Gefunden auf der Seite von Tridni Valka, ursprünglich von Gilles Dauvé und Tristan Leoni auf ddt21 veröffentlicht, die Übersetzung ist von uns.
(2015, Gilles Dauvé und Tristan Leoni) Kurdistan?
Wir empfehlen die kritische Lektüre des Textes „Kurdistan?“, der von Gilles Dauvé mitverfasst und ursprünglich auf Französisch auf dem Blog DDT21 veröffentlicht wurde. [https://ddt21.noblogs.org/?page_id=324]. Dieser Text befasst sich mit zentralen Fragen der „Rojava-Revolution“ wie Bewaffnung, Nationalismus, Alltagsleben, Sozialstruktur, Frauenmilizen und deren Rolle, Begeisterung libertärer Kreise, Staatskritik usw.
Unser einziger wichtiger Vorbehalt betrifft die gute alte Schwäche und Verwirrung, die grundlegende kapitalistische Natur der Demokratie nicht zu begreifen, jenseits der verschiedenen Formen, die sie annimmt, unabhängig davon, ob sie sich als die der „Bourgeoisie“ oder der „Arbeiterinnen und Arbeiter“, als parlamentarische oder direkte Demokratie präsentiert … Demokratie ist die Negation des Klassenantagonismus in der Praxis, sie ist die Verwässerung der revolutionären Klasse in eine bourgeoise Entität, die das Volk und/oder die Nation ist, es ist letztendlich immer die Diktatur des Kapitals, die Diktatur der Profitrate, die Diktatur des sich selbst wertschöpfenden Wertes, egal ob diese in einer „protektionistischen“, einer „marktwirtschaftlichen“ oder einer „selbstverwalteten“ ökonomischen Struktur verwirklicht wird…
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Kurdistan?
„Es gibt Zeiten, in denen man nichts tun kann,
außer nicht den Kopf zu verlieren“.
Louis Mercier-Véga, La Chevauchée anonyme (Der anonyme Ritt)
Wenn Proletarier gezwungen sind, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, um ihr Überleben zu sichern, eröffnen sie die Möglichkeit für einen sozialen Wandel.
Kurden sind gezwungen, unter den Bedingungen zu handeln, die sie vorfinden und die sie versuchen, sich inmitten eines internationalisierten Krieges zu schaffen, der der Emanzipation wenig zuträglich ist.
Wir sind nicht hier, um sie zu „verurteilen“.
Und auch nicht, um den Kopf zu verlieren.
Selbst (Verteidigung)
In verschiedenen Teilen der Welt werden die Proletarier zu einer Selbstverteidigung geführt, die über Selbstorganisation läuft:
„Ein breites Mosaik an Bewegungen – welche bewaffnet oder unbewaffnet sind und von sozialem Banditentum bis zur organisierten Guerilla-Aktivität reichen – agieren in den elendsten Zonen der globalen kapitalistischen Müllhalde und haben ähnliche Züge wie die gegenwärtige PKK. Auf die eine oder andere Art versuchen sie, gegen die Zerstörung ohnehin schon marginaler Subsistenzwirtschaften, die Plünderung natürlicher Rohstoffe, die lokale Bergbauindustrie oder die Aufzwingung kapitalistischen Landeigentums, welches Zugang und/oder Gebrauch begrenzt oder verhindert, Widerstand zu leisten. Als Beispiele können wir wahllos Fälle von Piraterie im Meer von Somalia, MEND in Nigeria, die Naxaliten in Indien, die Mapuche in Chile erwähnen. […] es wesentlich, ihren gemeinsamen Inhalt zu erfassen: Selbstverteidigung. […] Selbstbestimmung (Selbstorganisation, Autonomie, Selbstverwaltung) ihren rein defensiven Charakter, denn man organisiert sich stets selbst auf der Grundlage dessen, was man in der kapitalistischen Produktionsweise ist(Arbeiter dieser oder jener Firma, Bewohner dieses oder jenes Stadtviertels usw.), während das Verlassen des defensiven Terrains („Forderungen“) mit der Tatsache zusammenfällt, dass sich all diese Subjekte gegenseitig durchdringen und dass die Unterscheidungen nicht mehr weiter existieren, da das sie strukturierende Kapital-Lohnarbeits-Verhältnis zu zerfallen beginnt“1.
