Kritik der Situationistischen Internationale – Gilles Dauvé

Kritik der Situationistischen Internationale

Gilles Dauvé1

Ideologie und Lohnsystem

Kapitalismus verwandelt das Leben in das zum Lebensunterhalt notwendige Geld. Man neigt dazu, jede einzelne Sache zu einem anderen Zweck zu tun, als zu dem, der vom Inhalt der Tätigkeit vorgegeben wird. Die Logik der Entfremdung: man ist jemand anderes; das Lohnsystem macht fremd gegenüber dem, was man tut, was man ist, gegenüber anderen Menschen.

Nun produziert die menschliche Tätigkeit nicht nur Waren und Beziehungen, sondern auch Vorstellungen. Der Mensch ist nicht homo faber; die Reduzierung des menschlichen Lebens auf die Ökonomie (inzwischen vom offiziellen Marxismus übernommen) existiert seit der Inthronisierung des Kapitals. Jede Tätigkeit ist symbolisch: sie schafft gleichzeitig Produkte und eine Vorstellung von der Welt. Die Anordnung eines ursprünglichen Dorfes:

faßt zusammen und sichert die Beziehungen zwischen Mensch und Universum, zwischen der Gesellschaft und der übernatürlichen Welt, zwischen den Lebenden und den Toten. (Levi-Strauss)

Der Warenfetischismus ist nur die Form, die dieser Symbolismus in vom Tausch beherrschten Gesellschaften annimmt.

Da das Kapital dazu tendiert, alles als Kapital zu produzieren, alles zu parzellieren, um es mit Hilfe der Marktbeziehungen neu zusammenzusetzen, so macht es auch aus der Vorstellung einen besonderen Produktionsbereich. Nachdem die Lohnarbeiter der Mittel ihrer materiellen Existenz beraubt sind, werden sie auch der Mittel beraubt, ihre Gedanken zu produzieren, die vom einem spezialisierten Bereich produziert werden (daher die Rolle der Intellektuellen, ein Begriff, der in Frankreich vom Manifest der Intellektuellen 1898 eingeführt wurde). Der Proletarier erhält diese Vorstellungen (Gedanken, Bilder, implizite Assoziationen, Mythen), so wie er die anderen Aspekte seines Lebens vom Kapital erhält. Schematisch gesagt, gewann der Arbeiter des 19. Jahrhunderts seine Ideen (auch die reaktionären) im Café, im Wirtshaus oder im Verein, während der heutige Arbeiter sie im Fernsehen sieht – eine Tendenz, bei der es sicher absurd wäre, sie soweit zu extrapolieren, daß man die gesamte Wirklichkeit auf sie reduziert.

Marx definierte Ideologie als Ersatz für eine wirkliche Veränderung: die Veränderung wird auf der imaginären Ebene gelebt. Der moderne Mensch ist unter diesen Umständen auf jeden Bereich ausgedehnt. Er verändert nichts mehr, außer in Bilder. Er reist, um die Stereotypen des fremden Landes wieder zu entdecken; er liebt, um die Rolle des potenten Liebhabers oder der zärtlichen Geliebten zu spielen. Von der Lohnarbeit seiner Arbeit (der Veränderung der Umgebung und seiner selbst) beraubt, erlebt der Proletarier das »Spektakel« der Veränderung.

Der heutige Lohnarbeiter lebt nicht im »Überfluß« im Verhältnis zum Arbeiter des 19. Jahrhunderts, der in »Armut« lebte. Der Lohnarbeiter konsumiert nicht einfach Gegenstände, sondern reproduziert die ökonomischen und geistigen Strukturen, die auf ihm lasten. Das ist der Grund, warum, im Gegensatz zur Meinung von Invariance2, er sich nur von diesen Vorstellungen befreien kann, wenn er ihre materielle Basis abschafft. Er lebt in einer semiotischen Gemeinschaft, die ihn dazu zwingt, weiterzumachen: materiell (Kredit), ideologisch und psychologisch (diese Gemeinschaft ist eine der wenigen, die ihm zur Verfügung stehen). Man konsumiert nicht nur Zeichen: es gibt viele Zwänge, und vor allen Dingen ökonomische (Rechnungen, die bezahlt werden müssen usw.). Das Kapital beruht auf der Produktion und dem Verkauf von Gegenständen. Daß diese Gegenstände auch als Zeichen funktionieren (und manchmal vor allem als solche), ist eine Tatsache, doch dies hebt niemals ihre Materialität auf. Nur Intellektuelle glauben, daß sie in einer Welt leben, die nur aus Zeichen besteht.3

Wahr und falsch

Welches sind für die revolutionäre Bewegung die Konsequenzen der Funktion gesellschaftlichen Scheins im modernen Kapitalismus (I.S. Nr. 10)? Wie Marx und Dejacque4 sagten, war Kommunismus immer der Traum von der Welt. Heute dient der Traum auch dazu, die Wirklichkeit nicht zu verändern. Man kann sich nicht damit begnügen, die Wahrheit zu »erzählen»: dies kann nur als Praxis geschehen, als ein Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Sagen und Tun, Äußerung und Veränderung, und manifestiert sich als Spannung. Das »Falsche« ist keine Wand, die die Sicht blockiert. Das »Wahre« existiert im Falschen, in Le Monde oder im Fernsehen, und das Falsche existiert im Wahren, in Texten, die revolutionär sind oder beanspruchen dies zu sein. Das Falsche setzt sich durch die Praxis durch, durch den Gebrauch, den es von der Wahrheit macht: das Wahre ist nur in der Veränderung wahr. Revolutionäre Tätigkeit, die sich in dem, was sie sagt, auf dieser Seite von dem verortet, was das Radios sagt, ist halb belanglos. Laßt uns die Kluft zwischen den Worten und der Realität messen. Die SI verlangte, daß Revolutionäre nicht mit Worten blenden. Revolutionäre Theorie ist nicht von sich aus revolutionär, sondern durch die Fähigkeit derjenigen, die sie subversiv gebrauchen, nicht durch eine plötzliche Erleuchtung, sondern durch eine Art der Darstellung und Verbreitung, die Spuren hinterläßt, auch wenn diese manchmal kaum sichtbar sind. Die Anprangerung der Linken z.B. ist sekundär. Daraus den Angelpunkt der Aktivität zu machen, führt dazu, wegen der Polemik gegen diese oder jene Gruppe die grundlegenden Fragen nicht zu behandeln. Eine solche Vorgehensweise verändert den Inhalt der Ideen und Aktionen. Man verbreitet das Wesentliche nur über Anprangerungen, und die Anprangerung wird schnell zum Wesentlichen.

Gegenüber der Vervielfachung von Individuen und Texten mit radikalen Ansprüchen zwingt einen die SI zur folgenden Frage: ist diese Theorie das Produkt eines subversiven sozialen Verhältnisses, das sich zu äußern sucht, oder eine Produktion von Gedanken, die verbreitet werden, ohne zu einer praktischen Vereinheitlichung beizutragen? Jeder hört Radio, doch die Rundfunkgeräte vereinigen die Proletarier im Dienst des Kapitals – bis zu dem Tag, an dem diese technischen Mittel von revolutionären Proletariern in Besitz genommen werden, und eine Stunde Radioübertragung Jahre vorhergehender ‚Propaganda‘ wert sind.

Doch bedeutet das ‚Ende der Ideologie‘ nicht, daß es eine Gesellschaft ohne Ideen geben könne, die automatisch wie eine Maschine funktioniert: dies würde eine ‚robotisierte‘ und folglich eine nicht-‚menschliche‘ Gesellschaft voraussetzen, soweit sie der notwendigen Reaktion ihrer Mitglieder beraubt sein würde. Da es zu einer Ideologie im Sinne der Deutschen Ideologie geworden ist, entwickelt sich das Imaginäre genau entlang dieser Linien. Es gibt keine Diktatur der sozialen Verhältnisse, die uns fernsteuert, ohne Reaktion und Reflex von unserer Seite. Dies ist eine sehr partielle Vorstellung von der ‚Barbarei‘. Der Fehler in der Beschreibung von vollkommen totalitären Gesellschaften (Orwells 1984 oder der Film THX 138) ist der, daß sie nicht sehen, daß alle Gesellschaften, sogar die unterdrückerischsten, das Eingreifen und das Handeln der Menschen zu ihrer Entwicklung voraussetzen. Jede Gesellschaft, einschließlich und besonders die kapitalistische Gesellschaft, lebt von diesen Spannungen, auch wenn sie dabei Gefahr läuft, von ihnen zerstört zu werden. Die Kritik der Ideologie leugnet weder die Rolle der Ideen noch die der kollektiven Aktion bei ihrer Propagierung.

Die theoretische Sackgasse des Begriffs ‚Spektakel‘

Der Begriff des Spektakels vereint eine große Zahl von gegebenen grundlegenden Fakten, indem er die Gesellschaft – und folglich ihre revolutionäre Veränderung – als Tätigkeit zeigt. Kapitalismus ‚mystifiziert‘ die Arbeiter nicht. Die Aktivität von Revolutionären ‚entmystifiziert‘ nicht; sie ist der Ausdruck einer wirklichen sozialen Bewegung. Die Revolution bringt eine andere Aktivität hervor, deren Schaffung eine Bedingung dessen ist, was klassische revolutionäre Theorie ‚politische‘ Ziele nannte (Zerstörung des Staats). Doch die SI war nicht in der Lage, den Begriff, den sie geschaffen hat, in diesem Sinne aufzufassen. Sie legte so viel in diesen Begriff hinein, daß sie die gesamte revolutionäre Theorie um das Spektakel herum neu aufbaute.

In ihrer Theorie des ‚bürokratischen Kapitalismus‘ betonte Socialisme ou Barbarie hauptsächlich die Bürokratie. In ihrer Theorie der ’spektakulären Warengesellschaft‘ erklärte die SI alles vom Spektakel her. Man kann eine revolutionäre Theorie nur als Ganzes schaffen, und indem man sie auf das gründet, was für das gesellschaftliche Leben grundlegend ist. Nein, die Frage des ‚gesellschaftlichen Scheins‘ ist nicht der Schlüssel zu einer neuen revolutionären Anstrengung (I.S., Nr. 10)

Die traditionellen revolutionären Gruppen sahen nur neue Mittel der Konditionierung. Doch für die SI entspricht die Ausdrucksweise der ‚Medien‘ einer Lebensweise, die vor hundert Jahren nicht existierte. Das Fernsehen indoktriniert nicht, sondern steht selbst mit einer Daseinsweise in Zusammenhang. Die SI zeigte das Verhältnis zwischen Form und Grundlage auf, wo der traditionelle Marxismus lediglich neue Instrumente im Dienste der alten Sache sah.

Unterdessen fällt der von der SI ausgearbeitete Begriff des Spektakels hinter das zurück, was Marx und Engels unter dem Begriff ‚Ideologie‘ verstanden. Debords Buch Die Gesellschaft des Spektakels stellt sich als ein Versuch dar, die kapitalistische Gesellschaft und die Revolution zu erklären, wo sie eigentlich nur deren Formen in Betracht zieht, die zwar ein wichtiges, aber nicht entscheidendes Phänomen sind. Es kleidet deren Beschreibung in eine Theoretisierung, die den Eindruck einer grundlegenden Analyse vermittelt, wo in Wirklichkeit die Methode und das Subjekt, die untersucht werden, stets auf der Ebene des gesellschaftlichen Scheins bleiben. Auf dieser Ebene ist das Buch hervorragend. Das Problem ist, daß es geschrieben (und gelesen) wurde, als ob man etwas darin finden würde, was nicht darin enthalten ist. Während Socialisme ou Barbarie das revolutionäre Problem mit den Mitteln der Industriesoziologie analysierte, untersucht es die SI ausgehend von einer Betrachtung auf der Oberfläche der Gesellschaft. Damit will ich nicht sagen, daß Die Gesellschaft des Spektakels oberflächlich ist. Sein Widerspruch und, letztlich, seine theoretische und praktische Sackgasse besteht darin, eine Untersuchung des Tiefgründigen durch und mittels des oberflächlichen Scheins gemacht zu haben. Die SI hatte keine Analyse des Kapitals: sie hat es verstanden, aber durch seine Auswirkungen. Sie hat die Ware kritisiert, nicht das Kapital – oder genauer gesagt, sie hat das Kapital als Ware kritisiert und nicht als Verwertungssystem, das die Produktion wie auch den Tausch beinhaltet.

