Gefunden auf troploin, die Übersetzung ist von uns. Bei diesem Text handelt es sich um eine erweiterte Version von „Kurdistan?“, einige Punkte wiederholen sich gewissermaßen, wurden etwas verändert, andere hinzugefügt, aber an sich eine Vertiefung in die Thematik.
(2015) Rojava: Realität und Rhetorik – Gilles Dauvé und T.L.
Eine detaillierte kritische Analyse der „Rojava-Revolution“. Dies ist eine stark erweiterte Version von „Kurdistan?“, verfasst von G.D. und T.L., veröffentlicht auf Troploin.
Wenn Menschen ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen, um zu überleben, eröffnen sie die Möglichkeit für sozialen Wandel.
Was seit 2012 in Rojava geschieht, ist ein Versuch des sozialen Wandels, insbesondere aufgrund einer anderen Rolle für Frauen.
Die Kurden sind gezwungen, ihre eigene Geschichte unter Bedingungen zu schreiben, die sie nur im Strudel eines internationalisierten Bürgerkriegs beeinflussen können – eine für die Emanzipation alles andere als ideale Situation.
Von der Staatenlosigkeit zur Nationenbildung
Die Geschichte der kurdischen Unabhängigkeitsbewegung ist gut dokumentiert: ihre geografische Lage, die sich über vier Länder erstreckt (Türkei, Syrien, Irak und Iran), ihre Spaltung zwischen rivalisierenden Parteien, die Neigung dieser Parteien, ein Nachbarland gegen ein anderes auszuspielen, manchmal eine Supermacht gegen eine andere, die schlimmen Folgen dieser wechselnden Allianzen, ihre Abhängigkeit von einer großen Diaspora in Europa, ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Repression und internen Konflikten, ihre Fähigkeit, die Höhen und Tiefen der internationalen Politik zu überstehen, die ihrer Unfähigkeit, einen Nationalstaat zu schaffen, in nichts nachsteht. Manchmal ist der Grat zwischen Überleben und Selbstmordtendenzen schmal.
Bis 2003.
Dann veränderten drei große Ereignisse die Situation der Kurden und führten unter anderem zu einer Umgestaltung der PKK, der Arbeiterpartei Kurdistans in der Türkei.
Erstens: Nach 2003 zerfiel der Irak in drei unzusammenhängende Teile: Sunniten, Schiiten und im Norden die Regionalregierung Kurdistan, die von der PDK unter der Führung des Barzani-Clans regiert wird, eigentlich eher wie ein westliches Protektorat.
Zweitens verlor der syrische Staat, der in Bürgerkrieg und konfessionelle Spaltung verstrickt war, die Kontrolle über weite Teile des Landes, einschließlich der kurdischen Gebiete.
Drittens eroberten sunnitische Dschihadisten große Teile des syrischen Territoriums und bedrohten das Überleben der kurdischen Bevölkerung. So war es der Aufstieg von ISIS/Daesh, der die Kurden schließlich in den Vordergrund rückte. (ISIS ist die englische Abkürzung für „Islamischer Staat im Irak und Syrien“, Daesh die arabische Abkürzung für „Islamischer Staat im Irak und in der Levante“.)
Wenn ISIS nur eine Gefahr für das Leben von Hunderttausenden von Menschen wäre, würde der Westen nicht mehr tun, als er seit 2011 getan hat, um das Assad-Regime davon abzuhalten, seine eigene Bevölkerung abzuschlachten. Da ISIS jedoch eine Bedrohung für das regionale politische Gleichgewicht und für die bestehenden Ölinteressen darstellt, tut der Westen sein Bestes, um zu verhindern, dass ISIS das Gebiet und seine Ölquellen übernimmt. Der Diktator Assad erscheint nun als das kleinere Übel im Vergleich zu unkontrollierbaren Dschihadisten. Die implizite Unterstützung der USA für ein Regime, das die USA vor ein paar Jahren noch bombardieren wollten, um es zu unterwerfen, ist keine Überraschung: Seit 1970 hat sich die amerikanische Politik gegenüber Syrien mehr als ein halbes Dutzend Mal geändert, und keine dieser Kehrtwenden hatte etwas damit zu tun, dass die Machthaber in Damaskus mehr oder weniger töteten und folterten. Für die dominierenden Mächte müssen die Auswirkungen des regionalen Chaos eingedämmt werden, indem sie Assad bei Bedarf unterstützen und sogar ein kurdisches Heimatland konsolidieren.
In den kurdischen Gebieten im Norden Syriens wurde nach 2011 zunächst eine implizite Volksallianz (d. h. klassenübergreifend) gebildet, um ein von den syrischen Behörden verlassenes Gebiet selbst zu verwalten, und dann 2014, um es gegen die tödliche Bedrohung durch den IS zu verteidigen. Der Widerstand verbindet ehemalige traditionelle Bindungen und neue Bewegungen, insbesondere von Frauen, in einer Arbeitsgemeinschaft von Proletariern und Angehörigen der Mittelschicht, die durch die Betonung einer gemeinsamen kurdischen Nation gefestigt wird.
Es wurde ein autonomes Hinterland geschaffen: Rojava („Westen“ auf Kurdisch), das aus drei nicht zusammenhängenden Kantonen (Afrin, Kobane und Cizire) im Norden Syriens entlang der türkischen Grenze besteht. Es ist etwa 18.300 Quadratkilometer groß und hatte 2014 schätzungsweise 4,6 Millionen Einwohner. (Zum Vergleich: Wales hat eine Fläche von 20.700 km² und über 3 Millionen Einwohner.) Nach dem Abzug des offiziellen syrischen Militärs kam es zu Kämpfen zwischen der Freien Syrischen Armee und den Kurden, die diese zurückschlugen. Es gibt nun „einer Art ungeschriebenem Abkommen akzeptiert wurde, wodurch das syrische Regime Rojava eine gewisse Autonomie einräumt gegen die Neutralität der syrischen Kurden im laufenden Bürgerkrieg“ (Lato Cattivo: Bibliografie am Ende des Textes)1
In diesen Gebieten lebt eine kurdische Mehrheit mit verschiedenen anderen „ethnischen“ Gruppen zusammen, die alle in der Vergangenheit vom irakischen Staat unterdrückt wurden. Der Zusammenbruch der offiziellen Rechtsordnung in der Region schuf ein Machtvakuum in Nordsyrien und führte zur Gründung einer Basisorganisation der Bevölkerung, die unter dem Namen Tev-Dem (Bewegung der Demokratischen Gesellschaft) koordiniert wird.
Die Aktion der einfachen Leute hat politische und soziale Pattsituationen durchbrochen. Und was kommt als Nächstes?
Selbstverteidigung
„Ein breites Mosaik an Bewegungen – welche bewaffnet oder unbewaffnet sind und von sozialem Banditentum bis zur organisierten Guerilla-Aktivität reichen – agieren in den elendsten Zonen der globalen kapitalistischen Müllhalde und haben ähnliche Züge wie die gegenwärtige PKK. Auf die eine oder andere Art versuchen sie, gegen die Zerstörung ohnehin schon marginaler Subsistenzwirtschaften, die Plünderung natürlicher Rohstoffe, die lokale Bergbauindustrie oder die Aufzwingung kapitalistischen Landeigentums, welches Zugang und/oder Gebrauch begrenzt oder verhindert, Widerstand zu leisten. Als Beispiele können wir wahllos Fälle von Piraterie im Meer von Somalia, MEND in Nigeria, die Naxaliten in Indien, die Mapuche in Chile erwähnen. (…) es wesentlich, ihren gemeinsamen Inhalt zu erfassen: Selbstverteidigung. Eine Selbstverteidigung, die womöglich auch als lebensnotwendig betrachtet werden könnte, wobei sie sich in ihrem Wesen nicht von dem unterscheidet, was in jedem Arbeitskampf ausgedrückt wird, welche zum Ziel hat, die Löhne oder Arbeitsbedingungen der dort Arbeitenden zu schützen. Genau wie es ein Taschenspielertrick wäre, einen wenn auch sehr heftigen und breiten Lohnkampf als „revolutionäre Bewegung“ darzustellen, so ist es genauso abwegig, dieser Art von Selbstverteidigung, welche von solchen erschöpften Bevölkerungen praktiziert wird, einen inhärenten revolutionären Sinn zu geben.“ (Lato Cattivo)
Selbstverteidigung impliziert Selbstorganisation. Was wir in Rojava haben, ist:
„(..) eine echte Bewegung gegen staatliche Plünderung und Zwang, die an ihren Grenzen militärisch und im Inneren durch die Verbreitung von Macht kämpft. Die Grenzen der Kämpfe in Rojava sind in diesem Sinne die der Kämpfe überall dort, wo das Verhältnis zwischen Arbeitskraft und Kapital zu einer Frage der Repression geworden ist, und der Kämpfe, die diese Repression als Ausgangspunkt nehmen. Diese Kämpfe finden weit entfernt von den Hochburgen der Reproduktion des Kapitals statt und zielen nicht darauf ab, die Ausbeutungsverhältnisse zu stürzen.“ (Becky)2
Die ganze Frage ist, ob die Selbstverteidigung in Rojava der Weg zu einer Umwälzung der Produktionsverhältnisse war oder sein könnte. Aber zunächst ein wenig zum Thema Nationalismus.