Hat in Rojava die Selbstorganisation von einer Überlebensnotwendigkeit zu einer Umwälzung der sozialen Beziehungen geführt (oder kann sie dazu führen)?
Es ist nicht nötig, hier auf die Geschichte der mächtigen kurdischen Unabhängigkeitsbewegung in der Türkei, im Irak, in Syrien und im Iran einzugehen. Die Rivalitäten zwischen diesen Ländern und die Repressionen, denen sie dort ausgesetzt sind, haben die Kurden seit Jahrzehnten zerrissen. Nachdem der Irak in drei Einheiten (Sunniten, Schiiten und Kurden) zerfallen war, hat der syrische Bürgerkrieg in Syrien ein Gebiet befreit, in dem die kurdische Autonomie eine neue Form angenommen hat. Es bildete sich eine Volksunion (d. h. klassenübergreifend), die dieses Gebiet verwalten und gegen eine militärische Gefahr verteidigen sollte: Der Islamische Staat (IS) diente als Bruchstelle. Der Widerstand vermischt alte Gemeinschaftsverbindungen mit neuen Bewegungen, insbesondere von Frauen, durch eine De-facto-Allianz zwischen Proletariern und Mittelklasse, mit „der Nation“ als Bindemittel. „Die Transformation, die in Rojava stattfindet, beruht in gewissem Maße auf einer radikalen kurdischen Identität und auf einer großen repräsentativen Gruppe der Mittelklasse, die trotz der radikalen Rhetorik immer noch ein gewisses Interesse am Fortbestand von Kapital und Staat hat“.2
Demokratische Revolution?
In der Politik liegt viel in den Worten: Als Rojava seine Verfassung entwarf und sie Gesellschaftsvertrag nannte, war dies ein Echo auf die Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Lenin und Mao sind vergessen, die aktuellen kurdischen Führer lesen Rousseau, nicht Bakunin.
Der Gesellschaftsvertrag verkündet „die gegenseitige und friedliche Koexistenz und Verständigung zwischen allen Schichten der Gesellschaft“ ‚ und erkennt „die territoriale Integrität Syriens“ an: Das steht in jeder demokratischen Verfassung, und es ist weder eine Apologie des Klassenkampfes noch die Forderung nach Abschaffung von Grenzen, also von Staaten, zu erwarten.3
Das ist der Diskurs einer demokratischen Revolution. Auch in der Erklärung der Menschen- und Staatsbürgerrechte von 1789 ging das ausdrücklich vorgesehene Recht auf „Widerstand gegen Unterdrückung“ Hand in Hand mit dem Recht auf Eigentum. Die Freiheit war umfassend, aber durch das Gesetz definiert und begrenzt. Auch in Rojava ist „Privateigentum“ ein Recht im Rahmen des Gesetzes. Obwohl der Gesellschaftsvertrag die Bezeichnung „autonome Region“ verwendet, sieht er eine Verwaltung, Polizei, Gefängnisse und Steuern vor (d. h. eine Zentralgewalt, die Geld einnimmt).
Aber wir befinden uns am Anfang des 21. Jahrhunderts: Der Verweis auf den „allmächtigen Gott“ steht neben der „nachhaltigen Entwicklung“, der fast paritätischen Besetzung (40% Frauen) und der „Gleichheit der Geschlechter“‚ (obwohl sie mit der „Familie“ verbunden ist).
