Die wahrscheinlichen Ursachen für den Aufstieg der extremen Rechten in der kapitalistischen Welt

Von uns übersetzt.


Die wahrscheinlichen Ursachen für den Aufstieg der extremen Rechten in der kapitalistischen Welt

Miguel Amorós Peidro

Das auffälligste politische Phänomen unserer jüngsten Epoche, das einige zu Recht als das Zeitalter autoritärer Anführer bezeichnen, ist der Aufstieg der extremen Rechten in kapitalistischen, parteibasierten Ländern. Manche bezeichnen sie lieber als die neue radikale Rechte, ultranationalistisch oder populistisch, und die aggressivste, neofaschistische Rechte. Aus irgendeinem Grund wendet sich eine enttäuschte und wütende Menge, zum Teil aus der Arbeiterklasse, die sich von den Institutionen, denen sie vertraut hatten, verletzt, diskriminiert oder unzureichend bedient fühlt, dieser politischen Option zu. Weder Franco noch Hitler oder Mussolini sind auferstanden, auch wenn der Geschichtsrevisionismus ihre Regime nostalgisch betrachtet und ein gewisses Verständnis fördert. Es handelt sich um ein sehr modernes Phänomen. Für ein besseres Verständnis müssen wir den Kontext untersuchen, in dem es entstanden ist, um die Faktoren, die zu seiner Entstehung und Entwicklung beigetragen haben, einzeln aufzudecken. Zunächst einmal das Verschwinden der Arbeiterbewegung.

Zumindest im spanischen Staat kann man seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts weder von einer Arbeiterbewegung noch von proletarischer Autonomie oder Klassenbewusstsein sprechen.

Die im letzten Jahrzehnt erzielten Lohnerhöhungen, die Angst vor Arbeitslosigkeit und das Eingreifen der unter dem Schirm der Regierung organisierten Gewerkschaften/Syndikate, die die Verhandlungsmacht an sich rissen und die Mechanismen der Vollversammlungen abbauten, lösten eine Welle des Konformismus aus, die so weit verbreitet war, dass sie eine Deklassierung zur Folge hatte, die nicht mehr rückgängig zu machen war. Die Vorherrschaft des tertiären Sektors, die Automatisierung der Produktionsprozesse, die industrielle Umstrukturierung, die Abwanderung der arbeitenden Massen in die Randgebiete der Großstädte und das mit den ersten Phasen der Globalisierung verbundene ökonomische Wachstum trugen alle zu einer konsumorientierten Atmosphäre bei, die eine neue Mittelschicht von Angestellten hervorbrachte. Es war das Ende der autonomen Arbeiterbewegung. Der neue Lebensstil schuf eine individualistische und wettbewerbsorientierte Mentalität, die weit von den Werten entfernt war, die einst die Arbeiterklasse geprägt hatten. Das Privatleben verdrängte das gesellschaftliche Leben vollständig, wodurch sich die Gewerkschaftsbewegung/Syndikaismus und die Politik professionalisieren und korrumpieren konnten und sich in die Welt der Waren als gut bezahlte Arbeit und als Chance für den sozialen Aufstieg integrierten, natürlich immer im Dienste der herrschenden Interessen.

Das Eintauchen in das Privatleben, die für die Vororte der Metropolen typische soziale Isolation, die Gleichgültigkeit gegenüber der Politik – was sich in einer passiven Akzeptanz des parlamentarischen Systems niederschlug –, die Verschuldung und die Sorge um die Sicherheit waren die Merkmale, die die neue Mittelschicht am besten definierten, oder besser gesagt, die „vorsichtige Mehrheit“, wie sie später von den Beratern des letzten sozialliberalen Präsidenten genannt wurde. Das Einkommensniveau war zweitrangig, da es die mesokratische Ideologie kaum veränderte: Selbst heute, wo die reale Mittelschicht rapide verarmt, betrachten sich 60 % der Bevölkerung als Angehörige dieser Klasse und nur 10 % als Arbeiterklasse. Der Faktor Mittelschicht war ein entscheidender Faktor für die soziale Lähmung, die selbst in einer Situation der offensichtlichen Ungleichheit und der Verschlechterung des sogenannten „Wohlfahrtsstaates“ oder „Rechtsstaates“ durch seine Verfechter anhielt, oder genauer gesagt, in der Verschlechterung der öffentlichen Dienstleistungen, die die paternalistische Herrschaft des Staates rechtfertigten. Angst lähmt, und das ist die große Leidenschaft einer Klasse, die Solidarität ignorierte und nicht wusste, was sie mit Freiheit anfangen sollte. Panik nährt ihre Phantome, und die Forderung nach Schutz vor einem realen oder imaginären Feind wird zur obersten Priorität ihrer Forderungen.

