Angesichts dass uns dieses Thema sehr interessiert und wir schon einen Text darüber übersetzt haben, Gegen die leninistische Position zum Imperialismus von Antithesi, halten wir weiter an der Veröffentlichung von Texten die sich kritisch mit der Thematik, oder der falschen Feindschaft, zwischen Imperialismus und Antiimperialismus auseinandersetzen.
Die Gefährten und Gefährtinnen von Tridni Valka machten uns darauf aufmerksam dass dieser Text mittelmäßig ist und dass die Gruppe die es veröffentlicht sich nie wirklich von Leninismus verabschiedet hat. Wir sind Tridni Valka sehr dankbar für diese Anmerkung, sie haben uns auf bessere Texte angewiesen. Und trotzdem veröffentlichen wir diesen, trotz unserer Feindschaft gegen den Leninismus (und all seinen Nuancierungen), gerade weil wir die Thematik wichtig finden und die Debatte um den Imperialismus und seinen angeblichen Gegner, den Antiimperialismus, seit dem Krieg in der Ukraine wieder neuen Aufschwung bekommen hat.
In Zukunft werden wir noch viele Texte veröffentlichen die den Leninismus kritisieren und angreifen, also soll an unserer aufrechten Feindschaft gegen diesen nicht gezweifelt werden. Wenige anarchistische Gruppen haben sich in den letzten Jahren so sehr der Thematik gewidmet wie wir es tun, nebenbei gesagt.
MATERIAUX CRITIQUES
Imperialismus / Antiimperialismus… Formeln der Verwirrung
In diesem Text werden wir die Kritik an zwei sich ergänzenden Konzepten skizzieren: dem des Imperialismus und, im Gegensatz dazu, dem des Antiimperialismus. Im groben Verständnis des Linkstums und der Linken des Kapitals im Allgemeinen wäre der Imperialismus ein Synonym (A.d.Ü., gleichbedeutend) für den Weltkapitalismus und den Antiimperialismus, der eine Antwort auf diese „neue höchste Stufe“ der KPW (kapitalistische Produktionsweise) darstellt. Nach der gängigsten Akzeptanz dieser Begriffe ist der Imperialismus heute die herrschende Macht und der Antiimperialismus sind alle anderen Mächte und Bewegungen, die versuchen, ihm zu widerstehen.
Der am häufigsten identifizierte Vertreter des herrschenden Imperialismus – Spuren des Kalten Krieges – sind die Vereinigten Staaten und, für ihre – teuflische – Version im Nahen Osten, der Zionismus des Staates Israel. Als Reaktion darauf kann der Antiimperialismus leicht in einen „linken“ Antisemitismus abgleiten und von dort aus, durch die Befürwortung kommunaler Gewalt, für manche in den Islamo-Faschismus oder Faschismus im Allgemeinen.
Was ist Imperialismus?
Etymologisch gesehen bedeutet Imperialismus die Tendenz, Imperien zu errichten. Allgemeiner ausgedrückt ist es eine Doktrin, die darauf abzielt, die politische, militärische und/oder ökonomische Abhängigkeit eines Staates von anderen Bevölkerungen oder Staaten zu verringern. Aus diesem Grund gibt es in der Geschichte der verschiedenen vorkapitalistischen Produktionsweisen eine Vielzahl von Imperien: vom Römischen Reich bis Persien, vom Mongolischen Reich bis zum Byzantinischen oder Osmanischen Reich.
Es ist wichtig, an dieser Stelle zu betonen, dass diese Tendenz zur Bildung von Imperien keineswegs, wie bei den oben genannten Beispielen, eine Besonderheit des Kapitalismus ist, erst recht nicht in seiner reifen Phase. Im Gegenteil, die Geschichte des 20. Jahrhunderts war durch die beiden Weltkriege geprägt vom Ende der verbliebenen großen Imperien und der Entwicklung einer multipolaren Realität. Ein Beispiel für diese neue Realität ist der Wettbewerb zwischen den Nationen, die über die Atombombe verfügen. Es gibt die Nationen, die historisch gesehen als Großmächte gelten, die Atomwaffen besitzen (die Vereinigten Staaten, Russland, China, Frankreich und Großbritannien), und die Nationen, die unabhängig von den verschiedenen Verträgen als Besitzer der höchsten Waffe anerkannt sind (das sind Indien, Pakistan und Nordkorea), ohne Israel zu vergessen, das offiziell nicht als Besitzer anerkannt ist.
Der Imperialismus ist also eine Tendenz, die in verschiedenen Gesellschaftstypen zu finden ist und die sich dank des Prozesses der Kolonisierung der Welt, der Ursache und Folge der Entstehung der kapitalistischen Welt ist, in dem herauskristallisieren wird, was manche als „merkantilen Proto-Kapitalismus“ bezeichnen. Deshalb wird die „Geburt“ des Kapitalismus symbolisch oft mit der „Entdeckung“ Amerikas durch Kolumbus und dem Beginn der genozidalen Ausplünderung verbunden, zu der diese Entdeckung auf dem gesamten Kontinent führen wird1.
„Der Proto-Kapitalismus bezeichnet also die dreieinhalb Jahrhunderte, in denen dank der kommerziellen und kolonialen Expansion der europäischen Großmächte in Amerika, Afrika und Asien die Herausbildung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse in Europa vollendet und die wichtigsten Bedingungen für ihre Reproduktion geschaffen wurden.“ (A. Bihr, 1415/1763, Das erste Zeitalter des Kapitalismus, T1, S. 28).