Hinzu kommen die Gewaltenteilung, die Trennung von Kirche und Staat, eine unabhängige Justiz, eine Ökonomie, die „das allgemeine Wohlergehen“ sicherstellt und die Rechte der Arbeiter (einschließlich des Streikrechts) garantiert, die Begrenzung der Anzahl der politischen Mandate etc. …: ein Programm der republikanischen Linken.
Dass einige Menschen in Europa und den USA in solchen Zielen die Ankündigung einer sozialen Revolution sehen, ist wohl dem „Kulturrelativismus“ geschuldet. In Paris würde dieses Programm in radikalen Kreisen nur Spott hervorrufen, aber „dort ist es schon ziemlich gut…“.
Diejenigen, die Parallelen zwischen Rojava und der spanischen Revolution ziehen, sollten diesen Gesellschaftsvertrag mit dem Programm vergleichen, das von der CNT im Mai 1936 angenommen wurde (und mit der Art und Weise, wie es zwei Monate später konkret umgesetzt wurde).
Neuer Nationalismus
Wie jede politische Bewegung gibt sich eine nationale Befreiungsbewegung die Ideologien, Mittel und Verbündeten, die sie bekommen kann, und sie ändert sich, wenn es ihr passt. Wenn die Ideologie neu ist, dann spiegelt sie einen Wandel der Zeit wider.
„Man kann weder die gegenwärtige Wende der kurdischen Frage, noch die Entwicklung ihrer politischen Ausdrücke – allen voran der PKK – verstehen, ohne sich mit dem Ende des goldenen Zeitalters eines sozialistischen oder „progressiven“ „Nationalismus von unten“ in der Peripherie und Semi-Peripherie des kapitalistischen Systems und seinen Ursachen zu befassen.“4
Die PKK hat das natürliche Ziel jeder nationalen Befreiungsbewegung nicht aufgegeben. Obwohl sie nun ein Wort vermeidet, das zu autoritär klingt, ist es die Schaffung eines zentralen Verwaltungs- und politischen Entscheidungsapparates in einem Gebiet, die die PKK heute wie damals anstrebt; und es gibt kein besseres Wort als Staat, um die Sache zu bezeichnen. Der Unterschied, abgesehen von der administrativen Qualifikation, besteht darin, dass er so demokratisch wäre, so sehr in den Händen seiner Staatsbürger, dass er den Namen Staat nicht mehr verdienen würde. So viel zur Ideologie.
In Syrien hat die kurdische Nationalbewegung (unter dem Einfluss der PKK) daher die Forderung nach einem vollwertigen Staat durch ein bescheideneres und „basisorientierteres“ Programm ersetzt: Autonomie, demokratischer Konföderalismus, Rechte für Mann und Frau usw. Statt der Ideologie eines Sozialismus, der von einer Arbeiter-Bauern-Einheitspartei geführt wird, die die Schwerindustrie entwickelt, statt „klassenbezogener“ und „marxistischer“ Bezüge werden Selbstverwaltung, Genossenschaft, Kommune, Ökologie, Antiproduktivismus und, als Bonus, Gender hervorgehoben.
Das Ziel einer starken internen Autonomie mit basisdemokratischem Leben ist nicht absolut utopisch: Verschiedene Regionen im Pazifik leben so, wobei die Regierungen der Bevölkerung, die niemanden interessiert, einen großen Spielraum für die Selbstverwaltung lassen (außer wenn Bergbauinteressen auf dem Spiel stehen: dann schickt man die Armee). In Afrika hat Somaliland die Attribute eines Staates (Polizei, Währung, Ökonomie), außer dass es von niemandem anerkannt wird. In Chiapas (mit dem viele Rojava vergleichen) überleben die Menschen in einer regionalen Halbautonomie, die ihre Kultur und ihre Werte schützt, ohne dass dies jemanden stört. Der Aufstand der Zapatisten, der erste in der Ära der Globalisierungsgegner, zielte übrigens nicht auf Unabhängigkeit oder eine Umgestaltung der Gesellschaft ab, sondern auf die Bewahrung einer traditionellen Lebensweise.
