Die folgenden Artikel, die zwischen dem 9. Oktober und dem 5. November 1936 geschrieben wurden, sind aus dem Buch von Camilo Berneri „Guerra de clases en España, 1936-1937” (Tusquets, 1977) übernommen und von uns übersetzt.
Camilo Berneri, wurde am 28. Mai 1897 in Lodi, Italien, geboren. Dieser anarchistische Gefährte, der im spanischen Bürgerkrieg kämpfte, wurde am 5. Mai 1937 während der „Mai-Ereignissen/Mai-Tagen”, dem letzten Aufbäumen des Proletariats und revolutionärer Organisationen (Juventudes Libertarias, Amigos de Durruti, POUM) um die soziale Revolution zu retten, zusammen mit seinem Gefährten Francisco Barbieri auf den Straßen Barcelonas ermordet.
Berneri war Herausgeber der Zeitung „Guerra di Classe” und scharfer Kritiker der Führung der CNT, ihrer Zustimmung zur Militarisierung der Milizen und ihrer Beteiligung an der Volksfrontregierung, die die spanische Revolution zerschlug.
In einem seiner letzten Texte, dem Offenen Brief an die Gefährtin Federica Montseny, schreibt er:
„Das Dilemma: Krieg oder Revolution, hat keinen Sinn mehr. Das einzige Dilemma ist dieses: entweder der Sieg über Franco dank des revolutionären Krieges oder die Niederlage. Das Problem für dich und die anderen Gefährten ist, sich zwischen dem Versailles von Thiers und dem Paris der Kommune zu entscheiden, bevor Thiers und Bismarck die heilige Union schließen.“ April 1937.
Und in einem Artikel kurz davor, vom 5. März 1937, beschrieb er die Lage der spanischen Revolution so:
„Die spanische Revolution ist zwischen Burgos und Bilbao eingeklemmt, wo Katholiken, Marxisten und Republikaner ihre „heilige Union“ (eine Anspielung auf die Union Sacrée) immer enger und besser verknüpfen, indem sie die C.N.T. im Norden suspendieren und das Regionalkomitee der C.N.T. inhaftieren. Sie ist zwischen Burgos und Valencia blockiert, wo die anarchistische Zeitung Nosotros verfolgt und 218 Mitglieder der F.A.I. und der Juventudes Libertarias inhaftiert werden. Sie ist zwischen Burgos und Almería in die Enge getrieben, wo der Cacique Morón einen der heldenhaftesten antifaschistischen Kämpfer, Francisco Maroto, in Haft hält.“
Berneri war eine klare Stimme, die sich gegen den Verrat an der spanischen Revolution erhob.
„Das Profil von Noske zeichnet sich in düsteren Tönen ab. Der katholisch-monarchistische Faschismus – Traditionalismus ist nur einer der Flügel der Konterrevolution. Das muss man sich vor Augen halten. Das muss man sagen. Man darf sich nicht auf die Manöver dieser großen „Fünften Kolonne“ einlassen, die während der sechs Jahre der Spanischen Republik ihre ganze Hartnäckigkeit und ihre schreckliche Anpassungsfähigkeit bewiesen hat. Der Bürgerkrieg in Spanien wird an zwei politisch-sozialen Fronten ausgetragen. Die Revolution muss an diesen beiden Fronten siegen. Und sie wird siegen.“
Die genauen Umstände des Todes von Berneri und Barbiero sind bis heute unklar. Am Tag vor ihrer Ermordung, ihnen wurde auf den Knien sitzend aus einer höheren Position in den Kopf geschossen, war eine Gruppe bewaffneter Männer, darunter mehrere Polizisten und andere mit roten Armbinden der PSUC und der UGT, in ihre Wohnung eingedrungen, hatte sie entwaffnet und ihre Pässe und Ausweise beschlagnahmt. Zeugen die die Geschehnisse beiwohnten haben später gesagt dass sie aufgrund ihrer anarchistischen Gesinnung festgenommen worden wären, weil dies eine konterrevolutionäre Position sei. Was ab ihrer Verhaftung bis zur Entedeckung der Leichen auf einer Straße in Barcelona passierte ist unbekannt.
Möglicherweise wurden sie von stalinistischen Agenten ermordet, denselben, die kurz darauf Nin entführten und hinrichteten. Dabei handelte es sich um NKWD Agenten die in Spanien operierten um die Interessen der UdSSR zu schützen.
Klar ist, dass Berneri eine klare Stimme gegen den Verrat an der spanischen Revolution war und bis zum Schluss für den Klassenkampf gekämpft hat. Er war nicht nur der bourgeoisen Parteien/Organisatione der Volksfront ein Dorn im Auge (PSOE, PCE, PSUC, Esquerra Republicana, …), sondern auch jenen „Anführern“ der CNT und der FAI die genauso die Positionen der sozialen Revolution verraten hatten.
Camilo Berneri – Marxismus, Klassen und Staat (vier Artikel aus dem Jahr 1936 erschienen in Guerra di Classe)
Inhaltsverzeichnis:
1. Der Marxismus und die Abschaffung des Staates,
2. Der Staat und die Klassen,
3. Die Abschaffung und Auslöschung des Staates,
4. Die Diktatur des Proletariats und der Staatssozialismus,
1. Der Marxismus und die Abschaffung des Staates
In italienischen Emigrantenkreisen hört man seit einiger Zeit häufig, dass Anarchisten bei öffentlichen Versammlungen oder in freundschaftlichen Diskussionen dem Marxismus eine Tendenz zum Staatsglauben unterstellen, die zwar in einigen Strömungen der Sozialdemokratie, die sich auf den Marxismus berufen, tatsächlich zu finden ist, aber nicht wenn man direkt zu den Ursprüngen des marxistischen Sozialismus geht.
Marx und Engels haben ganz klar das Verschwinden des Staates vorhergesagt, und das erklärt, warum es innerhalb der Ersten Internationale eine politische Koexistenz zwischen marxistischen Sozialisten und bakunistischen Sozialisten gab, die ohne diese grundlegende Übereinstimmung unmöglich gewesen wäre.
Marx schrieb in Das Elend der Philosophie:
„Die arbeitende Klasse wird im Laufe der Entwicklung an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft eine Assoziation setzen, welche die Klassen und ihren Gegensatz ausschließt, und es wird keine eigentliche politische Gewalt mehr geben, weil gerade die politische Gewalt der offizielle Ausdruck des Klassengegensatzes innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ist.“
Engels seinerseits behauptete im „Anti-Dühring“1, dass
„Mit ihnen fällt unvermeidlich der Staat. Die Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschine dahin, wohin sie dann gehören wird: ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt.“
Und Engels verschob das Verschwinden des Staates nicht auf eine Endphase der Zivilisation, sondern sah es eng mit der sozialen Revolution verbunden und als deren unvermeidliche Folge. 1847 schrieb er in einem seiner Artikel:
„Alle Sozialisten sind einer Meinung darüber, daß der politische Staat und mit ihm die politische Autorität im Gefolge der nächsten sozialen Revolution verschwinden werden, und das bedeutet, daß die öffentlichen Funktionen ihren politischen Charakter verlieren und sich in einfache administrative Funktionen verwandeln werden, die die wahren sozialen Interessen hüten.“
Die Marxisten setzen den Staat mit der Regierung gleich und stellen ihm ein „System entgegen, in dem die Herrschaft der Menschen durch die Verwaltung der Dinge ersetzt wird”, ein System, das für Proudhon Anarchie bedeutet.