Eine der Grundlagen dieser kapitalistischen Entwicklung liegt also in dem, was Marx die moderne Theorie der Kolonisation nennt. In dieser Theorie zielt die Kolonisierung neben der Eroberung „jungfräulicher“2 Gebiete und der Plünderung des von früheren Gesellschaften angehäuften Reichtums darauf ab, das gesamte frühere, auf persönlicher Arbeit basierende Eigentum zu zerstören, indem die Situation des Produzenten verbessert wird, um ihn durch Lohnarbeit zu ersetzen, die ihrerseits das Kapital bereichert. Es ist anzumerken, dass Marx sich zwar in zahlreichen Texten ausgiebig mit dem Kolonialismus beschäftigt, um seine Funktion im jungen Kapitalismus zu beschreiben, den Begriff des Imperialismus aber nie verwendet, um die spezifisch kapitalistische Produktionsweise zu charakterisieren.
Die Enthüllung des Geheimnisses der Kolonialisierung am Ende des ersten Buches des Kapitals lautet wie folgt: „Die aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehende kapitalistische Aneignungsweise, daher das kapitalistische Privateigentum, ist die erste Negation des individuellen, auf eigne Arbeit gegründeten Privateigentums.“ (K. Marx: Das Kapital, XXIV Kapitel, Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation). Ebenso wird der Weltmarkt zu einem allgemeinen Merkmal des Kapitalismus, unabhängig von seiner Periodisierung: „Die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung Afrikas schufen der aufkommenden Bourgeoisie ein neues Terrain. Der ostindische und chinesische Markt, die Kolonisierung von Amerika, der Austausch mit den Kolonien, die Vermehrung der Tauschmittel und der Waren überhaupt gaben dem Handel, der Schiffahrt, der Industrie einen nie gekannten Aufschwung und damit dem revolutionären Element in der zerfallenden feudalen Gesellschaft eine rasche Entwicklung. (…) Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt, den die Entdeckung Amerikas vorbereitete. Der Weltmarkt hat dem Handel, der Schiffahrt, den Landkommunikationen eine unermeßliche Entwicklung gegeben. Diese hat wieder auf die Ausdehnung der Industrie zurückgewirkt, und in demselben Maße, worin Industrie, Handel, Schiffahrt, Eisenbahnen sich ausdehnten, in demselben Maße entwickelte sich die Bourgeoisie, vermehrte sie ihre Kapitalien, drängte sie alle vom Mittelalter her überlieferten Klassen in den Hintergrund. (…) Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt.“ (Marx-Engels: Manifest der Kommunistischen Partei).
Der koloniale Imperialismus als Ausdruck der Vitalität des jungen Kapitalismus
Der Prozess der Kolonialisierung und der Entwicklung des merkantilen Kapitals impliziert die Tendenz zur Bildung riesiger kolonialer Imperien, weshalb wir in dieser Zeit von Kolonialimperialismus sprechen sollten. Im Allgemeinen werden die verschiedenen aufstrebenden kapitalistischen Mächte nach ihren Kolonien hierarchisiert. Das gilt zunächst für Spanien und Portugal, dann, mit der Entwicklung der Industrie, für die Niederlande und Großbritannien. Innerhalb des globalen Rahmens der KPW verschiebt sich das Epizentrum des Kapitalismus in Zeit und Raum: Westeuropa war in seiner Jugend seine Wiege, während sich die kapitalistische Entwicklung heute zunehmend auf den pazifischen Raum (China, Indien, Japan…) konzentriert.
Als Folge dieser Verschiebung stellen wir fest, dass Gebiete, die früher als Avantgarde der kapitalistischen Entwicklung standen, heute zu Ödland und verarmt sind, während andere, die früher als „Dritte Welt“ bezeichnet wurden, heute als Avantgarde der kapitalistischen Entwicklung gelten. Die Vorstellungen von „Zentrum und Peripherie“ des Kapitals sind also relativ und verschieben sich. Der Prozess des kolonialen Imperialismus ist somit sowohl Ursache als auch Folge der Entwicklung des Handels auf der Ebene des Weltmarktes. Er steht für die Kraft des jungen Kapitalismus. Durch die Eroberung neuer Gebiete, die Ausplünderung und Versklavung der einheimischen Bevölkerung waren die ersten Kolonialmächte in der Lage, den immensen Reichtum zu importieren, der es ihnen ermöglichte, in ein Westeuropa zu fliehen, in dem sich der Feudalismus gerade in Auflösung befand.
Dieser Prozess der Ablösung der Produktionsweisen wurde durch den massiven Zufluss von Gold und Silber verstärkt, wobei letzteres als Mittel zur Auflösung der vorkapitalistischen feudalen Gesellschaftsbeziehungen diente. Die Kolonien dienten sowohl als Produktionsstätten für neue Rohstoffe (Baumwolle, Edelmetalle, Zuckerrohr, Melasse, Tabak usw.), die für die Produktion benötigt wurden, als auch als privilegierte Orte für den Export von Fertigwaren in die neuen kapitalistischen Metropolen wie Manchester, Amsterdam, Antwerpen usw. ….. Dieser duale Prozess – niedrige Verkaufspreise für Rohstoffe und hohe Weiterverkaufspreise für hergestellte Waren – wurde von einigen Ökonomen als ungleicher Tausch beschrieben und führte damit den Mythos ein, dass im Kapitalismus eine andere Art von Tausch möglich wäre.
