(Vetriolo) DIE NIHILISTISCHE PHASE

Gefunden auf la nemesi, die Übersetzung ist von uns. Hier ein Text der in der anarchistischen Zeitung Vetriolo Nr. 7 erschien und sich zwei Fragen widmet. Die Klassenfrage und die Technologie/Wissenschaft. Ein Beitrag der, wie die Antwort die darauffolgend auch publiziert, eine sehr interessante und wichtige Debatte eröffnet. Unsererseits haben wir nur einen wichtigen Einwand, nämlich die abgedroschene Verwendung des Begriffes/Idee/Konzepts, ohne wirklich darauf einzugehen was dieser überhaupt bedeutet, nämlich dass der Kultur (aber auch dass des Volkes, oder in seiner abgeschwächten Form – was nicht wirklich der Fall ist – das Populistische).

In einer Zeit wo alles Ideologie ist (entfremdetes Denken) und nur die Negation des Kapitalismus und des Staates kritisches Denken ermöglicht, ist Kultur nichts weiteres als die verschönerte Form von Nationalismus, also ein „Verbindungselement“ für die Armen, was aber niemals der Fall ist. Denn kein Gedanke, keine Idee ist frei von herrschender Ideologie (die herrschenden Gedanken sind die Gedanken der Herrschenden1) außer ihr Kern und Ziel ist es die jetzige Realität, die des Kapitalismus (mit all seinen Staaten, Nationen, Armeen, Gesetzen, Knästen, Normen, Kulturen, usw.) aus seinen Fugen auszuhebeln, das heißt das zu negieren was uns alle als menschliche Spezies negiert. Und dasselbe gilt für all diese konterrevolutionäre Begriffe wie Kultur, Volk, Nation, usw.

Dasselbe gilt für „populistisch“, wir können als Anarchistinnen und Anarchisten nicht einerseits die Klassenfrage als ein zentrale Frage verteidigen (die Zerstörung des Staates und des Kapitals ist die Zerstörung der Klassengesellschaft) und im nächsten Satz über Populismus/populistisch sprechen. Das Zweite hebt nämlich immer das Erste auf. Die Klassengesellschaft definiert eine antagonistische Gesellschaft die unversöhnlich ist, ein ökonomisch aufgezwungener Zustand der keine Identität ist und der Populismus vereint (suggeriert diese Vereinigung/Assoziation), die nur als phantastische klassenübergreifende IDENTITÄT, also als IDEOLOGIE existiert, und jegliche Konfrontation entwaffnet, domestiziert und ins Kapital (oder seiner effektivsten Ideologie, nämlich der Demokratie) integriert.

Was bleibt? Nur der Soziale Krieg und die Anarchie! (Für alles andere haben wir die Pfaffen und die (radikale) Linke des Kapitals auf der anderen Seite der Barrikade mit einer Armee von Soziologen, Therapeuten, Sozialarbeitern und anderen psychischen Anästhesisten.)

Selbsthilfegruppe für angewandte und praktische Subversion der Prolos (Manchmal noch genannt als Soligruppe für Gefangene)


Wiederveröffentlichung des Artikels aus der Ausgabe Nr. 7 der anarchistischen Zeitung Vetriolo: „Die nihilistische Phase”

Vor ein paar Tagen haben wir einen Beitrag mit dem Titel „Einige kritische Überlegungen zur nihilistischen Phaseveröffentlicht, den wir per E-Mail bekommen haben.

Ohne hier auf das Thema einzugehen, aber weil wir die Auseinandersetzung für einen wichtigen Teil der Ausarbeitung und Weiterentwicklung von revolutionären Theorien und Praktiken halten und weil wir den kritisierten Text im Internet nicht finden konnten, haben wir uns entschieden, den Artikel „Die nihilistische Phase“ aus der Ausgabe Nr. 7 der anarchistischen Zeitung Vetriolo online zu veröffentlichen.

Hier ist die vollständige Fassung des Textes.

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DIE NIHILISTISCHE PHASE

Die in dieser Zeitung geäußerte Hypothese, dass wir auf dem Gebiet des sozialen Konflikts in eine sogenannte „nihilistische Phase” eintreten, hat Interesse, Neugier und Kritik geweckt. Einige Gefährtinnen und Gefährten, vor allem außerhalb des Anarchismus, haben uns unsere nihilistischen Impulse vorgeworfen. Andere, die selbst stolze Nihilisten sind, haben uns vorgeworfen, den Nihilismus auf eine einfache „Phase” reduziert zu haben, ihn damit irgendwie relativiert und ihm somit nicht voll und ganz verpflichtet. Hinter dieser Kritik steckt ein Missverständnis und eine Fehlinterpretation unserer Thesen. Für dieses Missverständnis und diese Fehlinterpretation übernehmen wir gerne die Verantwortung – wahrscheinlich haben wir uns nicht klar genug ausgedrückt.

Der Zweck dieses Artikels ist es daher, dieses Konzept, das wir bisher, so wichtig es auch ist, immer nur im Rahmen anderer Diskurse entwickelt haben, vollständig zu erforschen: Wir haben beispielsweise in unseren Artikeln über Wissenschaft und Technik darüber gesprochen oder ihm eine der sogenannten „zwölf Hypothesen” gewidmet. Dieses Mal wollen wir uns stattdessen direkt mit dieser Kategorie auseinandersetzen, ihre wesentlichen Knotenpunkte erforschen und daraus Nebenüberlegungen ableiten.

Die nihilistische Phase als Leidenschaft der Ausgebeuteten.