Lenin bekräftigt in „Staat und Revolution“ (1917) erneut die Idee vom Verschwinden des Staates, wenn er sagt: „In der Frage der Abschaffung des Staates als Ziel gehen wir mit den Anarchisten keineswegs auseinander.“
Es ist schwer, den tendenziösen Charakter dieser Aussage zu erkennen, da Marx und Engels mit der starken bakunistischen Strömung im Kampf lagen und Lenin 1917 ein Bündnis zwischen den Bolschewiki und den revolutionären Linken, die vom Maximalismus und den Anarchisten beeinflusst waren, für politisch notwendig hielt. Es scheint jedoch sicher, jedoch, dass diese Aussage, auch wenn man die Tendenz in der Form und im Zeitpunkt ihrer Äußerung nicht ausschließt, einer realen Tendenz entsprach. Die Aussage über das Verschwinden des Staates ist zu eng mit der marxistischen Vorstellung von der Natur und dem Ursprung des Staates verbunden und leitet sich sogar zwangsläufig daraus ab, als dass man ihr einen absolut opportunistischen Charakter zuschreiben könnte.
Was ist der Staat für Marx und Engels? Eine politische Macht im Dienste der Erhaltung der sozialen Privilegien der wirtschaftlichen Ausbeutung.
Im Vorwort zur dritten Ausgabe von Marx‘ Werk „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ schrieb Engels:
„Nach der philosophischen Vorstellung ist der Staat die „Verwirklichung der Idee“ oder das ins Philosophische übersetzte Reich Gottes auf Erden, das Gebiet, worauf die ewige Wahrheit und Gerechtigkeit sich verwirklicht oder verwirklichen soll. Und daraus folgt dann eine abergläubische Verehrung des Staats und alles dessen, was mit dem Staat zusammenhängt, und die sich um so leichter einstellt, als man sich von Kindesbeinen daran gewöhnt hat, sich einzubilden, die der ganzen Gesellschaft gemeinsamen Geschäfte und Interessen könnten nicht anders besorgt werden, als wie sie bisher besorgt worden sind, nämlich durch den Staat und seine wohlbestallten Behörden. Und man glaubt schon einen ganz gewaltig kühnen Schritt getan zu haben, wenn man sich frei gemacht vom Glauben an die erbliche Monarchie und auf die demokratische Republik schwört. In Wirklichkeit aber ist der Staat nichts als eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andre, und zwar in der demokratischen Republik nicht minder als in der Monarchie; und im besten Fall ein Übel, das dem im Kampf um die Klassenherrschaft siegreichen Proletariat vererbt wird und dessen schlimmste Seiten es ebensowenig wie die Kommune umhin können wird, sofort möglichst zu beschneiden, bis ein in neuen, freien Gesellschaftszuständen herangewachsenes Geschlecht imstande sein wird, den ganzen Staatsplunder von sich abzutun.“
Marx (Das Elend der Philosophie) sagt, dass es nach der Abschaffung der Klassen „und es wird keine eigentliche politische Gewalt mehr geben, weil gerade die politische Gewalt der offizielle Ausdruck des Klassengegensatzes innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ist.“.
Dass der Staat auf die repressive Macht über das Proletariat und die konservative Macht gegenüber der Bourgeoisie reduziert wird, ist eine unvollständige These, unabhängig davon, ob man den Staat strukturell oder in seiner Funktionsweise betrachtet. Mit der Herrschaft der Menschen ist im Staat die Verwaltung der Dinge verbunden, und diese zweite Tätigkeit sichert ihm seinen Fortbestand. Regierungen wechseln, aber der Staat bleibt. Und der Staat hat nicht immer Funktionen der bourgeoisen Macht, wie wenn er Gesetze erlässt, Reformen fördert, Institutionen schafft, die den Interessen der privilegierten Klassen und ihrer Klientel zuwiderlaufen, aber den Interessen des Proletariats förderlich sind. Der Staat ist auch nicht nur Gendarm, Richter, Minister. Er ist auch die Bürokratie, potent, mehr noch als die Regierung. Der faschistische Staat ist heute etwas Komplexeres als ein Polizeiorgan und ein Verwalter der Interessen des Bourgeois, denn er ist durch eine Nabelschnur mit der Gesamtheit der politischen und korporativen Kader verbunden und hat eigene Interessen, die nicht immer und nicht immer ganz mit denen der Klasse übereinstimmen, die den Faschismus an die Macht gebracht hat, und der der Bourgeoisie dazu dient, ihre Macht zu erhalten.
Marx und Engels waren der bourgeoisen Phase des Staates verfeindet, und Lenin hatte es mit dem russischen Staat zu tun, in dem es kein demokratisches Spiel gab. Alle marxistischen Definitionen des Staates wirken einseitig, und das Bild des heutigen Staates passt nicht in den Rahmen der traditionellen Definitionen.
Sogar die von Marx und Engels formulierte Theorie über den Ursprung des Staates ist einseitig. Mit den Worten von Engels: „Auf einer bestimmten Stufe der ökonomischen Entwicklung, die mit Spaltung der Gesellschaft in Klassen notwendig verbunden war, wurde durch diese Spaltung der Staat eine Notwendigkeit. Wir nähern uns jetzt mit raschen Schritten einer Entwicklungsstufe der Produktion, auf der das Dasein dieser Klassen nicht nur aufgehört hat, eine Notwendigkeit zu sein, sondern ein positives Hindernis der Produktion wird.” Die Klassen werden so unvermeidlich verschwinden, wie sie einst entstanden sind, und mit den Klassen wird auch der Staat verschwinden.
Engels greift die Naturrechtsphilosophie von Hobbes auf, dessen Terminologie er übernimmt, wobei er lediglich die Notwendigkeit, den homo homini lupus zu zähmen, durch die Notwendigkeit ersetzt, den Konflikt zwischen den Klassen zu regeln.
Der Staat sei laut Marx und Engels entstanden, als sich die Klassen bereits gebildet hatten, und seine Funktion bestehe darin, ein Klassenorgan zu sein. Arturo Labriola (Más allá del capitalismo y del socialismo, Paris, 1931) sagt dazu: „Diese Probleme der „Ursprünge” sind immer sehr komplex. Der gesunde Menschenverstand rät, etwas Licht ins Dunkel zu bringen und die Materialien, die sie betreffen, neu zu ordnen, ohne sich der Illusion hinzugeben, jemals zu einem endgültigen Ergebnis zu gelangen”.
Die Idee, eine Theorie über die „Ursprünge” des Staates zu haben, ist einfach nur toll. Man kann höchstens versuchen, ein paar Elemente aufzuzeigen, die in der Geschichte wahrscheinlich dazu beigetragen haben, dass es so gekommen ist. Dass er aus den Klassen entstanden ist oder mit ihnen zu tun hat, ist klar, aber man darf nicht vergessen, welche wichtigen Aufgaben der Staat bei der Entstehung des Kapitalismus hatte.
Laut Labriola verleiht die wissenschaftliche Untersuchung der Entstehung des Kapitalismus „der anarchistischen These von der Abschaffung des Staates einen wirklich unerwarteten Realismus“. Außerdem: „Es scheint in der Tat viel wahrscheinlicher, dass der Kapitalismus als Folge des Verschwindens des Staates untergeht, als dass der Staat als Folge des Verschwindens des Kapitalismus untergeht.“
Dies geht aus den Studien der Marxisten selbst hervor, wenn es sich um seriöse Studien wie die von Paul Louis Le travail dans le monde romain (Paris, 1912) handelt. Aus diesem Buch geht klar hervor, dass die römische Kapitalistenklasse als Parasit des Staates entstanden ist und von diesem geschützt wurde. Von den plündernden Generälen bis zu den Gouverneuren, von den Steuereintreibern bis zu den Familien der Schatzmeister (argentari), von den Zollbeamten bis zu den Lieferanten der Armee – die römische Bourgeoisie entstand durch Krieg, staatliche Eingriffe in die Wirtschaft, staatliche Steuerkontrolle usw…. viel mehr als anders.