Von Kolonien zum Aufbau von kolonialen Imperien
Dieser Prozess der kolonialen Eroberungen wird auch einer der Vektoren für die Bildung großer Handelsunternehmen mit monopolistischen Zielen sein, aus denen die großen kolonialen Imperien hervorgehen werden, die der Ausdruck der „imperialistischen“ Kraft des jungen Kapitalismus sind. Nach Spanien und Portugal werden es die Niederlande, Frankreich und England sein, die ein Imperium schmieden werden, das ihrer Handels- und Produktionsmacht entspricht3. Großbritannien wird in diesem Wettlauf gewinnen, als das Britische Empire, die erste kapitalistische Macht, die mehrere Jahrhunderte lang ein Gebiet beherrscht, das so groß ist, dass nach ihrer eigenen Entschuldigung „die Sonne dort nie untergeht“. Dieses Empire herrschte vom 16. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts; es vereinigte ein Viertel der Weltbevölkerung (etwa 400 Millionen Einwohner) und erstreckte sich über mehr als ein Fünftel der Landmasse der Welt.
Es ist erwähnenswert, dass es viele Konflikte und Kriege zwischen den verschiedenen Kolonialmächten brauchte, bevor die britische Imperialmacht zur führenden Weltmacht wurde. Deshalb haben auch heute noch die meisten Konflikte und andere seltsame Staatsgründungen ihren Ursprung in den vielfältigen Vergehen des „Foreign Office“; von der Palästinafrage bis zur Gründung des Libanon, des Irak und Hongkongs. In dieser historischen Phase, die durch die Vorherrschaft des absoluten Mehrwerts gekennzeichnet ist und von Marx als die Phase der formellen Unterordnung der Arbeit unter das Kapital bezeichnet wurde, wurden die meisten Nationen-Staaten gegründet, aber auch die großen kapitalistischen Imperien; neben dem britischen auch das Japanische, das Österreich-Ungarische, das Russische, das Osmanische… Imperium (A.d.Ü., oder Reich, je nach der richtigen historischen Selbstbezeichnung).
Wir möchten noch einmal unterstreichen, dass diese Tendenz zur Bildung von Imperien nicht einzigartig ist und nur einer Form der Umgruppierung aufgrund des immanenten Gesetzes der Konkurrenz zwischen Kapitalien und damit auch zwischen Nationen-Staaten entspricht. Dieses Gesetz impliziert den kolonialen Expansionismus als die eigentliche Notwendigkeit der erweiterten Akkumulation und hat als einzige objektive Grenze die geografische Begrenzung des Planeten. Diese Grenze ist erreicht, wenn der Planet in seiner Gesamtheit (A.d.Ü., Totalität im Originaltext) erobert worden ist. Dies wird also das Ende der kolonialen Eroberungen bedeuten. Dieses Ende wird im Allgemeinen nicht durch Eroberungen, sondern durch die Eröffnung neuer Kriege in Bezug auf die indigenen Bevölkerungen markiert.
Dann kommt es zu einer neuen Aufteilung zwischen den verschiedenen Kolonialmächten. Dies war sinnbildlich der Fall beim zweiten „Burenkrieg“ in Südafrika (1899-1902), bei dem es nach der Unterwerfung der Zulu-Bevölkerung zu einer großen Konfrontation zwischen den ersten „afrikaans“ Siedlern holländischer Herkunft (aber auch Deutschen und Hugenotten) und den Truppen des britischen Empire kam, die kurz zuvor nach der Entdeckung großer Goldvorkommen im Transvaal (Jameson-Raubzug) entsandt wurden. Dieser Burenkrieg leitet die so genannten „modernen“ Kriege ein, indem er insbesondere den Einsatz von Kampfgasen (Pikrinsäure), Kommandos, die militärische Nutzung von Stacheldraht4 und die britische Erfindung von Konzentrationslagern im Zuge der tödlichen Deportation der burenischen Zivilbevölkerung einführt. Er wird (mit dem Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898) offen als der erste innerimperialistische Krieg deklariert, dem viele weitere folgen (darunter der Russisch-Japanische Krieg von 1905 und der Balkankrieg von 1912/1913, um nur einige zu nennen), die den Ersten Weltkrieg direkt „vorbereiten“.
Diese verschiedenen Elemente werden sich natürlich im Ersten Weltkrieg vervielfachen, der nicht nur als „erstes Weltgemetzel“ bezeichnet wird, sondern auch die erste große Aufteilung von Territorien und Einflussgebieten in der Größenordnung mehrerer Kontinente sein wird. Das sprachliche Paradoxon liegt darin, dass die so genannte „imperialistische“ Phase in Wirklichkeit die Zeit des Verschwindens der großen Imperiensein wird, die es vorher gab. Tatsächlich wird das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der Entkolonialisierung und der Entstehung einer Vielzahl von formal und rechtlich unabhängigen Nationalstaaten sein.
Kritik am Imperialismus nach Lenin (und seinen Epigonen)
1916 schrieb Lenin in Zürich sein berühmtes Pamphlet: „Der Imperialismus, als höchstes Stadium des Kapitalismus“. Der Untertitel dieses Pamphlets ist schon sehr aufschlussreich, denn es ist ein „Gemeinverständlicher Abriß“ und Lenin verschweigt uns im Vorwort nicht, dass er vor allem und mit großer Aufmerksamkeit das Werk des liberalen Ökonomen J.A. Hobson mit dem Titel „Der Imperialismus“ konsultiert hatte. Dieses Buch aus dem Jahr 1902 basiert auf den Erfahrungen des Autors, der als Journalist nach Südafrika geschickt wurde, um über den Burenkrieg zu berichten. Es handelt sich um einen umstandsbedingten Text, der das Aufkommen „neuer Tendenzen“ in der Entwicklung des Kapitalismus zu dieser Zeit beschreibt und ist keineswegs das strenge und analytische Werk, das die apologetische Geschichtsschreibung nach seiner Veröffentlichung daraus machte.