Die Nation hat ein neues Gesicht
Die nationalen Befreiungsbewegungen des 21. Jahrhunderts unterscheiden sich stark von dem, was sie waren, als der Kolonialismus zu Ende ging und der Kalte Krieg zwischen den USA und der UdSSR in lokalen Stellvertreterkriegen mit einer Vielzahl wechselnder Allianzen und Millionen von Toten ausbrach. Das kurdische Volk zahlte den Preis dafür noch mehr, da die Kurden zwischen vier Ländern hin- und hergerissen sind. Der tiefgreifende Wandel in der nationalistischen Agenda ist jedoch nicht auf humanitäre Überlegungen, ein Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit oder eine Lektüre der authentischen kritischen Theorie zurückzuführen. Sachlicher ausgedrückt: Ihr früheres Programm war obsolet geworden.
Kurz gesagt bestand das typische Programm einer nationalen Front darin, die Beziehungen zur vorherrschenden Macht abzubrechen (im Nahen Osten war dies bis in die 1940er Jahre Großbritannien, später die USA), die Hilfe des Rivalen (der UdSSR) zu suchen und ein staatlich geführtes einheimisches Wachstum auf der Grundlage kollektivierter Landwirtschaft und Schwerindustrie zu entwickeln. So zumindest der Plan. Wo es keine oder nur eine schwache Bourgeoisie gab, entschied sich die nationale Befreiung für einen bürokratischen statt für einen bourgeoisen Kapitalismus, suchte nach Rezepten bei Marx und Mao, nicht bei Adam Smith und Keynes, und installierte ein diktatorisches Regime, das von einer vermeintlichen Arbeiter- oder Volkspartei geführt wurde. Das Ergebnis war mehr Diktatur als Entwicklung, aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls wurde dies mit dem Untergang der UdSSR und dem Aufkommen der Globalisierung unpraktisch. Nachdem sie sich für Marxismus-Leninismus, Guevarismus und Dritte-Welt-Ideologie eingesetzt hatte, machte sich die nationale Befreiung also ihre eigene Version des Alter-Globalismus zu eigen. Die Diskreditierung des sozialistischen Nationalismus führte zum ethnischen Nationalismus, der sich im Fall der PKK in einen Aufruf für eine multiethnische Nation verwandelte. Logischerweise wurde diese neue Linie auch von der syrischen Filiale der PKK, der PYD, befürwortet.
Wie jede politische Bewegung gibt sich die nationale Befreiung die Ideologie, die Verbündeten und die Ziele, auf die sie abzielen kann, selbst und ändert sie, wenn es ihren Interessen entspricht. 1903, auf seinem 6. Kongress, der als „Uganda-Kongress“ bekannt ist, diskutierte der Zionismus noch darüber, ob es in Afrika eine jüdische Heimat geben könnte. 1914 entschied sich Pilsudski nicht zwischen Richtig und Falsch: Er unterstützte das, was er für die beste Lösung für die Unabhängigkeit Polens hielt, und wechselte mit dem Kriegsglück die Seiten. Die Loyalität eines Nationalisten gilt nicht einer Klasse oder einer Überzeugung, sondern einfach dem, was er als „sein Volk“ betrachtet, und seiner eigenen Rolle als Anführer dieses Volkes. Die Loyalitäten schwanken und die Doktrinen auch.
Beurteile niemals ein Buch oder eine nationale Befreiung nach seinem Einband. Vor Ort unterstützen PKK-Kader einen Landbesitzer oder einen Boss, weil er in der Gegend Einfluss hat. Sie werden auch Streiks verteidigen oder Proteste organisieren, wenn es ihnen hilft, die Menschen vor Ort zu mobilisieren. Hier werden sie sich auf starre Formen der Religion stützen, dort auf Toleranz. Heute werden sie als Traditionalisten auftreten, morgen als Modernisten. So ist Politik: Die PKK hält an dem fest, was ihre Machtbasis vergrößert. In den Tagen, als sie behauptete, Teil des Weltsozialismus zu sein, hatte sie keine Zeit für Ketzer wie Pannekoek oder Mattick und setzte auf den erfolgreichen Marxismus-Leninismus. Wenn sie sich für libertäre Ideen einsetzt, folgt sie nicht Makhno und bevorzugt eine akzeptable Version, wahrscheinlich die moderateste von allen heute, die Bookchin-Doktrin, die den kommunalen Sozialismus des 19. Jahrhunderts mit Selbstverwaltung und Ökologie würzt.
Eine durchaus vernünftige Wahl. Die PKK musste ihre Ambitionen zurückschrauben und der konföderale Kommunalismus ist die einzige politische Ideologie, die einer Partei zur Verfügung steht, die mit Staaten und Grenzen auskommen muss, weil sie nicht darauf hoffen kann, einen eigenen Staat mit eigenen Grenzen zu schaffen, was bedeuten würde, die Grenzen von mindestens zwei Nachbarländern gewaltsam neu zu ziehen. Die PKK hat aus der Not eine Tugend gemacht, indem sie die Bezugnahme auf „Klasse“ und „Partei“ aufgegeben hat und sich für Selbstverwaltung, Genossenschaften, Kommunalismus (nicht Kommunismus), Anti-Produktivismus und Gleichstellung einsetzt. David Graeber freute sich darüber, dass die Menschen in Kurdistan nun vielleicht Judith Butler lesen würden. Eine treffende Bemerkung. Dekonstruktion des politischen Subjekts (d. h. des Proletariats als historischer Akteur), Priorisierung von Identitäten, Klasse ersetzt durch Geschlecht … die PKK hat zweifellos den Marxismus gegen den Postmodernismus eingetauscht.
Von einem „Nicht-Staat“ zu sprechen, ist Wortklauberei. Die PKK hat das Ziel jeder nationalen Befreiungsbewegung nicht aufgegeben. Obwohl sie sehr darauf bedacht ist, ein Wort zu vermeiden, das zu autoritär klingt, strebt sie immer noch die Schaffung eines zentralisierten politischen Entscheidungsapparats auf kurdischem Gebiet an, und welches Wort wäre dafür besser geeignet als Staat? Mit dem Zusatz, dass dieser Staat unter der Kontrolle seiner Staatsbürger so demokratisch wäre, dass er den Namen Staat nicht mehr verdienen würde. So viel zur Ideologie.
In der realen Welt ist das Ziel einer starken internen Autonomie in Verbindung mit einem basisdemokratischen Leben nicht völlig unrealistisch. Dies ist die Bedingung für eine Reihe von Regionen im Pazifik: Der Zentralregierung ist es egal, ob die Einheimischen ihre gewohnte ländliche Gesellschaft beibehalten, sich weitgehend selbst verwalten, von einer Subsistenzwirtschaft leben oder in Armut verfallen, solange sie niemanden stören. Sobald es um Erz oder Öl geht, ändert sich alles und wenn nötig, wird die Armee eingeschaltet, wie es in Papua-Neuguinea der Fall war. Somaliland hat viele Merkmale eines Staates (eigene Polizei, Währung und Ökonomie), aber kein anderer Staat erkennt ihn an. In Chiapas (dessen Situation oft mit der von Rojava verglichen wird) leben die Zapatisten seit zwanzig Jahren in einer regionalen Halbautonomie, in der sie ihre Kultur und Bräuche bewahren, ohne den mexikanischen Bundesstaat zu stören, solange sie dort bleiben, wo sie sind. Der Aufstand der Zapatisten war vielleicht der erste in der Ära der Globalisierungskritik, da er nicht darauf abzielte, die Unabhängigkeit zu sichern oder das ganze Land zu verändern, sondern eine traditionelle Lebensweise zu bewahren.