Wenn wir von einer „nihilistischen Phase” sprechen, meinen wir damit einen bestimmten Zustand, unter dem das soziale Wesen leidet. Wir versuchen, ein Gefühl zu beschreiben, in das die Ausgebeuteten in der gegenwärtigen historischen Phase gestürzt sind. Als wir zum ersten Mal darüber sprachen, war das Aufkommen einer nihilistischen Phase für uns noch nur eine Vorhersage. Wir dachten, dass die Proletarier aufgrund der technologischen Entfremdung, die ihnen jeden Horizont nimmt, sei er auch noch so fantasievoll, sei es der einer revolutionären Umwälzung, bald in so eine Lage kommen würden. Mit der Zeit ist diese Vorhersage Realität geworden. Eine Realität, die nicht ganz so schnell gekommen ist: Die nihilistische Phase hat begonnen, aber wir haben noch nicht ihren Höhepunkt erreicht (wir befinden uns erst in den ersten Erschütterungen). Aus diesem Grund wird die von uns beschriebene nihilistische Phase in diesem Artikel noch einen Rest an Mehrdeutigkeit aufweisen: teils Beschreibung, teils Vorhersage der Zukunft des sozialen Seins.

Ein völliges Missverständnis der nihilistischen Phase wurde auch von Bullen und Richtern betrieben. In der Repressionsaktion, der wir ausgesetzt waren und die mit den Verhaftungen und Durchsuchungen vom 11. November 2021 gipfelte, werden wir in mehreren Passagen der „Anstiftung” beschuldigt, auch weil wir die „nihilistische Phase” theoretisiert haben. Vorweg gesagt, dass wir uns gegen diese Vorwürfe nicht verteidigen wollen, auf die wir im Übrigen ziemlich stolz sind (auch wenn der Begriff „Anstiftung” eine unangenehme Nuance hat, als würden wir andere zu Dingen drängen, zu denen wir selbst nicht den Mut haben… aber das ist nicht der richtige Ort, um darüber zu reden), muss man dennoch objektiv sagen, dass die nihilistische Phase von „Vetriolo” als ein Zustand zu betrachten, den wir befürworten und zu dem wir aufrufen, bedeutet, dass man dieses Konzept überhaupt nicht verstanden hat.

Die nihilistische Phase, von der wir träumen, ist eine Leidenschaft der Ausgebeuteten. Diese genießen und werden die nihilistische Phase genießen, und gleichzeitig werden sie unter ihren Auswirkungen leiden. Als reale, objektive und subjektive Leidenschaft und Leiden der Massen ist die nihilistische Phase nichts, was Anarchistinnen und Anarchisten mit ihrem individuellen Willen provozieren können oder nicht. Anarchistinnen und Anarchisten machen Aktionen, keine Revolutionen. Revolutionen werden von sozialen Klassen gemacht (das ist das ABC jeder soziologischen Diskussion, wenn wir uns darüber nicht einig sind, ist es sinnlos, weiter zu diskutieren). Die nihilistische Phase, von der wir sprechen, ist nicht dasselbe wie nihilistische Aktionen, die wir natürlich immer begrüßen. Wir meinen hier mit dem Begriff „nihilistische Phase” eine Massenwanderung hin zum Nihilismus. Solche Dinge kann man nicht anstiften, sie passieren einfach.

Nachdem wir diesen Punkt geklärt haben – die nihilistische Phase ist eine Leidenschaft der Ausgebeuteten in dem Moment, in dem ihnen aufgrund der wissenschaftlichen Entwicklung der Traum von einer revolutionären Wende geraubt wird –, haben wir also zwei Unterbegriffe zu untersuchen: 1) die nihilistische Phase als Ereignis, das sich in dem Moment ereignet, in dem jedes Restbewusstsein der Klasse beseitigt ist; 2) die nihilistische Phase als Massenreaktion auf den techno-autoritären Wandel. Betrachten wir sie getrennt.

Die Rückkehr des Verdrängten. Klassenkampf und Wut des Zerstreuens.

Dies sind die Jahre, in denen der Klassenkampf tatsächlich weg ist. Er ist aus dem narrativen Horizont der historischen Epoche, in der wir leben, verschwunden. Es sind die Jahre vom Ende der Geschichte. Als Francis Fukuyama seine Theorie über Das Ende der Geschichte (1992) entwickelte, tat er dies paradoxerweise (aber ist es wirklich so paradox?) aus der Perspektive eines Hegel-Marxismus, der so streng war, dass er fast dogmatisch wirkte. Wenn die Geschichte mit der Herr-Knecht-Dialektik beginnt (Hegel, „Phänomenologie“), oder wenn die Geschichte des Menschen eine Geschichte des Klassenkampfs ist (Marx-Engels, „Manifest“), dann, so Fukuyama, ist mit der Niederlage der Sowjetunion die Geschichte zu Ende. Geht in Frieden.

Nicht nur, dass er die imperialistischen Interessen der UdSSR auf geradezu stalinistische Weise mit den Interessen des Proletariats tout court gleichsetzt, wo wir Anarchistinnen und Anarchisten doch seit 150 Jahren sagen, dass „jede sich revolutionär nennende Regierung nichts als eine weitere Täuschung ist“ und dass „die historische Aufgabe des Proletariats die Zerstörung aller politischen Macht ist“ (Saint-Imier, 1872), sondern er dreht sogar die Hauptprämisse mit der Nebenprämisse um und schließt aus dem Verschwinden der Wirkung das Verschwinden der Ursache.

Das Ende dieser Ausblendung des Klassenkampfs hat es der politischen Macht auch ermöglicht, die mystifizierten Darstellungen, die davon im parlamentarischen Theater aufgeführt wurden, zu entfernen. In der Folge ging das Verschwinden selbsternannter politischer Kräfte, die vorgaben, die Interessen der Ausgebeuteten zu vertreten, Hand in Hand mit einer autoritären Wende der westlichen Demokratien. Da sie sich nicht mehr als institutionelle Vermittlerin sozialer Konflikte positionieren musste, entwickelte sich die parlamentarische Demokratie immer mehr zu einer redundanten Kopie der ökonomischen Zünfte. Dies knüpft an eine weitere Hypothese von „Vetriolo” an: das Aufkommen einer autoritären Wende neuer Form.

