Marxismus-Leninismus: Vehikel des Kapitalismus

Marxismus-Leninismus: Vehikel des Kapitalismus


Ein Artikel über den Marxismus-Leninismus, geschrieben von J. Grancharoff und veröffentlicht in „Red and Black: An Anarchist Journal, Nr. 9, Frühjahr 1979“. Von uns übersetzt.

Rosa Luxemburg sagte über die russischen Marxisten:

„Es ist interessant zu beobachten, dass sich die russischen Marxisten immer mehr zu ideologischen Verfechtern des Kapitalismus entwickeln.”1 Ihre Prophezeiung wurde durch die folgenden Ereignisse bestätigt. Als sie an der Macht waren, haben die Marxisten-Leninisten in historischer und pragmatischer Hinsicht die Richtigkeit von Luxemburgs Aussage bewiesen. Das gilt genauso für nicht-russische Marxisten wie Eurokommunisten und Sozialdemokraten, die ohne Skrupel ebenfalls offen die Rolle der Verfechter des Kapitalismus übernehmen.

Natürlich werden einige marxistische Wissenschaftler die Richtigkeit der vorstehenden Aussagen in Frage stellen und sogar ablehnen, obwohl „die russische Gesellschaft wie die osteuropäischen Gesellschaften, China usw. eine asymmetrische und antagonistisch gespaltene Gesellschaft ist – oder, in traditionellen Begriffen, eine ‚Klassengesellschaft‘“2. Diese Einwände beruhen auf der Geschichtslosigkeit der historischen Methode der Gesellschaftsanalyse. Als Instrument zur Analyse der bourgeoisen Realität und damit zum Nachweis ihrer Bankrotterklärung wird ihr derselbe Status in Bezug auf die marxistisch-leninistische historische Realität abgesprochen, die im sozialistischen Sinne der größte ideologische Betrug des 20. Jahrhunderts ist.

Andererseits kann man zu Recht argumentieren, dass die sozialistischen Gelehrten, die Träger der klassenlosen Ordnung, als neue Klasse ein Interesse daran haben, Themen zu verschleiern und zu manipulieren, die Geschichte zu verfälschen, Beweise zu unterschlagen und zu ihrem eigenen Vorteil zu täuschen. Irren ist menschlich, aber wenn dies mit der Rolle als Avantgarde, dem Elitismus und dem Drang zur Herrschaft einhergeht, wird es zu einer bewussten oder unbewussten Verschwörung von Wissenschaftlern, die die Übel des marxistisch-leninistischen bürokratischen Kapitalismus herunterspielen und ihn als attraktive Alternative zum westlichen Kapitalismus darstellen.

Wie dem auch sei, der Marxismus-Leninismus ist eine kapitalistisch orientierte Bewegung. Die Versklavung der Arbeiterinnen und Arbeiter am Arbeitsplatz ist nicht nur ein wichtiger oder zweitrangiger ‚Mangel‘ des Systems, noch ist sie nur ein bedauerlicher und unmenschlicher Zug. Sowohl auf der konkretesten als auch auf der philosophischen Ebene prangert sie die Entfremdung als das Wesen des russischen Regimes an. Streng genommen sind die russischen Arbeiterinnen und Arbeiter ebenso wie jede andere Arbeiterklasse einem ‚Lohn‘-Verhältnis unterworfen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter haben weder Kontrolle über die Mittel noch über das Produkt ihrer Arbeit oder über ihre eigene Tätigkeit als Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie „verkaufen“ ihre Zeit, ihre Lebenskraft und ihr Leben an die Bürokratie, die nach ihren Interessen über sie verfügt. Das ständige Bestreben der Bürokratie ist es, ihre Vergütungen zu senken – und zwar mit denselben Methoden, die im Westen angewendet werden.3 „Dies gilt sowohl für die Sowjetunion als auch für China und andere kommunistische Länder.“

Was macht den Marxismus-Leninismus zu einer bourgeois Bewegung? Viele Faktoren, aber im Grunde lassen sie sich auf drei reduzieren: 1) die Akzeptanz des Staates – einer bourgeoisen Institution – als Instrument der sozialen Transformation; 2) die Betonung der Zentralisierung auf allen möglichen Ebenen: ökonomisch, politisch und sozial; und 3) in Verbindung mit dem ersten und zweiten Punkt die hierarchische Organisationsform und ihre Aufrechterhaltung als soziale Realität.