Und wenn wir die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Staat und Kapitalismus betrachten, sehen wir, dass der Kapitalismus aus staatlichen und nicht aus rein kapitalistischen Interessen in hohem Maße vom Staat profitiert hat. Dies ist so wahr, dass die Entwicklung des Staates der Entwicklung des Kapitalismus vorausging. Das Römische Reich war bereits ein riesiger und komplexer Organismus, als der römische Kapitalismus noch eine Familienpraxis war.
Paul Louis zögert nicht zu behaupten: „Der alte Kapitalismus entstand aus dem Krieg”. Die ersten Kapitalisten waren in der Tat die Generäle und Zöllner. In der gesamten Geschichte der Entstehung des Privatvermögens ist der Staat präsent. Und aus dieser Überzeugung, dass der Staat der Vater des Kapitalismus war und ist und nicht nur sein natürlicher Verbündeter, leiten wir die Überzeugung ab, dass die Zerstörung des Staates die unabdingbare Voraussetzung für das Verschwinden der Klassen und die Unumkehrbarkeit dieses Verschwindens ist.
In seinem Essay „Der moderne Staat“ sagt Kropotkin:
„Von einer Institution, die eine historische Entwicklung repräsentiert, zu verlangen, dass sie die Privilegien zerstört, die sie entwickeln muss, bedeutet, sich als unfähig zu erkennen, zu verstehen, was eine historische Entwicklung im Leben der Gesellschaft bedeutet. Es bedeutet, die allgemeine Regel der organischen Natur zu vergessen: Neue Funktionen erfordern neue Organe, die aus denselben Funktionen hervorgehen.“
Arturo Labriola bemerkt in dem oben genannten Buch:
„Wenn der Staat eine konservative Macht gegenüber der Klasse ist, die ihn beherrscht, wird nicht das Verschwinden dieser Klasse den Staat verschwinden lassen, und in diesem Punkt ist die anarchistische Kritik viel genauer als die marxistische. Solange der Staat die Klassen aufrechterhält, wird diese Klasse nicht verschwinden. Je stärker der Staat ist, desto stärker ist die vom Staat geschützte Klasse, das heißt, desto mächtiger wird ihre Lebenskraft und desto sicherer ihre Existenz. Eine starke Klasse ist eine Klasse, die sich stärker von den anderen Klassen unterscheidet. Innerhalb der Grenzen, in denen die Existenz des Staates von der Existenz der Klassen abhängt, bestimmt die bloße Tatsache des Staates – wenn die Theorie von Engels stimmt – die unbestimmte Existenz der Klassen und damit auch seine eigene Existenz als Staat.“
Eine große, entscheidende Bestätigung für die Richtigkeit unserer These vom Staat als Urheber des Kapitalismus liefert die UdSSR, wo der Staatssozialismus die Entstehung neuer Klassen begünstigt.
9. Oktober 1936.
Veröffentlicht in der ersten Ausgabe von Guerra di classe.
2. Der Staat und die Klassen
1921 definierte Lenin den russischen Sowjetstaat als „einen Arbeiterstaat mit bürokratischer Deformation in einem Land mit einer bäuerlichen Mehrheit“.
Diese Definition muss heute wie folgt geändert werden: „Der sowjetische Staat ist ein bürokratischer Staat, in dem sich eine bürokratische Halbbourgeoisie und eine arbeitende Kleinbourgeoisie entwickeln, während die agrarische Mittelklasse überlebt”.
Boris Suvarin zeichnet in seinem Buch „Stalin“ (Paris, 1935) folgendes Bild der sozialen Verhältnisse in der UdSSR:
„Die sogenannte sowjetische Gesellschaft beruht in ihrer ganz eigenen Weise auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, des Produzenten durch den Bürokraten, den Techniker der politischen Macht. Die individuelle Aneignung des Mehrwerts wird durch eine kollektive Aneignung durch den Staat ersetzt, ein Betrug, der durch den parasitären Konsum des Funktionärstums begangen wird… Die offiziellen Unterlagen lassen keinen Zweifel: Von der Arbeit der unterworfenen Klasse, die zu einem erschöpfenden und unerbittlichen System gezwungen ist, zieht die Bürokratie einen ungerechtfertigten Teil ab, der mehr oder weniger dem früheren kapitalistischen Gewinn entspricht. So hat sich um die Partei herum eine neue soziale Schicht gebildet, die an der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung und der Fortführung des Staates interessiert ist, dessen Abschaffung Lenin zusammen mit dem Verschwinden der sozialen Klassen predigte. Wenn der Bolschewismus nicht das rechtliche Eigentum an den Produktionsmitteln und den Tauschmitteln besitzt, kommt die Staatsmaschinerie zum Stillstand, die ihm die Ausbeutung durch verschiedene Verfahren ermöglicht. Die Möglichkeit, Verkaufspreise durchzusetzen, die weit über den Selbstkostenpreisen liegen, birgt allein schon das wahre Geheimnis der technisch-bürokratischen Ausbeutung, die im Übrigen durch administrative und militärische Unterdrückung gekennzeichnet ist.“
Der Bonapartismus ist nichts anderes als der politische Ausdruck der Tendenz dieser neuen Bourgeoisie, ihre eigene ökonomische und soziale Stellung zu erhalten und auszubauen. In dem Aufruf des Bolschewiki-Leninisten Tamboy an das Weltproletariat von 1935 heißt es:
„Die Aufgabe der Parteibürokratie besteht lediglich darin, die Gegner zu isolieren und zu foltern, solange sie sich nicht öffentlich selbst zerstört haben, d. h. solange sie nicht zu unpolitischen Unglücklichen geworden sind. Die Bürokraten wollen nämlich nicht, dass du ein echter Kommunist bist. Das brauchen sie nicht. Für sie ist das schädlich und lebensgefährlich. Sie wollen keine unabhängigen Kommunisten, sie wollen erbärmliche, egoistische Knechte und Staatsbürger der untersten Kategorie…
Wäre es dann möglich, dass unter einer echten proletarischen Macht der Kampf oder ein einfacher Protest gegen die Bürokratie, gegen die Diebe und Banditen, die sich ungestraft der sowjetischen Güter bemächtigen und die für den Tod von Hunderttausenden Menschen durch Kälte und Hunger verantwortlich sind, als konterrevolutionäres Verbrechen angesehen wird?“
Die gewaltige Tragödie des Kampfes zwischen der „revolutionären“ Opposition und der „konservativen Orthodoxie“ ist ein völlig natürliches Phänomen im Rahmen des Staatssozialismus. Die leninistische Opposition hat Recht, wenn sie das Weltproletariat auf die Verformungen, Abweichungen und Entartungen des Stalinismus hinweist; aber wenn die Diagnose der Opposition fast immer zutreffend ist, so ist die Ätiologie* dagegen oft unzureichend.
Der Stalinismus ist nichts anderes als das Ergebnis der Umsetzung des Leninismus auf das politische Problem der sozialen Revolution. Sich auf die Auswirkungen zu stürzen, ohne auf die Ursache, auf die ursprüngliche Sünde des Bolschewismus (bürokratische Diktatur im Dienste der Parteidiktatur) zurückzugreifen, bedeutet, die Kausalkette, die von der Diktatur Lenins zur Diktatur Stalins führt, willkürlich zu vereinfachen, ohne dass es eine nahtlose Lösung gibt.