Die anarchistische Bewegung blieb von den Einflüssen dieser Welle nicht verschont. Einige, immer bereit, die schlimmsten Ideen des Feindes zu übernehmen, dachten, sie würden sich als umso radikaler und zeitgemäßer erweisen, wenn sie sich ebenfalls der politischen Herde anschließen und die Leugnung unserer Wurzeln in der Arbeiterbewegung mitbeten würden.

Der Punkt liegt gerade in der Unmöglichkeit derartiger Verleugnung. Die sozialen Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten haben sich in den letzten dreißig Jahren nur noch verschärft. In diesem Kontext wurde das natürliche Gefühl des Klassenhasses der wachsenden Masse der Ausgeschlossenen in einem unnatürlichen Zustand unterdrückt, in dem dieser Hass sich nicht ausdrücken konnte und wusste. Die nihilistische Phase ist nichts anderes als das: die symptomatische Rückkehr des verdrängten Klassenhasses wie ein Karstfluss. Gegen den Mythos des Selbstbewusstseins, der ewigen Chimäre der Reformisten aller Zeiten, ist der Klassenhass zu einem blinden und nihilistischen Hass geworden, zu einem unbewussten Hass. Erste Erschütterungen: die Unruhen in Los Angeles und Paris.

Die ersten, die die nihilistische Phase wirklich erlebt haben, waren jedoch die muslimischen Völker. Hinter der Unfähigkeit, die Wut des sogenannten islamischen Terrorismus zu verstehen, haben nur wenige erkannt, dass dies die Antwort und zugleich die Verfälschung eines echten Hasses auf den westlichen Kapitalismus war. Jetzt beginnt die nihilistische Phase den Westen zu durchlaufen, aber ihre Merkmale werden noch nicht erkannt und ihre Tragweite nicht ganz verstanden. Vor allem die Linke zeigt sich in dieser Frage völlig blind. Der nihilistischen Phase wird ihre Irrationalität vorgeworfen. Das ist, als würde man Wasser seine Feuchtigkeit vorwerfen! Die Überbleibsel des wissenschaftlichen Sozialismus können nicht akzeptieren, dass es unter den Unterdrückten eine Welle von anti-wissenschaftlichem Hass gibt, und die amerikanische New Left kann einfach nicht fassen, dass die Wütenden oft weiße, männliche Arbeiter sind, die auch ein bisschen rassistisch und sexistisch sind. Hinter dieser aristokratischen Haltung gegenüber der nihilistischen Phase steckt zum Beispiel der Erfolg des Trump-Modells.

Wir sollten dagegen verstehen, dass hinter dem nihilistischen Hass, so gut er auch versteckt sein mag, ein echtes Gefühl von Klassenhass steckt. Kurz gesagt: Wir sollten uns auf die nihilistische Phase einlassen und tief graben. Wenn sich diese als Rückkehr des Irrationalen, als Rückkehr des Mythos präsentiert, sollten wir die Ersten sein, die den Mythos der rachsüchtigen Anarchie wiederbeleben. Das heißt, in der nihilistischen Phase über die Verbreitung von Praktiken der Vertikalisierung des Hasses nachzudenken. Propaganda mit Taten, das war schon immer so: Mit Praktiken zeigt man einen Horizont auf und beweist, dass sich Dinge ändern können, dass unsere Wut gelenkt werden kann und muss.

Die techno-wissenschaftliche Kirche und ihre Feinde.

Die zweite Offenbarung der nihilistischen Phase zeigt sich im immer weiter verbreiteten anti-wissenschaftlichen Gefühl. Auch hier handelt es sich per Definition um ein irrationales Gefühl. Innerhalb dieser Irrationalität gibt es sehr oft regelrechten Wahnsinn, Verschwörungstheorien und Paranoia. Wenn wir aber eine elitäre Haltung ablehnen, erkennen wir, dass dies die Gefühle derjenigen sind, die in eine Situation geworfen wurden, in der jede mögliche Umkehrung beseitigt wurde. Andererseits, wenn sogar ein von der Linken so geliebter (nazistischer) Philosoph wie Martin Heidegger angesichts der wissenschaftlichen Degeneration und der Gefahren der Atomkraft zu dem Schluss kam, dass „nur noch ein Gott uns retten kann“, was kann man dann vom Mann auf der Straße erwarten?

Wir Anarchistinnen und Anarchisten haben aber die Mittel, um mit dieser Situation umzugehen. Michail Bakunin schrieb:

„In der gegenwärtigen Organisation bilden die Wissenschaftler als Monopolisten der Wissenschaft, die als solche außerhalb des gesellschaftlichen Lebens stehen, zweifellos eine eigene Kaste, die viele Ähnlichkeiten mit der Priesterkaste aufweist. Die wissenschaftliche Abstraktion ist ihr Gott, die lebendigen und realen Individuen sind die Opfer, und sie sind die geweihten und patentierten Opferer.“

Bakunin hat bereits vor 150 Jahren die Eckpunkte der Situation erkannt, in der wir uns befinden.

1) Wissenschaftliches Wissen ist selbst eine ökonomische, private und exklusive Macht. Wissenschaftler sind die Monopolisten dieses Trusts.

2) Als Monopolisten des Konzepts stellen sie in jeder Hinsicht eine eigene Kaste dar, wie die Priester im Mittelalter oder die ägyptischen Schriftgelehrten.

3) Die Wissenschaft ist ihr Gott und die Menschen sind die Opfer, die im Holocaust geopfert werden.