Andere Autoren der sozialdemokratischen Tradition haben zur gleichen Zeit ähnliche Themen entwickelt, und zwar oft auf viel umstrittenere Weise, wie Rudolph Hilferding, Rosa Luxemburg oder auch Nicolai Bucharin. Lenin versucht, den modernen Imperialismus als das letzte Stadium des Kapitalismus zu definieren, dessen katastrophales Ende unmittelbar bevorsteht. Um diese letzte drohende Krise zu charakterisieren, wird er einige Tendenzen des Kapitalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufzeigen, die er fälschlicherweise als imperialistisch bezeichnet. Mehr als ein Jahrhundert später ist klar, dass diese Tendenzen größtenteils nur nebensächlich waren und dass der Kapitalismus trotz oder dank der großen Krisen die zugegebenermaßen widersprüchliche, aber immer noch weltweit dominierende Produktionsweise ist.
Lenin stellt in seinem Pamphlet die Idee eines grundlegenden historischen Wandels in der Dynamik des Kapitals in den Mittelpunkt, nämlich: „Für den alten Kapitalismus, mit der vollen Herrschaft der freien Konkurrenz, war der Export von Waren kennzeichnend. Für den neuesten Kapitalismus, mit der Herrschaft der Monopole, ist der Export von Kapital kennzeichnend geworden.“ (Lenin: Der Imperialismus, als höchstes Stadium des Kapitalismus, Kapitel IV Der Kapitalexport).
In Kriegszeiten erfährt die ökonomische Politik des Kapitalismus natürlich Veränderungen, die mit dieser konfliktreichen Situation einhergehen: Verstärkung des staatlichen Interventionismus, Politik der territorialen Annexionen…. Der „freie“ Wettbewerb ist davon betroffen, weil er direkt in die Sphäre des Innerimperialismus eindringt. Es ist jedoch klar, dass das 20. Jahrhundert den Export von Waren nicht gestoppt hat, im Gegenteil. Die ökonomische Politik war während der beiden Kriege und der Zwischenkriegszeit vor allem von Protektionismus geprägt und mit der Krise von 1929 entwickelte sich der internationale Handel weniger florierend als während des 19.Jahrhunderts.
Seit 1945 ist das ganz anders: „Während sich die Zusammensetzung des Handels in der Zwischenkriegszeit im Vergleich zum vorigen Jahrhundert kaum verändert hatte und der Austausch von Rohstoffen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen gegen Produkte weiterhin vorherrschend war, ist der Handel seit 1945 vor allem durch den internationalen Austausch von Industrieerzeugnissen oder Bestandteilen dieser Industrieerzeugnisse gekennzeichnet (der Anteil am Welthandel betrug im Jahr 1900 40 % und im Jahr 2000 75 %), während der relative Anteil der Landwirtschaft am Welthandel allmählich zurückging.“ (Welthandelsbericht 2013)
„(…) Gleichzeitig wuchs der Welthandel sogar schneller als die Weltproduktion, und zwar zwischen 1950 und 1980 um mehr als 7 % pro Jahr (mit einem stärkeren Wachstum bei Industriegütern als bei Primärprodukten), während das weltweite Bruttoinlandsprodukt (BIP) im selben Zeitraum um fast 5 % wuchs (WTO International Trade Statistics, 2012). Diese Zahlen unterstreichen die Stärke der Kräfte, die die globale ökonomische Integration vorantreiben“ (ebenda, Welthandelsbericht 2013).
Die von Lenin aufgezeigte Tendenz, einen „neuen modernen Imperialismus“ zu definieren, ist daher nicht strukturell für den gesamten reifen Kapitalismus. Auch die Monopole wurden in dieser Zeit nicht zur einzigen Tendenz und Perspektive des Kapitals. Tatsächlich führt die Dynamik des Wettbewerbs immer zu Monopolen und diese wiederum wecken und forcieren immer mehr Wettbewerb. Diese beiden Pole schließen sich nicht gegenseitig aus, sie unterstützen und regenerieren sich gegenseitig. Es gibt also nicht die eine historische Periode, die durch Wettbewerb und die andere durch Monopol gekennzeichnet ist.
„Was für die bürgerliche Ökonomie eine theoretische Wendung darstellte, war in der Marxschen Kapitalanalyse eine der kapitalistischen Akkumulation von jeher innewohnende Entwicklungstendenz. Die Konkurrenz der Kapitale führt zu ihrer Konzentration und Zentralisation. Aus der Konkurrenz ergibt sich das Monopol, wie aus dem Monopol die monopolistische Konkurrenz.“ (P. Mattick: Monopolstaatskapitalismus).6
Eine weitere Einschätzung Lenins, die den Imperialismus definiert, bezieht sich auf den Export von Kapital. Es ist jedoch anzumerken, dass nicht die Zirkulation des Kapitals, sondern die Zunahme der Investitionen durch Kredit ein wirklich neues Merkmal des Kapitals in seiner Phase der realen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital ist. Der starke Aufschwung der Kreditnachfrage erklärt sich vor allem durch den Umfang und die Bedeutung neuer Investitionen, die durch die Notwendigkeit der Steigerung der Arbeitsproduktivität in der Konkurrenz mobilisiert werden, um mehr relativen Mehrwert zu erpressen. Der Kredit ist nichts anderes als eine Antizipierung von erwarteten zukünftigen Gewinnen.
