(1928) Die Debatte über das Manifest der Sechzehn

Alle Texte haben wir auf ‚archive autonome‘ I;II gefunden, die Übersetzung ist von uns. Hier handelt es sich um eine Reihe von Artikeln die in der anarchistischen Zeitung ‚Plus loin‘, die von 1925 bis 1939 veröffentlicht wurde, erschienen sind, die sich rückblickend mit dem Ersten Weltkrieg und der Haltung der anarchistischen Bewegung auseinandersetzen. Vor allem dreht es sich um den berühmt-berüchtigten Text ‚Manifest der Sechzehn‘. Einiges was in dem Artikeln, bzw. im Briefwechsel der über die besagte Zeitung verlief, steht, steht für uns klar konträr zu den anarchistischen Ideen. Dennoch finden wir es wichtig dass die bekannt sind und für alle zugänglich sind. Unsere Motivation diese Texte in Deutsche zu übersetzen folgt mehreren Intentionen. Erstens zu zeigen dass in der Geschichte der anarchistischen Bewegung es immer reformistische Kräfte gegeben hat und noch gibt, so widersprüchlich dies scheinen mag,dass aber die Aufgabe aller Anarchistinnen und Anarchisten daran liegt, die Idee des Anarchismus vehement und kompromisslos zu verteidigen und diese reformistischen Positionen, die nichts mit Anarchismus haben zu kritisieren und anzugreifen. In der hier vorliegenden Artikeln wiederholen sich, wie in der Gegenwart, Phrasen die vollkommen ausgehöhlt werden wie ‚wir seien gegen alle Formen der Ungerechtigkeit‘. Doch was passiert wenn wie im Falle eines Krieges Anarchistinnen und Anarchisten doch anfangen diese Formen der Ungerechtigkeit abzuwägen und aus der Parole ‚Krieg dem Krieg – Gegen alle Kriege, usw.‘ wird der Zusatz angehängt, ‚außer den hier weil er gerecht ist‘. Nun man wird alles mögliche sein, außer eine Anarchistin oder ein Anarchist.
Die Debatte über das Manifest der Sechzehn – ein Brief von Descarsins – Descarsins und M. Pierrot Plus Loin N°43 – Oktober 1928 Ich würde gerne in Plus Loin auf die Kommentare antworten, die über das Manifest der Sechzehn veröffentlicht wurden. Ich fühle mich jedoch nicht in der Lage, dies in dem Umfang zu tun, der angemessen wäre, da sich die Debatte immer mehr ausweitet. Es geht nicht mehr nur darum, ob die Unterzeichner des Manifests Recht hatten oder nicht – und in diesem Punkt gibt es tausend Argumente gegen sie -, sondern die Diskussion selbst wirft das Problem der Haltung der Anarchisten im Krieg auf. Werden wir als einen Punkt der anarchistischen Taktik akzeptieren, dass wir in jedem Krieg intervenieren müssen, indem wir uns unter das Banner einer der Kriegsparteien stellen? Wenn man den Gefährten von Plus Loin in ihrer Argumentation folgt, sollte dies jedoch unsere Haltung sein, da es in jedem Konflikt zwischen Regierungen unvermeidlich sein wird, dass eine Regierung weniger Unrecht hat als die andere, dass sie weniger imperialistisch oder revolutionärer ist, etc. Es bleibt also die Frage, welchen Nutzen die Völker aus irgendeinem Krieg ziehen können – und damit meine ich das Volk, das am Krieg stirbt – oder sogar welchen Gewinn die weltweite Arbeiter- und revolutionäre Bewegung daraus ziehen kann oder welchen Nutzen die Zivilisation daraus zieht – nicht die mythische Zivilisation, sondern die Zivilisation, die sich in Wohlstand für die enteigneten Massen und moralischem Fortschritt für den Einzelnen niederschlägt. Ich glaube stärker als je zuvor, dass die Sechzehn sich geirrt haben und dass nicht nur jeder Anarchist, sondern jeder denkende Mensch einem Konflikt zwischen Regierungen nicht zustimmen und noch weniger mit ihnen zusammenarbeiten kann. Und es schmerzt mich zutiefst, dass es in all den erschienenen Kommentaren nicht möglich ist, auch nur die kleinste ausgestreckte Stange zu erblicken, die eine Annäherung, eine Versöhnung zwischen den Anarchisten von Plus Loin und allen anderen herbeiführen könnte. Diese anderen erkennen, dass die Hauptursache für den Rückschritt der anarchistischen Bewegung, für den beträchtlichen Verlust an Einfluss unserer Ideen, in der Unterzeichnung des Manifests liegt, das in gewisser Weise die Anhänger von den Meistern trennte, die Bewegung von ihren geistigen Anführern enthauptete, die 1914 eine Haltung einnahmen, die im Widerspruch zu ihrem Leben, ihren Taten, ihrer Propaganda, ihren Schriften, ihrem gesamten früheren anarchistischen Werk stand. Und ohne geistliche Anführer wird die Verbreitung unserer Ideen immer mehr in Richtung Dekadenz gehen, die Demagogie wird einen