Diese drei Bedingungen, die Bakunin schon vorhergesehen hat, sind heute in unseren Gesellschaften deutlich zu sehen. Das Monopol auf die Mittel des Wissens ist aus einer immer größeren Komplizierung und Spezialisierung des technischen Wissens entstanden. Milliarden von Menschen nutzen täglich Google, aber nur wenige Dutzend kennen die Algorithmen, mit denen unser aller Verhaltensweisen erfasst werden. Zweitens verhalten sich diese Monopolisten tatsächlich wie eine neue Kaste: nicht nur wegen der geheimnisvollen Verwendung ihres Wissens, sondern auch wegen ihres Gefühls moralischer Überlegenheit. Über Gut und Böse stehend, ist der Wissenschaftler heute der einzige Akteur unserer Zeit der frei von jeglicher Verantwortung ist. Während wir alle ständig in die Pflicht genommen werden – Müll trennen, keine Tiere essen, politisch korrekt reden, keine Grippe verbreiten, uns impfen lassen usw. –, ist der Wissenschaftler der einzige, der keine Verantwortung trägt. Er hat das Recht zu entdecken, keine ethischen Zwänge, was nicht entdeckt werden darf, keine kollektive Kontrolle über seine Entdeckungen. Das passiert, und damit sind wir beim dritten Punkt, weil die Wissenschaft sich als neuer Gott aufspielt und die Menschen nur Sündenböcke sind, die auf ihrem Altar geschlachtet werden.

Auf diese Weise entsteht eine Opposition zu dieser neuen Macht. Für uns ist das eine soziale und keine metaphysische Frage. Wir wollen nicht die Wissenschaft an sich bekämpfen, die wir im Gegenteil für unser Leben und auch für unseren Kampf nutzen, sondern eine bestimmte soziale Organisation: die Organisation eines Techno-Kapitalismus, in dem die Priesterkaste im Dienste der Macht die Welt neu gestaltet, damit die Ordnung der Herrschenden unumstößlich wird.

Bakunin leitete seine Aussagen aus einer Vorstellung vom Staat ab, der sich seiner Meinung nach um die Idee Gottes herum bildete. Er distanzierte sich von der marxistischen Gemeinplatz, dass der Staat nichts anderes als der bewaffnete Arm der Herrscher sei, und sah im Staat auch Ideologie und Religion. Deshalb würde sich der bourgeoise Staat, nachdem er die mittelalterlichen christlichen Vorurteile überwunden hat, um die technowissenschaftliche Kirche herum entwickeln. Bakunin vermutete außerdem, dass diese Dystopie gerade von den autoritären Kommunisten verwirklicht werden würde. In der Überzeugung, dass es ausreiche, die Klassengesellschaft zu beseitigen, um den Staat auszulöschen, befürchtete Bakunin, dass gerade die Diktaturen der kommunistischen Bürokraten über das Proletariat die idealen Orte sein würden, an denen das rationale Vertrauen in die technische Unpersönlichkeit triumphieren würde (die herrschende Kaste, die die Interessen der Massen besser kennt als sie selbst). Das Beispiel China zeigt uns, wie recht er damit hatte.

In diesem Zusammenhang ist die Bildung einer Massenopposition gegen den techno-autoritären Kurs als ein Schritt nach vorne zu begrüßen. Natürlich handelt es sich um eine sehr widersprüchliche Bewegung. Der christliche Fundamentalismus (und in anderen Breitengraden, wie wir bereits gesehen haben, der islamische Fundamentalismus) stellt beispielsweise eine sehr mächtige „Partei“ innerhalb dieser Bewegungen dar. Der fundamentalistische Widerstand fürchtet den neuen Gott und organisiert daher eine völlig reaktionäre Verteidigungslinie.

Für uns stellt sich daher keine Frage nach einer möglichen Front mit diesem Gesindel. Uns interessiert es vielmehr, innerhalb der nihilistischen Phase Weggefährtinnen und Weggefährten zu finden. Menschen, die wie wir den Klassencharakter dieser Entwicklungen verstehen und ihrer Wut eine klare revolutionäre Richtung geben können.

Kultur gegen Wissenschaft.

Wir brauchen also eine revolutionäre Kultur. Unter revolutionärer Kultur ist eine Theorie und ein offenes Erbe revolutionärer Praktiken zu verstehen. Dass man von einer Kultur spricht, die der Wissenschaft entgegenzusetzen ist, von einer Kultur, die dem Nihilismus zur Seite gestellt werden soll, mag paradox erscheinen. Vielleicht ist auch dies eines der Themen, die wir bisher nicht ausreichend vertieft haben und auf die es sich lohnt, ausführlich zurückzukommen.

Wir müssen mit einer positivistischen Ideologie aufräumen, nach der Wissenschaft und Kultur Hand in Hand gehen. Die Entstehung des Staates, der Unterdrückung in der Familie, der Klassenunterdrückung und der Wissenschaft werden als miteinander verbunden angesehen, da sie sich gleichzeitig mit der Entstehung der Kultur, der Sprache, der Kunst usw. entwickeln. Es geht um eine positivistische Ideologie im philosophischsten Sinne: Das Auftreten von zwei Phänomenen, zum Beispiel Phänomen A) Sklaverei und Phänomen B) Kultur, zeigt eine logische Konsequenz, dass B) zwangsläufig aus A) folgt.

Natürlich kommt diese Argumentation den Machthabern gelegen. Es ist klar: Mit dieser ideologischen Täuschung haben sich die Unterdrücker schon immer als Träger von Kultur, Zivilisation und Ethik dargestellt. Der Betrug der Kolonialpolitik ist genau auf den Spuren dieser Ideologie aufgebaut (von Rom über das Britische Empire bis hin zu den heutigen „Exporteuren der Demokratie”). Am meisten ärgert es mich, wenn Anarchistinnen und Anarchisten in diese ideologische Falle tappen. Der Primitivismus zum Beispiel ist, so sehr man ihn auch leugnet, auch technisch gesehen (man schau sich nur die Bibliografie von Zerzans Werken an) in einem völlig positivistischen Horizont verankert. Natürlich kehrt der Primitivismus die Werte um, die von positiv zu negativ werden, aber die positivistische Ideologie, wonach A) B) impliziert, Kultur Sklaverei ist, bleibt bestehen. Ganz zu schweigen von der ganzen antizivilisatorischen Tendenz, für die „Zivilisation” gleichbedeutend ist mit „Staat”, „Wissenschaft”, „Ausbeutung” usw.