Das gesamte Buch hindurch bleibt Debord auf der Ebene der Zirkulation, und es fehlt das notwendige Moment der Produktion, der produktiven Arbeit. Was das Kapital nährt, ist nicht der Konsum, wie er uns zu verstehen gibt, sondern die Wertbildung durch die Arbeit. Debord hat recht, wenn er im Verhältnis zwischen Schein und Wirklichkeit mehr sieht als in dem zwischen Illusion und Wirklichkeit, als ob der Schein nicht existierte. Doch man kann das Wirkliche nie auf der Grundlage des Scheinbaren verstehen. So vollendet Debord sein Projekt nicht. Er zeigt nicht, wie der Kapitalismus das, was nur das Ergebnis ist, zur Ursache oder sogar zur Bewegung macht. Die Kritik der politischen Ökonomie (die Debord, wie vor ihm die utopischen Sozialisten, nicht unternimmt) zeigt, wie der Proletarier nicht nur sein Produkt, sondern seine Tätigkeit über sich und gegen sich stehen sieht. Im Warenfetischismus erscheint die Ware als ihre eigene Bewegung. Durch den Kapitalfetischismus nimmt das Kapital eine Autonomie an, die es nicht besitzt, und stellt sich als lebendiges Wesen dar (Invariance ist ein Opfer dieser Illusion): man weiß nicht, wo es herkommt, wer es produziert, durch welchen Prozeß der Proletarier es hervorbringt und durch welchen Widerspruch es lebt und möglicherweise untergeht. Debord macht das Spektakel zum Subjekt des Kapitalismus, anstatt zu zeigen, wie es vom Kapitalismus produziert wird. Er reduziert den Kapitalismus allein auf seine spektakuläre Dimension. Die Bewegung des Kapitals wird zur Bewegung des Spektakels. Auf dieselbe Weise schreibt Vaneighem in den Basisbanalitäten5 eine Geschichte des Spektakels durch Religion, Mythos, Politik, Philosophie usw. Diese Theorie bleibt auf einen Teil der wirklichen Verhältnisse beschränkt, und geht so weit, sie gänzlich auf diesem Teil beruhen zu lassen.

Das Spektakel ist passiv gewordene Tätigkeit. Die SI entdeckte neu, was Marx in den Grundrissen über die Erhebung des menschlichen Daseins (seiner Selbstveränderung, seiner Arbeit) als einer fremden Macht geschrieben hat, die ihn niederdrückt: ihr gegenüber lebt er nicht mehr, sondern schaut nur noch zu. Die SI verlieh diesem Thema neuen Nachdruck. Doch das Kapital ist mehr als Befriedung. Es braucht die Intervention des Proletariers, wie Socialisme ou Barbarie6 gesagt hat. Die Überschätzung des Spektakels durch die SI ist ein Anzeichen dafür, daß sie auf der Grundlage einer gesellschaftlichen Vorstellung theoretisiert, die an der Peripherie der Gesellschaft entstanden ist, und die sie für zentral hielt.

Das Spektakel und die Kunsttheorie

Die Theorie des Spektakels bringt die Krise des Zeitraums außerhalb der Arbeit zum Ausdruck. Das Kapital schafft zunehmend einen Bereich außerhalb der Arbeit, gemäß der Logik seiner Ökonomie: es entwickelt nicht die Freizeit, um die Massen zu kontrollieren, doch da es der lebendigen Arbeit eine geringere Rolle in der Produktion zuweist, verringert es die Arbeitszeit, und diese kommt zur inaktiven Zeit des Lohnarbeiters hinzu. Das Kapital schafft für den Lohnarbeiter eine Raum-Zeit, die ausgeschlossen, leer ist, weil der Konsum sie nie ganz ausfüllen kann. Von Raum-Zeit zu sprechen bedeutet, die Tatsache zu betonen, daß eine Verringerung des Arbeitstags stattfindet, und daß diese befreite Zeit ebenso einen geographischen und gesellschaftlichen Raum einnimmt, insbesondere die Straße (vgl. die Bedeutung der Stadt und des Umherschweifens für die SI).

Diese Situation trifft mit einer doppelten Krise der ‚Kunst‘ zusammen. Erstens hat Kunst keine Bedeutung mehr, weil die westliche Gesellschaft nicht weiß, wohin sie geht. Mit dem Jahr 1914 verlor der Westen Sinn und Ausrichtung der Zivilisation. Wissenschaftsgläubigkeit, Liberalismus und Apologetik der ‚befreienden‘ Wirkung der Produktivkräfte gingen ebenso bankrott wie ihre Gegner (Romantik usw.). Von da an mußte Kunst tragisch, narzißtisch oder die Negation ihrer selbst sein. In früheren Krisenzeiten suchte man nach dem Sinn der Welt: heute zweifelt man daran, ob sie einen hat. Zweitens stellt die Kolonisierung des Marktes und die vergebliche Suche nach einer ‚Richtung‘ die Künstler in den Dienst des Konsums außerhalb der Arbeit.

Die SI ist sich ihrer gesellschaftlichen Herkunft bewußt. Über den Durchgang einiger Personen … (1959), einer von Debords Filmen, spricht von Menschen am Rande der Ökonomie. Auf dieser Ebene verstand die SI, wie Socialisme ou Barbarie auf der Ebene des Betriebs, daß der moderne Kapitalismus dazu tendiert, Menschen von jeder Tätigkeit auszuschließen und sie gleichzeitig in eine Pseudo-Beteiligung einzubinden. Doch, wie Socialisme ou Barbarie, macht sie den Widerspruch zwischen aktiv und passiv zu einem entscheidenden Kriterium. Revolutionäre Praxis besteht darin, genau die Prinzipien des Spektakels zu durchbrechen: Nicht-Intervention (I.S. Nr.1). Am Ende des Prozesses werden die Arbeiterräte das Mittel darstellen, aktiv zu sein, die Trennung aufzuheben. Das Kapital existiert durch den Ausschluß der Menschen, durch ihre Passivität. Alles, was in Richtung Verweigerung der Passivität geht, ist revolutionär. Daher ist der Revolutionär definiert durch ‚einen neuen Lebensstil‘, der ein ‚Beispiel‘ sein wird (I.S. Nr. 7, S.I., Bd. 1, S. 267).

Der Bereich außerhalb der Arbeit beruht auf Fesseln, die ungewisser (vgl. das Umherschweifen) und subjektiver als die Lohnarbeit sind, welche eher zum Notwendigen und Objektiven gehört. Der traditionellen Ökonomie stellt die SI eine Ökonomie der Begierde entgegen (I.S. Nr. 7, S.I. Bd. 1, S. 268); der Notwendigkeit stellt sie die Freiheit entgegen; der Mühsal das Vergnügen; der Arbeit die Automation, die sie überflüssig macht, dem Opfer die Freude. Die SI dreht die Gegensätze um, die jedoch überwunden werden müssen. Der Kommunismus befreit uns nicht von der Notwendigkeit der Arbeit, er beseitigt die ‚Arbeit‘ selbst. Die SI identifiziert Revolution mit einer Befreiung von Zwängen, die auf der Begierde und vor allem auf der Begierde nach anderen Menschen, dem Bedürfnis nach Beziehungen beruht. Sie stellt eine schlechte Verbindung zwischen ‚Situation‘ und ‚Arbeit‘ her, was ihre Vorstellung von der Situation beschränkt. Sie stellt sich die Gesellschaft und deren Umsturz aus dem Zusammenhang nicht-lohnabhängiger Gesellschaftsschichten heraus vor. Daher überträgt sie auf das Produktionsproletariat das, was sie über die gesagt hat, die außerhalb des Lohnsystems stehen (Straßengangs, Schwarze im Ghetto). Da sie das Gravitätszentrum der Bewegung nicht kannte, wandte sich die SI dem Rätegedanken zu: die Räte erlauben eine ‚direkte und aktive Kommunikation‘ (Die Gesellschaft des Spektakels). Die Revolution erschien als die Ausweitung der Konstruktion intersubjektiver Situationen auf die gesamte Gesellschaft.

Die Kritik der SI verläuft über die Anerkennung ihres ‚avantgarde-künstlerischen‘ Aspekts. Ihre soziologische Herkunft ruft oft mißbräuchliche und absurde Interpretationen im Stile von ‚das waren Kleinbürger‘ hervor. Die Frage liegt eindeutig woanders. Die SI bildete ihre Theorie von ihrer eigenen gesellschaftlichen Erfahrung heraus. Der künstlerische Ursprung der SI ist nicht per se ein Stigma; doch er hinterläßt seine Spuren in der Theorie und in der Entwicklung, wenn die Gruppe die Welt vom Standpunkt ihrer eigenen Gesellschaftsschicht aus betrachtet. Der Übergang zu einer revolutionären Theorie und Aktion, die allgemein ist (nicht mehr nur auf Kunst, Urbanismus usw. abgezielt), entspricht auf Seiten der SI einer präzisen Logik. Die SI sagt, daß jede neue Nummer ihrer Zeitschrift es jemandem erlauben kann und muß, alle vorhergehenden Ausgaben auf eine neue Weise zu lesen. Dies ist tatsächlich die Charakteristik einer Theorie, die reicher wird, reicher gemacht wird. Es geht nicht auf der einen Seite um den allgemeinen Aspekt der SI, und auf der anderen um ihr mehr oder weniger kritisches Verhältnis zur Kunst. Die Kritik der Trennung war ihr Leitfaden. In der Kunst wie in den Räten, in der Selbstverwaltung, in der Arbeiterdemokratie und in der Organisation (vgl. ihre Minimale Definition der revolutionären Organisationen7) wollte die SI die Trennung aufheben, um eine wirkliche Gemeinschaft zu schaffen. Während die SI es ablehnte, à la Cardan zu ‚zweifeln‘, endete sie damit, daß sie die Problematik der Beteiligung à la Chaulieu übernahm.8

Die SI und Socialisme ou Barbarie

Um ‚die Transparenz der intersubjektiven Beziehungen‘ zu erreichen, landete die SI bei dem von Socialisme ou Barbarie unterstützten Rätegedanken. Die Räte sind das Mittel, um die Einheit neu zu entdecken. Debord traf über Canjuers auf und schloß sich der Gruppe für einige Monate an. Seine Mitgliedschaft wurde in der Zeitung der SI nicht erwähnt. Im Gegenteil: In Die wirkliche Spaltung9 wird am Beispiel von Khayati, ‚eine doppelte Mitgliedschaft (in der SI und einer anderen Gruppe)‘ prinzipiell ausgeschlossen, ‚da sie unmittelbar an Manipulation grenzen würde‘ (S. 105). Wie immer dem auch sei, Debord beteiligte sich an den Aktivitäten von Socialisme ou Barbarie, solange er Mitglied war, und war Teil der Delegation, die während des großen Streiks von 1960 nach Belgien geschickt wurde. Nach einem von Socialisme ou Barbarie organisierten internationalen Treffen, das zugleich enttäuschend war und die fehlenden Perspektiven enthüllte, und das mit einer prätentiösen Rede Chaulieus über die Aufgaben von Socialisme ou Barbarie endete, verkündete Debord seinen Austritt. Nicht ohne Ironie erklärte er, daß er mit den von Chaulieu dargestellten großen Perspektiven übereinstimme, sich aber einer solch ungeheuren Aufgabe nicht gewachsen fühle.

I.S. Nr. 6 (1961) übernahm den Rätegedanken, wenn nicht gar die Räteideologie; auf jeden Fall übernahm sie die These von der Teilung in ‚Leitende‘ und ‚Ausführende‘. Das Projekt, das die SI sich in I.S. Nr. 6 vornahm, und das unter anderem ‚das illusionslose Studium der klassischen Arbeiterbewegung‘ und von Marx beinhaltete, wurde nicht verwirklicht. Die SI sollte auch weiterhin die Realität der kommunistischen Linken, besonders Bordiga, nicht kennen. Die radikalste der revolutionären Bewegungen sollte stets eine verbesserte Socialisme ou Barbarie sein. Sie sah die Theorie durch diesen Filter.