immer größeren Platz darin einnehmen… und am Ende steht das Nichts. Dieses Ergebnis hatten die Unterzeichner des Manifests nicht vorhergesehen. Und ein Rückschritt in der Idee der Freiheit ist nicht gerade ein Fortschritt der Zivilisation. Als ich die Frage des Manifests stellte, hoffte ich, dass sie in diesem Sinne gelöst werden würde. Es ist wahrscheinlich noch nicht alles verloren, denn keiner der Kommentatoren des Manifests hat es entschuldigt. Eine Haltung zu erklären, heißt schon nicht mehr, sie zu fordern. Und wenn man das Manifest nicht für sich beansprucht, ist es dann nicht so, dass es „unmöglich ist sich darauf zu beziehen“, weil man sich geirrt hat? Wenn dieser große Schritt in der Praxis getan würde, und ich bin überzeugt, dass er in den Köpfen der Menschen getan wird, könnten wir einen neuen Aufschwung erleben, eine Regeneration des anarchistischen Prinzips … und des gegen den Krieg. Ich will nicht daran verzweifeln und wäre unendlich glücklich, ein bescheidener Handwerker dieser großen und schönen Aktion gewesen zu sein. LOUIS DESCARSINS * * * ANTWORT Descarsins greift die These des heiligen Egoismus (A.d.Ü., im Original, ‚l’égoïsme sacré‘) auf, des heiligen Egoismus, der Mussolini lieb und teuer war und auch den Marxisten lieb und teuer ist. Mussolini erklärte, dass Italien nur an sich selbst interessiert sein sollte. Marxisten bekennen sich dazu, dass die Arbeiterklasse sich nur um ihre eigenen Interessen kümmern sollte. Das Gefühl der Gerechtigkeit ist universell. Eine Verweigerung der Gerechtigkeit trifft alle wohlgeborenen Menschen, alle, die nicht von Vorurteilen pervertiert oder durch Konventionen, Formeln und Dogmen versteinert sind. Die alten Revolutionäre, einschließlich der alten Anarchisten, haben sich dadurch geehrt, dass sie sich gegen Ungerechtigkeit, wie auch immer sie aussah, erhoben haben. Aber der Idealismus ist auf dem Rückzug. Die Achtundvierziger, die die Verehrung des Ideals ziemlich gut symbolisieren, werden als alte Säcke beschimpft. Heute beherrscht der Utilitarismus die Welt. Wir nehmen uns das Recht heraus, uns für jede Verweigerung der Gerechtigkeit, für jeden Gewaltakt gegen einen Schwachen zu interessieren, um unseren Protest herauszuschreien und zu handeln, wenn wir können. Wir nehmen uns das Recht, gegen die Ungerechtigkeit einzuschreiten, die gegen einen Säbelrassler, einen Offizier der bourgeoisen Armee, begangen wird. Wir waren Dreyfusards und würden es immer noch sein, wenn wir es noch einmal tun müssten. Wenn wir uns also früher das Recht genommen haben, in einen Konflikt zwischen Galeonen einzugreifen, ohne dass uns dies sonst geschmälert hätte – im Gegenteil -, warum sollten wir dann nicht das Recht haben, in einem Konflikt zwischen Regierungen Partei zu ergreifen; aber wo menschlicher Fortschritt, Gerechtigkeitsvorstellungen und Errungenschaften auf dem Gebiet der moralischen Freiheit auf dem Spiel stehen1? Wenn moralischer Fortschritt, Gerechtigkeit und Freiheit auf dem Spiel stehen, gibt es keine Klasse oder Regierungseinheit mehr, die Bestand hat, und die Interessen des menschlichen Ideals dominieren alles. So viel zu denjenigen, die zu viel Angst haben, auf etwas hereinzufallen und sich in Misstrauen üben. Misstrauen ist ein ziemlich niedriges Gefühl, das nur zu Hilflosigkeit und Unfruchtbarkeit führen kann. Tatsächlich ist es ein Privileg derjenigen, die sich zu schwach oder zu ängstlich fühlen, um zu handeln. Verlassen wir diese allgemeinen Ideen und gehen wir zu den Fakten über. Descarsins war der Meinung, dass der Krieg zwischen Regierungen uns niemals interessieren sollte. Dies war auch die Meinung der Bolschewiki und Anarchisten in Petrograd und Moskau zur Zeit der Kerenski-Regierung. Dieser wollte den Krieg fortsetzen. Abscheuliches Verbrechen gegen das Volk. Die gesamte anarchistische und bolschewistische Propaganda konzentrierte sich auf diesen Punkt. Die Anarchisten, einfache Negierer (A.d.