Der Staat ist der Gipfel der Konzentration politischer Macht. Die Zentralisierung der politischen Macht in den Händen des Staates ist eine bourgeoise Theorie. Bourgeoise Ökonomen wie Turgel, Quesney, Letronne und andere sahen im Staat eine Institution, deren Aufgabe es war, den Geist der Staatsbürger zu formen und Ideen und Gefühle zu vermitteln, die für die Gesellschaft, die bourgeoise Gesellschaft, nützlich und notwendig waren. Gleichzeitig muss der Staat alle Ideen und Gefühle bekämpfen und unterdrücken, die seinem Wesen und seiner Realität widersprechen. Ein bourgeoiser Traum, der von den Marxisten-Leninisten in einen Albtraum verwandelt wurde.

Der sozialistische Staat ist dem bourgeoisen Staat überlegen. Er ist eine andere Form des bürokratischen Kapitalismus. „Das russische Regime ist ein integraler Bestandteil des weltweiten Systems der gegenwärtigen Herrschaft. Zusammen mit den Vereinigten Staaten und China ist es einer der drei Pfeiler. In Zusammenarbeit mit den anderen kontrolliert und garantiert es die Aufrechterhaltung des Status quo auf globaler Ebene.“4 Den sozialistischen Staat als Bedrohung für den Kapitalismus zu betrachten, ist also ein falscher Alarm. Der Sozialismus an der Macht ist Kapitalismus. In der marxistisch-leninistischen Gesellschaft werden die Verwalter des Kapitals zu sozialistischen Verwaltern, die Technologen und Intellektuellen zu Bürokraten und Apparatschiks, die Gewerkschaften/Syndikate zu Anhängseln des Staates und die Arbeiterinnen und Arbeiter zu Sklaven ohne Rechte und ohne Stimme, aber mit vielen Pflichten. Sobald die Produktions- und Vertriebsmittel ein Staatsmonopol sind, ist die Sklaverei absolut. Es gibt keine Alternativen.

Die Zentralisierung, eine der vielen Strömungen im marxistischen Denken, folgt aus der Theorie der Polarisierung des Klassenkampfs. „Die Gesellschaft als Ganzes spaltet sich immer mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große Klassen, die sich direkt gegenüberstehen: Bourgeoisie und Proletariat.“5 Das Proletariat wird nach dem marxistischen Denkmuster unvermeidlich, notwendig und letztendlich zur herrschenden Klasse werden. An der Macht wird das Proletariat den bourgeoisen Prozess der Zentralisierung und Produktion fortsetzen und zu seinem eigenen Vorteil umkehren. „Das Proletariat wird seine politische Vorherrschaft nutzen, um der Bourgeoisie nach und nach das gesamte Kapital zu entreißen, alle Produktionsmittel in den Händen des Staates, d. h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Gesamtproduktivkräfte so schnell wie möglich zu erhöhen.“6 In der Praxis führte diese ökonomische Interpretation der Geschichte zu einem modernen Monstrum: dem bürokratischen Staatskapitalismus. „Aus der Organisation der Produktion und der Konzentration des Kapitals folgt die Beseitigung der ‚unabhängigen‘ individuellen Kapitalisten und die Entstehung einer bürokratischen Schicht, die die Arbeit Tausender Arbeiter in riesigen Unternehmen organisiert, die effektive Leitung dieser Unternehmen übernimmt und die ständigen Veränderungen der Produktionsmittel und -methoden kontrolliert.“7