Vaneigems Basisbanalitäten übergehen in fröhlicher Weise Marx und schreiben die Geschichte im Lichte von Socialisme ou Barbarie neu, während sie ihr die Warenkritik hinzufügen. Die SI kritisierte Socialisme ou Barbarie, jedoch nur in gradueller Weise: für die SI beschränkte Socialisme ou Barbarie den Sozialismus auf Arbeiterselbstverwaltung, während er tatsächlich von allem die Selbstverwaltung bedeutete. Chaulieu beschränkte sich auf die Fabrik, Debord wollte das Leben selbstverwalten. Vaneigems Vorgehen ist sehr eng mit dem von Cardan verwandt. Er schaut nach einem Zeichen (Beweis): nicht mehr die schamlose Ausbeutung des Arbeiters auf Betriebsebene, sondern das Elend der sozialen Beziehungen, dort liegt der revolutionäre Zünder:

Die schwache Qualität des Spektakels und des Alltagslebens wird zum einzigen Zeichen.

Die wirkliche Spaltung… sprach auch von einem Zeichen dessen, was unerträglich war. Vaneigem ist gegen den Vulgärmarxismus, doch er integriert den Marxismus nicht in die Kritik. Er nimmt das nicht auf, was bei Marx revolutionär war und das der etablierte Marxismus ausgelöscht hat.

Wie Die Gesellschaft des Spektakels begibt sich Basisbanalitäten auf die Ebene der Ideologie und ihrer Widersprüche. Vaneigem zeigt, wie Religion zum Spektakel geworden ist, was die revolutionäre Theorie dazu zwingt, das Spektakel zu kritisieren, so wie sie früher von einer Kritik der Religion und der Philosophie ausgehen mußte. Doch auf diese Weise erhält man nur die Vor-Bedingung revolutionärer Theorie: die Arbeit bleibt noch zu erledigen. Die SI erhoffte sich zunächst viel von Lefebvre10 und Cardan, wies diese später aber heftig zurück. Doch sie bewahrte mit ihnen die Gemeinsamkeit, weder eine Kapitalismustheorie noch eine Gesellschaftstheorie zu besitzen. Um das Jahr 1960 herum öffnete sie neue Horizonte, unternahm jedoch nicht den Schritt nach vorn. Die SI packte den Wert an (vgl. Jorns Text über die politische Ökonomie und den Gebrauchswert), erkannte ihn jedoch nicht als das, was er ist. Ihre Theorie besaß weder eine Zentralität noch eine umfassende Sichtweise. Dies führte dazu, daß sie sehr unterschiedliche soziale Bewegungen überbewertete, ohne den Kern des Problems zu sehen.

Es ist z.B. unbestreitbar, daß der Artikel über Watts (Nr. 10, 1966)11 ein brillanter theoretischer Durchbruch ist. Indem sie auf ihre eigene Weise das aufgriff, was über den Austausch zwischen Mauss und Bataille hätte gesagt werden können, stellte die SI die Frage nach der Veränderung des eigentlichen Wesens der kapitalistischen Gesellschaft. Die Schlußfolgerung des Artikels wendet sich sogar einmal gegen Marx‘ Formulierung über das Bindeglied zwischen dem Menschen und seinem Gattungswesen, gegen die sich zur gleichen Zeit auch Camatte in der P.C.I.12 wandte (vgl. die Nr. 1 von Invariance). Doch, um auf der Ebene der Ware zu bleiben, die SI war unfähig zwischen den Ebenen der Gesellschaft zu differenzieren, und zu bestimmen, was eine Revolution ausmacht. Wenn sie schreibt, daß eine Revolte gegen das Spektakel sich auf die Ebene der Totalität begibt…, so beweist dies, daß sie aus dem Spektakel eine Totalität macht. Genauso führen ihre ‚Selbstverwaltungs‘-Illusionen sie dazu, in Bezug auf das Algerien nach dem Putsch von Boumedienne die Tatsachen zu verdrehen: Das einzige Programm der algerischen sozialistischen Elemente ist die Verteidigung des selbstverwalteten Sektors, nicht nur wie er ist, sondern wie er werden soll (Nr. 10, 1966, in: Situationistische Internationale, Band 2, S. 164).

Mit anderen Worten, die SI glaubte, daß es ohne Revolution, das heißt, ohne die Zerstörung des Staats und ohne wesentliche Veränderungen in der Gesellschaft, Arbeiterselbstverwaltung geben könnte, und daß Revolutionäre für ihre Ausbreitung arbeiten sollten.

Positive Utopie

Die SI erlaubt es, auf der Ebene der revolutionären Aktivität die Implikationen der Kapitalentwicklung seit 1914 zu erkennen, die bereits von der kommunistischen Linken insofern erkannt wurden, als diese Entwicklung Reformismus, Nationen, Kriege, die Entwicklung des Staats usw. zur Folge hatte. Die SI hatte den Weg der kommunistischen Linken gekreuzt.

Die SI verstand die kommunistische Bewegung und die Revolution als Produktion von neuen Beziehungen untereinander und zu den ‚Dingen‘ durch die Proletarier. Sie entdeckte den Marx’schen Gedanken des Kommunismus als den der Bewegung wieder, in der die Menschen ihre eigenen Verhältnisse selbst schaffen. Neben Bordiga war sie die erste, die wieder an die utopische Tradition anknüpfte. Dies war gleichzeitig ihre Stärke und ihre Zweideutigkeit.

Die SI war ursprünglich eine Revolte, die versuchte, sich die kulturellen Mittel zurückzuholen, die durch Geld und Macht monopolisiert waren. Früher wollten die klar denkendsten Künstler die Trennung zwischen Kunst und Leben aufheben: die SI stellte diese Forderung auf eine höhere Ebene und wollte die Distanz zwischen Leben und Revolution abschaffen. ‚Experimentieren‘ war für die Surrealisten ein illusorisches Mittel gewesen, die Kunst ihrer Isolation von der Wirklichkeit zu entreißen: die SI wandte es an, um eine positive Utopie zu finden. Die Zweideutigkeit rührt daher, daß die SI nicht genau wußte, ob es darum ging, von nun an anders zu leben, oder nur darauf zuzusteuern.

Wir wissen wohl, daß die umzustürzende Kultur nur mit der gesamten ökonomisch-sozialen Formation fallen wird, die sie aufrecht erhält. Die SI hat unverzüglich vor, solange gegen sie in ihrem ganzen Umfang anzukämpfen, bis sie eine autonome situationistische Kontrolle und ein Instrumentarium gegen diejenigen erzwungen hat, die in den Händen der bestehenden kulturellen Autoritäten sind – d.h. also bis zu einem Zustand der doppelten Macht in der Kultur … Die Stätte einer solchen Entwicklung kann zunächst die UNESCO sein, sobald die SI dort die Führung übernommen hat: Volksuniversitäten neuen Typs, die vom passiven Konsum der alten Kultur losgelöst sind; schließlich noch zu errichtende utopische Zentren, die gegenüber bestimmten heutigen Einrichtungen des sozialen Freizeitraums vom herrschenden Alltagsleben vollkommen befreit werden und gleichzeitig als Brückenköpfe zur Invasion in dieses Alltagsleben fungieren sollen. (Nr. 5, 1960, Situationistische Internationale, Bd. 1, S. 159 u. 184)

Der Gedanke einer schrittweisen Befreiung hängt zusammen mit dem einer sich nach und nach überall hin ausbreitenden Selbstverwaltung: die SI mißversteht die Gesellschaft als eine Totalität. Außerdem privilegiert sie die ‚Kultur‘, der bedeutsame Mittelpunkt einer Gesellschaft ohne Bedeutung (Nr. 5, S. 159).

Diese Überschätzung der Rolle der Kultur wurde später auf die Arbeiterautonomie übertragen: die ‚Macht der Räte‘ sollte sich ausweiten, bis sie die gesamte Gesellschaft einnahm. Diese beiden Merkmale wurzeln tief in den Ursprüngen der SI. Das Problem ist daher nicht, daß die SI zu ‚künstlerisch‘, im Sinne der Bohème, blieb, und es an ‚Strenge‘ fehlen ließ (als ob die ‚Marxisten‘ streng wären), sondern daß sie durchgehend denselben Ansatz anwandte.

Die Projekte für ein ‚anderes‘ Leben waren Legion in der SI. In der I.S. Nr. 6 (1961) ging es um eine experimentelle Stadt. Bei der Göteborger Konferenz sprach Vaneigem davon, situationistische Basen zu schaffen, um den unitären Urbanismus und ein befreites Leben vorzubereiten. Diese Rede (behauptet das Protokoll) ruft keinen Widerspruch hervor (Nr. 7, 1962, Situationistische Internationale, Bd. 1, S. 279).

Man macht eine Organisation; revolutionäre Gruppen können nur dann einen Anspruch auf eine Existenz als permanente Avantgarde erheben, wenn sie selbst das Beispiel eines neuen Lebensstils geben (Nr. 7, S. 267) Die Überschätzung der Organisation und der Verpflichtung, jetzt anders zu leben, führte nun offenbar zu einer Selbstüberschätzung der SI. Trocchi erklärt in der Nr. 8:

Wir streben eine Situation an, in der das Leben ständig durch die Kunst erneuert wird, eine Situation, konstruiert durch Phantasie und Leidenschaft … wir haben in den letzten zehn Jahren schon genügend Experimente vorbereitender Art gemacht: wir sind bereit zu handeln (Situationistische Internationale, Bd. 2, S. 62 u. 65).

Eine bezeichnende Tatsache: die Kritik dieses Artikels in der darauffolgenden Ausgabe bezog sich nicht auf diesen Aspekt. Trocchi sollte dieses Programm auf seine eigene Weise im Project Sigma verwirklichen: die SI distanzierte sich nicht davon, sondern stellte lediglich fest, daß Trocchi dieses Projekt nicht in seiner Eigenschaft als Mitglied der SI unternahm.

Die Zweideutigkeit wurde von Vaneigem auf die Spitze getrieben, der tatsächlich ein Handbuch der Lebenskunst in der gegenwärtigen Welt schrieb, während er beiseite ließ, welche sozialen Verhältnisse möglich sein könnten. Es ist ein Handbuch zur Verletzung der Logik des Markts und des Lohnsystems, wo immer man sie trifft. Die wirkliche Spaltung findet einige harte Worte für Vaneigem und sein Buch. Debord und Sanguinetti hatten recht, wenn sie von Exorzismus sprachen: Er hat gesprochen, um nicht zu sein.

Kein Zweifel. Doch die Kritik kommt verspätet. Vaneigems Buch ist ein schwer zu bewerkstelligendes Programm, weil es nicht gelebt werden kann, und drohte, einerseits in einen marginalen Possibilismus zu verfallen und andererseits in einen unrealisierbaren und daher moralischen Imperativ. Entweder man drängt sich in den Nischen der bürgerlichen Gesellschaft, oder man stellt ihr unaufhörlich ein anderes Leben entgegen, das ohnmächtig ist, weil nur die Revolution ihm zu einer Wirklichkeit verhelfen kann. Die SI steckte ihre sclechteste Seite in ihren schlechtesten Text. Vaneigem war die schwächste Seite der SI, die all ihre Schwächen enthüllte. Die positive Utopie ist revolutionär als Forderung, als Spannung, denn sie kann innerhalb der Gesellschaft nicht verwirklicht werden: sie wird lächerlich, wenn man versucht, sie heute zu leben. Anstatt auf Vaneigem als Individuum einzuhämmern, hätte Die wirkliche Spaltung eine Bilanz der Praxis erstellen können, die Vaneigem hervorgebracht hat – doch eine solche Bilanz gab es nicht.