Was die Kurden betrifft, so leben sie nicht friedlich auf einer Insel, viele von ihnen sind Stadtbewohner, sie sitzen (un)glücklicherweise auf einer Menge Öl, was welt- und geldpolitische Angelegenheiten weit über ihr Kommando hinaus aufwirft, und die Region wird zufällig von endlosen Konflikten zerrissen und von Diktatoren regiert. Das lässt wenig Spielraum für Rojava … oder einen sehr kleinen und abhängigen Ort: Seine ökonomische Lebensfähigkeit ist gering, aber nicht inexistent, dank möglicher zukünftiger Öleinnahmen. Das schwarze Gold hat bereits Marionettenstaaten wie Kuwait hervorgebracht, einen Rentierstaat, der aus seinem unterirdischen Reichtum Patronage verteilt, und der kurdische Kleinstaat im Irak verdankt seine Existenz ausschließlich seinen Ölquellen. Mit anderen Worten: Das Schicksal von Rojava hängt weniger von der Mobilisierung seiner Bevölkerung ab als vom Zusammenspiel von Großunternehmen und dominierenden Mächten.
Wenn die PKK auch nicht mehr einen eigenen Staat fordert (den sie nicht haben kann), so will sie doch selbstverwaltete kurdische Regionen, die in mehreren Staaten föderiert sind, zunächst einmal in Syrien (dessen „territoriale Integrität“ der Gesellschaftsvertrag von Rojava anerkennt). Es bleibt abzuwarten, was eine Konföderation von drei oder vier autonomen grenzüberschreitenden Zonen, die sich über mindestens drei Länder erstrecken, für die Bevölkerung bedeuten würde. Koexistierende Autonomien heben die zentrale politische Struktur, die sie vereint, nicht auf. Nirgendwo haben grenzüberschreitende Zonen, wie die an der Oder-Neiße-Linie in Europa, jemals die Macht des Staates geschmälert. Der zentrale „Recht und Ordnung“-Apparat delegiert einige seiner Aufgaben an die lokalen Behörden. So regiert ein moderner Staat.
„Aufbau einer demokratischen Nation“
Worte sind zwar nicht alles, aber in der Politik steckt viel in den Worten. Die Verfasser von Rojavas Gesellschaftsvertrag wollten den Begriff Verfassung vermeiden, der sie an etatistische Revolutionen erinnerte, aber die von ihnen gewählte Formulierung erinnert an die Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Auf ihrer Suche nach den Wurzeln des antiautoritären Denkens umgingen sie Bakunin und stießen auf Rousseau. Ihr Gesellschaftsvertrag liest sich wie eine modernisierte Version früherer Absichtserklärungen bourgeoiser Revolutionen.
Wir schreiben das Jahr 2014, daher berücksichtigt die Präambel von „Gleichheit und ökologische Stabilität“ und strebt eine „Gesellschaft frei von Autoritarismus, Militarismus, Zentralismus und der Einmischung religiöser Autoritäten in öffentliche Angelegenheiten“ an. Dieser letzte Punkt steht im Widerspruch zu Artikel 86, der besagt, dass die Mitglieder der gesetzgebenden Vollversammlung ihren Amtseid „im Namen des allmächtigen Gottes“ ablegen. Bevor wir ein Urteil fällen, sollten wir uns daran erinnern, dass im britischen Unterhaus bis 1888 die Abgeordneten einen Eid ablegen mussten, der protestantische Andersgläubige, Katholiken und Atheisten ausschloss.
Nun zum Kern der Sache. Rojava wird auf der „gegenseitigen und friedlichen Koexistenz und Verständigung zwischen allen Teilen der Gesellschaft“ basieren. Teile, Schichten, soziale Gruppen, Klassen … In der französischen Übersetzung ist von Schichten („couches“) die Rede. Natürlich soll das nicht heißen, dass es in Rojava keine soziale Spaltung gibt. Es bedeutet einfach, dass alle Einwohner friedlich zusammenleben können und müssen, solange sie Staatsbürger von Rojava sind. In einer demokratischen Verfassung, die nicht mehr als das ist, ist kein Platz für die Anerkennung von Klassenkämpfen.
Rojava hält uns die gleiche Rede wie eine bourgeoise Revolution. In der französischen Erklärung der Menschen- und Staatsbürgerrechte von 1789 wurde das Recht auf „Widerstand gegen Unterdrückung“ ausdrücklich erwähnt, ging aber mit dem Recht auf Eigentum einher. Die Freiheit war vollständig … innerhalb der Grenzen des Gesetzes. Dasselbe gilt für Rajova: Artikel 41 sieht das „Recht auf Nutzung und Genuss von Privateigentum“ vor, außer „aus Gründen des öffentlichen Nutzens oder des sozialen Interesses“. Was Eigentum sozial bedeutet, ist nicht, dass jede Person Anspruch auf den Besitz und die Nutzung ihrer eigenen Kleidung, ihres Zimmers oder ihres Fahrrads hat. Es bedeutet, dass diejenigen, die zufällig die Produktionsmittel besitzen, die Arbeitskraft derer anheuern können, die nur ihre Kleidung, ihr Zimmer oder ihr Fahrrad besitzen. Darum geht es bei der Klasse. Sobald dieser soziale Rahmen geschaffen ist, wie es in Frankreich 1789 der Fall war und wie es in Rojava 2014 der Fall ist, kann fast alles andere gewährt oder versprochen werden: „Gewaltenteilung“, „Unabhängigkeit der Justiz“, „ökologisches Gleichgewicht“, „Redefreiheit“, das „unantastbare Recht der Frauen auf Teilnahme am politischen , sozialen, ökonomischen und kulturellen Leben“, die ‚Beseitigung der Geschlechterdiskriminierung‘, das “Recht auf friedliche Vollversammlung“ und auf “friedlichen Protest, friedliche Demonstration und Streik“, „nationale Ressourcen“ als „öffentliches Vermögen“ und „durch Gesetze geregelte Rohstoffgewinnungsprozesse (..)“‚“ alle Gebäude und Grundstücke als öffentliches Eigentum“, mindestens 40 % Frauen in „allen Leitungsgremien, Institutionen und Komitees“, keine Todesstrafe, keine Kinderarbeit, das Recht auf „politisches Asyl“, die Zusicherung, dass „kein Zivilist vor einem Militärgericht oder einem Sonder- oder Ad-hoc-Tribunal angeklagt werden darf“ und dass keine Hausdurchsuchung ohne ordnungsgemäßen Durchsuchungsbefehl stattfindet, ein Bildungssystem ohne „rassistische und chauvinistische Grundsätze“, die „Trennung von Religion und Staat“ (obwohl der Eid …). Im Notfall kann das Kriegsrecht ausgerufen und von einer qualifizierten Mehrheit von 2/3 des Exekutivrats aufgehoben werden. Die Entscheidung muss dann der gesetzgebenden Vollversammlung vorgelegt und von dieser einstimmig angenommen werden. Eines der 22 Gremien des Exekutivrats ist auf „Familie und Gleichstellung der Geschlechter“ spezialisiert.
Als Schutz vor einer kurdischen Vorherrschaft über arabische, assyrische, armenische und tschetschenische Minderheiten verpflichtet sich Rojava, eine multiethnische „Einheit in Vielfalt“ zu fördern. Auch hier schwingt ein fernes Echo der demokratischen Revolution mit: E pluribus unum („eins aus vielen“) stand seit 1782 auf dem Siegel der USA und war de facto das Motto der USA, bis der Kongress 1956 „In God we trust“ annahm. Könnte Rojava „säkularer“ sein als das heutige Amerika?
Mehr kann man von einer politisch korrekten modernen Regierungsführung nicht verlangen (es fehlen nur noch die Tierrechte). Allerdings gibt es keine Kontrolle über die Wehrpflicht: Jeder Staatsbürger von Rojava kann zum Militärdienst einberufen werden. Dies ist eines der traditionellen Vorrechte eines Staates, der von denjenigen, die unter seinem Schutz oder seiner Herrschaft stehen, erwartet, dass sie in seiner Armee dienen. Tatsächlich handelt es sich nicht um eine Armee, sondern um die „Volksverteidigungseinheiten (YPG)“, die nur als „Selbstverteidigungskräfte“ „gegen interne und externe Bedrohungen“ agieren: Wie wir wissen, macht jede politische Macht ausgiebig Gebrauch von dem Begriff der internen Bedrohung.
„Ohne zu übertreiben, ist es die demokratischste Verfassung, die die Menschen in dieser Region je hatten.“ (Sardar Saadi)3 Das ist wahr. Der Gesellschaftsvertrag von Rojava definiert eine Gesellschaft von Gleichen vor dem Gesetz: Jeder Mann und jede Frau steht nur mit seinesgleichen in Verbindung. Soziale Spaltung wird ausgelassen, es gibt keine Reichen oder Armen, Bourgeois oder Arbeiter mehr, nur noch gleichberechtigte Staatsbürger: „nicht über ein bourgeoises demokratisches System hinausgeht, das als demokratischer Konföderalismus bezeichnet wird“ (Zafer Onat)4. Demokratie ist die am besten geeignete politische Form, um ein sozial gespaltenes Volk wieder zu vereinen.