Die Hegemonie der Mittelklasse hatte nicht nur praktische Folgen, wie die Aufgabe des Antikapitalismus in den populären Medien, sondern auch ideologische, mit dem Joker-Konzept der „Staatsbürgerschaft“, dem neuen imaginären politischen Subjekt des linken Diskurses. Extravagante Kuriositäten, die an amerikanischen Universitäten weit verbreitet sind, wie queere Glaubensbekenntnisse, Tiefenökologie, Intersektionalität und kritische Rassentheorie, verbreiteten sich in postmodernen sozialen Bewegungen und in der Politik mit unglaublicher Geschwindigkeit in Europa, bis ihr Vokabular in die Alltagssprache trendiger Aktivisten und Politiker eindrang die auf dem Laufenden sind. Die Zerstörung der Begriffe Klasse, Vernunft, Revolution, Emanzipation, Entfremdung, gegenseitige Hilfe, Proletariat, Erinnerung, Kommunismus usw. ermöglichte es, dass sich Unsinn, Widersprüche und Wahnvorstellungen in spekulativen Gedanken und militanter Sprache festsetzten und alle Arten von irrationalem und sektiererischem Verhalten förderten. Der ausbeuterische Feind war nicht mehr die unterdrückende Bourgeoisie und der Staat; unter den neuen progressiven Parametern war es der weiße, heterosexuelle und alles verschlingende Mann, ein potenzieller Rassist und Vergewaltiger. Der Klassenkampf wurde durch den Geschlechterkampf ersetzt. Das Identitätsgefühl verdrängte das proletarische Bewusstsein und die Idee der „Diversität“ die Idee der Universalität. Streikposten und Streiks der Arbeiter wurden durch Escrache1 und die „Cancel Culture“ ersetzt. Die Verteidigung des Territoriums wurde als Kampf gegen das Patriarchat angesehen … und so weiter und so fort. In zwei Jahrzehnten kleinbourgeoiser Postmoderne fand eine vollständige kulturelle Gegenrevolution statt. Die Revolutionen, die als historische Säulen für Proteste gedient hatten, wurden nicht mehr als Referenz herangezogen. Kurz gesagt, das freie, rationale und revolutionäre Denken wurde zugunsten einer Woke-Doktrin liquidiert. Die finanzielle Herrschaft ist so gefestigt, dass sie heute keine Gründe mehr braucht, es reicht aus, die Unvernunft auf ihrer Seite zu haben.

Die Finanzkrise, die 2008 ausbrach, erschütterte die kapitalistische Gesellschaft in ihren Grundfesten. Die staatliche Begünstigung der Banken und die Unzulänglichkeit sozialer Maßnahmen führten zu einer erheblichen Unzufriedenheit mit den Mehrheitsparteien, was zweifellos der Hauptgrund für den Aufstieg der Rechten war. Der Niedergang und die Diskreditierung von Regierungen, die aus dem Spiel der Parteipolitik hervorgingen und als „repräsentative Demokratie“ oder einfach als „Demokratie“ bezeichnet wurden, waren offensichtlich. Die Mittelklasse – insbesondere diejenigen mit niedrigem Einkommen und geringer Bildung – reagierte harsch auf die Finanzelite, die Regierung und die Gerichte und unterstützte improvisierte kritische rechte und linke Parteien, die von den Medien mit großem Tamtam beworben wurden. Sie wurden bald von dem System assimiliert, das sie regenerieren wollten. Das Spektakel der Erneuerung konnte die politische Krise vorerst abwenden; die ökonomische Krise wurde mit der Kürzung der öffentlichen Ausgaben und Versuchen einer „grünen“ Umstrukturierung von Produktion und Konsum nur schlecht eingedämmt. Die Farce war nur von kurzer Dauer, da die Migrationskrise von 2015 und die Pandemie ihr Ende beschleunigten. Die allgemeine Unzufriedenheit, die durch die Schwierigkeit, Arbeit zu finden, durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse, die hohen Wohnkosten, die mangelnde Gesundheitsversorgung, die winzigen Renten, die hohen Benzinpreise usw. verursacht wurde, trug nur dazu bei, die Distanz zur Politik zu verstärken und die Überzeugung der betroffenen Bevölkerung zu festigen, dass der Parlamentarismus gescheitert war und nicht mehr funktionierte. Dank einer anhaltenden Krise, die scheinbar keinen Ausweg bot, wurde das Geheimnis der politischen Elite öffentlich: Sie war nichts weiter als eine Kaste von Menschen mit eigenen Interessen, die nichts mit denen ihrer Wähler zu tun hatten, aber eng mit dem Überleben des Kapitalismus verbunden waren. Die Konsequenzen der Unruhen und Frustrationen waren sofort in hohen Stimmenthaltungen und dem Aufkommen populistischer Parteien erkennbar, die das Gefühl der Unsicherheit der verängstigten Bevölkerung ausnutzten und Slogans aus den Klischees der woken postmodernen Linken, die auf den Kopf gestellt wurden, auf den Markt brachten. Wenn politische Korrektheit, Klimaalarmismus und eine inklusive Sprache bereits Teil des Erbes der herrschenden Klasse waren, werden Beleidigungen, Leugnung und Sexismus die Sprache der Anti-Establishment-Bewegung der Gegenwart sein. So versteht es die neue populistische Bewegung, die geschickt genug ist, sich auf ihre eigene Weise die sozialen Forderungen zu eigen zu machen, die die klassischen Parteien und Gewerkschaften/Syndikate, die zu sehr in den Machtstrukturen verankert sind, vernachlässigt haben.