Da jede Produktionsweise bestimmten sozialen Verhältnissen im Rahmen des Kapitalismus entspricht, unterscheiden Marxisten-Leninisten verschiedene Stadien der kapitalistischen Entwicklung. Einige davon sind der Laissez-faire-Kapitalismus, der Monopolkapitalismus und der Imperialismus. Letzterer ist laut Lenin „der Vorabend der sozialen Revolution des Proletariats“8 und beweist eindeutig „die Wahrheit der Lehre von Karl Marx in konzentrierter Form“.9 „Sie beweist die Wahrheit der Konzentration von Macht und Kapital im sozialistischen Staat, aber sie beweist nicht das Aufkommen des Sozialismus und der klassenlosen Gesellschaft. Im Gegenteil, die Konzentration des Kapitals und die Zentralisierung der Macht in den Händen des marxistisch-leninistischen Staates beweisen den größten Sieg des Monopolkapitalismus, einen Vorläufer des sozialistischen Imperialismus. Aber der sozialistische Imperialismus ist kein Schritt näher zum Sozialismus und zur klassenlosen Gesellschaft. Was sie also von Marx behalten, ist nur die metaphysische und deterministische Darstellung der Geschichte: Es soll eine vorbestimmte Stufe in der Geschichte der Menschheit geben, den Sozialismus, als notwendige Folge des Kapitalismus. Aber der Sozialismus ist keine notwendige Stufe der Geschichte. Er ist das historische Projekt einer neuen Gesellschaftsordnung, deren Inhalt die direkte Selbstverwaltung, die kollektive Verwaltung und Lenkung aller Aspekte des gesellschaftlichen Lebens durch alle Menschen und die ausdrückliche Selbstverfassung der Gesellschaft ist.“10 Ökonomische Konzentration und Machtzentralisierung führen zu einer starken Bürokratisierung des Lebens und einer starren, hierarchisch strukturierten Gesellschaft. Hierarchie ist die Matrix der autoritären Gesellschaftsordnung. Sie teilt die Menschen in Kategorien ein: Herren und Sklaven, Befehlende und Befolgende, Ehemänner und Ehefrauen, Eltern und Kinder, Intellektuelle und Arbeiterinnen und Arbeiter, Apparatschiks und Staatsbürger usw. Geteilt, atomisiert, entfremdet und unfähig, miteinander zu kommunizieren, lassen sich die Menschen leicht manipulieren und regieren. Das alte Sprichwort der römischen herrschenden Klasse „Teile und herrsche“ fasst die Funktion der Hierarchie zusammen. Geschickt von der Bourgeoisie eingesetzt, wurde es von der marxistisch-leninistischen Gesellschaft, die auf sadomasochistischen Beziehungen basiert, die notwendige Voraussetzung für politische, ökonomische und persönliche Versklavung sind, als Waffe perfektioniert.

Die marxistisch-leninistische Gesellschaft ist mit ihrer starren Hierarchie definitiv eine Klassengesellschaft: „Ohne politische, bourgeoise und gewerkschaftliche Rechte, gezwungen, sich in ‚Gewerkschaften‘ einzuschreiben, die nur Anhängsel des Staates, der Partei und des KGB sind, einem System von internen Pässen und Arbeitspapieren unterworfen, unter ständiger polizeilicher Kontrolle und Überwachung am Arbeitsplatz und außerhalb: ständig belästigt durch allgegenwärtige offizielle Propaganda, ist die russische Arbeiterklasse Totalitarismus, Unterdrückung und Kontrolle, geistiger und körperlicher Enteignung ausgesetzt, die faschistische und nationalsozialistische Modelle deutlich übertrifft und nirgendwo außer im maoistischen China übertroffen wurde.“11 Somit ist die marxistisch-leninistische Gesellschaft nichts anderes als eine Ausweitung der Bourgeoisie in ihrer infraroten Form. Diese Bourgeoisie reißt, obwohl sie nicht die Produktionsmittel besitzt, den Mehrwert an sich. Es liegt in ihrem Interesse, die kapitalistische Produktionsweise mit allen Mitteln zu erhalten und den Kapitalismus zu retten. Dies gilt nicht nur innerhalb sozialistischer Länder, sondern auch im westlichen Kapitalismus.

Wer hat bei den Aufständen in Frankreich und in der Tschechoslowakei „die Rückkehr zur Normalität in den Fabriken und auf den Straßen begünstigt und herbeigeführt? Nun, in beiden Fällen waren es die Kommunisten: in Paris dank der Gewerkschaften, in Prag dank der Roten Armee.”12 In Italien, im „heißen Herbst” 1969-70, als der Kapitalismus von den Arbeiterinnen und Arbeitern ernsthaft herausgefordert wurde, setzte sich die kommunistische Partei für den Staat und den Status quo ein.

