht die Bedürfnisse und Methoden des proletarischen Kampfes unterstützt werden, sondern „Taktiken“, die sich bereits als streng antiproletarisch erwiesen haben. Und das, obwohl bestimmte bourgeoise Positionen lautstark über Bord geworfen werden, wie zum Beispiel für einige die Frage nach dem bourgeoisen Charakter der Gewerkschaften/Syndikate, des Parlamentarismus… um dann durch die Hintertür in anderen „Formen” und unter anderen Namen wieder reingeschmuggelt zu werden (Gewerkschaften/Syndikate werden zum Verwaltungsorgan der Sowjets, Parlamentarismus wird zu Vollversammlungsismus, Wahlkampf wird zu „gewählten und jederzeit abwählbaren” Vertretern, Pazifismus wird zu Gleichgültigkeit…). Der bourgeoise Inhalt bleibt derselbe: Es geht darum, die kapitalistische Diktatur zu reformieren und damit zu stärken. Zu keinem Zeitpunkt – außer in einigen platonischen Erklärungen – geht es darum, den Kampf der Arbeiter für die vollständige Zerstörung des bourgeoisen Weltstaates zu organisieren, zu zentralisieren und zu führen. Alle Anhänger der Dekadenz-Theorie halten in Wirklichkeit an der Substanz und Methodik der Sozialdemokratie fest: Kult der „Massen“ (in ihrer parteiischen oder sowjetischen Form), Trennung zwischen „ökonomischen Kämpfen” und „politischen Kämpfen” (und damit auf die eine oder andere Weise „Transzendenz der ersten in die zweiten”), Trennung zwischen „objektiven Bedingungen” und „subjektiven Bedingungen”, Ablehnung des revolutionären Defätismus, des internationalistischen sozialen Krieges, Ablehnung der direkten Aktion… tatsächlich Ablehnung und Zerstörung des revolutionären Kampfes des Proletariats. In diesem Sinne materialisieren die Theorien der Dekadenz (und natürlich auch die Praktiken, die sie hervorbringen) die Dekadenz der Theorie, das Abgleiten in den bourgeoisen Sumpf des Reformismus, und zwar in vielfältigen Formen. Wir werden bald auf verschiedene spezifischere Aspekte verschiedener Varianten der sozialdemokratischen Dekadenz-Theorie zurückkommen.
„Der höchste heroische Aufschwung, dessen die alte Gesellschaft noch fähig war, ist der Nationalkrieg, und dieser erweist sich jetzt als reiner Regierungsschwindel, der keinen andern Zweck mehr hat, als den Klassenkampf hinauszuschieben, und der beiseite fliegt, sobald der Klassenkampf im Bürgerkrieg auflodert. Die Klassenherrschaft ist nicht länger imstande, sich unter einer nationalen Uniform zu verstecken; die nationalen Regierungen sind eins gegenüber dem Proletariat!”
(Marx – Der Bürgerkrieg in Frankreich, 1871)
1Für eine detaillierte Untersuchung der Demokratie als unveränderlicher Inhalt der kapitalistischen Diktatur (der Faschismus ist in Wirklichkeit nur eine Säuberung der Demokratie) verweisen wir den Leser auf unseren Text „Communisme contre démocratie (Kommunismus gegen Demokratie – Communism #4)“ in Le Communiste Nr. 19.
2Mehr zu diesem Thema findest du in: „De l’aliénation de l’homme à la communauté humaine (Von der Entfremdung des Menschen zur menschlichen Gemeinschaft)“ in Le Communiste Nr. 14.
3Siehe „Pour la critique de l’économie politique (Zur Kritik der politischen Ökonomie)“ (I) in Le Communiste Nr. 21.
4Für eine ausführlichere Darstellung des bourgeoisen Charakters des Trotzkismus verweisen wir auf unseren Text: „Trotskisme : produit et agent de la contre-révolution (Trotzkismus: Produkt und Agent der Konterrevolution)“ in Le Communiste Nr. 8.
5Siehe unseren Text: „Contre le mythe des droits et libertés démocratiques (Gegen den Mythos der demokratischen Rechte und Freiheiten)“ in Le Communiste Nr. 10/11.
6Siehe unter anderem: „Pour la critique de l’économie politique“ (I) und (II) in Le Communiste Nr. 21 und Nr. 22 sowie „Contre le mythe du ’Capitalisme d’Etat‘ (Gegen den Mythos des ‚Staatskapitalismus‘)“ in Le Communiste Nr. 22.
7Es ist anzumerken, dass selbst für die Dekadenz-Theorien von Luxemburg, ebenso wie für Lenin in „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ (den wir demnächst kritisieren werden), es darum geht, aus einer globalen Perspektive die Möglichkeit der kommunistischen Revolution direkt auf die Tagesordnung zu setzen und nicht eine Phase von mehr als 70 Jahren zu definieren, in der der Kapitalismus in seinem „dritten Alter“ weiter sterben würde (und sich dabei weiterentwickeln würde!), genau wie bei manchen Leichen von Staatschefs, die für die Nachfolge „am Leben gehalten“ werden. Auch hier übernehmen die Theorien der Dekadenz formell Sätze von Revolutionären der Vergangenheit, um die Dekadenz ihrer eigenen Theorie zu rechtfertigen. Wenn es für Luxemburg, Lenin, Bucharin … einen Bruch im Jahr 1914 gab, dann war das der sofortige weltweite Zusammenbruch des Kapitalismus und nicht sein langer Todeskampf in einer „neuen“ Phase des Niedergangs. Insbesondere mit dem Stalinisten Varga tauchte die Theorie der Niedergangphase auf, um in Wirklichkeit den „Progressismus der sowjetischen Ökonomie” gegenüber der „Dekadenz des kapitalistischen Westens” zu rechtfertigen.
„Die Analogien zum Verlauf der Industriezyklen der Vorkriegszeit lassen sich nicht ohne Weiteres auf die aktuelle Phase des Niedergangs des Kapitalismus übertragen.” (Varga, Theoretiker der stalinistischen „IC”: in La correspondance internationale Nr. 101 – 1930)
8Für eine ausführlichere Behandlung dieser grundlegenden Frage verweisen wir unsere Leser auf unsere Texte „Pour la critique de l’économie politique“ I und II in Le Communiste Nr. 21 und Nr. 22 sowie auf unseren Text „Contre le mythe du ’Capitalisme d’Etat’“ in Le Communiste Nr. 22.