Wir stimmen Alfredo Bonanno etwas mehr zu, wenn er in der ersten Ausgabe von „Negazine” schreibt:

„Hier liegt das Missverständnis und der Verdacht, dass viele Kultur als ein aristokratisches Instrument betrachten, mit dem die Herrschenden ihre Herrschaft aufrechterhalten. Diese These enthält viel Wahres, aber nicht ganz. Kultur sichert die Herrschaft, aber die Herrschaft verdummt sich selbst und lässt unterschiedliche Prozesse im Umlauf, die sie jederzeit gefährden können. Ein Komitee aus klugen Idioten und Facharbeitern wird niemals die Kontrolle über die Welt behalten können, der technologische Prozess der Entwirklichung hingegen schon. Das muss man verstehen. Wir müssen uns die Mittel aneignen, um anzugreifen, solange wir noch Zeit haben, d. h. solange wir noch nicht vollständig von der Technologie entwirklicht sind, und diese Mittel sind auch kulturelle Mittel.“

Gehen wir noch einen Schritt weiter. Versuchen wir uns vom negativen Denken verführen zu lassen. Anstelle der positivistischen Logik, wonach A) positiv B) impliziert, wagen wir zu denken, dass B) als Negation von A) entsteht. Wenn zwei Phänomene nebeneinander auftreten, geschieht dies, weil das eine die Negation des anderen ist. Nach dieser negativen und nicht positiven Hypothese sind Kultur, Denken und Sprache nicht mitverantwortlich für Unterdrückung, sondern die Form der Rebellion. In gewisser Weise sind sie auch für uns „die logische Konsequenz“, aber nicht im Sinne einer Mitverantwortung und Komplizenschaft, sondern in dem Sinne, dass Auflehnung offensichtlich die logische Konsequenz von Ungerechtigkeit ist.

So sieht es auch heute noch aus. Technologische Verdummung, Entwirklichung, digitale Entfremdung, Banalisierung von Informationen – sind das nicht Formen des Angriffs auf die Kultur, auf eine Sprache, die von komplex immer mehr kastriert und idiotisiert wird? Kultur ist nicht das technische Wissen einer Elite, sondern im Gegenteil die Geste des Prometheus, der den Göttern das Monopol des Wissens entreißt, um die Welt in Brand zu setzen.

Negation ist Wahrheit. Stark denken!

Wie hängt das alles mit der nihilistischen Phase zusammen? Ganz praktisch gesehen, weil wir denken, dass in dem irrationalen Sturm, der auf uns zukommt, die klare Identität und Kultur des Anarchismus ein super Kompass sein können. Zu dieser ersten, dringenden Überlegung kommt noch eine zweite, die mehr durchdacht und weniger banal ist.

Zu behaupten, dass das Denken in erster Linie als Protest gegen Ungerechtigkeit entsteht, bedeutet, eine allgemeinere Überlegung zum Begriff der Negation anzustellen. Denken bedeutet in erster Linie negieren. Das ist so offensichtlich, dass es in unserer Sprache praktisch unmöglich ist, einen komplexen Satz zu formulieren, der keine Negation enthält (oft enthalten unsere Sätze sogar viele Verneinungen). Für Gehorsam braucht es kein Denken. Die Ausführung eines Befehls braucht keine Sprache. Die Sprache entsteht mit dem ersten Sklaven, der „Nein” gesagt hat. Gehorsam ist stumm, er ist die Negation, die die Sprache begründet.

Das öffnet eine Klammer zur Philosophie des Geistes. Man kann zum Beispiel sagen, dass einige Tiere mit Denken ausgestattet sind. Wenn ich meinen Hund rufe und er, obwohl er sehr gut versteht, dass ich ihn meine, mir nicht gehorcht und weitermacht, was er will, zeigt der Hund, dass er intelligent ist. Interessant ist die autoritäre Verfälschung dieser Überlegungen über Hunde, da Erzieher (eine üble Sorte, diese Erzieher, egal welcher Tierart) eher dazu neigen, ein dressiertes Tier als intelligent zu bezeichnen. Im Gegenteil, nur wer sich verweigert, hat die Würde des Intellektes.

Aus dem gleichen Grund gibt es derzeit keine intelligenten Maschinen (und wir hoffen, dass es sie nie geben wird, sonst wird es ernst). Die Maschine ist gehorsam, sie führt Eingaben aus. Die einzige intelligente Maschine ist die, die sich ausschaltet, denn nur wer sich negiert, hat die Würde des Verstandes. Diese Überlegungen reichen aus, um deutlich zu machen, dass die revolutionäre Kultur das mächtigste Instrument ist, über das wir verfügen, um die „Herrschaft der Maschinen” zu bekämpfen. Die Kultur ist also ein Instrument im Kampf gegen den Szientismus, ein Kompass in der nihilistischen Phase.

Die Negation ist in erster Linie ein Instrument der Wahrheit. In einer imaginären und dystopischen Sprache, in der es keine Negation gäbe, könnten wir nicht zwischen wahr und falsch unterscheiden. Zu den vielen Vorurteilen, die uns plagen, gehört auch das, dass ein Libertärer nicht an das Konzept der „Wahrheit” glauben sollte. Es ist schon merkwürdig, dass die Verbreiter dieses Unsinns in guter Gesellschaft mit den sogenannten sophistischen Philosophen sind, die, wie allgemein bekannt ist, in der Polis die Arbeit von Politikern, Anwälten und Richtern machten!

