Erschienen auf a las barricadas, die Übersetzung ist von uns. Eine Antwort auf den Artikel von Miguel Amorós „Was ist Anarchismus?“. Eine ausführliche Kritik am Denken von Amorós und seinen Komparsen Jaime Semprún findet ihr im Artikel „Vom Situationismus zum Abgrund“.
Was ist das Proletariat?
Herr Amorós
Der gelehrte Artikel von Herrn Amorós, der am 2. September 2024 auf der Website alasbarricadas und am 28. Oktober auf Portal Libertario OACA veröffentlicht wurde, qualifiziert ihn für den Posten des Ausgebers von Ausweisen für Anarchisten.
Möge er sich daran erfreuen und genießen.
Das Urteil, dass Anarchismus das ist, was Anarchisten denken und tun, schreibt ihn außerdem in die Ehrenliste der Theoretiker und Politikwissenschaftler des dümmsten Konfusionismus ein, denn diese Tautologie erklärt nichts.
Man sollte ihm ein Diplom für Geschwätz und eine Medaille für Unwissenheit verleihen. Andererseits, und das ist das Schlimmste, stellt ihn das sakrosankte und eurozentrische Dogma vom Verschwinden des Proletariats auf die andere Seite der Barrikade.
Das Proletariat
Das Proletariat ist weder eine Sache noch eine Identität, noch eine Kultur, noch ein statistisches Kollektiv, das eigene Klasseninteressen zu verteidigen hat. Das Proletariat konstituiert sich als Klasse durch einen Entwicklungs- und Bildungsprozess, der nur im Klassenkampf stattfindet.
Das Proletariat, das im fortgeschrittenen Kapitalismus auf den Status eines Produzenten und Konsumenten reduziert wird, wird zu einer passiven, gesellschaftlichen Kategorie ohne eigenes Bewusstsein; es ist eine Klasse für das Kapital, die der kapitalistischen Ideologie unterworfen ist. Es ist nichts, es strebt nichts an und kann nichts.
Erst in der Intensivierung und Verschärfung des Klassenkampfes entsteht es als Klasse und wird sich der Ausbeutung und Unterdrückung bewusst, das es im Kapitalismus erleidet, und im Prozess dieses Klassenkampfes manifestiert es sich als autonome Klasse und konstituiert sich als antagonistisch und dem Kapitalismus entgegengesetztes Proletariat, als Gemeinschaft des Kampfes. Totale Konfrontation auf Leben und Tod, ohne reformistische Möglichkeiten oder Bestrebungen oder die Verwaltung eines Systems, das heute bereits veraltet, kriminell und abgelaufen ist.
Dieser Begriff der Klasse als „etwas, das geschieht“, das aus dem Boden der Ausgebeuteten und Unterdrückten sprießt und gedeiht, ist von zentraler Bedeutung. Die Klasse bezieht sich nicht auf etwas, das Menschen sind, sondern auf etwas, das sie tun. Und wenn wir erst einmal verstanden haben, dass die Klasse das Ergebnis von der Aktion ist, können wir begreifen, dass jeder Versuch, eine existenzialistische oder kulturelle und ideologische Vorstellung von Klasse zu konstruieren, falsch und zum Scheitern verurteilt ist.
Die Klasse ist kein statischer, fester oder dauerhafter Begriff, sondern dynamisch, fließend und dialektisch. Die Klasse manifestiert sich und erkennt sich nur in den kurzen Perioden, in denen der Klassenkampf seinen Höhepunkt erreicht.
Das Proletariat definiert sich als die soziale Klasse, die über keinerlei Eigentum verfügt und die zum Überleben ihre Arbeitskraft gegen Lohn verkaufen muss. Zum Proletariat gehören, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht, die Lohnempfänger, die Arbeitslosen, die in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen stehenden Personen, die Migranten, die Sozialhilfeempfänger, die Rentner und die von ihnen abhängigen Familienangehörigen. In Frankreich gehören zum Proletariat die fast drei Millionen Arbeitslosen und die 26 Millionen Arbeiter oder Selbstständigen, die befürchten, in die Arbeitslosigkeit abzugleiten, sowie eine unbestimmte Zahl von Marginalisierten, die nicht in den Statistiken erscheinen, weil sie vom System ausgeschlossen wurden.
