Dieser Text wurde ursprünglich auf anarchist front veröffentlicht, diese Übersetzung basiert auf der spanischen Version die von panfletos subversivos veröffentlicht wurde, die wiederum auf der französischen Version basiert.
Teheran unter den Bomben: Bericht eines anarchistischen Gefährten
Übersetzt aus: https://www.leperepeinard.com/breves/rapport-des-compagnon-es-iranien-nes-jour-3-de-la-guerre-iran-israel
14.06.2025
[Aus Teheran berichtet ein anarchistischer Militant über die israelischen Angriffe, das tägliche Chaos und die Rolle, die Anarchistinnen und Anarchisten zwischen Krieg, Repression und Überleben zu spielen versuchen. Ein bewegender Bericht, den ich mit Tränen in den Augen übersetzt habe. Meine Gedanken sind bei allen, die auf beiden Seiten für Frieden und Freiheit kämpfen! An die Deserteure, die einzigen Helden der Kriege!] (Anmerkung von Panfletos Subversivos)
Eine Nacht voller Feuer und Verwirrung
Letzte Nacht, während wir schliefen, hat Israel den Iran angegriffen. Die Angriffe richteten sich gegen Teheran, aber auch gegen andere Städte. Ich hörte laute Geräusche, sah Blitze… Ich dachte, es sei ein Sturm. Nichts deutete auf einen Krieg hin, vor allem angesichts der Gespräche zwischen dem Iran und den USA.
Erst am nächsten Morgen erfuhren wir über unsere anarchistische Gewerkschaft/Syndikat (die Anarchistische Front) was wirklich passiert war: mehrere Angriffe, Todesopfer unter der Zivilbevölkerung. Ich machte mich auf den Weg, um nachzuforschen. Die Stadt war abgeriegelt. Armee und Polizei sperrten die betroffenen Gebiete ab. In den Gebäuden lagen noch nicht explodierte Bomben. Im Krankenhaus wurde mir der Zutritt verwehrt, und die Polizei löschte alle Fotos auf meinem Handy. Einem Journalisten, der vor Ort war, sagte man, dass mindestens sieben Kinder ums Leben gekommen seien.
Einige weinten. Andere freuten sich, wie zu erwarten war, über den Tod von Vertretern des Regimes.
Der nächste Tag: eine Hölle ohne Alarm
In den folgenden Stunden sah ich apokalyptische Szenen. Der Himmel war von Raketen durchzogen. Feuer regnete auf die Straßen. Die Menschen flohen aus Teheran: ganze Familien, junge Arbeiter, alte Menschen. Sie warteten auf den Gehwegen auf Hilfe. Verletzte, Verbrannte, zwei Tote vor meinen Augen. Kein Alarm. Keine Zuflucht. Nichts.
Auf Großbildschirmen wurde die offizielle Version verbreitet: Die Islamische Republik hat Tel Aviv angegriffen, Israel verspricht eine Antwort. Ich habe dort Gefährten. Anarchistinnen und Anarchisten, Pazifisten, Wehrdienstverweigerer. Wir wollen diesen Krieg nicht.
Eine Bevölkerung im Überlebenskampf
Die Luft ist verschmutzt: Die Atomanlagen wurden getroffen. Die Menschen stellen Konserven her, horten Vorräte, fliehen aus den großen Städten … und kehren dann aus Mangel an Alternativen zurück. Die Straßen sind verstopft. Die staatlichen Medien singen Lobeshymnen und verbreiten Lügen. Die einzige zuverlässige Quelle: Telegram und Satellitenkanäle.
Demonstrationen sind nach wie vor selten. Zu viel Polizei, zu viel Angst. Gestern suchten Familien vor den Krankenhäusern nach ihren vermissten Angehörigen. Sie schrien. Sie weinten. Sie hielten durch.