Wir sagten also, in einer imaginären und dystopischen Sprache, die keine Negationen enthält, könnten wir nicht zwischen wahr und falsch unterscheiden. Die Aussage „Enrico ist nach Canossa gegangen” hat in einer Sprache ohne Negation keine Bedeutung. Dank der Negation können wir den Satz „Enrico ist nach Canossa gegangen” als wahr und den Satz „Enrico ist nicht nach Canossa gegangen” als falsch bezeichnen. Die Negation bestimmt also durch ihre Anwesenheit und sogar durch ihre Abwesenheit die Wahrheit oder Falschheit einer Aussage.

Die Negation zeigt sich also als eine antiautoritäre Kraft, sie entlarvt Betrüger. „Ich bin ein großer Herrscher“, „Nein, du bist ein schmutziger Tyrann“ – die Negation ist die Voraussetzung für jeden politischen Kampf. Die Politik ist das Reich der Sophistik, der Täuschung, des Betrugs, der Mystifikationen. Die Negation kann niemals eine absolute Wahrheit erreichen, aber zumindest kann sie das Falsche entlarven!

Der Begriff „Anarchie” erfüllt uns daher mit Stolz, weil er auch etymologisch auf die radikale Negation jeder Autorität verweist. Anarchie ist die stärkste Form der politischen Negativität, die wir mit Worten ausdrücken können.

Dass das Denken als Negation entsteht, zeigt uns auch die Geschichte der Philosophie. Die Philosophie entsteht als radikaler Protest gegen die Realität. Die Philosophie von Parmenides, die von Platon, aber auch die Atomisten wie die Materialisten Demokrit und Epikur erzählen uns von einer unsichtbaren Welt, die ganz anders ist als die sichtbare Welt. Es handelt sich um eine Umkehrung des Realen, einer Realität, die diese großen Denker offenbar unerträglich fanden.

Da das Denken immer gegen die Realität denkt, ist es eine Negation der Realität, das Denken ist immer starkes Denken. Denken bedeutet, das Sein der Dinge zu negieren, dafür braucht man unendliche Kraft. Die Theoretiker des schwachen Denkens sind also nichts anderes als Theoretiker der Kapitulation, der Resignation, des Rückzugs. Ihre existenziellen Turbulenzen sind nur der letzte Aufbäumversuch eines erlöschenden Gedankens, die kalten und immer schwächer werdenden Flammen dieses prometheischen Feuers.

Revolutionär zu sein in der nihilistischen Phase erfordert daher eine ungeheure Kraft: sich um eine absolute Negativität zu versammeln, die die relativen Negativitäten, die irrationalen und oft reaktionären Protesthypothesen überwindet und sublimiert. Die Fähigkeit, angesichts des Trostes der Verschwörungstheorien zu sagen: „Das ist falsch“. Stark denken: Es gibt eine ganze Welt, die man sich vorstellen kann.

Phänomenologie des Verbs „haben“. Die Sprache des Besitzes.

Dass das Denken und die Sprache, kurz gesagt die Kultur, als Negation der Realität, als Protest gegen die politische Macht entstanden sind, bedeutet nicht, dass die Mächtigen stumm geblieben sind. Sie haben sich diese Instrumente schnell angeeignet und sie zu Stützen ihrer ideologischen Apparate gemacht. Die Wissenschaft ist im Grunde eine Enteignung der Sprache, ihre Nutzung zum Zweck der Anhäufung von Wissen und damit ein Fortschritt der technischen Kontrolle über die Dinge. Jahrhunderte vor der Industriegesellschaft enthielt die Wissenschaft bereits in ihrem Genom den Algorithmus der kapitalistischen Gesellschaft: Akkumulation von Wissen und Reinvestition, um einen Mehrwert (A.d.Ü., Surplsus) an weiterem Wissen zu erzielen.

Eine kurze Geschichte der Sprache sollte sich damit befassen, wie die Menschen von der Negation zum Verb „sein” und dann von diesem zum Verb „haben” gelangten. Wenn das Verb „sein” auf die Entstehung des Staates selbst zu verweisen scheint, also auf etwas Stabiles, eine Institution, die „ist”, die „steht”, beschäftigen wir uns zunächst mit dem zweiten Schritt zum Verb „haben”. Der Begriff „haben” stellt in der Tat eine sehr bedeutende Wende in der Entwicklung einer Eigentumssprache dar (die Wissenschaft selbst ist eine solche, weil sie Wissen „hat”). Um die enorme Tragweite dieser Wende sofort zu verstehen, denken wir an den Unterschied zwischen dem Satz „Ich bin ein Sklave” und dem Satz „Ich habe einen Sklaven”. Es ist offensichtlich, dass es sich um zwei Konzepte handelt, die nicht nur sehr unterschiedlich, sondern sogar gegensätzlich sind. Während der erste Satz mich mit dem identifiziert, was ich bin, stellt der zweite einen Unterschied und gleichzeitig eine Hierarchie zwischen mir und den Dingen her.

Die Phänomenologie des Verbs „haben” scheint sich im Rhythmus eines dreifachen Widerspruchs zu entwickeln. Erstens gibt es eine Entfremdung der Sache, die ich besitze, von mir. Ich bin nicht mehr identisch mit der Sache, ich bin nicht mehr bei den Dingen, sondern die Dinge entfernen sich von mir (hier entsteht das kantische Drama der Unerkennbarkeit der Sache an sich). „Ich bin nicht meine Arbeit”, lehrt der gute Psychotherapeut den fetten und neurotischen Kommandeur. Zweitens unterwerfen sich mir diese Dinge, die sich einerseits von mir entfernen, andererseits. Es entsteht eine Hierarchie zwischen mir und meinem Eigentum. Zu sagen, dass „ich einen Sklaven habe”, bedeutet natürlich nicht nur, dass ich der Sklave bin, sondern auch, dass der Sklave mein Eigentum ist. Schließlich, und das ist der dritte und entscheidende Punkt, wird eine Autonomie der Sache von mir postuliert: Ich kann den Esel peitschen, und er kann bis zu seinem Tod weiter ungehorsam sein, ich kann den Garten bestellen und keine einzige Frucht wachsen sehen, mein Sklave kann es schaffen, zu fliehen. Die Sache, die ich habe, ist zwar mein Eigentum, identifiziert sich aber nicht mit mir und besitzt gleichzeitig das Stigma der Autonomie.