Die innere Freiheit einer Partei, die das freie Spiel der Mehrheit (der Pluralität) zwischen den Avantgarde-Parteien innerhalb des sowjetischen Systems ablehnt, wäre heute ein wundersames Spektakel. Die Arbeiterhegemonie, der bolschewistische Absolutismus, der Staatssozialismus, der Industriefetischismus: All diese verderblichen Keime konnten nur vergiftete Früchte tragen, wie den Absolutismus einer Fraktion und die Herrschaft einer sozialen Schicht. Trotzki, in der Haltung des Heiligen Georg im Kampf gegen den stalinistischen Drachen, erinnert unweigerlich an den Trotzki von Kronstadt. Die Verantwortung des heutigen Stalinismus geht zurück auf die Formulierung und Praxis der bolschewistischen Parteidiktatur sowie auf die Illusion vom Untergang des Staates als Ergebnis des Verschwindens der Klassen durch den Staatssozialismus.
Als Trotzki am 6. September 1935 schrieb: „Die historische Absurdität der autokratischen Bürokratie in einer klassenlosen Gesellschaft kann nicht aufrechterhalten werden und wird nicht auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten werden“, sagte er etwas Absurdes in Bezug auf die „historische Absurdität“. In der Geschichte gibt es keine Absurditäten. Eine autokratische Bürokratie ist eine Klasse, und daher ist es nicht absurd, dass sie in einer Gesellschaft existiert, in der Klassen fortbestehen: die bürokratische und die proletarische. Wäre die UdSSR eine „klassenlose Gesellschaft“, wäre sie auch eine Gesellschaft ohne bürokratische Autokratie, und diese Autokratie ist das Ergebnis des Fortbestehens des Staates.
Gerade weil die bolschewistische Partei die herrschende Partei des Staatsapparats ist, ist sie zu einem Anziehungspunkt für kleinbourgeoise Karrieristen und für faule und opportunistische Arbeiter geworden. Die bürokratische Plage hat in Wirklichkeit nicht mit dem Stalinismus begonnen, sondern sie ist gleichzeitig mit der bolschewistischen Diktatur entstanden. Man muss nur die Nachrichten von 1918 und 1919 lesen, die in der bolschewistischen Presse veröffentlicht wurden.
Die Wecernia Iswestija vom 23. August 1918 berichtet über die chaotischen Zustände bei der Post und stellt fest, dass trotz eines Rückgangs der Postsendungen um 60 % die Zahl der Beschäftigten im Vergleich zur Zeit vor der Revolution um 100 % gestiegen ist.
Die Prawda vom 11. Februar 1919 weist auf die ständige Schaffung neuer Ämter und neuer bürokratischer Institutionen hin, für die Mitarbeiter ernannt und bezahlt wurden, bevor die neuen Organisationen ihre Arbeit aufnahmen. „Wenn all diese neuen Angestellten”, so die Prawda vom 22. Februar 1919, „ganze Paläste überfallen und besetzen, würden ihnen aufgrund ihrer tatsächlichen Anzahl ein paar Räume genügen.”
Die Arbeit wird langsam und behindert, sogar in den Büros mit industriellen Aufgaben. „Ein Beamter des Kommissariats von Lipetzk“, berichtet die Iswestija vom 29. November 1918, „musste, um neun „Pud“ Nägel zum Preis von 417 Rubel zu kaufen, zwanzig Schreiben ausstellen, fünf Aufträge und 13 Unterschriften einholen, wofür er zwei Tage lang Vorzimmer bedienen musste, da die Beamten, die unterschreiben sollten, unauffindbar waren“. Pravda (Ausgabe 281) prangerte „die Invasion kleinbourgeoiser Elemente in unsere Partei“ an, die Enteignungen „zum persönlichen Gebrauch“ vornähmen. In der Ausgabe vom 2. März 1919 stellte dieselbe Zeitung fest:
„Man muss zugeben, dass in den letzten Jahren einige Genossen, die in der Anfangszeit nicht Mitglieder der KP waren, begonnen haben, Arbeitsmethoden anzuwenden, die in unserer Partei nicht akzeptabel sind. Sie halten sich nicht an die Meinung der lokalen Organisationen, weil sie den Befehl haben, auf der Grundlage eines ziemlich begrenzten Mandats eigenmächtig zu handeln und zum Beispiel nach Belieben Befehle zu erteilen. Daraus entsteht eine unterschwellige Spannung zwischen dem Zentrum und der Peripherie, die mit ihrer individuellen Diktatur verschiedene Schikanen auferlegt.“
Über die Provinz Pensa sagte der Innenkommissar:
„Die lokalen Vertreter der Zentralregierung verhalten sich nicht wie Vertreter des Proletariats, sondern wie echte Satrapen. Eine Reihe von Tatsachen und Beweisen belegen, dass die einzigen Vertreter der Regierung bewaffnet vor den ärmsten Leuten auftauchen, sie festnehmen und alles mitnehmen, was sie brauchen, bei Protesten mit dem Tod drohen und mit Schlägen bestrafen. Die gestohlenen Sachen werden weiterverkauft, und mit dem Geld werden Saufgelage und Orgien organisiert“ (Wecernia-Iswestija, 12. Februar 1919).
Ein anderer Bolschewik, Mescerikov, schrieb:
„Jeder von uns sieht jeden Tag unzählige Fälle von Gewalt, Schikanen, Korruption, Faulheit usw. Wir alle wissen, dass in unsere sowjetischen Institutionen massenhaft Gauner und Faulenzer eingedrungen sind. Wir alle bedauern ihre Anwesenheit in den Reihen der Partei, aber wir können nichts tun, um uns von diesem Unzucht zu reinigen.“
„… wenn eine Institution einen Gauner rauswirft, findet sich schnell eine andere, die ihn aufnimmt und ihm eine verantwortungsvolle Position gibt. Anstatt bestraft zu werden, wird er am Ende befördert“ (Pravda, 5. Februar 1919).
In einer Rede auf dem 8. Kongress der Kommunistischen Partei Russlands (11.-12. März 1919) gestand Lenin:
„Überall sehen wir Karrieristen und Abenteurer, die sich unter uns eingeschlichen haben. Sie nennen sich Kommunisten, aber in Wirklichkeit versuchen sie, uns über ihre wahren Absichten zu täuschen. Natürlich hängen sie an uns, weil wir die Macht haben und weil die ehrlichsten bürokratischen Elemente aufgrund ihrer rückständigen Ideen eine Zusammenarbeit mit uns ablehnen, während sie selbst weder Ideen noch Ehrlichkeit besitzen: Sie sind nur für die Reklame da.“
Die bolschewistische Regierung hat sich gegenüber der aufgeblähten, parasitären, arroganten und unehrlichen Bürokratie als machtlos erwiesen.
Aus fünf Millionen Bürokraten sind zehn Millionen geworden. Im Jahr 1925 gab es 400.000 Beamte in den Genossenschaften (Prawda, 20. April 1926).
Im Jahr 1927 hatte der russische Verband der Lebensmittelarbeiter 4.287 Angestellte für seine 451.720 Mitglieder, und die Moskauer Metallarbeitergewerkschaft hatte 700 Funktionäre für 130.000 Gewerkschaftsmitglieder (Trud, 12. Juni 1928).
Dieser bürokratische Überfluss geht nicht mit einer intensiven und effizienten Verwaltung einher.