Der Marxismus-Leninismus ist die staatliche Stufe des Monopolkapitalismus. Der Monopolkapitalismus, so wird der Leninist argumentieren, „ist aus der Kolonialpolitik hervorgegangen.“13 Doch so paradox es auch klingen mag, der Staatssozialismus ist aus der Kolonialpolitik hervorgegangen. Erstens ist die Partei der Kolonisator der Arbeiterinnen und Arbeiter – der Kolonien; zweitens absorbiert der größte Staat die kleinen und beutet sie ökonomisch aus, z. B. Russland und seine Satellitenstaaten. Auch die Ordnung ist kolonial: Die Spitze, das Zentrum, die Bürokratie sind wesentliche strukturelle Merkmale, denen die Untergebenen, also Arbeiterinnen und Arbeiter, Bauern und Provinzen, unterstehen. Das sozialistische Monopol kann man sich wie einen Oktopus vorstellen, dessen Kopf in Moskau oder auch in Peking ist, während seine Tentakel in den Fabriken, auf den Feldern, in den Provinzen und in den kleinen Staaten sind, wo sie die Kraft der Arbeiterinnen und Arbeiter aussaugen und alle Versuche von Selbstbestimmung, Selbstbehauptung und Unabhängigkeit ersticken. Dies macht den marxistisch-leninistischen Staat zum Höhepunkt des Monopolkapitalismus, da die Einheit von ökonomischer Ausbeutung und politischer Versklavung erreicht ist. Die Worte, die Lenin gegen den Monopolkapitalismus aussprach: „Streben nach Herrschaft statt Streben nach Freiheit“14, sind eine treffende Beschreibung des sozialistischen Kapitalismus. Sobald der Monopolkapitalismus und der Staat zum staatlichen Monopolkapitalismus verschmelzen, wird der Kapitalismus virulenter, aggressiver und expansiver und erreicht die Endstufe, den Imperialismus, der „die Ausbeutung kleiner Nationen durch eine Handvoll der reichsten und mächtigsten Nationen“ ist.15 Was für eine ironische Anklage von Lenin ist der Staat, den Lenin geschaffen hat.

Wenn nun der marxistisch-leninistische staatliche Monopolkapitalismus eine Perfektionierung seines bourgeoisen Gegenstücks ist, dann folgt daraus, dass der leninistische Imperialismus eine noch perfektere und grausamere Form der Unterdrückung und Ausbeutung ist. Es ist kein Zufall, dass es für die multinationalen Konzerne profitabel ist, Millionen von Dollar in die sozialistische Ökonomie zu pumpen, um dessen Blutkreislauf sicherzustellen. Staatlich-sozialistische Volkswirtschaften sind zuverlässig und zahlen sichere Dividenden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Marxismus-Leninismus keineswegs eine revolutionäre Wissenschaft ist, sondern eine Reaktion gegen die Revolution und insbesondere gegen die soziale Revolution, die alle Klassenunterschiede und Privilegien beseitigt. Der Erfolg des Marxismus liegt in seiner Fähigkeit, in den Köpfen seiner Anhänger Illusionen zu schaffen, die sein bourgeoises Wesen als Bewegung eher bestätigen als widerlegen. Der Marxismus-Leninismus macht die Welt nicht sicher für den Sozialismus, aber er macht sie definitiv sicher für den Kapitalismus. Der Marxismus-Leninismus ist nicht nur ein Vehikel des Kapitalismus, er ist der Retter des Kapitalismus, er ist der Kapitalismus par excellence. Er bringt keine Revolution hervor, sondern versprüht Rosenöl für eine reibungslose kapitalistische Ausbeutung.


1Georg Lucacs, History of Class Consciousness (Geschichte und Klassenbewusstsein), London, 1971. S.26

2Conrelius Castoriadis, The Social Regime in Russia, in Telos 38, 1978-79, Washington University, St Lois. U.S.A. S.32

3Ebenda, S. 33-34.

4Ebenda, S. 38.

5K. Marx and F. Engels, Manifesto of the Communist Party (Manifest der Kommunistischen Partei), London 1948, S. 61.

6Ebenda, S. 79.

7Cornelius Castoriadis, Op. Cit. S. 40.

8V.I. Lenin, Imperialism, The Highest Stage of Capitalism (Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus), Pekin, 1970. S. 10.

9Ebenda, S. 16.

10Cornelius Castoriadis, Op. Cit. S. 40.

11Ebenda, S.34.

12Censor, Rapporto Veridico, Milano, Italy, 1975. S. 51.

13V.I. Lenin, Op. Cit. S. 149

14Ebenda, S.150.

15Ebenda, S.150

Dieser Beitrag wurde unter Kritik am Leninismus, Texte veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.