Da diese Antizipierung selbst Gegenstand von Transaktionen und Spekulationen ist, entsteht das, was Marx „fiktives Kapital“ nennt. Die eigentliche Veränderung, die das 20. Jahrhundert kennzeichnet, liegt in diesem Übergang zu einer Kreditökonomie dank der Verallgemeinerung des Kreditgeldes. „das Kreditgeld in der Funktion des Geldes als Zahlungsmittel seine naturwüchsige Wurzel besitzt.“ (K. Marx: Das Kapital, Band I, Drittes Kapitel, Das Geld und die Warenzirkulation, c) die Münze. Das Wertzeichen). Die Grundlage dieses Kredits liegt in der Entstehung von zinstragendem Kapital, Geld, das für Investitionen oder Konsum verliehen wird, das wiederum noch mehr Geld erzeugt.
„Mit dem zinstragenden Kapital erreicht das kapitalistische Verhältnis seine äußerste, am meisten fetischisierte Form. Hier haben wir G-A-G ́, Geld, das Geld erzeugt, einen wachsenden Wert, ohne dass Urteile zwischen den beiden Extremen vermitteln.“ (K. Marx, Das Kapital, Drittes Buch, Ediciones sociales, S. 362)5.
In dieser spezifisch kapitalistischen Periode, die deshalb niemand als imperialistisch bezeichnet, geht es weniger um den Kapitalexport als vielmehr um die allgemeine Vorherrschaft der Kreditökonomie, die die Möglichkeiten der produktiven Investitionen unabhängig von der Quelle des geliehenen Kapitals bestimmt: privat, öffentlich, national oder ausländisch. Die „Nationalität“ des geliehenen Kapitals findet ihre Bedeutung vor allem in den Zinssätzen und deren Renditen. Deshalb erscheint das Finanzkapital nicht als eine „parasitäre und kosmopolitische Form“ des produktiven Kapitals, sondern als die eigentliche Voraussetzung für produktive Investitionen.
Finanzkapital und produktives Kapital sind zwei komplementäre und unverzichtbare Formen des jeweils anderen; ohne Investitionen auf Kredit kein produktives Kapital, kein profitables produktives Kapital, keine Spekulation, keine Entlohnung für gewährte Vorschüsse. Das Kapital ist ein globales gesellschaftliches Verhältnis, das seinen Bewertungsprozess dank des Kredits immer weiter vorantreiben muss. In diesem Wettlauf, der unerbittlich nach höherer Produktivität verlangt, geht es darum, die Gewinne von morgen schon heute zu antizipieren. Der Wettbewerb zwischen den Kapitalien verschwindet nicht, im Gegenteil, er verschärft sich und wird die verschiedenen Kapitalien dazu bringen, sich in bestimmten Formen horizontaler, vertikaler oder finanzieller Zusammenschlüsse wie Kartellen, Trusts oder Holdinggesellschaften zu konzentrieren. Doch damit Kapitalakkumulation stattfinden kann, sind sowohl der Konzentrationsprozess als auch die konkurrierende Vermehrung der verschiedenen Einzelkapitale notwendig. Aus diesem Grund entsprechen Konzentration und Zentralisierung des Kapitals nicht demselben Bedürfnis. In dem Sinne, dass assoziative Formen nicht das erwiesene Zeichen eines neuen Stadiums des Kapitalismus sind, das der Imperialismus wäre, umso mehr, als es andere Strömungen gibt, wie z.B. das Subunternehmertum, das sich in bestimmten Sektoren immer mehr entwickelt. Lenin hat eine apokalyptische Vision dieses Stadiums; er sieht darin die „Fäulnis“ des kapitalistischen Systems, das „parasitär“ geworden ist und auf seinen Füßen verrottet, wie er sagt.
Diese Konzeption könnte die messianische Erwartung eines mechanischen Sturzes des Kapitals am Ende des Tages hervorrufen. Das ist jedoch nicht der Fall, und die Katastrophe der „finalen“ Krise impliziert in Marx‘ Konzeption den Aufstieg der Macht und Organisation der Arbeiterklasse als autonome Kraft, die als einzige in der Lage ist, die totale Zerstörung des Weltsystems durchzusetzen. Es muss noch eine Klasse von Menschen geben, die in der Lage ist, dieses Todesurteil über die Produktionsweise zu vollstrecken. Ohne das Handeln des Proletariats, des historisch bestimmten Totengräbers, gibt es keine Möglichkeit einer radikalen Veränderung und die einzige Aussicht für die Menschheit ist, immer tiefer in die „Barbarei“ zu versinken.
Neben dem moralisierenden Aspekt von Lenins Bezeichnungen handelt es sich hier um eine religiöse Überzeugung, die die Unmittelbarkeit der letzten Katastrophe ankündigt und bei den Militanten, die daran glaubten, Entmutigung und Desillusionierung hervorrief. Diese Haltung, die typisch für die Unmittelbarkeit der Linken ist, hat von Generation zu Generation die Energie der Aktivistinnen und Aktivisten erschöpft, die seit mehr als einem Jahrhundert verzweifelt auf die angekündigte und versprochene Revolution warten. Diese Enttäuschungen führen bei den einen zu einem zynischen Desinteresse und bei den anderen dazu, dass sie sich zu den neuen Kadern des Systems ausbilden lassen, das sie bisher verabscheut haben.