Veränderung
„Bereiche der Selbstverwaltung“ können nicht per Gesetz geschaffen werden. Wie ist der aktuelle Stand in diesem Bereich?
Beobachter und Besucher berichten aus allen politischen Lagern von tiefgreifenden Veränderungen im täglichen Leben. Zunächst eine Machtverteilung mit einer Vielzahl lokal verwalteter Initiativen und der Verwaltung von Dörfern durch Kollektive. Außerdem gibt es Bemühungen, lokales Wissen zu sammeln und zu verbreiten (z. B. in Bezug auf Medizin) und die Menschen wieder mit der Natur zu verbinden, Prüfungen wurden durch interaktive Bildung ersetzt, Mutualismus in Schulen, um die Kluft zwischen Lehrern und Schülern zu überbrücken, gemeinschaftliches (Männer und Frauen) Wohnen in der Universität, gewählte Befehlshaber in der Miliz, ein neuer Ansatz in der Gesundheitsversorgung mit Schwerpunkt auf präventiven und ganzheitlicheren Methoden, die Körper und Geist gleichzeitig behandeln (nach dem Prinzip, dass Stressabbau dazu führen kann, dass andere Krankheiten abnehmen), und Gerechtigkeit, die in jedem Dorf durch ein gewähltes Komitee aus Frauen und Männern hergestellt wird, das bei Konflikten vermittelt, über das Strafmaß entscheidet und versucht, den Täter zu reintegrieren und zu resozialisieren. Mit anderen Worten: ein Versuch, Trennung abzuschaffen. Vieles von dem, was westliche Reformer und Radikale in Europa umzusetzen versuchen, wird in Rojava experimentell erprobt.
Die vielleicht bemerkenswerteste Veränderung betrifft die Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Koedukative Schulen sind die Norm. Frauen bleiben nicht mehr den ganzen Tag zu Hause. An Versammlungen nehmen mindestens 40 % Frauen teil. Alle Gremien haben zwei Köpfe, einen weiblichen und einen männlichen. Die Weltanschauung der Frauen und sogar ein neues Wissensgebiet, die Jinologie („Wissenschaft von den Frauen“), werden gefördert. Obwohl der Feminismus in der kurdischen Befreiungsbewegung seit langem stark vertreten ist, stellen diese Veränderungen keine geringe Innovation im Nahen Osten dar, und in mancher Hinsicht scheint die Gleichstellung der Geschlechter in Rojava weiter fortgeschritten zu sein als in Europa.
Auf ökonomischer Ebene strebt Rojava eine optimale Selbstentwicklung an. Unter syrischer Herrschaft verfügte das Gebiet über Öl, aber keine Raffinerie, und über Weizen, aber keine Getreidemühle. Der Schwerpunkt liegt nun auf der Eigenständigkeit.
Der Schein trügt. Wie alle erfahrenen Profis beherrschen PKK und PYD die Kunst, das positive Bild von sich selbst zu vermitteln, das Außenstehende sehen wollen. Es ist auch nur natürlich, dass die Einheimischen versuchen, Besucher zu beeindrucken, indem sie die erfolgreichste Seite ihrer Bewegung betonen. Aber nicht alles ist Augenwischerei. Selbstorganisation verbessert den Alltag einer zuvor vernachlässigten und unterdrückten Bevölkerung.
Regelmäßig finden Vollversammlungen mit mehreren hundert Teilnehmern statt, die nicht nur sitzen, sondern sich aktiv beteiligen, wobei die weit verbreitete Sorge (zumindest teilweise in die Praxis umgesetzt) besteht, dass die unteren Ebenen die Kontrolle über die oberen Ebenen behalten.
Unten und oben … Damit nähern wir uns dem Kern der Sache. Worüber wird diskutiert? Treffen die Volksräte Entscheidungen über kleinere oder größere Fragen?
Die Antwort liegt in der Frage. Das Rätesystem von Rojava ist parallel zu einer Übergangsregierung (Übergänge können endlos sein), die einen Krieg führt, mit dem Ausland verhandelt, die Steuererhebung neu organisiert, die Ölförderung plant usw., wie jede zentrale politische Institution, die über ein Gebiet herrscht. Im Klartext: ein Staat. Und noch nie hat man erlebt, dass sich ein Staat in einer lokalen direkten Demokratie auflöst.
Ein Volk ohne Klassen?
Wie so oft in ähnlichen Situationen hat die Notwendigkeit der Selbstverteidigung gegen eine tödliche Gefahr (in diesem Fall ISIS) die Kurden dazu veranlasst, eine gemeinsame Front zu bilden, sowohl im üblichen Sinne einer gemeinsamen Aktion als auch im politischen Sinne des 20. Jahrhunderts einer Volksfront. Die Solidarität hat zu einer vorübergehenden Aussetzung sozialer Unterschiede geführt, aber nicht zu deren Auslöschung.
Niemand behauptet, dass die als „Kurden“ bekannte Bevölkerung das Glück hat, das einzige Volk der Welt zu sein, das in heiterer Harmonie lebt. Wie alle anderen Völker sind die Kurden in Gruppen mit gegensätzlichen Interessen, in Klassen oder, wenn Klasse zu sehr nach Marxismus riecht, in Herrschende und Beherrschte, in Regierende und Regierte unterteilt. Wenn also in Rojava ein großer sozialer Umbruch im Gange ist, wann und wie wurde die herrschende Klasse gestürzt? Es ist bekannt, dass dominante Gruppen auf alle verfügbaren Mittel zurückgreifen, auch auf bewaffneten Kampf, um an der Macht zu bleiben. Welcher intensive Klassenkampf hat sie in Kurdistan gestürzt und den Wandel eingeleitet?
Obwohl ein solch außergewöhnliches Ereignis wahrscheinlich nicht unbemerkt geblieben ist, haben diejenigen, die an eine „Revolution“ in Rojava glauben, keine Antwort parat. Die Frage wird einfach ignoriert. Nun, fast. Tatsächlich haben sie eine Erklärung, die von David Graeber zusammengefasst wurde:
„(..) die Menschen in Rojava haben es in Bezug auf die Klassenverhältnisse recht einfach, weil die eigentliche Bourgeoisie, wie sie in einer überwiegend sehr landwirtschaftlich geprägten Region existierte, mit dem Zusammenbruch des Baath-Regimes verschwand. Sie werden ein langfristiges Problem haben, wenn sie nicht am Bildungssystem arbeiten, um sicherzustellen, dass eine entwicklungsorientierte Technokraten-Schicht nicht irgendwann versucht, die Macht zu übernehmen, aber in der Zwischenzeit ist es verständlich, dass sie sich mehr auf Genderfragen konzentrieren.“5
D. Graeber hat das große Verdienst, die Denkweise eines großen Teils der radikalen Meinung auf den Punkt zu bringen. Was uns hier gesagt wird, ist, dass, obwohl Klasse und Geschlecht im Allgemeinen eine Rolle spielen, die heutige Priorität in Rojava das Geschlecht ist, weil die Klassenfrage (zumindest vorübergehend) durch den Abgang der herrschenden Klasse gelöst wurde. Was bleibt, ist das gemeine Volk, einfach das Volk. Die Menschen in Rojava mögen sich in einer Notlage befinden, aber sie haben erreicht, was westliche radikale Reformer vergeblich anstreben: 99 % der Bevölkerung zusammenzubringen.
D. Graeber verwechselt eine Klasse mit den Personen, aus denen sie besteht. Natürlich ist Klasse Fleisch und Blut, aber sie ist noch viel mehr, sie besteht aus sozialen Beziehungen. Die Bourgeoisie verschwindet nicht aus einem Gebiet, aus dem bourgeoise Individuen geflohen sind. Zur Zeit der Pariser Kommune verließ die herrschende Klasse die Stadt, aber ihre Machtstruktur blieb während dieser zwei Monate bestehen: In den Tresoren der Banque de France und ihren Millionen Francs unternahmen die Kommunarden keinen Versuch, diese zu beschlagnahmen, und im Grunde genommen bestand die Fortführung der Geldwirtschaft und der Lohnarbeit fort. In Rojava gibt es keine Anzeichen dafür, dass die unteren Klassen die Marktwirtschaft und das Lohnsystem abgeschafft haben.
Rojava-Enthusiasten sprechen viel über Empowerment und Veränderungen im häuslichen Bereich: Sie erwähnen nie eine Veränderung der Ausbeutungsverhältnisse. Bestenfalls werden Beispiele für Genossenschaften in den Bereichen Landwirtschaft, Textil, Handel und Bauwesen genannt (von denen wir hören, dass sie mit Privatunternehmen konkurrieren), aber wir lesen nie über ein Experiment zur Kollektivierung. Ölquellen sind wieder in Betrieb, eine Raffinerie wurde improvisiert, aber wir wissen nichts über die Menschen, die dort arbeiten.