Die Kurden hingegen leben inmitten einer begehrten Ölregion, die von endlosen Konflikten zerrissen und von Diktaturen beherrscht wird. Das lässt Rojava wenig Spielraum … aber vielleicht doch einen kleinen Raum: Obwohl seine Ökonomie nur schwach ausgeprägt ist, ist sie dank eines kleinen Ölsegens nicht inexistent. Das schwarze Gold hat bereits Marionettenstaaten wie Kuwait geschaffen und ermöglicht das Überleben des irakischen kurdischen Ministaates. Die Zukunft Rojavas hängt also weniger von der Mobilisierung seiner Bewohner als vom Spiel der herrschenden Mächte ab.
Wenn die PKK das Projekt der Nation-Staat tatsächlich aufgibt, muss man sich fragen, was eine Konföderation von drei oder vier autonomen Gebieten in mindestens drei Ländern über die Grenzen hinweg wäre, denn die Koexistenz mehrerer Autonomien hebt die zentrale politische Struktur, die sie vereint, nicht auf. In Europa verringern grenzüberschreitende Regionen (z. B. um Oder-Neiße) nicht die staatliche Macht.
Ein anderes Alltagsleben
Wie manchmal in solchen Fällen führte die Solidarität gegen einen Feind zu einer vorübergehenden Verwischung der sozialen Unterschiede: Verwaltung der Dörfer durch Kollektive, Verbindungen zwischen Kombattanten (Männern und Frauen) und der Bevölkerung, Verbreitung von medizinischem Wissen (Beginn einer Überwindung der spezialisierten Macht), Teilen und kostenlose Bereitstellung bestimmter Lebensmittel während der schlimmsten Momente (Kämpfe), innovative Behandlung von psychischen Störungen, kollektives Leben von Studenten und Studentinnen, Justiz durch ein gemischtes Komitee (von jedem Dorf gewählt), das Konflikte schlichtet, über Strafen entscheidet, sich um Resozialisierung und Rehabilitation bemüht, Integration der ethnischen Minderheiten der Region, Auszug der Frauen aus dem Haus mit Selbstorganisation untereinander.5
Handelt es sich um eine „Demokratie ohne Staat“? Es ist nicht unsere Absicht, eine Negativliste gegen die Positivliste der Enthusiasten zu stellen: Wir müssen sehen, woher diese Selbstverwaltung kommt und wie sie sich entwickeln kann. Wir haben noch nie gesehen, dass sich der Staat in der lokalen Demokratie auflöst.
Eine unveränderte soziale Struktur
Niemand behauptet, dass die Gruppe „die Kurden“ das Privileg hätte, das einzige Volk auf der Welt zu sein, das seit jeher in Harmonie zusammenlebt. Die Kurden sind, wie alle anderen Völker, in Gruppen mit gegensätzlichen Interessen, in Klassen, und wenn „Klasse“ zu sehr nach Marxismus klingt, in Herrschende und Beherrschte unterteilt. Nun liest man manchmal, dass in Rojava eine „Revolution“ im Gange oder in Vorbereitung sei. Wenn man bedenkt, dass die herrschenden Klassen niemals bereitwillig die Macht abgeben, wo und wie wurden sie dann in die Schranken gewiesen? Welcher intensive Klassenkampf hat in Kurdistan stattgefunden, um diesen Prozess in Gang zu setzen?
Davon wird uns nichts erzählt. Während die Slogans und Schlagzeilen von einer Revolution sprechen, behaupten die Artikel, dass die Menschen in Rojava den IS, das Patriarchat, den Staat und den Kapitalismus bekämpfen … aber zu diesem letzten Punkt erklärt niemand, inwiefern oder wie die PYD-PKK antikapitalistisch sein soll … und niemand scheint diese „Abwesenheit“ zu bemerken.