Der Imperialismus nach Lenin (und anderen) entspricht also einem unangemessenen Begriff und seine Merkmale wurden von den verschiedenen leninistischen Strömungen dogmatisiert, was zu einem tiefgreifenden und vereinfachenden Missverständnis der Kategorien der marxistischen Analyse führte und die Schaffung eines noch abscheulicheren Nebenprodukts inspirierte: den Antiimperialismus.
Antiimperialismus als das schädlichste Nebenprodukt des Imperialismus
„Antiimperialismus von Narren“ versus revolutionärer Defätismus
Wie wir gesehen haben, wird der Krieg von 14/18 der erste Krieg sein, der weltweit geführt wird und an dessen Ende eine neue Verteilung der zuvor erworbenen kolonialen Eroberungen steht. Dieses grundlegende Merkmal, eine Folge der physischen Grenzen des Landes für die koloniale Ausdehnung, wird die konkurrierende Realität in den versteckten oder angenommenen Expansionszielen der kapitalistischen Kriege verstärken. Jede kriegführende Macht wird so noch stärker ihren Wunsch nach politischen, ökonomischen und militärischen Annexionen und ihren Wunsch, sich abhängige Territorien und Kolonien von ihren Konkurrenten anzueignen, durchsetzen. Wäre es nur diese Notwendigkeit des Kapitals, die den Begriff „moderner Imperialismus“ definiert, könnten wir uns darauf einigen, dass alle kapitalistischen Staaten, ob groß oder klein, ihrem Wesen nach individuelles Kapital sind, das durch die härteste Konkurrenz zu dieser Tendenz gezwungen wird, die den Handelskrieg am leichtesten in einen Krieg auf militärischem Terrain verwandelt. Alle kapitalistischen Staaten, unabhängig von ihrer ideologischen Abdeckung, sind daher in dieser Periode imperialistische Staaten.
Man könnte sogar behaupten, dass es meistens die kleineren Mächte oder diejenigen mit weniger Kolonien und Einfluss sind, die am aggressivsten sind und in Ermangelung eines besseren Konzepts als erste zum offenen Krieg übergehen. Das hat sich in den beiden Weltkriegen4 und in jüngerer Zeit, zum Beispiel im Golfkrieg 1990/91, deutlich gezeigt. Das Gleiche gilt für die Überbleibsel der so genannten nationalen Befreiungskriege, die, abgesehen davon, dass sie nie zur Befreiung vom Kapital geführt haben, in allen Fällen von der einen oder anderen gegnerischen imperialistischen Macht oder dem einen oder anderen Block instrumentalisiert werden. Es ist also das Verständnis der kapitalistischen Natur des Ersten Weltkriegs, das Lenins Position von Anfang an bestimmen wird. Deshalb schlägt Lenin für die gesamte Arbeiterbewegung die revolutionäre Losung des Defätismus auf allen Gebieten vor, um sich dem Krieg wirksam entgegenstellen zu können.
„Die Revolution während des Krieges ist Bürgerkrieg, und die Überleitung des Krieges der Regierungen in den Bürgerkrieg wird einerseits durch die militärischen Mißerfolge („die Niederlage“) der Regierungen erleichtert; andererseits ist es unmöglich, in der Tat eine solche Überleitung anzustreben, ohne damit die Niederlage zu fördern.“ (Lenin: Über die Niederlage der eigenen Regierung im imperialistischen Krieg, 26. Juli 1915, in N. Lenin und G. Sinowjew: Gegen den Strom, 1921). Dieser revolutionäre Defätismus äußert sich im vorrangigen Kampf gegen die „eigene Bourgeoisie“, durch Desertion und Verbrüderung an der Front, mit dem Ziel, „Die Überleitung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg“ …. „Nicht Burgfrieden, Bürgerkrieg ist unsere Parole“ Karl Liebknecht (in Lenin-Zinowjew: Gegen den Strom, bereits zitiert, S.12). Dies ist einer der grundlegendsten Beiträge Lenins (mit dem bemerkenswerten Unterschied von Trotzki und R. Luxemburg) und natürlich seine führende Rolle in der Oktoberrevolution 1917. Diese Revolution ist auch das Ergebnis dieses revolutionären Defätismus, der konkret an der Front angewandt wurde.
Wir sind hier weit entfernt von den Positionen der Linken und der extremen Linken des Kapitals, für die „Antiimperialismus“ immer bedeutet, ein Lager gegen ein anderes zu unterstützen, einen als schwächer „eingeschätzten“ Imperialismus gegen den sogenannten stärkeren. Die einzige Position, die in der Zeit des reifen Kapitalismus den historischen Interessen des Proletariats entspricht, ist die des revolutionären Defätismus. „Einen der beiden Militarismen zu sabotieren bedeutet also nicht, dem anderen zu helfen, sondern beide zu sabotieren, ihr gemeinsames historisches Prinzip, ihre Mittel zur Erhaltung und Beherrschung zu sabotieren.“ (A. Bordiga: Die Lehren der jüngsten Geschichte, 1918, in: Russland und die Revolution in der marxistischen Theorie, S. 66, Spartacus). Wir stehen hier in totaler Opposition zu jeder konterrevolutionären Position, mit der Linke jahrzehntelang ihre Kompromisse und systematische Zugehörigkeit zu einem „imperialistischen“ Lager im Namen des „Antiimperialismus“ gerechtfertigt haben. Die erzwungene Entscheidung, sich einem imperialistischen Lager gegen ein anderes anzuschließen, wurde während des Zweiten Weltkriegs durch die behauptete Zugehörigkeit des einen Lagers zu den faschistischen Regimen noch verstärkt. Diese Mitgliedschaft provozierte eine antifaschistische Neuformulierung des einseitigen Antiimperialismus, während das „demokratische“ Lager seinerseits sein Gesicht vor dem „roten Faschismus „6 seines Verbündeten in der Person von Stalin verbarg.