Die Regierungsbehörden organisieren den Übergang von der Monokultur zur Selbstversorgung mit Lebensmitteln: ehemals staatseigenes Land wird an landwirtschaftliche Genossenschaften verteilt: Die Produkte werden an die Verwaltung verkauft oder auf dem Markt mit Preiskontrolle angeboten. Brot wird subventioniert. „Der Schmuggel ist riesig“, berichtet Becky. Das wird von anderen Besuchern bestätigt und ist zu erwarten: In Regionen ohne feste Grenzen, die von Not und Krieg heimgesucht werden, sind Schmuggler illegale grenzüberschreitende Händler. Das Ausmaß des Schmuggels zeigt die Widerstandsfähigkeit einer Ökonomie, in der Waren gehandelt werden und deren Geschäftsleute schlecht bezahlte Arbeitskräfte für diese Arbeit einstellen. Wo Dinge gekauft und verkauft werden, werden auch Menschen – Arbeitskräfte – gekauft und verkauft. Hier gibt es keine Gleichberechtigung und sicherlich wenig Genderkritik.
Janet Biehl, eine Verfechterin der „Revolution“ in Rojava, schreibt: „Einige Menschen in Rojava haben Löhne, aber viele arbeiten auf freiwilliger Basis; wieder andere verdienen ihren Lebensunterhalt beispielsweise mit einer Kuh.“6 In der Zwischenzeit zahlen die Menschen keine oder nur geringe Einkommenssteuern, und die Staatseinnahmen stammen aus dem Ölgeschäft. Mit anderen Worten: Einige Menschen in Rojava erhalten einen Lohn, andere leben von anderswo verdientem Geld, wieder andere leben in einer Subsistenzwirtschaft, und der nichtstaatliche Staat verkauft Öl. So oder so durchdringt Geld jeden Bereich der Gesellschaft von Rojava.
Im Großen und Ganzen sind die Märkte zu normalen Zeiten für Käufer geöffnet, Handel und Handwerk funktionieren, was eine immense Verbesserung gegenüber der Situation zuvor darstellt. Zaher Bader besuchte Cizire im Mai 2014 und glaubt, dass in Syrisch-Kurdistan eine Revolution stattfindet:
„Bevor wir die Region verließen, beschlossen wir, mit Ladenbesitzern, Geschäftsleuten, Marktständen und Marktbesuchern zu sprechen, um ihre Ansichten zu hören, die für uns sehr wichtig waren. Alle schienen eine sehr positive Sichtweise und Meinung über die DSA und Tev-Dam zu haben. Sie waren glücklich über die Existenz von Frieden, Sicherheit und Freiheit und darüber, ihr eigenes Geschäft ohne Einmischung von Parteien oder Seiten zu führen.“
Endlich haben wir eine Revolution gefunden, die die Bourgeois nicht erschreckt.
Oder vielleicht hängt alles davon ab, was die bourgeoise Klasse ist. Wenn D. Graeber den Begriff der obersten Schicht der herrschenden Elite vorbehält, dann hat er Recht: Es gibt wahrscheinlich nur sehr wenige Hochfrequenzhändler und Handelsbanker, die jetzt in den drei Kantonen von Rojava leben. Für Graber gibt es also keine nennenswerte Klasse, sondern nur ein Volk.
Ein Mann, der ein Transportunternehmen mit einer Flotte von fünf Lastwagen betreibt und 15 Mitarbeiter beschäftigt, ist jedoch ein Bourgeois. Rojava ist eine Klassengesellschaft.
Die These von der „sozialen Revolution“ wird immer fadenscheiniger, aber ihre Befürworter können kaum Fakten vorweisen: Ihre eigenen Berichte liefern genügend Beweise, um ihre Behauptung zu widerlegen. Der Fehler liegt darin, dass die richtige Frage nicht gestellt wird:
„Die Situation hat auch etwas mit dem Verlauf der Kämpfe in der ganzen Welt in den letzten Jahren gemeinsam. Der Staat, der heute ein Agent des globalen Kapitals ist, wird von Bewegungen, die sich aus der Mittelschicht und der proletarischen Klasse zusammensetzen, als Schuldiger angesehen. Die Nation wird unterdessen als die Kraft angesehen, die sich dem entgegenstellt. Die Kämpfe werden unter der Ideologie der Staatsbürgerschaft (und den damit verbundenen Hierarchien von Rasse und Geschlecht) zusammengefasst. Der Wandel, der in Rojava stattfindet, beruht zu einem gewissen Grad auf einer radikalen kurdischen Identität und auf einem beträchtlichen Kontingent der Mittelschicht, die trotz radikaler Rhetorik immer ein gewisses Interesse an der Kontinuität von Kapital und Staat hat.“ (Becky)
Macht dem Volk?
Das tägliche Leben wird von den Produktionsverhältnissen bestimmt: Wie wir gerade gesehen haben, stehen die selbstverwalteten Kommunen und Basisorganisationen in Rojava unter dem Einfluss großer und kleiner Unternehmen.
„Wenn die Götter uns bestrafen wollen, erhören sie unsere Gebete“, schrieb Oscar Wilde. Rojava erfüllt den Traum der Theoretiker der schrittweisen Stärkung der Bevölkerung. J. Holloways „Verändere die Welt, ohne die Macht zu übernehmen“ scheint sich im syrischen Kurdistan zu verwirklichen. Die Gesellschaft soll von unten durch eine Vielzahl von schrittweisen Veränderungen transformiert werden, die die Oberschicht hilflos und harmlos machen, bis sie abfällt oder verschwindet. Deshalb ist die Polizei in Rojava keine Polizei, sie kann nur eine Nicht-Polizei sein, eine Anti-Polizei. D. Graeber schreibt:
„Schließlich, und das ist das Entscheidende, sind die Sicherheitskräfte rechenschaftspflichtig gegenüber den von unten nach oben gerichteten Strukturen, und nicht umgekehrt. Eine der ersten Orte, die wir besucht haben, war eine Polizeiakademie (Asayis). Alle mussten Kurse in gewaltloser Konfliktregelung und feministischer Theorie belegen, bevor sie eine Waffe berühren durften. Die Ko-Direktoren erklärten uns, dass ihr Endziel wäre, dass jeder im Lande sechs Wochen Polizeitraining erhält, damit sie die Polizei letztendlich abschaffen könnten.“
Es geht nicht darum, sich über diese Naivität lustig zu machen, sondern zu erkennen, worauf sie beruht: auf dem Glauben, dass es in Rojava nichts zu befürchten gibt, weder von ehemaligen noch von neuen Kräften der Repression, weil die wahre Macht bei den Menschen an der Basis liegt, in den Kommunen und den lokalen Komitees. Was auch immer Regierungsbeamte tun mögen, welche politischen Manöver Möchtegern-Anführer auch immer durchführen mögen, wir sind die Polizei.
Die Bedeutung der (manchmal multiethnischen) Nachbarschafts- und Dorfnetzwerke, der Frauenkollektive, die sich mit vielen Themen befassen, seien sie trivial (Streitigkeiten) oder groß (Schule, Gesundheitswesen, lokaler Handel), sowie mit den Notwendigkeiten des Krieges, ist unbestreitbar. Dies wäre ein unverzichtbarer Bestandteil einer sozialen Revolution. Unter den gegenwärtigen Umständen läuft diese Gemeinschaftsherrschaft jedoch parallel zu einer zentralen Struktur, die als politisches Oberhaupt des Landes fungiert. Wer entscheidet was? Wer hat das Sagen? Das ist die Frage. Die gepriesene Autonomie der Kommune ist sicher, solange sie nicht ausgeübt wird, solange sie nicht mit der Regierung konkurriert. Verwaltung ist eine Sache, große Entscheidungen zu treffen eine andere. Nichts zeigt, dass die Gemeinderäte wirklich ein Mitspracherecht bei der Politikgestaltung haben. Die Bezeichnung dieses Regimes als „Demokratische Selbstverwaltungsverwaltung“ ändert kaum etwas an den Worten. Was den Plan angeht, so bald wie möglich freie Wahlen abzuhalten, sind diese so gut, wie es eine parlamentarische Demokratie nur sein kann.