Der Reformismus des Alltags wurde später auf die Ebene der Arbeit übertragen; zu spät zur Arbeit zu kommen, schreibt Ratgeb13, ist der Beginn einer Kritik der Lohnarbeit. Wir versuchen nicht, uns über Vaneigem lustig zu machen, den unglücklichen Theoretiker einer Lebenskunst, der ‚Radikalität‘. Sein Brio kann gerade mal dem Handbuch einen leeren Anspruch geben, der einen zum Lachen bringt. Die wirkliche Spaltung ist schlecht beraten, wenn sie Vaneigems Haltung im Mai 68 verspottet, als er wie geplant in den Urlaub fuhr, obwohl die ‚Ereignisse‘ begonnen hatten (von dem er im übrigen schnell zurückkehrte). Dieser persönliche Widerspruch spiegelte den theoretischen und praktischen Widerspruch, den die SI von Beginn an in sich trug. Wie jede Moralität, war Vaneigems Position unhaltbar und mußte beim Kontakt mit der Wirklichkeit zerschellen. Die SI gab sich ebenfalls einer moralistischen Praxis hin, als sie seine Haltung anprangerte: sie verurteilte Handlungen, ohne ihre Ursachen zu untersuchen. Diese Enthüllung von Vaneigems Vergangenheit, ob sie nun die Radikalisten stört oder amüsiert, hat außerdem etwas Unangenehmes an sich. Wenn Vaneigems Inkonsequenz im Jahre 1968 wichtig war, so hätte die SI daraus Konsequenzen ziehen müssen, wie sie es in einer Unmenge von anderen Fällen nicht versäumt hat, und hätte nicht vier Jahre warten dürfen, bis sie darüber redete. Wenn Vaneigems Verfehlung nicht wichtig war, so war es nutzlos darüber zu reden, selbst wenn er mit der SI gebrochen hatte. Tatsächlich trieb die SI, um ihren eigenen Begriff zu verwenden, die Ohnmacht ihrer Moralität aus, indem sie die Individuen anprangerte, die bei der Aufrechterhaltung dieser Moralität versagten, und rettete so auf einen Streich sowohl die Moralität als auch die SI selbst. Vaneigem war der Sündenbock für einen unmöglichen Utopismus.

Materialismus und Idealismus in der SI

Gegen den militanten Moralismus pries die SI eine andere Moralität: die der Autonomie der Individuen in der sozialen Gruppe und in der revolutionären Gruppe. Nun erlaubt nur eine Aktivität, die in eine soziale Bewegung integriert ist, durch eine erfolgreiche Praxis Autonomie. Sonst endet die Forderung nach Autonomie in der Schaffung einer Elite derer, die wissen, wie sie autonom werden.14 Wer Elitismus sagt, sagt auch Jünger. Die SI zeigte einen großen organisatorischen Idealismus, genau wie Bordiga (der Revolutionär als ‚entgiftet‘), wenn die SI das Problem auch auf andere Weise löste. Die SI griff auf eine unmittelbar praktische Moralität zurück, die ihren Widerspruch erklärt. Jede Moralität stellt über die gegebenen sozialen Verhältnisse die Verpflichtung, sich auf eine Art und Weise zu verhalten, die diesen Verhältnissen entgegengesetzt ist. In diesem Fall erfordert die Moralität der SI, die Spontaneität zu respektieren.

Der Materialismus der SI beschränkt sich auf das Bewußtsein von der Gesellschaft als Austausch von Subjekten, als Interaktion von menschlichen Beziehungen auf unmittelbarer Ebene, während sie die Totalität vernachlässigt: doch die Gesellschaft ist auch die Produktion ihrer eigenen materiellen Bedingungen, und die unmittelbaren Verhältnisse kristallisieren sich in Institutionen, mit dem Staat an ihrer Spitze. Die ‚Konstruktion konkreter Situationen‘ ist nur ein Aspekt der revolutionären Bewegung. In ihrer Theorie geht die SI zwar von den realen Existenzbedingungen aus, reduziert sie jedoch auf Beziehungen zwischen Subjekten. Dies ist der Standpunkt des Subjekts, das versucht, sich selbst neu zu entdecken, und keine Vorstellung, die sowohl Subjekt als auch Objekt umfaßt. Es ist das Subjekt, das seiner ‚Repräsentation‘ beraubt ist. Die Systematisierung dieses Gegensatzes in Die Gesellschaft des Spektakels richtet sich gegen den idealistischen Gegensatz, der charakterisiert ist durch das Vergessen der Objektivierungen des Menschen (Arbeit, Aneignung der Welt, Verschmelzung von Mensch und Natur). Der Subjekt-Objekt-Gegensatz ist der Leitfaden der westlichen Philosophie, der sich in einer Welt gebildet hat, deren Bedeutung dem Menschen nach und nach entgleitet. Schon Descartes stellte den Fortschritt der Mathematik und die Stagnation der Metaphysik Seite an Seite. Der merkantile Mensch ist auf der Suche nach seiner Rolle.

Die SI interessierte sich nicht für die Produktion. Sie warf Marx vor, zu ökonomistisch zu sein, unternahm aber selbst keine Kritik der politischen Ökonomie. Die Gesellschaft ist ein Ensemble von Verhältnissen, die sich durchsetzen, indem sie sich objektivieren und materielle oder gesellschaftliche Objekte (Institutionen) schaffen; die Revolution zerstört den Kapitalismus durch eine menschliche Aktion auf der Ebene ihrer Objektivierungen (Produktionssystem, Klassen, Staat), die genau von denjenigen durchgeführt wird, die im Mittelpunkt dieser Verhältnisse stehen.

Debord ist für Freud das, was Marx für Hegel ist: er fand, was eine materialistische Theorie persönlicher Beziehungen nur ist, ein begrifflicher Widerspruch. Anstatt vom Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse auszugehen, isoliert der Begriff der ‚Konstruktion von Situationen‘ die Beziehung zwischen den Subjekten von der Totalität der Verhältnisse. Auf dieselbe Weise wie, laut Debord, das Spektakel alles sagt, was über den Kapitalismus gesagt werden muß, erscheint die Revolution als die Konstruktion von Situationen, die auf die ganze Gesellschaft ausgeweitet wird. Die SI erfaßte nicht die Vermittlungen, auf denen die Gesellschaft beruht; und unter diesen zuerst die Arbeit, das ‚grundlegende Bedürfnis‘ (William Morris) des Menschen. Als Folge davon nahm sie nicht deutlich die Vermittlungen wahr, auf deren Grundlage eine Revolution gemacht werden kann. Um dieser Schwierigkeit zu entgehen, übertrieb sie die Vermittlung der Organisation. Ihre Räte-, Demokratie- und Selbstverwaltungspositionen erklären sich durch ihre Unkenntnis der gesellschaftlichen Dynamik.

Die SI betonte die Organisationsformen, um der Unzulänglichkeit des Inhalts abzuhelfen, den sie nicht verstand. Sie praktizierte die ‚Umkehrung des Genitivs‘ wie Marx in seinen frühen Werken, sie stellte die Dinge wieder auf die Füße: sie kehrte die Begriffe der Ideologie um, damit sie die Welt in ihrer Wirklichkeit verstand. Doch ein wirkliches Verständnis wäre mehr als eine Umkehrung: Marx gab sich nicht damit zufrieden, Hegel und die Junghegelianer auf den Kopf zu stellen.

Die SI sah das Kapital in der Form der Ware und ignorierte den Zyklus als Ganzes. Vom Kapital behält Debord nur den ersten Satz bei, ohne ihn zu verstehen: das Kapital erscheint als eine Warensammlung, aber es ist mehr als das. Die SI sah die Revolution mehr als eine Infragestellung der Distributionsverhältnisse (vgl. die Aufstände in Watts) als der Produktionsverhältnisse. Sie war mit der Ware vertraut, aber nicht mit dem Mehrwert.

Die SI zeigte, daß die kommunistische Revolution nicht nur ein unmittelbarer Angriff auf die Ware sein konnte. Dieser Beitrag ist entscheidend. Obwohl die italienische Linke den Kommunismus als die Zerstörung des Markts beschrieben und bereits mit der Ideologie der Produktivkräfte gebrochen hatte, verstand sie die gewaltige subversive Kraft konkreter kommunistischer Maßnahmen nicht.15 Bordiga stellte tatsächlich die Sozialisierung hinter die Eroberung der ‚politischen Macht‘ zurück. Die SI betrachtete den revolutionären Prozeß auf der Ebene der menschlichen Beziehungen. Selbst der Staat kann nicht auf rein militärischer Ebene zerstört werden. Die Vermittlung der Gesellschaft wird auch nur (doch nicht ausschließlich) durch den Umsturz der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse zerstört, die sie aufrechterhalten.

Die SI machte schließlich den entgegengesetzten Fehler von Bordiga. Letzterer reduzierte die Revolution auf die Anwendung eines Programms: erstere beschränkte sie auf den Umsturz der unmittelbaren Verhältnisse. Weder Bordiga noch die SI erfaßten das ganze Problem. Der eine stellte sich eine Totalität vor, die von ihren realen Mitteln und Verhältnissen abstrahiert war, die andere eine Totalität ohne Einheit oder Bestimmung, folglich eine Addition einzelner Punkte, die sich nach und nach ausweiten. Unfähig, den ganzen Prozeß theoretisch zu beherrschen, griffen beide auf eine organisatorische Bemäntelung zurück, um die Einheit des Prozesses zu sichern – für Bordiga die Partei, für die SI die Räte. Während Bordiga die revolutionären Bewegungen bis zum Exzeß entpersonalisierte, war die SI in der Praxis eine Bejahung der Individuen bis hin zum Elitismus. Obwohl sie Bordiga überhaupt nicht kannte, erlaubt einem die SI, Bordigas Thesen über die Revolution durch eine Synthese mit ihren eigenen weiterzuentwickeln.

Die SI selbst war nicht in der Lage, diese Synthese durchzuführen, die eine umfassende Vorstellung von dem voraussetzt, was Gesellschaft ist. Sie praktizierte positiven Utopismus nur um des Zweckes der Enthüllung willen, und dies ist zweifellos ihr theoretischer Stolperstein.

Was … in den Zentren ungleich geteilter aber vitaler Erfahrung geschehen muß, ist eine Entmystifizierung. (Nr. 7)

Da gab es eine Gesellschaft ‚des Spektakels‘, eine Gesellschaft des ‚falschen Bewußtseins‘, die dem angeblich klassischen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts entgegengestellt wurde: es ging darum, dem zugleich ein Bewußtsein von sich selbst zu geben. Die SI trennte sich nie vom Lukács’schen Idealismus, wie es in der einzigen Kritik an der SI gezeigt wird, die bis heute erschienen ist: Supplement au no. 301 de la Nouvelle Gazette Rhénane.16 Lukács wußte (mit Hilfe von Hegel und Marx), daß der Kapitalismus Verlust der Einheit ist, die Auflösung des Bewußtseins. Doch anstatt daraus zu schließen, daß die Proletarier mit den Mitteln ihrer subversiven Praxis (die in die Revolution mündet) eine einheitliche Auffassung von der Welt wiederherstellen werden, dachte er, daß zuerst das Bewußtsein wiedervereinigt und neu entdeckt werden müsse, um diese Subversion möglich zu machen. Als dies unmöglich wurde, flüchtete er sich in die Magie und theoretisierte das Bedürfnis nach einer Konkretisierung des Bewußtseins, das in einer Organisation verkörpert sein müsse, bevor die Revolution möglich sei. Dieses organisierte Bewußtsein ist die ‚Partei‘. Man sieht sofort, daß für Lukács die Rechtfertigung der Partei sekundär ist: primär ist der Idealismus des Bewußtseins, der Vorrang, den er dem Bewußtsein zukommen läßt, dessen Äußerung die Partei ist. Was in seiner Theorie wesentlich ist, ist daß das Bewußtsein in einer Organisation verkörpert sein muß. Die SI greift auf unkritische Weise Lukács Theorie des Bewußtseins auf, ersetzt jedoch die ‚Partei‘ einerseits durch die SI, andererseits durch die Räte. Für die SI wie für Lukács besteht der Unterschied zwischen der ‚Klasse an sich‘ und der ‚Klasse für sich‘ darin, daß letztere Bewußtsein besitzt. Daß ihr dieses Bewußtsein nicht durch eine Partei gebracht wird, sondern spontan aus der Organisierung der Arbeiter in Räten entstehen wird, ist vollkommen sekundär. Die SI faßte sich selbst als eine Organisation auf, die das Ziel hat, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen: sie machte die Enthüllung zum Prinzip ihrer Aktion. Dies erklärt die übermäßige Bedeutung, welche die SI 1968 in der Tendenz zu einer ‚totalen Demokratie‘ sah. Die Demokratie ist der ideale Ort, an dem sich Bewußtsein aufklären kann. Alles ist zusammengefaßt in der Definition, wie die SI einen Proletarier beschreibt: als jemand, der ‚keine Kontrolle über den Gebrauch seines Lebens hat, und der dies weiß‚.