Dieser offene Verrat am proletarischen Prinzip des Internationalismus wurde in der Folge durch die Bipolarisierung zwischen den kapitalistischen „zwei Welten“ begünstigt: die des „Freihandelskapitalismus“ und die des angeblich „verwirklichten Sozialismus“. Die Zeit des Pseudo-Kalten Krieges konnte so einem so genannten Internationalismus (aber konkreten realen Nationalismus) dienen, der darin bestand, den Sowjetblock systematisch im Namen des „Sozialismus“ und des „Antiimperialismus“ zu verteidigen und gleichzeitig den Imperialismus dieses so genannten Ostblocks zu leugnen und zu verschleiern. Diese beriefen sich auf Internationalismen, „die im Wesentlichen dualistisch und in ihrer Form nationalistisch waren; (…) Sie kritisierten ein „Lager“ in einer Weise, die als Legitimationsideologie für das gegnerische „Lager“ diente, anstatt die beiden „Lager“ als Teile eines größeren Ganzen zu sehen, das Gegenstand der Kritik hätte sein müssen“ (Moishe Postone: Kritik des kapitalistischen Fetischs: Kapitalismus, Antisemitismus und die Linke, S.26, PUF).
So nahm die Verteidigung des Stalinismus (und seiner exotischen sowie maoistischen, guevaristischen und anderen Versionen) das Gewand des „Antiimperialismus“ an und wurde für alle nützlichen Idioten schnell zur Pflicht des „Antikapitalismus“. In ihren Augen wird der Inbegriff des Imperialismus also von den Vereinigten Staaten und ihren „Dienern“, allen voran natürlich dem Staat Israel, repräsentiert. Der Antiimperialismus wird seinerseits von so „glorreichen“ und „fortschrittlichen“ Regimen wie dem Iran der Mullahs, Saddams Irak, Pol Pots Kambodscha, Khaddafis Libyen, Assads Syrien, Nordkorea, Kuba, China, Venezuela… alles kapitalistische Regime, meist diktatorisch und genozidal. „Diese Regime hatten eigentlich mehr mit dem Faschismus als mit dem Kommunismus zu tun und versuchten, ihre eigene Linke zu liquidieren“. (M. Postone, zitiert oben, S. 44).
Der Antiamerikanismus ist somit zum einzigen Credo der gesamten Linken und der extremen Linken des Kapitals geworden (wohlgemerkt, es gibt auch eine extreme Rechte, die faschistisch, antiamerikanisch und antiimperialistisch ist7). „Unsere ganze Aktion ist ein Kriegsruf gegen den Imperialismus und ein lebendiger Aufruf zur Einheit der Völker gegen den großen Feind der Menschheit: die Vereinigten Staaten.“ Ernesto Che Guevara8.
Dieser Antiamerikanismus reduziert sich somit auf einen einseitigen Antiimperialismus, der all diejenigen systematisch entlastet, die sich – aus welchen Gründen und mit welchen Methoden auch immer – gegen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten stellen. Die bekannten Gemeinheiten des einen Lagers werden den ebenso unbestreitbaren Gemeinheiten des anderen gegenübergestellt und darüber hinaus wird jeder aufgefordert, in dieser rein kapitalistischen Polarisierung Partei zu ergreifen. Die weltweite Arbeiterklasse saß also in der Falle und war gezwungen, sich für das „kleinere Übel“ zu entscheiden, und nur wenige Proletarier vertraten die einzige Politik, die mit dem emanzipatorischen Charakter dieser Klasse vereinbar war, nämlich das dritte Lager, den revolutionären Defätismus in totalen kapitalistischen Kriegen.
Wie das Sprichwort sagt: „Wenn zwei Diebe kämpfen, gehen beide unter“. Wenn sich dieser einseitige Antiimperialismus in einem Konflikt wie dem Nahen Osten herauskristallisiert, werden wir Zeuge einer Radikalisierung des Schwachsinns, die zur Denunziation eines einzigen Imperialismus führt, gepaart mit einem verallgemeinerten staatlichen Antisemitismus der übelsten Art. „Vor einem Jahrhundert nannte man den Antisemitismus „den Sozialismus der Narren“. Heute kann er als „Antiimperialismus der Narren“ bezeichnet werden“. (M. Postone, bereits zitiert, S. 125).
Fazit
In diesem Text haben wir die Kritik am Konzept des Imperialismus dargelegt, einem Konzept, das weithin (falsch) behandelt wird und im Allgemeinen die größte Verwirrung stiftet. So ist der Begriff „Imperialist“, wie auch „Rassist“ oder „Faschist“, eher eine Beleidigung, die die so behandelte Person disqualifiziert, als eine echte Charakterisierung, die auf einer strengen Analyse seiner etymologischen und historischen Bedeutung beruht. Der Begriff des Imperialismus wird fast immer mit dem Kapitalismus gleichgesetzt, ohne in die Gesamtheit des widersprüchlichen Begriffsreichtums dieses gesellschaftlichen Produktionsverhältnisses integriert zu werden. Ein Epiphänomen kann niemals die Gesamtheit ausdrücken, der es entstammt.