Frauen mit Waffen
Angenommen, wir ändern Namen und Daten … Vieles von dem Lob, das Rojava heute erhält, insbesondere für seine radikale Kritik an Geschlechterfragen, hätte in den 1930er Jahren von Beobachtern des brüderlichen und egalitären Pionierlebens in kleinen zionistischen Gemeinden in Palästina verfasst werden können. Auch damals waren Besucher und Unterstützer von einer völlig neuen Rolle der Frau beeindruckt.
In den frühen Kibbuzim resultierte die Gleichstellung der Geschlechter nicht nur aus fortschrittlichen und sozialistischen Ideen. Die materiellen Notwendigkeiten (Landwirtschaft und Selbstverteidigung) erforderten, dass einer bedrängten Gemeinschaft nicht die Hälfte ihres Arbeitskräftepotenzials und ihrer bewaffneten Streitkräfte vorenthalten wurde. Damit Frauen ihren Anteil an landwirtschaftlichen und militärischen Aktivitäten übernehmen konnten, mussten sie von „weiblichen“ Pflichten befreit werden, sodass die Kinder kollektiv erzogen wurden, was für viele ein Novum und für einige ein Schock war.
In Rojava gibt es dafür keine Belege. Dass es Soldatinnen gibt, bedeutet nicht das Ende der männlichen Vorherrschaft (wenn es so wäre, wäre Israel eines der Länder mit der größten Geschlechtergleichheit der Welt). Z. Baher, ein Verfechter der „Revolution“ in Rojava, schreibt zunächst: „Es herrscht völlige Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern“, und fügt dann eine halbe Seite später hinzu: „Ich habe keine einzige Frau gesehen, die in einem Geschäft, einer Tankstelle, auf einem Markt, in einem Café oder Restaurant arbeitet.“7 In ‚selbstverwalteten‘ Flüchtlingslagern jenseits der Grenze in der Türkei kümmern sich kurdische Frauen um die Kinder, während die Männer Gelegenheitsjobs suchen.
Der subversive Charakter einer Bewegung oder Organisation lässt sich nicht am Anteil der Frauen an den Waffen messen. Ebenso wenig lässt sich ihr feministischer Charakter daran messen. Seit den 1960er Jahren haben die meisten Guerillagruppen eine große Anzahl von Kämpferinnen eingesetzt oder tun dies noch, beispielsweise in Kolumbien. 25 % der sandinistischen Truppen waren Frauen, was nicht zur Frauenbewegung führte: Abtreibung ist heute in Nicaragua völlig illegal. Die Präsenz von Frauen ist ein typisches Merkmal der maoistischen Guerilla. In Nepal, Peru und auf den Philippinen fordert die Strategie des langwierigen Volkskrieges die Gleichstellung von Mann und Frau, um traditionelle (familiäre, feudale oder stammesbezogene) Bindungen, die immer patriarchalisch sind, zu zerstören. Das Ziel besteht nicht darin, Frauen zu emanzipieren, sondern die Herrschaft der Dorfältesten durch die Herrschaft der Parteikader zu ersetzen. Die wichtige Rolle der Frauen in der PKK-PYD ist weniger auf feministischen Einfluss als auf die maoistischen Ursprünge der Partei zurückzuführen.
Warum wird die bewaffnete Frau so leicht als Symbol der Befreiung angesehen, sogar bis zu dem Punkt, dass ignoriert wird, wofür sie kämpft?
Wenn das Bild einer Frau mit einem Raketenwerfer auf den Titelseiten westlicher Boulevardzeitungen und in radikalen Magazinen landet, dann deshalb, weil sie den (stark zurückgegangenen) Mythos von der angeblichen angeborenen Friedfertigkeit oder Passivität der Frau stört. Das Recht, Waffen zu benutzen (selbst Jagdwaffen), war lange Zeit ein Privileg der Männer, sodass die Umkehrung dieser Tradition als Beweis für die Außergewöhnlichkeit und Radikalität einer Bewegung angesehen wird. Der stereotype Macho-Held hat ein unangenehmes Image, die romantisierte Freiheitskämpferin hingegen ein positives. Antimilitaristen haben nichts gegen Bürgerkriege, wenn Frauen an die Front gehen. Die Kämpferin ist die Erlöserin des bewaffneten Kampfes: Die Revolution erwächst aus dem Lauf einer Kalaschnikow in den Händen einer Frau. Ganz zu schweigen von der Fantasie der Rächerin, die für eine gute Sache eine Waffe schwingt und auf Sexisten und Vergewaltiger schießt: Selbstjustiz wird auch dann erlöst, wenn sie in Frauenhände gelangt, wie in Abel Ferraras „Ms. 45“, einem Vergewaltigungs-Rachefilm aus dem Jahr 1981.
Wie westlich zentriert das alles ist. In vielen Teilen der Welt waren und sind Soldatinnen immer noch weit verbreitet, manchmal in Kampffunktionen und als Stoßtruppen. Ein russisches Frauenbataillon bewachte im Oktober 1917 den Winterpalast. Im Zweiten Weltkrieg hatte die Rote Armee weibliche Panzerfahrerinnen, Scharfschützinnen usw. Frauen mit Waffen sind für den westlichen Geist nur eine Kuriosität.
Fügen wir hinzu, dass auch Assads Armee und ISIS einige Kampfeinheiten haben, die nur aus Frauen bestehen. Aber da sie im Gegensatz zu den Kurden die Geschlechterkritik ignorieren, setzen sie Frauen nicht im Frontkampf ein, sondern nur bei Polizei- und Unterstützungsaufgaben.
Ein Aufruf zu den Waffen
Es ist kein Wunder, dass einige Individuen und Gruppen, die immer dazu neigen, den militärisch-industriellen Komplex anzuprangern, jetzt dazu aufrufen, Rojava gegen den IS zu bewaffnen, wenn wir uns daran erinnern, dass 1999, zur Zeit des Kosovo-Krieges, einige Anarchistinnen und Anarchisten die NATO-Bombardierungen Serbiens unterstützten, um einen Genozid zu verhindern.
Woher und von wem sollen diese Waffen kommen? Der durchschnittliche Proletarier hat kein Sturmgewehr oder keine Granate übrig, die er heimlich nach Kurdistan schmuggeln könnte. Sollte er oder sie sich an internationale Waffenhändler wenden? Oder sollen wir erwarten, dass die Westmächte Rojava mit angemessenen Waffen versorgen? Die Lieferungen haben in bescheidenem Umfang begonnen. Sollten wir die USA, Frankreich und Großbritannien unter Druck setzen, mehr zu tun? Mit welchen Mitteln? Libertäre Demos finden im Weißen Haus kein Gehör. Und zu welchem politischen Preis für die Bittsteller? Niemand denkt daran, neue Internationale Brigaden zu organisieren, obwohl ISIS bereits ihre hat.
Wenn also Stimmen nach militärischer Unterstützung rufen, um Rojava bei der Abwehr des dschihadistischen Angriffs zu helfen, wovon genau sprechen sie dann? Entweder ist es leeres Gerede, oder es kann nur bedeuten, dass mehr westliche Luftangriffe gefordert werden. Wie und wo? Bomben und Raketen werden selten auf eine Kolonne dschihadistischer Fahrzeuge in der Wüste fallen, sondern eher auf ein von den Dschihadisten gehaltenes Stadtviertel, mit unvermeidlichen „Kollateralschäden“. Saubere chirurgische Angriffe gibt es nicht. Laut Pentagon wurden zwischen September 2014 und Januar 2015 bei Angriffen der Koalition 6.000 ISIS-Kämpfer getötet. Eines Tages werden wir erfahren, wie viele kurdische Zivilisten zur gleichen Zeit starben.
Massaker sind offensichtlich nicht das, was diejenigen, die „Waffen für den kurdischen Widerstand“ fordern, wirklich wollen. Es ist also leeres Gerede. Eine Einstellung. Das ist vielleicht das Schlimmste an der Geschichte: dass im Nahen Osten ein Versuch der Selbstorganisation und Selbstverteidigung, der zwar echt ist, aber aufgrund feindlicher Umstände nicht über sich selbst hinauswachsen kann, in Europa und Nordamerika als Vorwand für Mobilisierungen und Slogans dienen sollte, von denen niemand ernsthaft erwartet, dass sie in die Tat umgesetzt werden.
Außerdem übersehen Möchtegern-Realisten einen wichtigen Faktor. Eine militärische Niederlage bedeutet sicherlich das Aus für eine Revolution: Die Pariser Kommune wurde von der bourgeoisen Armee zerschlagen. Aber einen Krieg zu gewinnen, ist keine Lösung für ein ungelöstes soziales Problem: Der Sieg der Bolschewiki im Bürgerkrieg begründete die Herrschaft einer neuen ausbeuterischen Klasse. Angenommen, die Truppen des IS würden durch Bomben und Raketen der USA, Frankreichs, Großbritanniens, Jordaniens usw. in die Knie gezwungen, und angenommen, der dysfunktionale syrische Staat ließe Rojava überleben, welche Revolution könnte dann revolutionär bleiben, wenn sie auf die Unterstützung von Imperialisten und Diktatoren angewiesen wäre?