Die Kunst ist heute freiwillige Entfremdung; in ihr macht die systematische Praxis des Artefakts die Faktizität des Lebens sichtbarer. Da die SI sich selbst in ihre Vorstellung des ‚Spektakels‘ einschloß, blieb sie Gefangene ihrer Herkunft. Die Gesellschaft des Spektakels ist bereits ein abgeschlossenes Buch. Die Theorie des Scheins wendet sich gegen sich selbst. Hier kann man sogar die Anfänge gängiger modischer Vorstellungen über das Kapital als Vorstellung herauslesen. Das Kapital wird zum Bild … das konzentrierte Ergebnis gesellschaftlicher Arbeit … wird offenkundig und unterwirft die ganze Wirklichkeit dem Schein.

Die SI entstand zum selben Zeitpunkt wie all diese Thesen über ‚Kommunikation‘ und Sprache und als Reaktion auf sie, doch sie tendierte dazu, dasselbe Problem in anderen Begriffen aufzuwerfen. Die SI wurde als Kritik der Kommunikation gegründet und kam nie von diesem Ursprungspunkt los: die Räte verwirklichen eine ‚wahre‘ Kommunikation. Dennoch weigerte sich die SI, im Gegensatz zu Barthes und seinesgleichen, das Zeichen auf sich selbst beziehen zu lassen. Sie wollte offenbar nicht die Wirklichkeit untersuchen (das Studium der ‚Mythologien‘ oder des ‚Überbaus‘, das Gramsci so lieb war), sondern lieber die Wirklichkeit als Schein. Marx schrieb 1847:

Menschliche Tätigkeit = Ware. Die Äußerung des Lebens, des aktiven Leben, erscheint als reines Mittel: Schein, getrennt von dieser Tätigkeit, wird als Selbstzweck begriffen.

Die SI unterlag selbst dem Fetischismus, indem sie sich auf Formen fixierte: Ware, Subjekt, Organisation, Bewußtsein. Doch anders als diejenigen, die heute ihre Ideen wiederholen, indem sie nur die knalligen Teile und die Fehler (Utopie usw.) beibehalten, machte es die SI nicht zur Regel, Sprache mit Gesellschaft zu verwechseln. Was für die SI ein Widerspruch war, wurde zur Existenzberechtigung des Modernismus.

Kein theoretisches Resümee

Nichts ist leichter als ein falsches Resümee. Man kann es sogar nochmals tun, wie die berühmte Selbstkritik, man wechselt jedes Mal seine Ideen. Man verzichtet auf das alte Gedankensystem, um in ein neues einzutreten, doch man verändert seine Lebensweise nicht. Das ‚theoretische Resümee‘ kann tatsächlich die hinterlistigste Praxis sein, während es so scheint, als sei es die ehrlichste. Die wirkliche Spaltung … schafft es, nicht über die SI und ihr Ende zu sprechen, jedenfalls geht sie nicht ihren Auffassungen zu Leibe – in einem Wort, sie spricht auf nicht-theoretische Weise über sie. Sie prangert (zweifellos ehrlich) den Triumphalismus und die Selbstgenügsamkeit in Bezug auf die SI und in der SI an, doch ohne eine theoretische Kritik, und das Buch stellt die SI am Ende als Modell dar. Debord und Sanguinetti kommen nicht zur Sache, außer bei den Pro-Situs, die sie zu einigen guten Überlegungen anregen, jedoch immer nur auf der Ebene der subjektiven Beziehungen, der Haltungen. Theorie wird stets vom Standpunkt der Haltungen betrachtet, die sie verkörpern; gewiß eine wichtige Dimension, jedoch keine ausschließliche.

Es gibt keine Selbstanalyse der SI. Die SI kam, 1968 kündigt die Rückkehr der Revolution an, und nun ist die SI dabei zu verschwinden, um überall neu geboren zu werden. Diese lichte Bescheidenheit verdeckt zwei wesentliche Punkte: die Autoren argumentieren, als sei die Perspektive der SI vollkommen richtig gewesen; sie fragen sich nicht, ob nicht ein Zusammenhang bestehen könnte zwischen der Sterilität der SI nach 1968 (vgl. die Korrespondenz der Orientierungsdebatte) und der Unzulänglichkeit jener Perspektive. Sogar bezüglich der Pro-Situs schaffen es Debord und Sanguinetti nicht, irgendeine logische Beziehung zwischen der SI und ihren Jüngern herzustellen. Die SI war revolutionär mit Hilfe einer Theorie, die auf Haltungen beruhte (die sich später als Bremse ihrer Entwicklung erweisen sollten). Nach der Phase der revolutionären Aktion bewahrten die Pro-Situs nur noch die Pose. Man kann zwar einen Meister nicht nur nach seinen Jüngern beurteilen: doch er hat auch Jünger, die er selbst hervorgerufen hat. Die SI akzeptierte durch ihre eigenen Auffassungen unfreiwillig die Rolle als Meister. Sie schlug zwar nicht direkt ein savoir-vivre vor, doch indem sie ihre Ideen als ’savoir-vivre‘ darstellte, drängte sie ihren Lesern eine Lebenskunst auf. Die wirkliche Spaltung … registriert den ideologischen Gebrauch, der von der I.S. gemacht wurde, ihre Umkehrung in ein Spektakel, wie es im Buch heißt, durch die Hälfte der Leser der Zeitschrift. Dies war teilweise unvermeidlich (siehe unten über die Rekuperation), aber teilweise auch ihrem eigenen Wesen geschuldet. Jede radikale Theorie oder Bewegung wird von ihren Schwächen rekuperiert: Marx durch sein Studium der Ökonomie an sich und seine radikal-reformistischen Tendenzen, die deutsche Linke durch ihre Räteideologie usw. Revolutionäre bleiben Revolutionäre, wenn sie sich diese Rekuperationen zunutze machen, um ihre Beschränkungen zu beseitigen und zu einer entwickelteren Totalisierung vorzudringen. Die wirkliche Spaltung … ist auch eine Spaltung im Denken ihrer Autoren. Ihre Kritik an Vaneigem wird vorgebracht, als wären seine Ideen der SI fremd gewesen. Wenn man Debord und Sanguinetti liest, könnte man denken, daß die SI keine Verantwortung für das Handbuch hätte: Vaneigems Schwäche, so könnte man denken, wäre nur seine eigene. Entweder das eine oder das andere: entweder nahm die SI seine Fehler auf ihre Kappe – und warum sagt sie in diesem Fall nichts darüber? – oder sie ignorierte sie. Die SI beginnt hier eine organisatorische Praxis (die Socialisme ou Barbarie mit dem Wort ‚bürokratisch‘ bezeichnet hätte): man lernt nicht aus den Abweichungen der Mitglieder nach deren Ausschluß. Die Organisation behält ihre Reinheit, die Fehler ihrer Mitglieder betreffen sie nicht. Das Problem liegt in den Unzulänglichkeiten der Mitglieder, niemals oben, und nicht bei der Organisation. Da der zunehmende Größenwahn der Anführer nicht alles erklärt, ist man gezwungen, in diesem Verhalten das Anzeichen eines mystifizierten Bewußtwerdens der Sackgasse der Gruppe zu sehen, und einer magischen Art, dies zu lösen. Debord war die SI. Er löste sie auf: dies wäre der Beweis einer klaren und ehrlichen Haltung, wenn er sie nicht gleichzeitig verewigt hätte. Er löste die SI auf, um sie vollkommen zu machen; so wenig offen er für Kritik war, so wenig war er in der Lage, sich selbst zu kritisieren.

Genauso ist sein Film Die Gesellschaft des Spektakels ein vorzügliches Mittel, sein Buch zu verewigen. Unbeweglichkeit geht mit dem Fehlen eines Resümees einher. Debord hat nichts gelernt. Das Buch war eine partielle Theoretisierung: der Film totalisiert diese. Diese Sklerose ist sogar noch bemerkenswerter durch das, was für die Wiederaufführung des Films im Jahre 1976 hinzugefügt wurde. Debord antwortet auf eine Reihe von Kritiken am Film, doch er sagt kein Wort über verschiedene Leute (von denen einige sehr weit von unseren Auffassungen entfernt sind), die den Film von einem revolutionären Standpunkt aus streng beurteilt hatten. Er zieht es vor, es mit dem Nouvel Observateur aufzunehmen.17 Sein Problem besteht immer mehr darin, seine Vergangenheit zu verteidigen. Er scheitert an der Notwendigkeit, denn alles was er tun kann, ist sie neu zu interpretieren. Die SI gehört ihm nicht mehr. Die revolutionäre Bewegung wird sie sich trotz der Situationisten aneignen.

Eine stilistische Übung

Obwohl ansonsten ernsthaft, ist Sanguinettis Buch Wahrhafter Bericht18 dennoch ein Zeichen seines Scheiterns. Wir wollen das Buch nicht nach seinem Publikum beurteilen, das es als guten Streich zu schätzen wußte, der der Bourgeoisie gespielt wurde. Diese Leser begnügen sich damit zu wiederholen, daß die Bourgeoisie aus Idioten besteht, sogar, daß sie verächtlich mit ‚wirklich‘ herrschenden Klassen der Vergangenheit verglichen wird; wenn wir wollten, so sagen sie, so könnten wir weitaus größere und bessere Bourgeois sein. Elitismus und Spott über den Kapitalismus sind als Reaktionen lächerlich genug, jedoch beruhigend, wenn die Revolution nicht mehr eine absolute Gewißheit zu sein scheint. Doch Selbstgefälligkeit in der Anprangerung der bürgerlichen Dekadenz ist alles andere als subversiv. Sie wird von denjenigen geteilt (wie Sorel), die über die Bourgeoisie spotten, während sie den Kapitalismus retten wollen. Die Kultivierung dieser Haltung ist daher für jemanden, der noch die geringsten revolutionären Ansprüche hat, absurd. Laßt uns immerhin feststellen, daß Sanguinetti ins Schwarze getroffen hat.

Das Problem, das sich die meisten Kommentatoren zu stellen versäumen (und aus gutem Grund), ist zu wissen, ob er eine revolutionäre Perspektive unterbreitet. Wenn nicht, so ist es ihm lediglich gelungen, in der bürgerlichen Politik und dem Spiel der Parteien einen Knallkörper explodieren zu lassen. Probieren geht über Studieren. Seine Analyse der vergangene Ereignisse ist falsch, und falsch ist auch die revolutionäre Perspektive, die er vorschlägt.

Zuallererst gab es 1969 keinen ’sozialen Krieg‘ in Italien und 1976 keinen in Portugal. Der Mai 1968 in Frankreich war das Aufwallen einer breiten und spontanen Organisierung der Arbeiter: auf der Ebene eines ganzen Landes und in hunderten von Betrieben hatten Proletarier zum gleichen Zeitpunkt an der ‚proletarischen Erfahrung‘, an der Konfrontation mit dem Staat und den Gewerkschaften teil, und verstanden praktisch, daß der Reformismus der Arbeiterklasse nur dem Kapital dient. Diese Erfahrung bleibt. Es war ein unvermeidlicher Bruch, der andauert, auch wenn es scheint, daß nun die Wunde wieder geschlossen ist.