Misogynie, Homophobie, Transphobie und Rassismus werden ohne viel Originalität einen Diskurs schmücken, der die traditionelle Familie, die katholische Religion, das biologische Geschlecht, Eigentum, das Spanischsein und patriotische Mythen verteidigt. Die universalistischen Ideale der Arbeiterklasse verschwinden und werden durch nationalistische Identitätsprojekte ersetzt, die offen fremdenfeindlich sind und kulturellen Pluralismus und einheimische Sprachen ablehnen. In diesen ist der Fremde der größte Feind, die größte Bedrohung für die Identität. Vor allem, wenn er ein Muslim ist. Die extreme Armut, die durch Globalisierung und Geopolitik in vielen Ländern verursacht wurde, hat Massen von Einwanderern in die kapitalistischen Metropolen getrieben, wo sie von den schlechtesten Jobs leben, die niemand will, und die Lücken füllen, die durch den Ruhestand einer alternden arbeitenden Bevölkerung entstehen. Die Rassifizierung des Proletariats ist ein weiterer Faktor, der den Aufstieg der extremen Rechten erklärt, da sie den lumpenbourgeoisen Massen nicht nur einen idealen Sündenbock, den Einwanderer ohne Papiere, einen angeblichen Kriminellen, zur Verfügung stellt, sondern auch die Aufmerksamkeit vom wahren Feind, der herrschenden Kapitalistenklasse und ihren politischen Helfern, ablenkt.

Die Anwesenheit anderer, effektiverer Kapitalismusmodelle, wie das russische und chinesische Modell, die von starken Männern geführt werden, die entweder von mächtigen Polizei- und Militärapparaten oder von ausufernden politisch-administrativen Bürokratien unterstützt werden, war eine Inspirationsquelle und ein Bezugspunkt für Dissidenten des konventionellen Konservatismus und anderer fortschrittsfeindlicher „alternativer Demokraten“. Deshalb sind sie dagegen, sich der US-Außenpolitik anzuschließen. Für das postideologische autoritäre Denken erstreckt sich die Nutzlosigkeit von Parlamenten auch auf Parteien, Gewerkschaften/Syndikate und Gesetze, die Rechte garantieren, während der Schiffbruch des Wirtschaftsliberalismus in seiner keynesianischen und thatcheristischen Form die politische Führung der Wirtschaft in die Hände eines providentiellen Anführers legt, der gute Beziehungen zu Russland, dem Iran und China unterhält. Die extreme Rechte ist jedoch weder radikal antieuropäisch, noch erklärt sie sich als Gegnerin des parlamentarischen Systems: Sie neigt dazu, die EU und die Parlamente von innen heraus und nach und nach zu verändern. In institutionellen Fragen ist sie recht gemäßigt, da sie vor allem eine Partei der Ordnung sein will. Um dies zu erreichen, muss sie Wahlen gewinnen. Und Geschäfte machen. Auch hier wird die Technologie die Werkzeuge bereitstellen, die für die Umsetzung der ultra-Strategie erforderlich sind: soziale Netzwerke. Dies wird der entscheidende Faktor sein.