Mainstream-Radikalismus
Wir sind nicht erstaunt über die Haltung einiger libertärer Gruppen, die sich schon immer für die nationale Befreiung eingesetzt haben. Was uns mehr beunruhigt, ist das oft unkritische Verhalten eines größeren Kreises anarchistischer Gefährtinnen und Gefährten, Hausbesetzerinnen und Hausbesetzer, Feministinnen und Feministen, libertärer Kommunistinnen und Kommunisten, sogar von Freunden, von denen wir wissen, dass sie kritischer waren.
Dieses Milieu ist zu persönlicher Energie und Initiative fähig, aber es gibt etwas, das man als „Mainstream-Radikalismus“ bezeichnen könnte, der geistig rückgratlos ist. Negativ könnte dies durch eine Ablehnung von Institutionen und Vermittlungen charakterisiert werden, die als Hindernisse auf dem Weg zur Emanzipation stehen: Staaten, Parteien, Gewerkschaften/Syndikate, Parlamente, Bürokratie, auch eine „Übergangszeit“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus, sogar Klassen, insofern sich Klassen in einem endlosen Klassenkampf aufrechterhalten. Positiv ist, dass sie sich auf Empowerment, Selbstorganisation, direkte Demokratie und eine Revolution des täglichen Lebens konzentriert, die sich auf alle Formen der Herrschaft erstreckt, insbesondere auf die Geschlechterordnung.
Infolgedessen verwandelt sich das vollkommen gerechtfertigte Misstrauen gegenüber den versprochenen zukünftigen brandneuen Welten in die Tendenz zu glauben, dass das Morgen schon heute ist, vorausgesetzt, die Menschen ändern ihr Leben bereits hier und jetzt und scheinen sich selbst zu regieren. Gleichzeitig entwickelt sich ein Misstrauen gegenüber der Politik von oben zu einer Suche nach konkreten Maßnahmen von unten, selbst im kleinen Maßstab, vorausgesetzt, sie ermöglichen es den Menschen, soziale Bindungen wiederherzustellen.
In nicht wenigen Texten über Kurdistan wird Rojava nur unter dem Gesichtspunkt der lokalen Errungenschaften betrachtet, also dessen, was die Rojava-Bewohner auf der Straße, in der Gemeindeschule, in der Bezirksklinik oder in dem von Z. Bader erwähnten kleinen Park zustande bringen (was alles notwendige Bestandteile einer sozialen Revolution wären), ohne sich groß um die Führung von PKK und PYD zu kümmern, denn für diese Analysten sind lokale Errungenschaften wichtiger als politische Anführer und bestimmen tatsächlich die Politik Rojavas. Ihre Priorität ist die von unten nach oben gerichtete Dynamik, aber sie interpretieren Rojava implizit so, als ob die Basis die Führung der Spitze befehle. Was könnten wir von Italien im Jahr 1977 verstehen, wenn die Ereignisse nur aus der Perspektive von Vollversammlungen, wilden Streiks, Ausschreitungen und revolutionären Erklärungen betrachtet würden, wobei die Gewerkschaften/Syndikate, die KP, politische Verhandlungen und die staatlichen Kräfte nahezu ignoriert würden? Rojava ist derzeit ein Versuch des Aufbaus einer Nation: Radikale missverstehen es als Aufbau einer Gemeinschaft.
In früheren Zeiten konzentrierten sich der Marxismus und die extreme Linke auf Produktion und Arbeit: Übernahme der Fabriken, Verwaltung der Ökonomie usw. Revolution wird heute immer mehr als eine Frage des Verhaltens verstanden: Selbstbestätigung, Selbstorganisation, Betonung von Gender, Ökologie, Multikultur, Wiederverbindung, Begegnung, Debatte … Revolution wird eher in gesellschaftlichen als in sozialen Begriffen gedacht: Das Wort wurde erweitert und seine Bedeutung eingeschränkt. Mit dem Schwinden radikaler Hoffnungen kam „gesellschaftlich“ in Mode. Gesellschaftlich ist es, wenn man soziale Strukturen nicht verändern kann. Sozialer Wandel bedeutet, der männlichen Vorherrschaft ein Ende zu setzen: Gesellschaftlicher Wandel bedeutet Geschlechterparität.
Welche Kritik am Staat?
Wenn das, was Radikale an der nationalen Befreiung in Verlegenheit bringt, darin besteht, dass sie auf die Schaffung eines Nation-Staates abzielt, dann haben Radikale keine Einwände mehr gegen die nationale Befreiung, sobald eine nationale Bewegung verkündet, nicht- oder antistaatlich zu sein, und dies auch nach außen hin hinreichend deutlich macht. Dann müssen die Radikalen nur noch bedenken, dass die Nation – vorausgesetzt, sie bleibt staatenlos – schließlich nichts anderes ist als das Volk, und wer könnte gegen das Volk sein? Das Volk, das sind wir, wir alle minus 1 %, das Volk sind 99 %.
Hier ist das libertäre Denken auf dem Holzweg.
Die völlige Ablehnung des Staates ist eine der Grundlagen der Anarchie und ihr unbezahlbarer Verdienst.
Der Haken dabei ist, dass bedingungslose Staatsfeindlichkeit mit einer nicht-revolutionären Perspektive vereinbar ist, d. h. mit der Vision einer möglichen breiten evolutionären Veränderung. Von den drei im 19. Jahrhundert geborenen Hauptfiguren der Anarchistinnen und Anarchisten, Proudhon, Kropotkin und Bakunin, vertrat nur Letzterer stets die Notwendigkeit eines entscheidenden Moments, der das historische Kontinuum durchbrechen würde, eines destruktiv-konstruktiven Bruchs mit der Vergangenheit. Proudhon stand Revolutionen durchweg feindlich gegenüber. Kropotkin kam 1899 zu der Idee, dass „(…)der Widerstand der herrschenden Klassen gegen diese Bewegung kaum durch die gleiche sinnlose Halsstarrigkeit sich auszeichnen wird, welche die Revolutionen vergangener Zeiten so gewalttätig gestaltete“8 Seine späteren Ansichten waren in dieser Frage ziemlich ambivalent. Obwohl er von einer „revolutionären Periode“ sprach, ist in seinen Schriften unklar, ob „konstruktive Kräfte der gegenseitigen Hilfe“9 innerhalb des Kapitalismus entstehen könnten – oder nicht – und eine kritische Masse erreichen könnten, die es ihnen ermöglichen würde, das kapitalistische System quasi auf natürliche Weise durch ein kommunistisches zu ersetzen. (Es versteht sich von selbst, dass das marxistische Denken eine ähnliche These entwickelt hat, dass sich der Kapitalismus so weit sozialisiert, dass er unweigerlich in den Sozialismus übergeht.)
Schrittweise progressive Ansätze sind nicht unvereinbar mit Anarchismus. Daher ist es nicht unangemessen, dass ein Anhänger des Gradualismus wie D. Graeber sich selbst als „Anarchist“ bezeichnet. Für ihn können sich grenzüberschreitende Gemeinschaften so weit entwickeln, dass Grenzen bedeutungslos werden und „die allmähliche Auflösung des bürokratischen Nation-Staates“ bewirken. Das wichtigste Wort hier ist bürokratisch: Wenn etwas (Arbeit, Geld, Krieg, Geschäft …) demokratisch geführt wird, ändert sich seine Natur völlig.
Die Schwäche des Anarchismus besteht darin, den Staat vor allem als Zwangsinstrument zu betrachten – was er sicherlich ist –, ohne zu fragen, warum und wie er diese Rolle spielt. Ein Staat ist ein Verwaltungs- und Sicherheitsapparat, der den Zusammenhalt unterschiedlicher Interessen gewährleistet. Für Anarchistinnen und Anarchisten ist der Staat jedoch in erster Linie mit einer aufgezwungenen vertikalen Autorität gleichzusetzen. Sobald diese sichtbaren Formen der Einschränkung nachlassen, reicht es einigen Anarchistinnen und Anarchisten (bei weitem nicht allen) zu dem Schluss zu kommen, dass das Ende des Staates gekommen ist oder bevorsteht. Eine echte kommunale „horizontale“ Polizei wird beispielsweise nicht mehr als Polizei angesehen.