Doch die SI hielt diesen Bruch für die Revolution selbst. 1968 verwirklichte für sie, was 1966 für Socialisme ou Barbarie verwirklichte: die praktische Überprüfung ihrer Theorie. Doch in Wirklichkeit war es die Bestätigung ihrer Grenzen und der Beginn ihres Durcheinandergeratens. Die wirkliche Spaltung … behauptet, daß die Bewegung der Besetzungen19 situationistische Ideen besaß: wenn man weiß, daß fast alle Streikenden die Kontrolle des Streiks den Gewerkschaften überließen, so zeigt dies nur die Grenzen der situationistischen Ideen. Dieses Ignorieren des Staates von Seiten der Bewegung war keine Aufhebung des Jakobinertums, sondern dessen Folge, wie in der Pariser Kommune: die Nicht-Zerstörung des Staats, seine schlichte Demokratisierung, ging 1871 mit dem Versuch einiger Leute einher, eine Diktatur nach dem Modell von 1793 zu schaffen. Es ist wahr – wenn man 1871 oder 1968 betrachtet -, daß man die Stärke und nicht die Schwäche der kommunistischen Bewegung, ihre Existenz statt ihre Abwesenheit aufzeigen sollte. Sonst entwickelt der Revolutionär nur größeren Pessimismus und eine abstrakte Negation von allem, was nicht ‚die Revolution‘ ist. Doch die revolutionäre Bewegung ist nur eine solche, wenn sie sich selbst kritisiert und auf der umfassenden Perspektive beharrt, auf dem, was in vergangenen proletarischen Bewegungen gefehlt hatte. Sie bewertet nicht die Vergangenheit. Es sind der Staat und die Konterrevolution, welche die Grenzen vergangener Bewegungen aufgreifen und daraus ihr Programm machen. Der theoretische Kommunismus kritisiert die vorangegangenen Erfahrungen, doch er unterscheidet zwischen proletarischen Angriffen wie 1918-1921 in Deutschland, und Angriffen, die vom Kapital unmittelbar zum Stocken gebracht wurden, wie 1871 in Paris und 1936 in Spanien. Er gibt sich nicht damit zufrieden, positive Bewegungen zu beschreiben, sondern zeigt auch die Brüche auf, die diese vollziehen müssen, um die Revolution zu machen. Die SI tat das Gegenteil. Außerdem theoretisierte sie ab 1968 eine kommende Revolution. Doch vor allem leugnete sie die Frage des Staates.

Wenn die Arbeiter in der Lage sind, sich frei und ohne Vermittlung zu versammeln, um über ihre wirklichen Probleme zu diskutieren, beginnt der Staat sich aufzulösen. (Die wirkliche Spaltung)

Hier findet sich der ganze Anarchismus. Anstatt den Staat umstürzen zu wollen, wie man erwarten könnte, ist der Anarchismus vielmehr durch seine Gleichgültigkeit ihm gegenüber gekennzeichnet. Im Gegensatz zu jenem ‚Marxismus‘, der die Notwendigkeit der ‚Machtergreifung‘ zuerst und vor alles andere setzt, besteht der Anarchismus tatsächlich aus einer Vernachlässigung der Frage der Staatsmacht. Die Revolution entwickelt sich, Komitees und Versammlungen bilden sich parallel zum Staat, der, seiner Macht beraubt, aus eigenem Antrieb zusammenbricht. Der revolutionäre Marxismus, der sich auf eine materialistische Auffassung der Gesellschaft gründet, behauptet, daß das Kapital nicht nur eine gesellschaftliche Kraft ist, die sich überallhin ausgebreitet hat, sondern daß es auch in Institutionen (und zuallererst in den Streitkräften) konzentriert ist, die eine gewisse Autonomie besitzen und niemals von alleine absterben. Die Revolution wird nur dann siegen, wenn sie gegen diese Institutionen eine zugleich verallgemeinerte und konzentrierte Aktion zustande bringt. Der militärische Kampf beruht auf der Umgestaltung der Gesellschaft, doch er nimmt seine eigene spezifische Rolle ein. Die SI ihrerseits gab sich dem Anarchismus hin und überschätzte die Bedeutung der Arbeiterversammlungen (1968 waren Pouvoir Ouvrier und die Groupe de Liaison pour l’Action des Travailleurs ebenso damit beschäftigt, zu demokratischen Arbeiterversammlungen aufzurufen).

Daß in Portugal der Druck der Arbeiter den Aufbau eines modernen kapitalistischen Staates behindert habe, gibt nur den Standpunkt des Staates, des Kapitals wieder. Ist es das Problem des Kapitals, sich in Portugal zu entwickeln, dort einen neuen machtvollen Akkumulationspol zu bilden? War es nicht das Ziel der ‚Nelkenrevolution‘, die unklaren Ziele des Volkes und des Proletariats in illusorische Reformen zu kanalisieren, damit das Proletariat ruhig blieb? Der Auftrag ist erfüllt. Es handelt sich nicht um einen halben Sieg für das Proletariat, sondern um eine fast vollständige Niederlage, in der die ‚proletarische Erfahrung‘ fast nicht existent war, denn es gab sozusagen keine direkte Konfrontation, keine Sammlung der Proletarier um eine dem Kapitalismus entgegengesetzte Position herum. Sie hatten nie aufgehört, den demokratisierten Staat zu unterstützen, nicht einmal die Parteien, die sie des ‚Verrats‘ beschuldigt hatten.

Weder 1969 in Italien noch 1974/75 in Portugal gab es einen ’sozialen Krieg‘. Was ist denn ein sozialer Krieg, wenn nicht ein frontaler Kampf zwischen den Klassen, der die Grundlagen der Gesellschaft – Lohnarbeit, Tausch, Staat – in Frage stellt? In Italien und Portugal gab es nicht einmal den Beginn einer Konfrontation zwischen den Klassen und zwischen Proletariat und Staat. 1969 gingen die Streikbewegungen manchmal in Aufruhr über, doch nicht jeder Aufruhr ist der Beginn einer Revolution. Die aus Forderungen entstandenen Konflikte können gewalttätig werden und sogar den Beginn eines Kampf gegen die Ordnungskräfte hervorrufen. Doch der Grad der Gewalt sagt nichts über den Inhalt des Kampfes. Wenn sie gegen die Polizei kämpften, glaubten die Arbeiter dennoch weiterhin an eine Linksregierung. Sie forderten einen ‚wirklich demokratischen Staat‘ gegen die konservativen Kräfte, die ihn angeblich beherrschten.

Das Scheitern des sozialen Krieges mit der Gegenwart der KP zu erklären, ist genauso ernsthaft wie alles dem Fehlen der Partei zuzuschreiben. Sollte man sich fragen, ob die deutsche Revolution 1919 wegen der SPD und der Gewerkschaften scheiterte? Oder sollte man nicht eher fragen, warum die SPD und die Gewerkschaften existierten, warum die Arbeiter sie weiterhin unterstützten? Wir müssen innerhalb des Proletariats anfangen.

Es ist gewiß tröstlich zu sehen, daß ein Buch, das die KP als einen der Pfeiler des Kapitalismus darstellt, weite Verbreitung findet. Doch dieser Erfolg ist zweideutig. Wenn das Kapital keinen allumfassenden Gedanken mehr hat, oder sogar keine Denker mehr (was auf keinen Fall stimmt), dann denkt die SI gut genug an deren Stelle, aber schlecht für das Proletariat, wie wir sehen werden. Sanguinetti denkt letztendlich in kapitalistischen Begriffen. In der Tat hat er eine Analyse erstellt, wie dies ein Kapitalist tun würde, der sich den Vulgärmarxismus angeeignet hat. Es ist die Bourgeoisie, die von Revolution spricht, wo keine ist. Für sie sind besetzte Fabriken und Barrikaden auf der Straße der Beginn einer Revolution. Der revolutionäre Marxismus hält den Schein nicht für die Wirklichkeit und den Moment nicht für das Ganze. Die ‚Schwere‘ des Marxismus ist der Leichtigkeit ohne Inhalt vorzuziehen. Doch wir wollen den Lesern die Wahl überlassen, je nach dem, was sie zu ihrer Lektüre motiviert.

Der SI gelang eine stilistische Übung: das abschließende Urteil einer Gruppe, die den Kult des Stils in einer stillosen Welt nachahmte. Sie kam am Ende dazu, Kapitalisten zu spielen, in jedem Sinne des Wortes. Ihre Brillanz ist ungeschmälert, doch sie hat nur noch Brillanz zurückgelassen. Die SI gibt den Kapitalisten gute Ratschläge und den Proletariern schlechte, denen sie nichts anderes vorschlägt als die Räte-Ideologie.

Der wahrhafte Bericht beinhaltet zwei Gedanken: 1. Die Regierungsbeteiligung der Kommunisten ist für den italienischen Kapitalismus unabdingbar; 2. Die Revolution sind die Arbeiterräte. Der zweite Gedanke ist falsch, der erste richtig; Kapitalisten wie Agnelli haben ihn ebenfalls geäußert. In einem Wort, Sanguinetti bringt es zustande, die Totalität als Bourgeois zu erfassen und nichts weiter. Er wollte sich als aufgeklärter Bourgeois ausgeben: dies ist ihm nur allzu gut gelungen. Er hat sich in seinem eigenen Spiel selbst geschlagen.

Rekuperation

Zur selben Zeit veröffentlichte Jaime Semprun, der Autor von Der soziale Krieg in Portugal20 einen Precis de recuperation. Folgendes sagte die SI einst über die ‚Rekuperation‘:

Es ist ganz normal, daß es unseren Feinden gelingt, aus uns teilweise Nutzen zu ziehen … Genau wie das Proletariat können wir nicht behaupten, unter den gegebenen Umständen nicht ausbeutbar zu sein. (I.S. Nr. 9, in: Der Beginn einer Epoche, S. 168)

Die lebendigen Konzepte erleben in ein und derselben Zeit den wahrsten und den verlogensten Gebrauch … da der Kampf der kritischen Wirklichkeit gegen das apologetische Spektakel zu einem Kampf um Worte führt, ein Kampf, der um so erbitterter ausgefochten wird, je wichtiger die Worte sind. Nicht durch eine autoritäre Säuberung, sondern durch den kohärenten Gebrauch in der Theorie und im praktischen Leben haben wir die Wahrheit ans Licht gebracht. (I.S. Nr. 10, S.I., Bd. 2, S. 240)

Die Konterrevolution nimmt revolutionäre Ideen nicht deshalb auf, weil sie böswillig und manipulativ, geschweige denn knapp an Ideen ist, sondern weil revolutionäre Ideen reale Probleme behandeln, mit denen die Konterrevolution konfrontiert ist. Es ist absurd, sich in eine Verurteilung des gegnerischen Gebrauchs von revolutionären Themen oder Begriffen zu stürzen. Heutzutage werden alle Begriffe, alle Konzepte verdreht. Die subversive Bewegung wird sie sich nur durch ihre eigene praktische und theoretische Entwicklung wieder aneignen.

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts haben der Kapitalismus und die Arbeiterbewegung eine Schicht von Denkern hervorgebracht, die revolutionäre Ideen nur aufgriffen, um sie ihres subversiven Inhalts zu berauben und sie an das Kapital anzupassen. Die Bourgeoisie hat ihrem Wesen nach eine begrenzte Auffassung von der Welt. Sie muß sich auf die Auffassung der Klasse, des Proletariats, als Geburtshelfer eines anderen Projekts berufen. Dieses Phänomen hat sich verbreitet, seit dem Marxismus offiziell ein öffentlicher Nutzen zugestanden wurde. In der ersten Zeit zog das Kapital daraus einen Sinn für die Einheit aller Beziehungen und für die Bedeutung der Ökonomie (in dem Sinne wie Lukács richtig sagte, daß der Kapitalismus eine fragmentierte Vorstellung von der Wirklichkeit produziert). Doch daß der Kapitalismus sich dazu entwickelt, das ganze Leben zu beherrschen – grob gesagt die Vorstellung des altmodischen ökonomistischen Vulgärmarxismus – ist diesem Grad an Komplexität und Ausweitung der Konflikte auf alle Ebenen unangemessen. In der zweiten Periode, in der wir heute leben, wurde der deterministische orthodoxe Marxismus von der Bourgeoisie selbst zurückgewiesen. An den Universitäten machte es vor fünfzig Jahren Spaß, beim Kapital mit den Schultern zu zucken: um 1960 herum wurde es zulässig, darin ‚interessante Sachen‘ zu finden, und zwar um so mehr diese in der UdSSR ‚angewandt‘ worden waren … Um heute in Mode zu sein, genügt es zu sagen, daß das Kapital in der rationalistischen und reduktionistischen Tradition der westlichen Philosophie seit Descartes, oder vielleicht gar seit Aristoteles steht. Der neue offizielle Marxismus ist keine Achse; stattdessen gibt man überall ein bißchen von ihm bei. Es hilft, uns an den ‚gesellschaftlichen‘ Charakter jeder Praxis zu erinnern: die Rekuperation der SI ist nur ein besonderer Fall.