Sich auf diesen Hilfsausdruck zu beschränken, führt dazu, dass er zu einer einfachen Funktionsstörung wird, die die Gesamtheit der Funktionsweise, in diesem Fall des Kapitalismus, nicht in Frage stellt. Dies ist die klassische Auffassung aller Reformisten. Wenn ihr antinomischer Begriff, der Antiimperialismus, analysiert wird, wird die Verwirrung noch größer, bis sie zu einer echten Mystifikation wird, in dem Sinne, dass alles, was sich gegen den Imperialismus richtet, im Kern emanzipatorisch, sogar revolutionär und „antikapitalistisch“ ist. Das ist es aber nicht.
Der Antiimperialismus, wie er meist von der Linken und der extremen Linken des Kapitals verstanden wird, bedeutet die Verteidigung eines anderen, angeblich weniger aggressiven oder „sozialistischeren“ Imperialismus und dient als bevorzugtes Vehikel des modernen Antisemitismus. Der Antiimperialismus wird so zum ultimativen Vorwand für eine imperialistische, antisemitische und antiamerikanische Neupositionierung mit der Folge, dass „Militante“ und „Persönlichkeiten“ von der Linken zur extremen Rechten des Kapitals und damit sogar zum Islamo-Faschismus abdriften.
Auch in dieser Frage hat der Grad der Verwirrung und Unwahrheit seinen Höhepunkt erreicht. Das giftigste Produkt der Antinomie „Faschismus/Antifaschismus“9 ist der demokratische Antifaschismus, für den der Faschismus nicht als geläuterter Ausdruck des reifen Kapitalismus gilt, sondern als vorübergehende und vorübergehende Störung, als „Unfall“ der Geschichte. Diese epiphänomenologische Sichtweise verhindert die Entwicklung eines wirksamen Kampfes sowohl gegen den Faschismus als auch gegen den Imperialismus, von dem er nur eine verschärfte Form ist. In der Tat haben alle faschistischen und verwandten Regime die Neigung zur Expansion und den Willen, diese durch einen Eroberungskrieg zu erreichen, gemeinsam.
In diesem Sinne verlängern die Faschismen die Tendenz zu imperialistischen Kriegen, obwohl diese keineswegs das einzige Produkt faschistischer Regime sind, sondern das Produkt des gesamten Kapitalismus in seiner Phase der Unterwerfung der realen Arbeit unter das Kapital. Deshalb konnten bestimmte revolutionäre Minderheiten angesichts dieser globalen Realität behaupten: „Vom marxistischen Standpunkt aus kann es keinen spezifischen Kampf gegen den Faschismus geben. Es gibt eine grundlegende Unvereinbarkeit zwischen dem antifaschistischen Kampf und dem proletarischen Kampf. Der Antifaschismus ist per Definition ein kapitalistisches Manöver.“ Kommunismus Nr. 1, Zeitschrift der belgischen Fraktion der internationalen kommunistischen Linken: 1937).
Das ist bei allen zersplitterten und partikularistischen Kämpfen der Fall, die Trennungen zum Nachteil des totalisierenden Kampfes verstärken, der als einziger den wirklich emanzipatorischen Kampf vereinen kann. Zwischen Antifaschismus und Antiimperialismus gibt es mehr als eine Analogie der Argumentation; sie sind zwei Ausdrucksformen dessen, was der moderne Kapitalismus ist. Dieser doppelte Ausdruck hat die schädliche Folge, dass das Verständnis der zentralen und grundlegenden Problematik skotomisiert wird. Tatsächlich sind Antifaschismus und Antiimperialismus Nebenprodukte des eigentlichen Objekts, gegen das der Kampf Sinn ergibt, nämlich die kapitalistische Produktionsweise.
November 2020: Fj et Marcm
1Für eine ausführliche Beschreibung dieses Prozesses verweisen wir auf das Werk von A. Bihr: 1415/1763, Das erste Zeitalter des Kapitalismus, Bd. 1, Seite2 / Syllepse.
2A.d.Ü., wie im Englischen virgen, also von der Menschenhand unangetastet.
3Das signifikante Gegenbeispiel zu diesem Prozess ist der Fall Deutschlands, das aufgrund seiner späten und unvollständigen Vereinigung durch Bismarck im Rennen um die Kolonien weitgehend zurückbleibt. Dies ist einer der Gründe, die später sein Bedürfnis nach kriegerischer Expansion rechtfertigen werden.
4Zu diesem Thema empfehlen wir das interessante Werk von Olivier Razac: Die politische Geschichte des Stacheldrahts, der Wiese, des Grabens, des Lagers, La fabrique.
5A.d.Ü., diese Stelle haben wir im dritten Band des Kapitals nicht gefunden, da keine weiteren Quellen angegeben worden sind. Daher haben wir uns die Freiheit es selber zu übersetzten, wohl wissend dass es falsch sein wird.
6(Otto Rühle) Brauner und Roter Faschismus
7Ein Beispiel für diese Entwicklung ist Jean Thiriard, der Gründer des faschistischen „Jungen Europa“, der sich für „Solidarität“ und „nationale Gemeinschaft“ einsetzt und stark antisemitisch und propalästinensisch eingestellt ist. Heute ähnelt diese Tendenz in Frankreich dem sogenannten „dritten Weg“ von Serge Ayoub.
8Website: https://www.marxists.org/francais//guevara/works/1967/00/tricontinentale.htm
9Die eigentliche Aussage des Antifaschismus als „Formel der Verwirrung“ stammt aus einem historischen Text der Zeitschrift „Bilan“ von 1934, um diesen wichtigen Beitrag zu lesen. Website: https://materiauxcritiques.wixsite.com/monsite/archives (A.d.Ü., wir übersetzen gerade diesen Text)