Die Netzwerke haben die gleiche Rolle gespielt wie einst das Radio bei der Entstehung der NSDAP. In den letzten zehn Jahren haben sich Information und Politik dank Plattformalgorithmen grundlegend verändert. Der Einfluss der offiziellen Presse ist stark zurückgegangen. Das Verständnis von Zeit ist unklar geworden: Die Zukunft, der Platz der Utopien, zählt nicht mehr; die Vergangenheit als Aufbewahrungsort eines auserwählten Goldenen Zeitalters dient nur noch dazu, die gewählte Identität zu legitimieren. Die Gegenwart ist die hegemoniale Zeit; die Welt der Netzwerke ist rasend präsent geworden. In der Gesellschaft der ignoranten Unmittelbarkeit ist die Staatsbürgerschaft des Post-Linken zu einer digitalen Menge geworden, einer Masse, die sich selbst informiert, emotional nährt und sich im Cyberspace in Echtzeit koordiniert. Die Chance, die andererseits die Tür zu einer umfassenden sozialen Kontrolle öffnete, wurde von den aufstrebenden linken Bewegungen politisch genutzt, aber es waren die postfaschistischen Seiten, die am Ende die Oberhand gewannen. Durch die Verschmelzung mit Netzwerken und Anwendungen wird ein Monster entstehen, das nicht mehr aufzuhalten ist. In der Cyberwelt ziehen abweichende und irrationale Inhalte viel mehr Aufmerksamkeit auf sich, da sie emotionale und kontroverse Reaktionen hervorrufen und Empörung auslösen. Deshalb sind Desinformation, Gerüchte, Lügen, Verschwörungen und Falschmeldungen im Internet alltäglich geworden: Sie bieten unzufriedenen virtuellen Gemeinschaften neue Schlüssel zur Interpretation der Realität. Eine gefälschte Nachricht verbreitet sich sechsmal schneller als wahrheitsgemäße Informationen. Nun gibt es eine enttäuschte und verärgerte Bevölkerung, die Politiker hasst (insbesondere die ehemaligen systemkritischen Figuren, die von der Macht vereinnahmt wurden, die Linken, die selbstgefällig geworden sind) und zunehmend empfänglich für Argumente ist, die aus einer Realität stammen, die parallel zu der von regierungsfreundlichen Journalisten beschriebenen verläuft, wodurch sie leicht von Chaosexperten manipuliert werden kann. Information und Politik haben einen qualitativen Sprung in der Fälschung gemacht, während das historische Bewusstsein zurückgegangen ist. Vergesslich und den Algorithmen ausgeliefert, sind die Menschen von heute nicht mehr das, was sie einmal waren. Es gibt auch keine Wut in der Bevölkerung.

Ohne wirksame Barrieren und begünstigt durch die Krise – ökonomisch, ökologisch, politisch, kulturell – wird die rechtsextreme Welle weiterhin Unterstützung bei Kleinbauern, der verarmten Mittelklasse und weißen Arbeitern finden, die sich im Prozess der Ausgrenzung befinden und in Kleinstädten, am Rande von Großstädten und in deindustrialisierten Gebieten leben. Sie übernimmt die soziale Basis des alten Stalinismus, der nach dem Fall des Eisernen Vorhangs politisch liquidiert wurde. Paradoxerweise ist die extreme Rechte weniger beängstigend als das Establishment. Der neue europäische Kurs, der durch die bevorstehende Katastrophe erzwungen wird, weist ähnliche Merkmale auf wie die, die vom Extremismus gepredigt werden. Der unwahrscheinliche Ausweg erfordert Deregulierungsmaßnahmen in Umweltfragen, Sparpolitik, Importzölle, Änderungen der Verteidigungspläne (insbesondere im Hinblick auf die Ukraine), Alternativen zur Verarmung und restriktive Vorschriften für Migration und Freiheiten, was nur im Rahmen eines nationalistischen Rückzugs möglich ist. Wenn die radikale Rechte triumphieren würde, würde der kontrollierte Abbau der Europäischen Union, der Traum der aufgeklärten Bourgeoisie, die den Nationalsozialismus besiegt hat, am Horizont auftauchen. Die politische Grundlage, die sie stützte, das von Washington gesegnete Bündnis zwischen Sozialdemokraten und Konservativen, würde den Bach runtergehen. In Bezug auf die tatsächliche Macht würde dies bedeuten, dass einige der transnationalen Führungskräfte die Fortsetzung des europäistischen Projekts in Betracht ziehen, das allmählich belastend und politisch immer weniger tragfähig wird. Sein Ende würde einen neuen kapitalistischen Zyklus und ein neues Kapitel der bourgeoisen Herrschaft abschließen. Für diejenigen, die sich der Katastrophe widersetzen, eröffnet sich ein entmutigendes Panorama, das jedoch so instabil ist, dass alle Ergebnisse möglich sind. Auch die besten.


1Escrache ist der Name, der in spanischsprachigen Ländern verwendet wird um eine öffentliche Demonstration zu bezeichnen bei der eine Gruppe von Personen das Haus, den Arbeitsplatz oder öffentliche Orte von jemandem aufsucht, den sie entlarven wollen. Normalerweise stehen sie vor der angezielten Person und brüllen sie an, mehr auch nicht. Aktivismus als höchster Ausdruck entfremdete Praxis (des Spektakels).

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