„Die Führung des sowjetischen Apparats, von der Basis bis zur höchsten Ebene, ist papierlastig. Das Provinzkomitee verschickt normalerweise ein oder zwei Rundschreiben pro Tag zu allen möglichen Themen und glaubt damit seine Pflichten erfüllt zu haben.“
„Die Zahl der Rundschreiben, die die Zellen mit den erhaltenen Anweisungen erhalten, schwankt an manchen Orten zwischen 30 und 100 pro Monat“ (Pravda, 7. Juni 1925).
Ein hoher Beamter, Dzerginsky, schrieb:
„Von den Unternehmen werden die unterschiedlichsten Informationen, Berichte und statistischen Daten angefordert, die zusammen einen Strom von Briefen bilden, der einen übermäßigen Personalbestand erforderlich macht und die wichtigste Arbeit erstickt: Es entsteht ein Meer von Briefen, in dem Hunderte von Menschen verstrickt sind; die Lage der Buchhaltung und Statistik ist einfach katastrophal; Die Unternehmen ertragen widerwillig die Last, Informationen in Dutzenden und Hunderten von verschiedenen Formularen zu liefern. Die Buchhaltung wird jetzt nach Gewicht gemessen“ (Pravda, 23. Juni 1926).
„Ein Forstamt verlangt eine Zählung der Rebhühner, Hasen, Bären, Wölfe usw., die im Zuständigkeitsbereich des befragten Beamten leben, und das innerhalb einer Woche“ (Krasnaia Gazeta, 14. Mai 1926).
„Die Landwirtschaftsbehörde der Provinz Viatka schreibt dem Exekutivkomitee des Kantons vor, die auf den Feldern gefundenen Erdwürmer zu zählen“ (Prawda, 1. März 1928).
Der Bericht des Handelskommissariats enthält 27.000 Anträge, ein ukrainischer Landwirtschaftsbericht enthält 20.000 (Isvestia, 11. Dezember 1927). Ein lokaler Exekutivkomitee schickt dem Dorfsoviet einen Fragebogen mit 348 Fragen, und das während der Getreideernte (Prawda, 18. April 1928). Das Institut für experimentelle Agronomie veröffentlicht einen sechs Meter langen Fragebogen, der voll mit Fragen zu Traktoren ist (Diednota, 1. April 1929).
Auf dem XV. Parteitag zitiert Stalin unter vielen anderen den Fall eines Verstümmelten, der sieben Jahre auf eine Prothese warten musste. Ein Arbeiter, der eine Beschwerde gegen die Verwaltung eines Unternehmens einreichen will, muss 24 bürokratische Formalitäten erledigen (Trud, 14. Januar 1928). Ein Büro bearbeitet 210 Verträge pro angestelltem Mitarbeiter, obwohl das Personal sehr unbeständig ist (Trud, 5. August 1928). Eine in die UdSSR importierte Uhr durchläuft beim Zoll 142 Formalitäten (Iswestija, 9. Dezember 1928). Ein Erfinder, der nach Moskau gekommen ist, um eine Entdeckung zu testen, muss einen Antrag stellen, um ein Zimmer zu bekommen. Nach anderthalb Jahren hat er es immer noch nicht bekommen, aber er hat einen ganzen Stapel von Formularen zu diesem Antrag gesammelt: 400 Dokumente (Wetschernaja Moska, Juni 1929).
Die Funktionäre sind total überlastet. Kamenev war, bevor er entlassen wurde, Mitglied des Zentralkomitees und des Politbüros der Partei, Vorsitzender des Arbeits- und Verteidigungsrats, Vorsitzender des Moskauer Sowjets, stellvertretender Vorsitzender des Rates der Volkskommissare, Mitglied des kollektiven Präsidiums des Obersten Wirtschaftsrats, Mitglied des Exekutivkomitees der Union und des Exekutivkomitees des Sowjets der Republik, Direktor des Lenin-Instituts, Mitherausgeber der bolschewistischen Parteizeitschrift „Bolschevik“ und die Liste seiner Aufgaben und Ämter ist sicherlich noch nicht vollständig. Selbst kleine Führungskräfte sind mit Aufgaben und Ämtern aller Art überlastet. Ein junger Kommunist gab an, allein sechzehn Ämter zu bekleiden (Prawda, 21. März 1925).
Mit einer so aufgeblähten Bürokratie, einem so komplizierten Verwaltungsapparat und einer so minimalen und natürlichen Kontrolle ist es kein Wunder, dass Diebstahl eines der Merkmale des bürokratischen Lebens in Russland ist. Ein hoher Gewerkschaftsfunktionär, Dogadov, berichtete 1925 dem Zentralrat der Gewerkschaften, dass fast die Hälfte (47 %) des Budgets des russischen Gewerkschaftsbundes (700 Millionen Rubel) von den Funktionären verschlungen wurde (Prawda, 9. Dezember 1926). In einem Jahr wurden 5.323.000 Rubel in Genossenschaften verschwendet (Torgovo-Promychlenaia Gazeta, 23. Mai 1926). Die gesamte bolschewistische Presse der folgenden Jahre ist voll von Berichten über bürokratische Verschwendung in Genossenschaften. Tomsky, jetzt Vorsitzender des russischen Gewerkschaftsbundes, sagte auf dem VIII. Kongress der Gewerkschaftszentrale:
„Wo wird gestohlen? Überall: in den Fabrikkomitees, in den Kassen für gegenseitige Hilfe, in den Kreisen, in den regionalen, departementalen und Bezirkssektionen; mit einem Wort, überall. Es gibt sogar eine Rubrik mit dem Titel: „Unbekannt“, wenn irgendwo etwas gestohlen wurde, wir aber nicht wissen, wo. Und wer stiehlt? Zur Schande unserer Organisation muss ich sagen, dass die Vorsitzenden Kapitalisten sind. Wie verteilen sich die Diebstähle politisch? Ungleichmäßig zwischen Kommunisten und auch zwischen Personen, deren politische Orientierung „unbekannt“ ist. Was die Jugend betrifft, ist die Lage beunruhigend. Nur 9 % der jungen Leute sind in irgendeiner Form in einer Gewerkschaft aktiv, aber bei den Dieben sind es schon 12,2 %.”
Im November 1935 veröffentlicht Il Risveglio aus Genf den Brief eines Hotelangestellten, in dem es unter anderem heißt:
„Im März 1925, während einer internationalen Messe in Lyon, war ich im Nouvel Hotel, wo der Besitzer, ein hundertprozentiger Faschist, die sowjetische Delegation mit allen Ehren empfangen hatte. Sie nahmen die besten Zimmer, für die der Besitzer 120 Franken pro Tag und Person verlangte, was damals echt viel war, aber die Bolschewiken bezahlten ohne zu murren. Und ich konnte feststellen, dass sie genau die gleichen Laster hatten wie der russische Adel. Beim Abendessen betranken sie sich mit Cognac und ließen sich im Namen der Diktatur des Proletariats die besten Bordeaux-Weine servieren.“
„Sittsamkeit” führt zu luxuriösen und lasterhaften Gewohnheiten, und diese Gewohnheiten führen zu Korruption.
Die Prawda vom 16. Oktober 1935 prangerte zwei Fälle von bürokratischer Korruption an, die es wert sind, erwähnt zu werden:
„Die Forstwirtschaft, ein Organ des Volkskommissariats für Forstwirtschaft, hatte illegal Geld vom Ukrqiness-Trust, vom Brennstoffministerium des Kommissariats für Verkehr und Kommunikation und von anderen Wirtschaftsorganisationen erhalten. Die „Leichtindustrie”, ein Organ des gleichnamigen Volkskommissariats, hatte ebenfalls aus Kiew Geld von der Baumwollabteilung des Volkskommissariats für Landwirtschaft, vom Baumwolltrust und vom Leder- und Pelztrust erhalten.”