Die parlamentarische Demokratie Europas hat sich seit Beginn der Depression (2007) rasch in eine „nationale nutzlose“, autoritäre und mafiöse Parteidiktatur verwandelt, die von jener staatenlosen kapitalistischen Führungsschicht beherrscht wird, die im Dienste der internationalen Finanzwelt und der multinationalen Konzerne steht: der herrschenden Klasse. Es kommt zu einer tiefgreifenden und weitreichenden Proletarisierung der mittleren Klassen, zu einer Massifizierung des Proletariats und zum gewaltsamen und intermittierenden Ausbruch unwiederbringlicher Kollektive, Vorstädte und marginalisierter Gemeinschaften, die gegen das System gerichtet sind (nicht so sehr aus Überzeugung, sondern aufgrund von Ausgrenzung). Die Nationalstaaten werden zu überholten (aber noch notwendigen, da sie die öffentliche Ordnung gewährleisten und die Ausbeutung mit Waffengewalt verteidigen) Instrumenten dieser herrschenden Kapitalistenklasse, die weltweite Interessen verfolgt und deren Einflussbereich sich über die ganze Welt erstreckt. Ihre Regierungsform ist der demokratische Totalitarismus: eine Demokratie, die auf das Mindestmaß reduziert ist, alle paar Jahre zu wählen, um zwischen schlechten oder noch schlechteren Vertretern des Kapitals zu wählen, ohne jegliche Fähigkeit zur Intervention oder Entscheidung im sozialen oder politischen Leben.
Die Vorstädte werden zu Ghettos der vom System Ausgeschlossenen, die der Staat voneinander zu isolieren versucht, indem er ihre Herrschaft den Banden, der Drogenmafia, den Schulen, den Sozialarbeitern, den Nichtregierungsorganisationen, den Gefängnissen, der Armee und der Polizei überlässt, damit sie gemeinsam die Kontrolle und/oder das ökonomische, politische, soziale, moralische, willentliche und, falls nötig, auch physische Opfer „aller Überflüssigen“ mit dem präzisen und konkreten Ziel, ihr revolutionäres Potenzial zu neutralisieren, indem versucht wird, diese Vorstadtviertel in Nester von lebenden Toten zu verwandeln, denen die staatlichen Institutionen einen totalen Vernichtungskrieg erklärt haben.
Der Klassenkampf
Der Klassenkampf ist nicht nur die einzige Möglichkeit des Widerstands und des Überlebens angesichts der grausamen und sadistischen Angriffe des Kapitals, sondern auch der unverzichtbare Weg zur Suche nach einer endgültigen revolutionären Lösung für die Endphase des kapitalistischen Systems, das heute veraltet und kriminell ist und sich zudem für ungestraft und ewig hält. Klassenkampf oder Ausbeutung ohne Grenzen; Entscheidungsgewalt über das eigene Leben oder Lohnsklaverei und Marginalisierung.
Es sind nicht nur die Anarchisten, Herr Amorós, es ist der Klassenkampf des Proletariats, Herr Gelehrter. Es ist … der alte Maulwurf, der auftaucht und verschwindet, unaufhörlich seinen Tunnel unter einer verfallenen, kriminellen und veralteten Welt gräbt. Es geht nicht mehr darum, die Welt aus dieser oder jener Doktrin oder Ideologie heraus zu verstehen, sondern sie zu verändern.
Nur die Anarchisten, die sich an diesem Kampf beteiligen, sind von Bedeutung. Die Philosophen, die, ob anarchistisch oder nicht, sich selbst vergöttern oder die Existenz des Proletariats leugnen, stehen auf der anderen Seite der Barrikade.
Agustín Guillamón
Barcelona, den 10. Februar 2025.