Die sogenannte Revolution vom Juli 2012 entsprach in Wirklichkeit dem Abzug der Assad-Truppen aus Kurdistan. Nachdem die vorherige Verwaltungs- oder Sicherheitsmacht verschwunden war, trat eine andere an ihre Stelle, und eine sogenannte revolutionäre Selbstverwaltung übernahm die Dinge in die Hand. Aber um welche „Selbstverwaltung“ handelt es sich? Um welche Revolution?
Während gerne von der Machtübernahme an der Basis und von Veränderungen in der häuslichen Sphäre gesprochen wird, ist nie die Rede von Veränderungen der Tausch- und Ausbeutungsverhältnisse. Bestenfalls werden uns Genossenschaften beschrieben, ohne den geringsten Hinweis auf den Beginn einer Kollektivierung. Der neue kurdische Staat hat Brunnen und Raffineriezentren wieder in Betrieb genommen und Strom erzeugt: Es wird nichts über die Menschen gesagt, die dort arbeiten. Handel, Handwerk und Märkte funktionieren, und Geld spielt weiterhin eine Rolle. Zaher Baher, ein Besucher und Bewunderer der kurdischen „Revolution“, sagte: „ Bevor wir die Region verließen, sprachen wir mit Händlern, Geschäftsleuten und Leuten auf dem Markt. Alle hatten eine ziemlich positive Meinung über die DSA [Selbstverwaltung] und die Tev-Dem [Koalition von Organisationen, in der die PYD das Gravitationszentrum ist]. Sie waren mit dem Frieden, der Sicherheit und der Freiheit zufrieden und konnten ihre Aktivitäten ohne die Einmischung einer Partei oder Gruppe verwalten.“6 Endlich eine Revolution, die der Bourgeoisie keine Angst einflößt.
Soldatinnen
Es würde genügen, die Namen zu ändern. Viele der Lobeshymnen, die heute an Rojava gerichtet werden, auch in der Geschlechterfrage, galten um 1930 den zionistischen Pioniergruppen in Palästina. In den ersten Kibbuz waren es neben der oft fortschrittlichen und sozialistischen Ideologie die materiellen Bedingungen (prekäre Verhältnisse und die Notwendigkeit der Verteidigung), die dazu zwangen, nicht auf die Hälfte der Arbeitskraft zu verzichten: Auch die Frauen sollten sich an der Landwirtschaft und der Verteidigung beteiligen, was bedeutete, dass sie von „weiblichen“ Aufgaben befreit werden mussten, insbesondere durch die gemeinsame Aufzucht der Kinder.
Davon gibt es in Rojava keine Spur. Die Bewaffnung von Frauen ist nicht alles (Tsahal macht es vor). Z. Baher bezeugt: „Ich habe eine merkwürdige Beobachtung gemacht: Ich habe nicht eine einzige Frau gesehen, die in einem Geschäft, einer Tankstelle, einem Markt, einem Café oder einem Restaurant arbeitet.“ Die „selbstverwalteten“ Flüchtlingslager in der Türkei sind voll von Frauen, die sich um die Kinder kümmern, während die Männer auf Arbeitssuche gehen.
Der subversive Charakter einer Bewegung oder Organisation lässt sich nicht an der Anzahl der Frauen in Waffen messen. Genauso wenig wie ihr feministischer Charakter. Seit den 1960er Jahren gab und gibt es in den meisten Guerillaorganisationen auf allen Kontinenten sehr viele weibliche Kämpferinnen, z. B. in Kolumbien. Dies gilt noch mehr für maoistisch inspirierte Guerillas (Nepal, Peru, Philippinen usw.), die die Strategie des „Volkskriegs“ anwenden: Die Gleichstellung von Männern und Frauen soll dazu beitragen, die traditionellen, feudalen oder tribalen (immer patriarchalischen) Strukturen zu zerstören. Die Quelle dessen, was Experten als „martialischen Feminismus“ bezeichnen, liegt in den maoistischen Ursprüngen der PKK-PYD.