Einer der natürlichen Kanäle dieser Entwicklung ist die Universität, seit der Apparat, dessen Teil sie ist, einen beträchtlichen Teil der Forschung über die Modernisierung des Kapitals finanziert. Das offizielle ‚revolutionäre‘ Denken ist der Spähtrupp des Kapitals. Tausende angestellter Funktionäre kritisieren den Kapitalismus aus jeder Richtung.

Der Modernismus bringt die soziale Krise zum Ausdruck, von der die Krise des Proletariats nur ein Aspekt ist. Aus den Grenzen, auf welche die subversive Bewegung bei jedem Schritt stößt, macht der Modernismus seine Ziele. Dies dient besonders dazu, den unmittelbaren Reformismus auf gesellschaftlicher Ebene zu rechtfertigen. In der Tat braucht der traditionelle Arbeiterklassenreformismus keine Rechtfertigung mehr, da er ja zur Regel geworden ist. Der Reformismus der Gewohnheiten und des Alltags bedarf noch der Theoretisierung, sowohl gegen die revolutionäre Bewegung, aus welcher er stammt, als auch gegen die rückständige kapitalistischen Fraktion, die Freiheiten ablehnt, die doch für das Kapital harmlos sind. Der Modernismus wird also entwickelt, weil er dem Kapital hilft, sich von den Fesseln der kapitalistischen Freiheit (sic) zu befreien. Der Alltagsreformismus befindet sich immer noch in seiner aufsteigenden Phase, so wie es der ökonomische und Arbeiterklassenreformismus vor siebzig Jahren war.

Der gemeinsame Zug jedes Modernismus ist die nur halbe Übernahme revolutionärer Theorie; sein Ansatz ist im Grunde der des ‚Marxismus‘ gegen Marx. Sein Axiom ist es, nicht die Revolution, sondern die Befreiung von bestimmten Zwängen zu verlangen. Er will das Maximum an Freiheit innerhalb der bestehenden Gesellschaft. Seine Kritik wird stets die Kritik der Ware und nicht des Kapitals sein, die Kritik der Politik und nicht des Staats, die Kritik des Totalitarismus und nicht der Demokratie. Ist es ein Zufall, daß sein historischer Vertreter Marcuse aus dem Deutschland kam, das gezwungen war, sich von den in den Jahren 1917-21 offenbarten radikalen Bestrebungen abzuwenden?

Es ist denkbar, Verzerrungen in der revolutionären Theorie anzuprangern, um die Dinge vollkommen klar zu machen – jedoch unter der Bedingung, daß es sich um mehr als eine Anprangerung handelt. In Sempruns Buch kann man nicht eine Unze Theorie finden. Laßt uns zwei Beispiele nehmen. In seiner Kritik an G. Guegan21 zeigt Semprun, was er als wichtig betrachtet. Warum diffamiert er diese Person? Sich abzugrenzen, gar mit heftigen Worten, bedeutet nichts, außer man stellt sich selbst auf eine höhere Ebene. Semprun breitet Guegans Leben über mehrere Seiten aus. Doch wenn es wirklich notwendig ist, über Guegan zu sprechen, dann muß dies direkt die Cahiers du futur betreffen, die Zeitung, die er herausgab. Wenn die erste Nummer nutzlos prätentiös war, so ist die zweite, die der Konterrevolution gewidmet war, teilweise abscheulich. Sie präsentiert die Tatsache, daß die Konterrevolution sich von der Revolution als Paradox nährt, findet Gefallen daran, den Wirrwarr aufzuzeigen, ohne irgend etwas zu erklären, wie etwas, bei dem man vor lauter Selbstgefälligkeit in morbiden Skizzen schwelgen kann, und schickt jeden ins Trudeln. Diese (beabsichtigte?) Verspottung jeglicher revolutionären Aktivität nimmt ein wenig überhand und nährt ein Gefühl der Überlegenheit unter denjenigen, die es verstanden haben, weil sie dabei waren: ‚Soweit führt die Revolution…‘ (lies: ‚So war ich, als ich ein Aktivist war …‘). Man kann nur davon träumen, was die SI in ihrer Blütezeit darüber geschrieben haben könnte.

Semprun zeigt auch, wie Castoriadis22 sich erneuert hat, indem er es selbst auf sich genommen hat, seine eigenen revolutionären Texte aus der Vergangenheit zu ‚rekuperieren‘: er bemühte sich, sie unlesbar zu machen, indem er sie mit Vorworten und Fußnoten überhäufte. Dies ist auf den ersten Blick amüsant, doch spätestens dann nicht mehr, wenn man weiß, was die SI Socialisme ou Barbarie schuldet. Semprum zeigt sich sogar herablassend gegenüber Chaulieus ‚marxistischer‘ Periode. Die Ultralinke war tatsächlich staubtrocken, doch nicht genug, um Debord davon abzuhalten, sich ihr anzuschließen. Ob einem dies gefällt oder nicht, das ist eine Verfälschung: man belustigt den Leser, während man ihn vergessen läßt, was der Bankrott der SI Chaulieu schuldet, bevor er selbst bankrott ging.

In diesen beiden Fällen, wie auch in anderen, werden Individuen durch ihre Haltung und nicht durch ihre theoretische Entwicklung beurteilt, aus der man Nutzen ziehen könnte. Semprun präsentiert sich uns mit einer Galerie moralischer Porträts. Er analysiert nicht, er urteilt. Er stellt eine Reihe von Arschlöchern an den Pranger, die von der SI geklaut haben. Indem er diese Haltungen kritisiert, ist er selbst nichts weiter als eine Pose.

Wie jede moralistische Praxis führt diese zu einigen Ungeheuerlichkeiten. Die bemerkenswerteste ist die Verschärfung der bereits in Bezug auf Die wirkliche Spaltung … erwähnten Organisationspraxis. Als Debords neuer Leibwächter rechnet Semprun mit früheren Mitgliedern der SI ab. Wenn man diese Werke liest, würde der Nichteingeweihte niemals denken, daß die SI jemals irgend etwas besonderes war. Mit seiner Selbstzerstörung beschäftigt, entfesselt Debord nun ein Sektierertum, das seine Angst vor der Welt enthüllt. Semprun kann daher nur alles beleidigen, was in seine Reichweite gerät und nicht Debord ist. Er ist eine einzige Abgrenzung. Er weiß auch nicht, wie er gutheißen oder verachten soll. Von radikaler Kritik bleibt bei ihm nicht einmal mehr der Versuch übrig.

Spektakel

Die SI legte stets Wert auf ihr Markenzeichen und betrieb ihre eigene Werbung. Eine ihrer großen Schwächen war es, ohne Schwächen, ohne Fehler erscheinen zu wollen, als ob sie in sich den Übermenschen entwickelt hätte. Als eine Kritik traditioneller Gruppen und des Militantismus spielte die SI damit, eine Internationale zu sein, und zog die Politik ins Lächerliche. Die Ablehnung des pseudo-ernsthaften Aktivisten, der nur den Geist des Klosters vollendet, dient heute dazu, ernsthaften Problemen auszuweichen. Voyer23 praktizierte den Spott, und wurde dadurch selbst lächerlich. Der Beweis, daß die SI am Ende ist, liegt darin, daß sie in dieser Form weitermacht. Als Kritikerin des Spektakels protzt die SI mit ihrem Bankrott, indem sie aus sich selbst ein Spektakel macht, und endet als das Gegenteil von dem, wofür sie entstanden war.

Aus diesem Grund wird die SI weiterhin von einer Öffentlichkeit geschätzt, die ein verzweifeltes Bedürfnis nach Radikalität hat, von der sie nur die Buchstaben und die Ticks bewahrt. Aus einer Kritik der Kunst entstanden, wird die SI am Ende (trotz und wegen ihr) als reine Literatur benutzt. Man findet Gefallen daran, die SI oder ihre Nachfolger zu lesen, oder die Klassiker, die sie zu schätzen wußte, so wie es anderen gefällt, die Doors zu hören. In der Zeit, als die SI wirklich auf der Suche und der Selbstsuche war, als die Praxis des Spotts einen wirklichen theoretischen und menschlichen Fortschritt in Worte faßte, als der Humor nicht nur als Maske diente, war der Stil der SI weniger leicht und flüssig als der ihrer aktuellen Schriften. Der inhaltsreiche Text widersteht seinem Autor wie seinen Lesern. Der Text, der nichts als Stil ist, gleitet sanft dahin.

Die SI trug zum revolutionären Gemeinwohl bei und ihre Schwäche wurde zum Futter für ein Publikum von Scheusalen, die weder Arbeiter noch Intellektuelle sind, und die nichts tun. Arm an Praxis, Leidenschaft und oft an Bedürfnissen haben sie nichts gemeinsam außer psychologischen Problemen. Wenn Leute zusammenkommen, ohne irgend etwas zu tun, haben sie nichts gemeinsam außer ihrer Subjektivität. Sie brauchen die SI; in ihrem Werk lesen sie die fertige theoretische Rechtfertigung für ihr Interesse an diesen Verhältnissen. Die SI vermittelt ihnen den Eindruck, daß die wesentliche Realität in den unmittelbaren Beziehungen zwischen den Subjekten liegt, und daß die revolutionäre Aktion darin besteht, auf dieser Ebene eine Radikalität zu entwickeln, insbesondere durch die Flucht aus der Lohnarbeit, was mit ihrem Leben als Deklassierte übereinstimmt. Das Geheimnis dieser Radikalität besteht darin, daß sie alles Bestehende ablehnt (einschließlich der revolutionären Bewegung), um ihr das gegenüberzustellen, was ihr weitest möglich entfernt erscheint (auch wenn dies nichts Revolutionäres an sich hat). Diese reine Opposition hat nichts Revolutionäres an sich außer den Worten. Der Life-Style hat seine Regeln, die ebenso streng sind wie die der ‚bürgerlichen‘ Welt. Sehr oft werden bürgerliche Werte umgedreht in Propaganda für die Nicht-Arbeit, für ein Leben am Rande der Gesellschaft, für alles, was als Übertretung erscheint. Die Linke propagiert das Proletariat als etwas Positives in dieser Gesellschaft: die Pro-Situs verherrlichen sich selbst (als Proletarier) als reine Negation. Für diejenigen, die noch etwas theoretische Substanz besitzen, lautet die Losung immer ‚Kritik der SI‘, eine Kritik, die für sie unmöglich ist, denn es wäre auch eine Kritik ihres Milieus.

Die Stärke der SI lag nicht in ihrer Theorie, sondern in einer theoretischen und praktischen Erfordernis, welche ihre Theorie nur teilweise abdeckte, die sie aber mit half zu lokalisieren. Die SI war die Bejahung der Revolution. Ihr Aufstieg fiel mit einer Zeit zusammen, in der es möglich war zu denken, daß eine Revolution bald stattfinden würde. Sie war nicht dazu ausgerüstet, nach dieser Zeit zu überleben. Sie war erfolgreich als Selbstkritik einer gesellschaftlichen Schicht, die unfähig war, die Revolution alleine zu machen, und die die eigenen Ansprüche dieser Schicht anprangerte (wie sie zum Beispiel durch die Linke vertreten werden, die will, daß die Arbeiter von ‚bewußten‘ Aussteigern aus der Mittelschicht angeführt werden).