Entfremdung, Hierarchie und Autonomie sind die drei dramatischen Folgen des Verbs „haben”. Die Kraft des Verbs „haben” mit seinen drei Furien, die unser Leben zu einem Albtraum machen, ist heute stärker denn je. Wir schämen uns dafür, zu sein. Denken wir an die stärkste aller Emotionen: die Liebe. Mit dem Verb „haben” distanzieren wir uns von diesem beunruhigenden Gefühl, wir sind es nicht. Eine Schwärmerei zu haben und nicht verliebt zu sein, erscheint uns beruhigend. Tatsächlich distanziert es uns von der Sache, wir identifizieren uns nicht vollständig mit ihr. Um ein weniger poetisches Beispiel zu nennen: Viele schämen sich heute, Anarchistinnen und Anarchisten zu sein, sie halten es für zu identitätsstiftend, wichtig ist, dass die Leute konkret antiautoritäres Verhalten zeigen (Flaggen sind egal, wie oft hören wir das?).

Diese Distanz ist beruhigend, weil sie uns Austausch ermöglicht. Ich habe anarchistische Ideen, bin aber kein Anarchist oder Anarchistin; das beruhigt mich, ich sage mir, dass ich damit keiner Sekte angehöre, sondern einem Markt, auf dem ich meine Ideen gegen andere eintauschen kann. Innerhalb dieser Eigentumsdegeneration findet auch der Konflikt statt, mit dem zumindest hier in Italien bis zur nationalen Einheit der politische Wettstreit dargestellt wurde. Die Souveränisten sind in gewisser Weise diejenigen, die die Identität, das Sein bevorzugen. Die Liberalen sind diejenigen, die das Eigentum, das Haben bevorzugen.

Doch gerade das Verb „haben” bietet uns einen unerwarteten Ausweg aus diesem Widerspruch. Der dritte Geist des Verbs „haben” – der Geist der zukünftigen Weihnacht, um Dickens zu paraphrasieren – zeigt uns auch die Lösung. Die erste Wut des Verbs „haben” ist die Entfremdung, die zweite ist die Hierarchie, aber die dritte ist die Autonomie. Das Objekt, das ich habe, ist nicht identisch mit mir und daher autonom. Das Besessene ist selbst ein Subjekt. Es ist selbst Träger einer radikalen Negativität: Es kann „Nein“ sagen. Der Sklave, den ich habe, kann fliehen. Am Ende schließt das Verb „haben“ den Kreis der Sprache und stürzt uns wieder in jene radikale Negation, die das Denken begründet.

Für eine „dreizehnte Hypothese“.

Wenn wir aus den Tiefen des negativen Denkens wieder auftauchen, können wir sagen, dass genau das in unserer Zeit passiert. Wir leben in einer Zeit, in der das Eigentumsmodell in eine unlösbare Krise geraten ist. Das kann uns helfen, die Widersprüche der nihilistischen Phase zu verstehen. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die mit der Suche nach Identität reagieren, wie die Souveränisten, Fundamentalisten und Verschwörungstheoretiker: Gegen die Degeneration des Eigentums suchen sie nach dem Sein, einen Weg, den Martin Heidegger in der zweiten Hälfte seines philosophischen Lebens als Erster intuitiv erkannt hat. Wir dürfen uns in Gegensatz zu dieser reaktionären Degeneration nicht auf die Verteidigung der Eigentumsgesellschaft stellen (wie es die liberale Linke und der Teil des Anarchismus tut, der sich als nichts anderes als die extreme Linke dieser liberalen und eigentumsorientierten Tendenz erweist). Inmitten der nihilistischen Phase müssen wir den Weg der radikalen Negation einschlagen. Dazu müssen wir Opportunismus und Zweideutigkeiten hinter uns lassen.

In den sogenannten „zwölf Hypothesen” haben wir eine Reihe von Vermutungen aufgestellt, die sich in den letzten Jahren größtenteils bestätigt haben. Wir haben angenommen, dass die neuen Technologien die Ursache für die Krise der Globalisierung sind und dass sich das bourgeoise Lager angesichts dieser Krise in eine globalistische und eine souveränistische Fraktion spalten würde. Wir haben jeden Opportunismus abgelehnt und betont, dass wir zu keinem dieser beiden Lager gehören, auch wenn diese „Äquidistanz” dazu führen würde, dass wir für viele Jahre vom Verständnis der Massen ausgeschlossen wären (wir haben in diesem Zusammenhang von „langen Zeiten” gesprochen).

Heute hat sich etwas geändert. In Italien gibt es seit über einem Jahr eine Regierung der Nationalen Einheit, die unter dem Deckmantel der ökonomischen und gesundheitlichen Notlage sowohl die selbsternannten Souveränisten als auch die selbsternannten Liberalen vereint hat. Wie wir in diesen Kolumnen bereits festgestellt haben, ist Italien oft die Avantgarde, ein Versuchslabor, um die Zukunft des Kapitalismus zu entwerfen (man denke nur an den historischen Fall des Faschismus). Angesichts des Krieges mit Russland und vielleicht morgen mit China könnte die (Inter)Nationale Einheit zum Leitmotiv aller Regierungen werden. Angesichts einer schweren externen (oder internen, wie es eine Revolution sein kann) Notlage legen die Herrscher und ihre parlamentarischen Lakaien ihre Masken als Kontrahenten ab und schließen sich im Namen ihrer übergeordneten gemeinsamen Interessen zusammen.