Keine Zuflucht, keine Evakuierung
Die Institutionen bleiben offen, als wäre nichts passiert. Es gibt keine Sicherheitshinweise, keine Sirenen, keine Notunterkünfte. Chemische Unfälle sind wahrscheinlich, aber es gibt kein Protokoll.
Also fliehen die Menschen auf eigene Faust: Geschäfte schließen, Studenten verweigern Prüfungen, Beamte bleiben zu Hause. Nur die Rettungsdienste funktionieren noch.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich nur noch am Leben bin, weil Israel (noch) keine Wohngebiete angreift. Aber die Brände, der radioaktive Regen und die verirrten Schüsse töten trotzdem.
Und es gibt keine Hilfe. Nichts. Keine humanitäre Hilfe, keine externen Organisationen, keine Medikamente… und die Sanktionen töten schon seit Jahren.
Vier Iraner, ein einziges Land unter den Bomben
Man muss verstehen, dass die iranische Bevölkerung gespalten ist:
- Eine stille Mehrheit, die das Regime hasst, aber den Krieg ablehnt. Sie überleben, fliehen, trauern um die Toten und verfluchen die Anführer.
- Die Islamisten, die der Macht treu ergeben sind, von Märtyrertod sprechen und zurückschlagen wollen.
- Die Monarchisten und Liberalen, oft pro-israelisch, die die Angriffe auf die Revolutionsgarden bejubeln.
- Die Anarchistinnen und Anarchisten, sowie Militante der Linken, wie wir: gegen die Islamische Republik, aber auch gegen Israel, gegen alle Staaten. Für das Überleben, für gegenseitige Hilfe, für Autonomie.
Welchen Platz haben Anarchistinnen und Anarchisten in diesem Krieg?
Wir sind nicht bewaffnet. Wir beteiligen uns nicht an den Kämpfen. Unsere Aufgabe ist eine andere: informieren, helfen, Verbindungen aufbauen, der Propaganda entgegenwirken. Wir helfen, wie wir können: Erste Hilfe, Informationsweitergabe, Sensibilisierung für chemische Gefahren. Wir kümmern uns um unsere Leute und um diejenigen, die niemanden haben.
Wir lehnen vereinfachende Diskurse ab. Weder „Alle Israelis müssen sterben” noch „Die Zionisten sind unsere Retter”. Wir stehen zwischen zwei Fronten: dem religiösen Fundamentalismus auf der einen Seite und dem zionistischen Militarismus auf der anderen.
Unsere Rolle ist es, Brücken zu bauen. Ideen zu vermitteln. Risse im Fatalismus zu schaffen. Standhaft zu bleiben, auch ohne Waffen, auch wenn wir Angst haben.
Die Trauer der Antikriegsbewegung
Ich muss zugeben: Ich bin traurig. Tief traurig. Vor zehn Jahren habe ich mit israelischen Pazifisten gesprochen. Sie haben sich geweigert, zu dienen. Kurden, Araber, Armenier, Anarchistinnen und Anarchisten. Wir haben gemeinsam von einem freien Nahen Osten geträumt, ohne Armee, ohne Staat.
Aber wir haben verloren. Wir waren nicht stark genug, um den Krieg zu verhindern. Wir hatten nicht genug Unterstützung. Heute haben die Menschen Angst, über Frieden zu sprechen. Sie glauben, das wäre Verrat. Dass die Forderung nach einem Ende der Angriffe eine Kapitulation vor dem Feind wäre.
Und doch wollen alle den Frieden. Aber niemand traut sich, ihn zu fordern.
Eine Stimme inmitten des Tumults
Ich weiß nicht, wie lange wir noch durchhalten werden. Letzte Nacht dröhnten die Flugzeuge wie eine Autobahn am Himmel. Aber eines weiß ich: Solange es Menschen gibt, die sich umeinander kümmern, Widerstand leisten und sich organisieren, ohne auf den Staat zu warten, wird es Samen der Anarchie geben, selbst in den Trümmern.