Aber warum gelten Frauen in Waffen als Symbol der Emanzipation? Warum werden sie so leicht als ein Bild der Freiheit angesehen, dass man sogar vergisst, wofür sie eigentlich kämpfen?
Wenn eine Frau mit einem Raketenwerfer auf dem Titelblatt des Parisien-Magazins oder einer anderen militanten Zeitung erscheinen kann, dann ist sie ein klassisches Bild. Da das Monopol des Waffengebrauchs ein traditionelles männliches Privileg ist, muss seine Umkehrung die Außergewöhnlichkeit und Radikalität eines Kampfes oder eines Krieges beweisen. Daher die Fotos von schönen spanischen Milizionärinnen. Die Revolution ist am Ende der Kalaschnikow, die von einer Frau gehalten wird. Diese Vision wird manchmal durch die eher „feministische“ Vision der rachsüchtigen bewaffneten Frau ergänzt, die die dreckigen Kerle, Vergewaltiger usw. abknallen wird.
Der IS und das Regime in Damaskus haben einige rein weibliche Militäreinheiten aufgestellt. Sie kritisieren die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern nicht, scheinen sie aber im Gegensatz zur YPJ-YPG nicht an vorderster Front einzusetzen, sondern beschränken sie auf Unterstützungs- oder Polizeimissionen.
Zu den Waffen
Bei Pariser Demonstrationen zur Unterstützung von Rojava forderte das Transparent des anarchistischen Einheitszuges „Waffen für den kurdischen Widerstand“. Da der durchschnittliche Proletarier keine Sturmgewehre oder Granaten hat, die er nach Kurdistan schmuggeln kann, wen soll er dann um Waffen bitten? Sollte man sich auf internationale Waffenhändler verlassen oder auf die Waffenlieferungen der NATO? Letztere sind vorsichtig angelaufen, aber die libertären Transparente sind daran nicht schuld. Außer dem IS denkt niemand an neue Internationale Brigaden7. Um welche bewaffnete Unterstützung handelt es sich also? Geht es darum, mehr westliche Luftangriffe mit den bekannten „Kollateralschäden“ zu fordern? Offensichtlich nicht. Es handelt sich also um eine leere Floskel und das ist vielleicht das Schlimmste an der ganzen Sache: Diese angebliche Revolution dient als Vorwand für Mobilisierungen und Slogans, von denen niemand ernsthaft erwartet, dass sie in die Tat umgesetzt werden. Wir befinden uns mitten in der Politik als Repräsentation.
Es ist weniger erstaunlich, dass Leute, die immer bereit sind, den militärisch-industriellen Komplex anzuprangern, sich jetzt darauf berufen, wenn man sich daran erinnert, dass bereits 1999 im Kosovo einige Libertäre die NATO-Bombardements unterstützt hatten… um einen „Genozid“ zu verhindern.
Libertär
Mehr als die Organisationen, die immer die nationalen Befreiungsbewegungen unterstützt haben, schmerzt es, dass diese Verherrlichung ein breiteres Milieu erfasst, anarchistische Gefährten, Hausbesetzer, Feministinnen oder Autonome, manchmal Freunde, die im Allgemeinen klarer denken.
Wenn die Politik des kleineren Übels in diese Kreise vordringt, dann ist ihr Radikalismus rückständig (das schließt persönlichen Mut und Energie nicht aus).