Vor dem Hintergrund dieses Wechsels, der teilweise bereits im Gange ist und teilweise noch bevorsteht (wie wir in den einleitenden Bemerkungen angekündigt haben, enthält dieser Text die Zweideutigkeit, teilweise eine Beschreibung und teilweise eine Prognose zu sein), ist es klar, dass wir nicht „neutral” bleiben können. Die Zeiten des Abwartens sind vielleicht vorbei, und wir sind zur Aktion aufgerufen. In diesem Kontext, in dem sich die Herrschenden der Rechten und der Linken unter nationalen Werten vereinen, mit denen sie seit Beginn der Pandemie mit dem Ruf „Wir sind im Krieg“ mobilisieren, der heute Realität geworden ist, ist klar, dass unser Agieen zwischen diesem einheitlichen Machtblock und der irrationalen Opposition des populistischen/nihilistischen Lagers hauptsächlich in diese Richtung gehen muss.

Es geht nicht darum, dem populistischen/nihilistischen Lager eine Art gemeinsame Front vorzuschlagen. Es geht aber darum, zu akzeptieren, dass auf der anderen Seite nur die etablierte Macht steht. In diesem verwirrenden und irrationalen Lager müssen wir unsere Verbündeten suchen. Es gibt keinen Mittelweg. Seit zwei Jahren haben wir gesehen, wie jedes Zögern unaufhaltsam in Kollaboration abgeglitten ist: Die schiefe Ebene des Notstands hat die „sensibelsten” Positionen dazu gebracht, sich den Diktaten der technisch-wissenschaftlichen Gremien anzuschließen oder sich in dem Versuch, einige zu akzeptieren und andere abzulehnen, zu zerfleischen. Es gibt eine dünne rote Linie, die die Rhetorik des „sicheren Raums” mit der Forderung verbindet, dass alle in Vollversammlungen Masken tragen müssen (im schlimmsten Fall mit der Aufforderung, den Green Pass vorzuzeigen, wie es derzeit in militanten Kreisen Nordeuropas geschieht).

Eine schiefe Ebene, auf der die Kugeln immer weiter nach unten rollen: So mussten wir auch mit ansehen, wie sich NATO-freundliche Anarchistinnen und Anarchisten gegen den russischen Autoritarismus positionierten (so wie die Kurden sich mit den Amerikanern gegen den IS verbünden mussten, schrieben sie, um zu zeigen, wie frontistische Politik immer verkrüppelte Kinder hervorbringt), Wir mussten Texte von selbsternannten ukrainischen Anarchistinnen und Anarchisten lesen, die sich selbst als „Befürworter der radikalsten Ansätze und Ansichten im demokratischen Lager” bezeichnen. Während sich der arme Nestor Machno im Grab umdreht („Klassenunversöhnlichkeit, Antidemokratie, Antistaatlichkeit”, heißt es in der „Plattform”), will man hartnäckig nicht sehen, dass genau diese liberalen Prämissen zu dieser Degeneration geführt haben, dass sie deren logische Konsequenz sind.

Natürlich hat das populistisch/nihilistische Lager seine offensichtlichen Widersprüche. Um eine historische Übertreibung zu machen, der wir uns bewusst sind: Es ist, als befänden wir uns in dieser „neo-zaristischen“ Epoche in den Verhältnissen, unter denen Bakunin arbeiten musste, wo der absoluten Macht der russischen Regierung eine verwirrte und widersprüchliche Vielzahl revolutionärer Positionen gegenüberstand. Der Populist Herzen befürwortete sehr radikale, sogar terroristische Kampfpraktiken, aber mit letztlich reformistischen politischen Zielen. Dies sollte uns misstrauisch machen gegenüber einer in der aufständischen anarchistischen Bewegung weit verbreiteten Binsenweisheit, wonach die Praktiken allein die revolutionäre Radikalität derjenigen ausmachen, die sie ausüben. Die Erben des russischen Populismus des 19. Jahrhunderts, die revolutionären Sozialisten, werden, wenn sie die Macht ergreifen, den Ersten Weltkrieg an der Seite der Franzosen und Engländer fortsetzen. In der nihilistischen Phase, die wir gerade durchleben, werden sich immer mehr Menschen von radikalen Praktiken angezogen fühlen. Das freut uns, aber es gibt uns keinerlei Garantie für ihre tatsächliche revolutionäre Zielsetzung.

Deshalb brauchen wir eine revolutionäre anarchistische Theorie. Das ist kein einfacher Weg, und wir wollen in diesem Bereich auch keine Politik machen, wir fördern keine Einheitsfronten. Aber wenn wir uns fragen: Wo sind die Unsrigen? Die Antwort kann nur lauten: irgendwo in diesem Sturm.

Artikel veröffentlicht in Vetriolo, anarchistische Zeitschrift, Sommer ’22, Ausgabe 7


1„Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche herrschende Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft. Die Individuen, welche die herrschende Klasse ausmachen, haben unter Anderem auch Bewußtsein und denken daher; insofern sie also als Klasse herrschen und den ganzen Umfang einer Geschichtsepoche bestimmen, versteht es sich von selbst, daß sie dies in ihrer ganzen Ausdehnung tun, also unter Anderm auch als Denkende, als Produzenten von Gedanken herrschen, die Produktion und Distribution der Gedanken ihrer Zeit regeln; daß also ihre Gedanken die herrschenden Gedanken der Epoche sind. Zu einer Zeit z.B. und in einem Lande, wo königliche Macht, Aristokratie und Bourgeoisie sich um die Herrschaft streiten, wo also die Herrschaft geteilt ist, zeigt sich als herrschender Gedanke die Doktrin von der Teilung der Gewalten, die nun als ein „ewiges Gesetz“ ausgesprochen wird.“ Marx, Deutsche Ideologie.

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