Fazit: Lasst uns das Unerträgliche nicht normalisieren
Zuerst mal möchte ich mich ganz herzlich bei allen Gefährtinnen und Gefährten bedanken, die sich die Zeit genommen haben, uns zuzuhören. In einer Welt, in der politische, ökonomische und polizeiliche Kräfte uns ständig mit Füßen treten, ist es selten, dass wir noch Raum zum Sprechen haben. Auch ohne Bomben sind wir von Gewalt umgeben: in Form von unerschwinglichen Mieten, endlosem Papierkram, Diskriminierung, Erschöpfung, Isolation. Eine stille Gewalt, die als „normal“ dargestellt wird, an die wir uns nicht gewöhnen sollten.
Aber wenn der Krieg ausbricht, bricht diese Gewalt plötzlich in aller Offenheit hervor. Was toleriert wurde, wird unerträglich. Und dann, paradoxerweise, können wir reden. Ich konnte euch schreiben, weil alles zusammengebrochen ist. Denn im Chaos werden die einfachsten Wahrheiten wieder hörbar.
Was ich euch sagen will, ist Folgendes: Lasst diese Worte nicht ungehört verhallten. Lasst nicht zu, dass unser Schmerz hier im Iran wie auch anderswo an den Rand gedrängt wird, als wäre er nur „lokal”, „spezifisch”, „kulturell” oder „außergewöhnlich”.
Denn in Wirklichkeit führen wir denselben Krieg: den Krieg der Staaten gegen unser Leben. Deshalb bitte ich euch, Gefährtinnen und Gefährten: Nehmt die alltägliche Gewalt nicht als etwas Natürliches hin. Lehnt die Idee ab, dass man erst auf Raketen warten muss, um zu reagieren. Wartet nicht, bis unser Leiden spektakulär wird, damit es eure Aufmerksamkeit verdient.
Lasst uns jetzt reden. Lasst uns organisieren. Lasst uns echte Räume für Aktion und gegenseitige Hilfe schaffen. Damit der Krieg hier nicht zum Hintergrundrauschen wird. Damit ihr nicht zu bloßen „Retterinnen und Retter“ vor unserem Leid reduziert werdet, sondern zu Komplizinnen und Komplizen im Kampf.
Aufruf zur internationalen Solidarität
Die Lage ist heute instabil, kritisch, vielleicht am Rande einer humanitären Katastrophe. Wenn der Iran von der Welt isoliert ist, sei es durch Bomben oder durch die Zensur der Islamischen Republik, verbreitet unsere Botschaft. Erzählt, was passiert. Gebt denen eine Stimme, die keine haben.
Wir haben keinen internationalen Schutz. NGOs sind praktisch nicht präsent. Sanktionen verschärfen unser Leid.
Wenn du Kontakte, Einfluss, Vermittler in Kollektiven, Gewerkschaften/Syndikate, Verbänden oder Gesundheitsnetzwerken hast: Mobilisiere sie. Fordere dringend medizinische Hilfe, eine verstärkte Überwachung der Verstöße, eine internationale Vermittlung, die sich der staatlichen Logik entzieht.
Aber lehnt vor allem vereinfachende Darstellungen ab. Wir sind weder Marionetten Israels noch Marionetten des islamischen Regimes. Wir glauben weder an „befreiende“ Bomben noch an „widerständige“ Mullahs. Wir sind zwischen zwei Todesmaschinen gefangen und versuchen immer wieder, etwas anderes aufzubauen.
Noch gibt es keinen Massenexodus. Aber wenn der Krieg weitergeht, werden die Folgen schrecklich sein. Also, Leute, lasst uns gemeinsam aufstehen. Nicht um eine Seite gegen die andere zu unterstützen, sondern um eine andere Stimme zu erheben: die Stimme des Lebens, der Freiheit, der Solidarität, gegen alle Staaten, alle Grenzen, alle Kriege.