Es ist umso leichter, sich für Kurdistan zu begeistern (wie vor 20 Jahren für Chiapas), als es heute Billancourt8 ist, das die Militanten verzweifeln lässt: „Dort“ gibt es wenigstens nicht diese resignierten Proleten, die saufen, FN wählen und nur davon träumen, im Lotto zu gewinnen oder einen Job zu finden. „Dort“ gibt es Bauern (obwohl die Mehrheit der Kurden in Städten lebt), kämpfende Bergbewohner, die voller Träume und Hoffnungen sind….. Dieser ländlich-natürliche (also ökologische) Aspekt vermischt sich mit dem Wunsch nach Veränderung im Hier und Jetzt. Vorbei ist die Zeit der großen Ideologien und der Versprechungen der Großen Nacht9: Man baut etwas auf, man „schafft Verbindungen“, trotz der geringen Mittel, man legt einen Gemüsegarten an, man realisiert einen kleinen öffentlichen Garten (wie den, von dem Z. Baher spricht). Das ist ein Echo auf die ZAD10: Wir krempeln die Ärmel hoch und machen etwas Konkretes, hier, in kleinem Maßstab. Das ist es, was sie „dort“ tun, mit dem AK 47 auf der Schulter.
Einige Anarcho-Texte erwähnen Rojava nur unter dem Gesichtspunkt der lokalen Errungenschaften, der Vollversammlungen, fast ohne die PYD, die PKK usw. zu erwähnen. Als ob es sich nur um spontane Aktionen handeln würde. Es ist ein bisschen so, als würde man bei der Analyse eines Generalstreiks nur von den AGs der Streikenden und den Streikposten sprechen, ohne sich mit den lokalen Gewerkschaften/Syndikaten, den Manövern ihrer Führungsstäbe, den Verhandlungen mit dem Staat und den Arbeitgebern usw. zu beschäftigen.
Die Revolution wird immer mehr als eine Frage des Verhaltens gesehen: Selbstorganisation, Interesse an Gender, Ökologie, das Herstellen von Verbindungen, Diskussionen, Affekte. Wenn man das Desinteresse und die Sorglosigkeit in Bezug auf den Staat und die politische Macht hinzufügt, ist es logisch, eine Revolution zu sehen, und warum nicht „eine Revolution der Frauen“ in Rojava. Da immer weniger von Klassen und Klassenkampf die Rede ist, spielt es keine Rolle, dass dies auch in den Reden der PKK-PYD nicht vorkommt?
Welche Kritik am Staat?
Wenn das, was das radikale Denken bei der nationalen Befreiung stört, das Ziel ist, einen Staat zu schaffen. Es würde genügen, darauf zu verzichten und zu bedenken, dass die Nation – vorausgesetzt, sie ist staatenlos – im Grunde das Volk ist, und das Volk, wie könnte man dagegen sein? Es ist ein bisschen wie wir alle, oder fast alle: 99%. Oder etwa nicht?
Das Merkmal (und der Verdienst) des Anarchismus ist seine prinzipielle Feindseligkeit gegenüber dem Staat. Seine große Schwäche besteht darin, dass er ihn vor allem als Zwangsinstrument betrachtet – was er zweifellos ist -, ohne sich zu fragen, warum und wie er diese Rolle spielt. Daher reicht es aus, dass die sichtbarsten Formen des Staates verschwinden, damit Anarchistinnen und Anarchisten (nicht alle) zu dem Schluss kommen, dass der Staat bereits verschwunden ist oder bald verschwinden wird.
Aus diesem Grund ist der Libertäre hilflos gegenüber dem, was seinem Programm zu sehr ähnelt: Da er immer gegen den Staat, aber für die Demokratie war, sind demokratischer Konföderalismus und soziale Selbstbestimmung natürlich seine Favoriten. Das anarchistische Ideal ist es, den Staat durch Tausende von föderierten Gemeinden (und Arbeitskollektiven) zu ersetzen.
Auf dieser Grundlage ist es für den Internationalisten möglich, eine nationale Bewegung zu unterstützen, vorausgesetzt, diese praktiziert die allgemeine soziale und politische Selbstverwaltung, die heute als „Aneignung des Gemeinsamen“ bezeichnet wird. Wenn die PKK behauptet, sie wolle nicht mehr die Macht, sondern ein System, in dem alle die Macht teilen, dann ist es für den Anarchistinnen und Anarchisten leicht, sich damit zu identifizieren.