Die russischen Zeitungen sind voll von Berichten über die Korruption in der Bürokratie und von Infos über die „Säuberung der Partei”. Diese Säuberung besteht in der Beseitigung von Elementen, die „nicht auf Linie sind”. Hier einige typische Fälle, entnommen aus Bolchevistskaia Petchat (Ausgaben 13 und 14 von 1935). Der Chefredakteur von Kommunist aus Seratov, Sekretär der örtlichen Kommunistischen Partei, wurde nicht abgesetzt, weil er – laut Zeitung – eine „falsche politische Linie“ verfolgt hätte, sondern weil der Personalchef Davidovov „kriminelle Nachlässigkeit“ bewiesen hatte, indem er Korrektoren und Redakteure eingestellt hatte, die nicht aus dem Proletariat stammten oder verdächtig waren: Goverdovski, „dessen Eltern aus Moskau vertrieben worden waren”, die Staatsbürgerin Znamenskaia, „Tochter eines im Bürgerkrieg gefallenen Weißen Offiziers”, die Staatsbürgerin Gonciarenev, die als Konterrevolutionärin aus Moskau vertrieben worden war, der Literat Lardi, „wegen völliger Zersetzung aus der Partei ausgeschlossen (sic), ehemaliger Adliger, mit einer Tante in Polen”, der Fotograf Kruscinski, aus der Partei ausgeschlossen, weil er sich ohne Genehmigung in Lettland aufgehalten hatte und Verwandte in diesem Land hatte, die Staatsbürgerin Rounguis, Verwandte einer Frau, die wegen Beteiligung an einer Banditenbande verurteilt worden war.
Die etwas unabhängigen Funktionäre, die ehrlicher und fähiger sind, werden systematisch entfernt, während die Opportunisten, die fast alle käuflich und unfähig sind, auf ihren Posten bleiben dürfen.
Sogar die Parteiposten sind zu festen Sinekuren geworden. Die Rotation der Führungskräfte ist derzeit abgeschafft. Während die Statuten der Kommunistischen Partei Russlands vorsahen, dass die Führungskräfte der Partei, der Gewerkschaften/Syndikate und der Sowjets jedes Jahr ausgewechselt werden sollten, war ein gewisser Kakhiiani acht Jahre lang Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Georgiens.
All das hilft dabei, dass sich die Bürokratie und die Technokratie als Klasse festsetzen können.
In seinem 1929 in Paris erschienenen Buch „Vers l’autre flamme“ (Zur anderen Flamme) hat Panait Istrati diese Situation mit Zahlen belegt und beschrieben, in welchem Verhältnis die verschiedenen Klassen des russischen Volkes im Jahr 1926 gespart und ihre Ersparnisse auf Konten angelegt haben: 12 % waren Ersparnisse von Arbeitern, 3,6 % von Bauern, während Beamte und andere nicht näher bezeichnete Gruppen 56,7 % angelegt hatten.
Die neue Kategorie der Vorarbeiter und der „Stachanowisten”, also der spezialisierten Arbeiter, stützt die neue technisch-bürokratische Bourgeoisie. Die ungelernten Arbeiter bilden das eigentliche Industrieproletariat. Im Jahr 1935 war der Durchschnittslohn dieser Gruppe, wenn man die Lebensmittelpreise desselben Jahres berücksichtigt, ein Hungerlohn, da er zwischen 100 und 150 Rubel pro Monat lag. In Moskau zum Beispiel kostete ein Kilo Weißbrot 2 bis 6 Rubel, Fleisch 10 bis 15 Rubel pro Kilogramm und ein Kilogramm Butter 28 bis 30 Rubel. Eine Straßenbahnfahrkarte kostete 10 bis 25 Kopeken (also einen Viertel Rubel) und eine U-Bahn-Fahrkarte 50 Kopeken (also einen halben Rubel).
„Iswestija” vom 9. Mai 1935 berichtete, dass ein Werkstattleiter der Hochöfen von Krivoirog (Ukraine) im April 3.300 Rubel Lohn bekommen hatte. „L´Humanité”, eine bolschewistische Tageszeitung aus Paris, berichtete in ihrer Ausgabe vom 16. Dezember 1935 von einem Arbeiter, der in 24 Tagen 4.361 Rubel verdient hatte, und von einem Arbeiter, der für einen einzigen Arbeitstag 233 Rubel erhalten hatte.
Am 15. Dezember 1935 verkündete „L´Humanité”, dass die Sparkassen der UdSSR über eine Reserve von 4.256.000 Rubel mehr verfügten als am 1. Dezember 1934. Im Jahr 1936 (vom 1. Januar bis zum 11. Mai) stiegen die Gesamtsparbeträge um 403 Millionen Rubel gegenüber 261 Millionen Rubel im entsprechenden Zeitraum des Jahres 1935. Die Herren Lewis und Abramson, die im Auftrag des BIT (Bureau Internationale du Travail) in Genf in Russland waren, haben kürzlich einen Bericht veröffentlicht, der die zunehmende Differenzierung der Löhne in der Industrie bestätigt.
„In der Metallindustrie“ – so wird berichtet – „umfasst die am häufigsten angewandte Lohnskala acht Klassen (oder Kategorien). Der Lohn für den am wenigsten qualifizierten Arbeiter entspricht dem Koeffizienten 1, der Lohn der nächsten Klasse dem Koeffizienten 1,15 und so weiter mit 1,32, 1,51, 1,83, 2,17, 2,61 und schließlich 3,13.”
Akkordarbeit, Lohnskala, Prämiensystem: All das schafft eine Kleinbourgeoisie, die die technisch-bürokratische Mittelbourgeoisie stützt und die von der revolutionären Meinung befürwortete „dritte Revolution“ verzögert, wodurch die Diktatur eines Clans gefestigt wird.
Dieses Phänomen der Neukonstitution der Klassen „durch den Staat“ haben wir vorausgesehen und klar angeprangert. Die leninistische Opposition schafft es nicht, die ätiologische Untersuchung des Phänomens zu vertiefen, weil sie die leninistische Position zum Problem des Staates und der Revolution nicht revidiert.
17. Oktober 1936.
Veröffentlicht in der zweiten Ausgabe von Guerra di classe.
3. Die Abschaffung und Auslöschung des Staates
Während wir Anarchisten die Auslöschung des Staates durch die soziale Revolution und die Schaffung einer neuen autonomen-föderalen Ordnung wollen, wollen die Leninisten die Zerstörung des bourgeoisen Staates, aber auch die Eroberung des Staates durch das „Proletariat“. Der „Staat des Proletariats“ – so sagen sie – sei ein Halbstaat, weil der integrale Staat der bourgeoise Staat sei, der durch die soziale Revolution zerstört werde. Selbst dieser Halbstaat muss laut den Marxisten irgendwann von selbst sterben.
Diese Theorie der Auslöschung des Staates, die in Lenins Buch „Staat und Revolution” eine wichtige Rolle spielt, stammt von Engels, der in „Herrn Eugen Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft” schreibt:
„Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf, und damit auch den Staat als Staat. Die bisherige, sich in Klassengegensätzen bewegende Gesellschaft hatte den Staat nötig, das heißt eine Organisation der jedesmaligen ausbeutenden Klasse zur Aufrechterhaltung ihrer äußern Produktionsbedingungen, also namentlich zur gewaltsamen Niederhaltung der ausgebeuteten Klasse in den durch die bestehende Produktionsweise gegebnen Bedingungen der Unterdrückung (Sklaverei, Leibeigenschaft oder Hörigkeit, Lohnarbeit).