Der Libertäre ist schutzlos gegenüber dem, was seinem Programm so sehr ähnelt: Da er sich immer gegen den Staat gestellt und die Demokratie unterstützt hat, können ihm der demokratische Konföderalismus und die soziale Selbstbestimmung nur recht sein. Das Ideal der Anarchistinnen und Anarchisten besteht in der Tat darin, den Staat durch Tausende von föderierten Kommunen und Arbeitskollektiven zu ersetzen.
Auf dieser Grundlage ist es für Internationalistinnen und Internationalisten möglich, eine nationale Bewegung zu unterstützen, wenn diese politische, soziale und kulturelle Selbstverwaltung oder, wie man im 21. Jahrhundert sagen würde, die „Wiederaneignung des Gemeinsamen“ umsetzt. Wenn die PKK darauf besteht, dass sie nicht die Macht ergreifen, sondern zu einem System beitragen will, in dem die Macht so verteilt wird, dass alle an der Macht teilhaben, fällt es Anarchistinnen und Anarchisten relativ leicht, sich mit dieser Forderung zu identifizieren.
Perspektiven
Der Versuch einer demokratischen Revolution in Rojava und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen waren nur aufgrund außergewöhnlicher Umstände möglich: dem Zusammenbruch der irakischen und syrischen Staaten sowie der Invasion der Dschihadisten, einer tödlichen Bedrohung, die die Radikalisierung beschleunigte.
Aus heutiger Sicht besteht die Möglichkeit, dass der IS das gesamte Gebiet übernimmt, was die Auflösung Rojavas als Protostaat zur Folge hätte: Die kurdische Autonomie würde auf schrumpfende Landstriche und Guerilla-Nester zurückgehen, wie es in allen Ländern der Region vor 2003 der Fall war.
Die zweite und derzeit wahrscheinlichste Option ist, dass Rojava mit westlicher Militärunterstützung die Stellung hält und die Republik Rojava mit genügend internationaler Schirmherrschaft weiterlebt, um die stürmischen Gewässer eines krisengeschüttelten Nahen Ostens zu befahren (neben anderen Herausforderungen, wie dem syrischen Bürgerkrieg auf der anderen Seite der Grenze: Paradoxerweise könnte das Assad-Regime, solange es durchhält, als widerwilliger und unzuverlässiger Verbündeter von Rojava fungieren, was eine weitere Unsicherheit mit sich bringt). Ein solches neugeborenes Land wäre nicht unabhängiger als der derzeitige kurdische Kleinstaat im Nordirak unter westlichem Schutz: Wie die Regionalregierung Kurdistan würde auch Rojava nur überleben, wenn es sich den Spielregeln der Großmächte und des Big Business beugen würde.
Öl wäre sowohl ein Vorteil als auch eine Einschränkung. Für ein kleines, fragiles Land, das geografisch in drei Teile geteilt ist, ist der Reichtum an Öl und Bodenschätzen nichts ohne mächtige Käufer und Verbündete. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels gibt es nur einen Flughafen in Cizire, der unter der Kontrolle der syrischen Regierung steht.
Dies wäre das schlimmste/beste Szenario. Wie demokratisch Rojava auch sein möchte, und selbst trotz des starken Drucks der Basis, würde die Konsolidierung und Normalisierung des Landes nur das fördern, was mit der bourgeoisen Demokratie vereinbar ist, d. h. was nicht im Widerspruch dazu steht, dass das Kapital Arbeitskräfte anwirbt, Geld zirkuliert und sich akkumuliert, Geschäfte mit ausländischem Kapital getätigt werden usw. Der russische „Sozialismus in einem Land“ war unmöglich: ebenso wie der kurdische demokratische Konföderalismus, was auch immer das bedeutet. Alle sozialen Errungenschaften mit subversivem Potenzial werden gestoppt. Bestenfalls (was wahrscheinlich zu viel verlangt ist) wird es relativ freie Wahlen, wenig Korruption, eine gewisse Achtung der Menschenrechte, lokale Selbstverwaltung für lokale Angelegenheiten, ein besseres öffentliches Gesundheitssystem als in den Nachbarländern, eine Polizei mit mäßiger Repression, ein fortschrittliches Bildungssystem, eine freie Presse (sofern sie sich von Blasphemie fernhält), einen toleranten Islam und natürlich Geschlechterparität geben, vielleicht mit einer Vizepräsidentin. Mehr nicht. Wahrscheinlich genug für diejenigen, die an eine Rojava-Revolution glauben wollen, um weiter daran zu glauben. Anhänger lassen sich von der Realität nie entmutigen. Wenn ihre Theorie durch Fakten widerlegt wird, tun sie die Fakten ab. „Sei dialektischer!“, sagen sie: „Ignoriere die Gegenwart: Alles, was heute schlecht aussieht, war gestern noch schlimmer und wird morgen besser werden …“
Was die Aussicht auf einen Konflikt zwischen selbstorganisierten Körperschaften und dem Apparat, der sie unter dem wachsamen Auge der PKK überwacht, betrifft, so bringt uns dies zurück zu der Frage: „Wer hält die wahren Zügel der Macht in der Hand?“ In Kurdistan gibt es keine „Machtdualität“, keine proletarische Kontrolle von unten, die mit einer politischen Struktur von oben um die Führung konkurriert. Die PKK-Aufsicht akzeptiert kommunale Selbstverwaltungskollektive, die ihr die Verantwortung für wichtige Entscheidungen überlassen und nur das tägliche Leben selbst verwalten: Die Beteiligung der lokalen Bevölkerung ändert nichts am tatsächlichen Kräfteverhältnis. In Spanien wurden die Anfänge einer Revolution 1936 vom Krieg verschlungen. In Rojava herrscht Krieg, und trotz der echten Bemühungen der kurdischen Proletarier, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, deutet bisher nichts auf den Beginn einer Revolution hin.
G.D. & T.L., Februar 2015
Essentielles Lesetoff:
Lato Cattivo, “The Kurdish Question”, ISIS, USA, etc., 2014
Becky, Starting from the Moment of Coercion: Cizire Canton, Rojava. A Revolution in Daily Life, Dec. 2014 (originally written for the magazine SIC)
Genauso:
Zafer Onat, Rojava: Fantasies & Realities, servetdusmani.org, 201
Internationalist Communist Tendency, In Rojava: People’s War is Not Class War, leftcom.org
Various stimulating texts on the Tridni Valka site : autistic.org
International Communist Party, Proletarian, # 11, Winter-Spring 2015
Ch. Glass, “In the Syria We Don’t Know”, New York Review of Books, Nov. 6, 2014
The Continuing Appeal of Religion, troploin, 2006
Kropotkin, Memoirs of a Revolutionist, 1899, conclusion. Marx’s last public speech in Amsterdam, September 8, 1872, expressed a similar view for Britain and the US.
Kropotkin, Anarchism, 1910, marxists.org
G. Woodcock, I. Avakumovic, Peter Kropotkin. From Prince to Rebel, Black Rose Books, 1990
D. Fromkin, The Peace to End All Peace: The Fall of the Ottoman Empire & the Creation of the Modern Middle East, Avon Books, 1999
BBC News, Battle for Iraq & Syria in Maps, Jan. 2015, bbc.com
Believers in a revolution in Rojavan :
D. Graeber, No. this is a Genuine Revolution, Dec. 26, 2014
Zaher Baher, The Experiment of West Kurdistan (Syrian Kurdistan) has Proved that People Can Make Changes, August 2014, libcom
Janet Biehl, Impressions of Rojava: A Report from the Revolution, Dec. 16, 2014; and Poor in Means but Rich in Spirits, Interview, Dec. 23, 2014
Sardar Saadi, Rojava Revolution: Building Autonomy in the Middle East, July 2014, roarmag.org
1Lato Cattivo, “The Kurdish Question”, ISIS, USA, etc., 2014
2Becky, Starting from the Moment of Coercion: Cizire Canton, Rojava. A Revolution in Daily Life, Dec. 2014 (originally written for the magazine SIC)
3Sardar Saadi, Rojava Revolution: Building Autonomy in the Middle East, July 2014, roarmag.org
4Zafer Onat, Rojava: Fantasies & Realities, servetdusmani.org, 201 (Auch auf der Textreihe veröffentlicht)
5D. Graeber, No. this is a Genuine Revolution, Dec. 26, 2014
6Janet Biehl, Impressions of Rojava: A Report from the Revolution, Dec. 16, 2014; and Poor in Means but Rich in Spirits, Interview, Dec. 23, 2014
7Zaher Baher, The Experiment of West Kurdistan (Syrian Kurdistan) has Proved that People Can Make Changes, August 2014, libcom
8Memoirs of a Revolutionist, 1899, conclusion. Marx’s last public speech in Amsterdam, September 8, 1872, expressed a similar view for Britain and the US.
9Kropotkin, Anarchism, 1910, marxists.org