Perspektiven
Der Versuch einer demokratischen Revolution in Rojava und die damit einhergehenden sozialen Veränderungen waren nur aufgrund außergewöhnlicher Bedingungen möglich: dem Zerfall der Staaten Irak und Syrien und der dschihadistischen Invasion der Region, einer Bedrohung, die eine Radikalisierung begünstigt hat.
Heute scheint es wahrscheinlich, dass Rojava dank der westlichen militärischen Unterstützung (ähnlich wie das irakische Kurdistan) als autonome Einheit am Rande des anhaltenden, aber ferngehaltenen syrischen Chaos bestehen kann. In diesem Fall wird dieser kleine Staat, so demokratisch er auch sein mag, bei seiner Normalisierung die sozialen Errungenschaften und Fortschritte nicht intakt lassen. Bestenfalls wird es ein wenig lokale Selbstverwaltung, ein fortschrittliches Bildungswesen, eine freie Presse (unter der Bedingung, dass Blasphemie vermieden wird), einen toleranten Islam und natürlich die Gleichberechtigung geben. Nicht mehr als das. Aber immerhin genug, damit diejenigen, die an eine soziale Revolution glauben wollen, auch weiterhin daran glauben, wobei sie sich natürlich wünschen, dass die Demokratie weiter demokratisiert wird.
Was die Hoffnung auf einen Konflikt zwischen der Selbstorganisation an der Basis und den übergeordneten Strukturen angeht, so bedeutet dies, sich vorzustellen, dass es in Rojava eine Situation der „Doppelmacht“ gibt. Dabei wird die Macht der PYD-PKK vergessen, die diese Selbstverwaltung selbst vorangetrieben hat und die nach wie vor die tatsächliche politische und militärische Macht innehat.
Um auf den Vergleich mit Spanien zurückzukommen: 1936 waren es die „Anfänge“ einer Revolution, die vom Krieg verschlungen wurden. In Rojava herrscht zuerst Krieg und leider gibt es keine Anzeichen dafür, dass eine „soziale“ Revolution daraus hervorgehen wird.
G. D. & T. L.
1Il Lato Cattivo, Die „kurdische Frage, ISIS, USA und andere Überlegungen“. (A.d.Ü., auch auf unseren Blog veröffentlicht.)
2Becky, „ A revolution in daily life “, eine Übersetzung hier (auf Französisch).
3Der Gesellschaftsvertrag von Rojava.
5Eine relative Verringerung der sozialen Unterschiede, da die reichsten Kurden es vermeiden, sich an der Selbstverwaltung der Lager zu beteiligen, indem sie in andere Länder mit angenehmeren Bedingungen flüchten.
6Zaher Baher, „Vers l’autogestion au Rojava?“, Où est la révolution au Rojava?, Nr. 1, Juli/November 2014 S. 21
7Anmerkung des Übersetzers: Eine kleine pro-albanische stalinistische Gruppe in der Türkei, die „Marxist-Leninist Communist Party“ (Marksist-Leninist Komünist Partisi auf Türkisch), hat sich jedoch verpflichtet, internationale Brigaden für Rojava zu organisieren. […]
8A.d.Ü.,: […] dies ist ein Hinweis auf das alte Zentrum des industriellen Arbeiterklassenradikalismus in Paris. […]
9A.d.Ü.,: „Grand Soir“ oder „Le Grand Soir“ ist ein Begriff, der ein großes gesellschaftliches Ereignis bezeichnet und/oder ankündigt, das hauptsächlich auf die Abschaffung des kapitalistischen Systems abzielt.
10A.d.Ü.,: ZAD oder „Zone À Défendre“ (zu verteidigendes Gebiet). Ein Name, den die Demonstranten dem Gebiet gegeben haben, das sie vor dem geplanten „Aéroport du Grand Ouest Project“, d. h. dem geplanten Flughafen nördlich der Stadt Nantes, schützen wollen. […]