Der Staat war der offizielle Repräsentant der ganzen Gesellschaft, ihre Zusammenfassung in einer sichtbaren Körperschaft, aber er war dies nur, insofern er der Staat derjenigen Klasse war, welche selbst für ihre Zeit die ganze Gesellschaft vertrat: im Altertum Staat der sklavenhaltenden Staatsbürger, im Mittelalter des Feudaladels, in unsrer Zeit der Bourgeoisie. Indem er endlich tatsächlich Repräsentant der ganzen Gesellschaft wird, macht er sich selbst überflüssig. Sobald es keine Gesellschaftsklasse mehr in der Unterdrückung zu halten gibt, sobald mit der Klassenherrschaft und dem in der bisherigen Anarchie der Produktion begründeten Kampf ums Einzeldasein auch die daraus entspringenden Kollisionen und Exzesse beseitigt sind, gibt es nichts mehr zu reprimieren, das eine besondre Repressionsgewalt, einen Staat, nötig machte. Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft – ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht „abgeschafft“, er stirbt ab. Hieran ist die Phrase vom „freien Volksstaat“ zu messen, also sowohl nach ihrer zeitweiligen agitatorischen Berechtigung wie nach ihrer endgültigen wissenschaftlichen Unzulänglichkeit; hieran ebenfalls die Forderung der sogenannten Anarchisten, der Staat solle von heute auf morgen abgeschafft werden.“
Zwischen dem heutigen Staat und der Anarchie von morgen gäbe es den Halbstaat. Der sterbende Staat und „der Staat als Staat“, also der bourgeoise Staat. Und in diesem Sinne ist der Satz zu verstehen, der auf den ersten Blick der These vom sozialistischen Staat zu widersprechen scheint. „Der erste Akt, in dem der Staat wirklich als Vertreter der gesamten Gesellschaft auftritt, nämlich die Inbesitznahme der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft, ist zugleich der letzte Akt des Staates.“
Wörtlich genommen und aus dem Zusammenhang gerissen könnte dieser Satz die zeitliche Gleichzeitigkeit der ökonomischen Vergesellschaftung und des Untergangs des Staates bedeuten.
Sogar wenn man den Satz über das sich selbst zerstörende Proletariat als Proletariat im Akt der Staatsmachtübernahme wörtlich nimmt, würde das bedeuten, dass es keinen „proletarischen Staat“ braucht. In Wirklichkeit drückt sich Engels unter dem Einfluss des „dialektischen Stils“ nicht so gut aus. Zwischen dem heutigen bourgeois-staatlichen und dem morgigen sozialistisch-anarchistischen Zustand sieht Engels eine Reihe aufeinanderfolgender Stufen, in denen Staat und Proletariat nebeneinander existieren. Um etwas Licht in diese dialektische Dunkelheit zu bringen … und die abschließende Anspielung auf die Anarchisten, „die den Staat von einem Tag auf den anderen abschaffen wollen”, d. h. die keine Übergangsphase in Bezug auf den Staat zulassen, dessen Eingreifen – laut Engels – „in allen Bereichen, einer nach dem anderen”, d. h. schrittweise, überflüssig wird.
Ich denke, dass die leninistische Position zum Staat ziemlich genau der von Marx und Engels entspricht, wenn man den Geist ihrer Schriften richtig versteht und sich nicht von einigen unklaren Formulierungen verwirren lässt.
Für das marxistisch-leninistische politische Denken ist der Staat das vorübergehende politische Instrument der Sozialisierung, vorübergehend aufgrund des Wesens des Staates selbst, der ein Organ der Herrschaft einer Klasse über eine andere ist. Der sozialistische Staat begeht durch die Abschaffung der Klassen Selbstmord. Marx und Engels waren Metaphysiker, denen es häufig vorkam, historische Prozesse aus Treue zu dem von ihnen erfundenen System zu schematisieren.
„Das Proletariat“, das den Staat erobert, ihm das gesamte Eigentum an den Produktionsmitteln überträgt und sich selbst als Proletariat und den „Staat als Staat“ zerstört, ist eine metaphysische Fantasie, eine politische Hypothese sozialer Abstraktionen.
Nicht das russische Proletariat hat die Staatsmacht an sich gerissen, sondern die bolschewistische Partei, die das Proletariat nicht vollständig vernichtet hat, sondern stattdessen einen Staatskapitalismus, eine neue Bourgeoisie, eine Reihe von Interessen geschaffen hat, die mit dem bolschewistischen Staat verbunden sind und sich in dem Maße zu erhalten suchen, wie dieser Staat sich erhält.
Die Auslöschung des Staates ist in der UdSSR weiter entfernt denn je, wo der staatliche Interventionismus immer umfassender und unterdrückender wird und wo die Klassen nicht verschwunden sind.
Das leninistische Programm von 1917 umfasste folgende Punkte: Abschaffung der Polizei und der stehenden Armee; Abschaffung der Berufsbürokratie; Wahlen für alle öffentlichen Ämter und Funktionen; Abwählbarkeit aller Beamten; Gleichheit der bürokratischen Löhne mit den Arbeiterlöhnen; maximale Demokratie; friedliche Pluralität der Parteien innerhalb der Sowjets; Abschaffung der Todesstrafe. Keiner dieser Programmpunkte wurde umgesetzt.
In der UdSSR gibt es eine Regierung, die eine diktatorische Oligarchie ist. Das Politbüro des Zentralkomitees (19 Mitglieder) dominiert die russische kommunistische Partei, die wiederum die UdSSR dominiert. Jede politische Strömung, die nicht zu den Untertanen gehört, wird als konterrevolutionär gebrandmarkt. Die bolschewistische Revolution hat eine saturnische Regierung hervorgebracht, die Riazanov, den Gründer des Marx-Engels-Instituts, deportiert, während er die vollständige und originale Ausgabe von „Das Kapital“ herausgibt; die Zinoviev, den Präsidenten der Kommunistischen Internationale, sowie Kamenev und viele andere der höchsten Vertreter des Leninismus zum Tode verurteilt, die aus der Partei ausgeschlossen werden um sie dann aus der UdSSR zu schicken, einen „Chef“ wie Trotzki, der im Grunde genommen ohne Rücksicht bestraft und sich an achtzig Prozent der wichtigsten leninistischen Militanten rächt.
Lenin schrieb 1920 eine Lobeshymne auf die Selbstkritik innerhalb der Kommunistischen Partei, sprach aber von den „Fehlern”, die von der „Partei” anerkannt wurden, und nicht vom Recht des Staatsbürgers, die Fehler der Regierungspartei, oder das, was er als solche ansah, anzuprangern.
Obwohl Lenin ein Diktator war, riskierte oder ertrug jeder, der rechtzeitig dieselben Fehler anprangerte, die Lenin selbst im Nachhinein eingestand, Ausgrenzung, Gefängnis oder Tod. Der bolschewistische Sowjetismus war eine grausame Verhöhnung, auch von Lenin, der die demiurgische Macht des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Russlands in der gesamten UdSSR verherrlichte, indem er sagte: „In unserer Republik wird keine wichtige Angelegenheit, sei es in Bezug auf die öffentliche Ordnung oder die Organisation einer staatlichen Institution, ohne die Weisungen des Zentralkomitees der Partei entschieden.”
Wer „proletarischer Staat“ sagt, sagt „Staatskapitalismus“. Wer „Diktatur des Proletariats“ sagt, sagt „Diktatur der Kommunistischen Partei“.