Radikale Subjektivität

Die SI hatte im Verhältnis zum klassischen revolutionären Marxismus (für den Chaulieu ein gutes Beispiel war) die gleiche Funktion und die gleichen Grenzen wie Feuerbach im Verhältnis zum Hegelianismus. Um der bedrückenden Dialektik von Entfremdung/Vergegenständlichung zu entgehen, schuf Feuerbach eine anthropologische Vorstellung, die den Menschen, und insbesondere die Liebe und die Sinne, in den Mittelpunkt der Welt stellte. Um dem Ökonomismus und Fabrikismus der Ultra-Linken zu entgehen, entwickelte die SI eine Vorstellung, deren Mittelpunkt die menschlichen Beziehungen waren und die mit der ‚Wirklichkeit‘ vereinbar ist, materialistisch ist, wenn diese Beziehungen ihr volles Gewicht bekommen, so daß sie die Produktion, die Arbeit einschließen. Die Feuerbach’sche Anthropologie bahnte den Weg für den theoretischen Kommunismus, wie ihn z.B. Marx durch die 1844er Manuskripte als Synthese zu erstellen vermochte. Genauso wurde die Theorie der ‚Situationen‘ in eine Vorstellung von Kommunismus integriert, zu dem die SI unfähig war, wie es z.B. in Un monde sans argent24 gezeigt wird.

Aus demselben Grund las Debord Marx im Lichte von Cardan und war der Meinung, der ‚reife‘ Marx sei in die politische Ökonomie abgetaucht, was nicht stimmt. Debords Auffassung vom Kommunismus ist zu eng im Verhältnis zum gesamten Problem. Die SI sah nicht das menschliche Wesen und seine Versöhnung mit der Natur. Sie war auf eine sehr westliche, industrielle und städtische Welt beschränkt. Sie gewichtete die Automation falsch. Sie sprach davon, die ‚Natur zu beherrschen‘, was ebenfalls etwas über den Einfluß von Socialisme ou Barbarie aussagt. Wenn sie sich bezüglich der Organisation des Raums mit den materiellen Bedingungen beschäftigte, so war dies immer eine Frage von ‚Beziehungen zwischen Menschen‘. Socialisme ou Barbarie war durch den Betrieb beschränkt, die SI durch die Subjektivität. Sie ging so weit sie konnte, doch auf ihrem einmal eingeschlagenen Weg. Theoretischer Kommunismus ist mehr als revolutionäre Anthropologie. Die 1844er Manuskripte greifen Feuerbachs Vorstellung auf, indem sie den Menschen wieder in die Totalität seiner Beziehungen zurückstellen.

Die SI schuldete den Texten des jungen Marx sehr viel, doch sie versäumte es, eine ihrer wichtigen Dimensionen zu sehen. Während andere Kommunisten die politische Ökonomie als Rechtfertigung des Kapitalismus ablehnten, überwand sie Marx. Das Verständnis des Proletariats setzte eine Kritik der politischen Ökonomie voraus. Die SI hatte viel mehr gemeinsam mit Moses Heß und Wilhelm Weitling, mit Feuerbach und Stirner, Äußerungen eines bestimmten Moments in der Entstehung des Proletariats. Der Zeitraum, der sie hervorbrachte (1830-1848) ähnelte sehr dem, in dem wir heute leben. Indem die SI eine radikale Subjektivität gegen eine Welt von Warenobjekten und verdinglichter Verhältnisse aufstellte, formulierte sie eine Forderung, die zwar grundlegend war, die aber überwunden werden mußte. August Becker, ein Freund von Weitling, schrieb 1844:

Wir wollen leben, genießen, alles verstehen … der Kommunismus beschäftigt sich nur mit der Materie, um sie zu beherrschen und sie dem Geist und dem Verstand unterzuordnen.

Ein großer Teil der heutigen Diskussionen reproduziert diese Vor-1848er-Debatten. Wie heute Invariance, machte Feuerbach aus der Menschheit ein Wesen, das es erlaubt, die Isolation zu durchbrechen:

Isolation bedeutet ein enges und zwanghaftes Leben, während die Gemeinschaft ein unbegrenztes und freies bedeutet.

Obwohl Feuerbach das Verhältnis zwischen Mensch und Natur in Begriffe faßte (und Hegel vorwarf, es vernachlässigt zu haben), machte er die menschliche Gattung zu einem Wesen, das über dem gesellschaftlichen Leben steht. Die Einheit von Ich und Du ist Gott. Die 1844er Manuskripte gaben den Gefühlen ihren Platz in der menschlichen Aktivität. Dagegen machte Feuerbach die Sinnlichkeit (sic) zum Hauptproblem:

Die neue Philosophie stützt sich auf die Wahrheit der Liebe, die Wahrheit der Empfindung. In der Liebe, in der Empfindung überhaupt gesteht jeder Mensch die Wahrheit der neuen Philosophie ein.

Die theoretische Renaissance um 1968 erneuerte das alte Konzept in den gleichen Grenzen. Stirner stellte den ‚Willen‘ des Individuums dem Moralismus von Heß und Weitlings Verurteilung des ‚Egoismus‘ gegenüber, so wie die SI der militanten Selbstaufopferung die revolutionäre Freude gegenüberstellte. Die Betonung der Subjektivität bestätigt, daß es den Proletariern noch nicht gelungen ist, eine revolutionäre Praxis zu objektivieren. Wenn die Revolution auf der Ebene der Begierde stehenbleibt, dann versucht sie, die Begierde zum Angelpunkt der Revolution zu machen.


1Der Text wurde 1979 unter dem Autorennamen Jean Barrot in der Zeitschrift Red Eye in Berkeley veröffentlicht. Der Autor publiziert seit mehreren Jahren unter seinem richtigen Namen Gilles Dauvé. Die deutsche Übersetzung wurde auf Grundlage der amerikanischen Version angefertigt. Das französische Original wurde nicht im größeren Rahmen veröffentlicht und ist verschollen; der Autor besitzt selbst kein Exemplar mehr davon (A.d.Ü.).

2Invariance: eine Zeitung, die von einer Gruppe veröffentlicht wurde, die sich von der Internationalen Kommunistischen Partei abgespalten hat und das dogmatischste und voluntaristischste Nebenprodukt der italienischen bordigistischen Linken ist. Nach einigen Jahren obskurer, wenn auch gelegentlich brillanter theoretischer Verwicklungen kam der Herausgeber Jacques Camatte zur Position, daß sich das Kapital ‚dem Wertgesetz entzogen‘ habe und daß deshalb das Proletariat verschwunden sei (A.d.am.Ü).

3Der Begriff ‚Zeichen‘ wird in strukturalistischen Schriften benutzt und bedeutet ein Signifikat (Repräsentation), das von dem getrennt wurde, was es ursprünglich bedeutete (ein Phänomen auf der Welt). Ein ‚Zeichen‘ bedeutet folglich eine Repräsentation, die sich nur auf sich selbst bezieht, d.h. tautologisch ist. Ein Beispiel für ein ‚Zeichen‘ wäre der Kredit, der in immer größeren Quantitäten ausgedehnt wird, so daß Großbanken Nationen in den Bankrott treiben können; ein Kredit, der nicht zurückgezahlt werden kann: er ist eine Repräsentation von Waren, die niemals produziert werden (A.d.am.Ü).

4Joseph Dejacque: französischer kommunistischer Handwerker, der in den 1848er Aufständen aktiv war. Eine Sammlung seiner Schriften ist unter dem Titel A Bas les chefs (Champ Libre, Paris) 1974 erhältlich.

5Basisbanalitäten in: Der Beginn einer Epoche, S.122 ff, (A.d.Ü.)

6In einer Reihe von Artikeln in Socialisme ou Barbarie wurde gezeigt, wie die kapitalistische Industrie die aktive und kreative Kooperation der Arbeiter benötigt, um zu funktionieren. Das aufschlußreichste Beispiel dafür ist die Taktik der britischen Arbeiter, ‚Dienst nach Vorschrift‘ zu praktizieren; alle Arbeiten werden genau gemäß Tarifvertrag und Betriebsvorschriften ausgeführt. Dies hat gewöhnlich eine Verringerung der Produktion von bis zu 50 Prozent zur Folge (A.d.am.Ü.).

7In: Der Beginn einer Epoche, S. 251 ff (A.d.Ü.). Oder hier.

8Cardan und Chaulieu sind beides Pseudonyme von Cornelius Castoriadis, einem der Begründer der Zeitschrift Socialisme ou Barbarie (A.d.Ü).

9Die Wirkliche Spaltung in der Internationale, Öffentliches Zirkular der Situationistischen Internationale, Düsseldorf, 1973 (A.d.Ü.).

10Henri Lefebvre: einst der raffinierteste philosophische Apologet der französischen KP. Lefebvre brach mit der Partei und begann Ende der Fünfziger, Anfang der Sechziger Jahre, eine ‚kritische Theorie des Alltagslebens‘ zu entwerfen. Sein Werk war für die SI wichtig, obwohl er niemals einen akademischen und scholastischen Standpunkt überschritt. Die SI verurteilte ihn, nachdem er einen Text über die Pariser Kommune veröffentlicht hatte, der zu weiten Teilen aus frühen Thesen der SI über dasselbe Thema plagiiert war (A.d.am.Ü.).

11Niedergang und Fall der spektakulären Warenökonomie, in: Der Beginn einer Epoche, S. 174 ff (A.d.Ü.).

12Internationale Kommunistische Partei, siehe Anm. 2.

13Ratgeb: Pseudonym, das Vaneigem für sein Buch Vom wilden Streik zur generalisierten Selbstverwaltung benutzte.

14Dieser ‚Autonomie‘-Fetischismus entwickelte sich bei den ‚Pro-Situ‘-Gruppen zu einem niederträchtigen kleinen Spiel. Sie erbaten von Leuten einen ‚Dialog‘, die sich in einem ihrer Texte ‚erkannten‘. Wenn naive Sympathisanten antworteten, wurden sie dazu angespornt, sich in einer ‚autonomen Praxis‘ zu engagieren, um zu beweisen, daß sie keine ‚reinen Zuschauer‘ sind. Die Ergebensten unter ihnen nahmen dies in Angriff. Das Ergebnis wurde von den ‚Pro-Situ‘-Gruppen ausnahmslos und auf wüste Art als ‚inkohärent‘, ‚verworren‘ usw. verurteilt und die Beziehungen wurden abgebrochen (A.d.am.Ü.).

15Wie z.B. die subversive Wirkung der massenhaften Weigerung zu zahlen und der kostenlosen Verteilung von Waren und Dienstleistungen in der italienischen Bewegung der ‚auto-riduzione‘. Natürlich wäre dies in einer revolutionären Situation viel weitgehender und würde die unmittelbare Sozialisierung der wichtigsten Produktionsmittel nach sich ziehen, sowohl um das Überleben der proletarischen Bewegung zu sichern, also auch um die Nachschubbasis der restlichen kapitalistischen Kräfte zu zerstören (A.d.am.Ü.).

161975 veröffentlicht und von der Editions de l’Oubli, Paris, vertrieben.

17Eine linke intellektuelle Wochenzeitung Frankreichs.

18Wahrhafter Bericht über die letzten Chancen, den Kapitalismus in Italien zu retten, Hamburg 1977 (A.d.Ü.).

19Das ist die Bewegung der Besetzung von Fabriken und Universitäten im Mai 68 in Frankreich (A.d.Ü.).

20Jaime Semprun, Der soziale Krieg in Portugal, Hamburg 1975 (A.d.Ü.).

21Guegan war der Geschäftsführer und Gründer der Editions Champ Libre, bis er 1975 entlassen wurde. Er ist heute eine Modefigur in der Literatur und in Avantgarde-Kreisen.

22Siehe Anm. 7.

23Jean-Pierre Voyer, Autor von »Reich, Gebrauchsanleitung« und anderen Texten, die von Champ Libre veröffentlicht wurden. (deutsche Fassung: Düsseldorf 1974).

24Le comunisme: un monde sans argent (3 Bände), Organisation des Jeunes Travailleurs Révolutionnaires, Paris 1975.

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