Leninisten, Trotzkisten, Bordigisten, Zentristen sind nur durch unterschiedliche taktische Vorstellungen gespalten. Alle Bolschewiki, egal welcher Fraktion sie angehören, sind Anhänger der politischen Diktatur und des Staatssozialismus. Sie alle sind durch die Formel „Diktatur des Proletariats“ verbunden, eine irreführende Form, die dem „souveränen Volk“ des Jakobinismus entspricht. Jeder Jakobinismus ist dazu verdammt, die soziale Revolution in die Irre zu führen. Und wenn sie in die Irre geführt wird, zeichnet sich der Schatten eines Bonaparte ab.
Man muss blind sein, um nicht zu sehen, dass der stalinistische Bonapartismus nichts anderes ist als der Schatten des leninistischen Diktaturismus.
24. Oktober 1936.
Veröffentlicht in der dritten Ausgabe von Guerra di classe.
4. Die Diktatur des Proletariats und der Staatssozialismus
Die Diktatur des Proletariats ist ein marxistischer Begriff. Lenin zufolge ist „nur derjenige Marxist, der die Anerkennung des Klassenkampfes auf die Anerkennung der Diktatur des Proletariats ausdehnt”.
Lenin hatte Recht, denn die „Diktatur des Proletariats“ ist für Marx nichts anderes als die Eroberung des Staates durch das Proletariat, das als politisch herrschende Klasse durch den Staatssozialismus die Abschaffung aller Klassen erreicht.
In der „Kritik des Gothaer Programms“, die Marx 1875 schrieb, heißt es:
„wischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.“
Im Kommunistischen Manifest (1847) heißt es:
„der erste Schritt in der Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse…
Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren(…)“
Lenin bestätigt in Staat und Revolution die marxistische These:
„Das Proletariat braucht den Staat nur zeitweilig. In der Frage der Abschaffung des Staates als Ziel gehen wir mit den Anarchisten keineswegs auseinander. Wir behaupten, daß zur Erreichung dieses Ziels ein zeitweiliges Ausnutzen der Organe, Mittel und Methoden der Staatsgewalt gegen die Ausbeuter notwendig ist, ebenso wie zur Aufhebung der Klassen die vorübergehende Diktatur der unterdrückten Klasse notwendig ist. …
Der Staat verschwindet in dem Maße, wie wir aufhören, Kapitalisten zu sein, keine Klassen mehr haben und es folglich keine Notwendigkeit mehr gibt, irgendeine Klasse zu „vernichten”.
„Aber der Staat ist noch nicht ganz tot, weil er noch durch das „bürgerliche Recht” geschützt wird, das in der Tat die Ungleichheit festschreibt. Damit der Staat vollständig untergeht, muss der totale Kommunismus kommen.”
Der proletarische Staat wird als eine vorübergehende politische Form verstanden, die dazu bestimmt ist, die Klassen zu zerstören. Der schrittweise Verlauf der Enteignung und die Idee eines Staatskapitalismus sind die Grundlagen dieser Auffassung. Lenins Wirtschaftsprogramm am Vorabend der Oktoberrevolution schließt mit dem Satz: „Der Sozialismus ist nichts anderes als ein sozialistisches Staatsmonopol”.
Laut Lenin „Der Unterschied zwischen Marxisten und Anarchisten besteht darin, daß 1. die Marxisten, die sich die völlige Aufhebung des Staates zum Ziel setzen, dieses Ziel für erreichbar halten erst nach der Aufhebung der Klassen durch die soziale Revolution, als Resultat der Errichtung des Sozialismus, der zum Absterben des Staates führt; die Anarchisten wollen die völlige Aufhebung des Staates von heute auf morgen, ohne die Bedingungen für die Durchführbarkeit einer solchen Aufhebung zu begreifen. 2. Die Marxisten halten es für notwendig, daß das Proletariat nach Eroberung der politischen Macht die alte Staatsmaschinerie völlig zerstört und sie durch eine neue, eine nach dem Typ der Kommune gebildete Organisation der bewaffneten Arbeiter ersetzt; die Anarchisten, die auf die Zerstörung der Staatsmaschinerie schwören, stellen sich ganz unklar vor, was das Proletariat an ihre Stelle setzen und wie es die revolutionäre Macht gebrauchen wird; die Anarchisten verwerfen sogar die Ausnutzung der Staatsgewalt durch das revolutionäre Proletariat, dessen revolutionäre Diktatur. 3. Die Marxisten fordern die Vorbereitung des Proletariats auf die Revolution unter Ausnutzung des heutigen Staates; die Anarchisten lehnen das ab.”
Lenin verdreht die Sache. Die Marxisten „streben nicht die vollständige Zerstörung des Staates an“, sondern sehen vielmehr dessen natürlichen Untergang als Folge der Zerstörung der Klassen durch die „Diktatur des Proletariats“ oder durch den Staatssozialismus, während die Anarchisten die Zerstörung der Klassen durch eine soziale Revolution wollen, die den Staat zusammen mit den Klassen abschafft. Die Marxisten befürworten außerdem nicht die bewaffnete Eroberung der Kommune durch das gesamte Proletariat, sondern die Eroberung des Staates durch die Partei, die behauptet, das Proletariat zu vertreten. Die Anarchisten lassen die Ausübung politischer Macht durch das Proletariat zu, aber diese politische Macht wird als die Gesamtheit der kommunistischen Verwaltungssysteme, der korporativen Organe, der kommunalen, regionalen und nationalen Institutionen verstanden, die frei außerhalb und gegen das politische Monopol einer Partei gebildet werden und zu einer minimalen Verwaltungszentralisierung tendieren. Lenin vereinfacht aus polemischen Gründen willkürlich die Begriffe der gängigen Unterschiede zwischen den Marxisten und uns.
Die leninistische Formel „Wir Marxisten wollen das Proletariat auf die Revolution vorbereiten, indem wir den modernen Staat zu seinem Vorteil nutzen“ bildet die Grundlage des leninistischen Jakobinismus ebenso wie des parlamentarischen und des sozialreformistischen Ministerialismus. Auf den internationalen Sozialistenkongressen in London (1896) und Paris (1900) wurde beschlossen, dass nur Arbeiterparteien und -organisationen der Sozialistischen Internationale beitreten können, die das Prinzip der „sozialistischen Eroberung der Staatsmacht durch das in einer Klassenpartei organisierte Proletariat“ anerkennen. An diesem Punkt kam es zur Spaltung, aber der Ausschluss der Anarchisten aus der Internationale bedeutete tatsächlich den Sieg des Possibilismus, des Opportunismus, des „parlamentarischen Kretinismus” und des Ministerialismus.
Die parlamentarischen Gewerkschaften/Syndikate sowie einige sich als marxistisch bezeichnende kommunistische Fraktionen lehnen die vorrevolutionäre oder nicht revolutionäre Eroberung der Staatsmacht ab.
Eines Tages wird ein Rückblick auf die Geschichte des Sozialismus nach der Trennung von den Anarchisten unweigerlich die allmähliche Degeneration des Marxismus als politische Philosophie durch die Interpretationen und die Praxis der Sozialdemokratie feststellen müssen.
Der Leninismus ist zweifellos eine Rückkehr zum revolutionären Geist des Marxismus, aber auch eine Rückkehr zur Sophistik und zur Aushöhlung der marxistischen Metaphysik.
5. November 1936.
Veröffentlicht in der fünften Ausgabe von Guerra di classe.
1A.d.Ü., das Zitat von Engels stammt eigentlich aus Friedrich Engels – „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ Kapitel IX Barbarei und Zivilisation.