Ü., im Sinne einer Negation) und Verehrer von simplen Formeln, halfen den Bolschewiki, die Regierung Kerenski zu Fall zu bringen. Diese kamen an die Macht und erklärten den Krieg für beendet. Doch trotz ihrer Freundschafts- und Friedensbeteuerungen und ihrer erfolglosen Verbrüderungsversuche rückten die kaiserlichen deutschen Armeen weiter vor. Trotzki versuchte daraufhin vergeblich, mit unzureichenden Elementen eine Verteidigung zu improvisieren. Die russische Armee war unorganisiert, und die Soldaten kehrten nach Hause zurück. Man musste den Vertrag von Brest-Litowsk erdulden. Descarsins täte gut daran, ihn zu lesen. Die baltischen Staaten und die Ukraine wurden unter deutsches Protektorat gestellt. Die kaiserliche Regierung führte militärischen Terror und die Diktatur reaktionärer Großgrundbesitzer ein. Der Vertrag versetzte selbst die russischen Bolschewiki gegenüber dem deutschen Botschafter in Moskau in einen derartigen Zustand der Plattheit, dass man sich fragen muss, was sie hätten akzeptieren müssen, wenn die Deutschen nicht zu viele Kräfte für die Westfront gehabt hätten. Allein die politische und ökonomische Knechtschaft der baltischen Bauern und der Ukrainer ist als Beispiel ausreichend. Sie würde zum Dauerzustand werden, wenn die Deutschen nicht besiegt worden wären. Descarsins sagt, dass das Volk am Krieg krepiert. Aber die Regierungen auch. Zumindest geschieht dies. Diese Bemerkung stammt von Paul Reclus, der hinzufügt: „Der russisch-japanische Krieg ermöglichte den russischen Aufstand von 1905, der nicht zum Erfolg führte, aber den russischen revolutionären Elementen eine Vorstellung von ihrer Macht gab.“ Diese Feststellung wird nicht gemacht, um den russisch-japanischen Krieg zu legitimieren – weit davon entfernt -, sondern um Descarsins die Komplexität der Dinge zu zeigen. Letztendlich macht der Krieg durch die Erschöpfung, die er im Regierungsgerüst hervorruft, die Revolution möglich. Dies geschah dank des Krieges von 1914 in Russland und Deutschland. Ohne den Krieg war die staatszentrierte Organisation in beiden Ländern zu stark, als dass eine revolutionäre Bewegung eine Chance auf Erfolg gehabt hätte, trotz des Gezeters der Marxisten. Daher ist die Angst vor einem sozialen Umsturz derzeit wahrscheinlich die beste Garantie gegen einen neuen Krieg. Sie wird es dem Kellogg-Pakt ermöglichen, reale und anhaltende Auswirkungen zu haben. „Können wir hinzufügen“, sagt Paul Reclus, „dass vom moralischen Standpunkt aus, vom menschlichen Standpunkt aus, die Unterzeichnung dieses Paktes zwischen Regierungen wichtiger ist als die Anathemata einiger Anarchisten?“ Descarsins sagt, dass unsere Haltung 1914 im Widerspruch zu unserem Leben, unseren Taten, unserer Propaganda, unseren Schriften, unserem gesamten anarchistischen Werk von früher stand. Zweifellos werde ich ihn sehr überraschen, wenn ich ihm antworte, dass es keinen Widerspruch gab, und dass wir vor, während und nach dem Krieg antipatriotisch und antimilitaristisch waren. Aber man muss verstehen, dass wir gegen die Bedrohung durch den allmächtigen preußischen Militarismus Partei ergriffen haben, dessen Triumph im besiegten Frankreich einen reaktionären Militarismus gestärkt hätte (während der Stein des Grabes auf den Völkern Osteuropas gelegen hätte), und dass unser Beitritt zur gemeinsamen Verteidigung niemals die Verherrlichung des französischen Militarismus, Imperialismus, Herrschaft, Nationalstolz, Vergeltung oder Demütigung zum Ziel hatte2. Vor dem Krieg haben wir in Frankreich die aktivste Propaganda gegen nationalistische Brandstifter, gegen patriotische Vorurteile; gegen die Maskerade der Militärpensionen gemacht. Wir wussten, dass in Deutschland und anderswo unsere Gefährten, die zwar weniger zahlreich, aber ebenso aktiv waren, die gleiche antimilitaristische Propaganda betrieben. Wir erkannten, dass im Deutschen Reich die demokratischen und revolutionären Ideen Fortschritte machten, trotz der Behinderung durch die feudalistische Staatsstruktur. Wir hofften, dass der noch schwache demokratische und revolutionäre Impuls mit der Zeit stark genug werden würde, um die Militärs daran zu hindern, nach eigenem Ermessen einen Krieg zu beginnen. Diese demokratische Bedrohung, so weit entfernt sie auch sein mochte, war einer der Gründe, warum die kaiserliche Regierung die Entscheidung über die Feindseligkeiten traf, da sie sich für unbesiegbar hielt. Die deutsche Hegemonie, politisch und vor allem ökonomisch, wurde jeden Tag stärker. Aber das kleinste Hindernis, sei es von außen oder von innen, reizte den impulsiven und stolzen Menschen, der die Geschicke des Reiches leitete. Der Krieg ist so verrückt, dass ich mich am 31. Juli weigerte, daran zu glauben und jedem, der es hören wollte, sagte, dass es eine solche Katastrophe an Menschenleben und materiellem Reichtum sein würde, dass keine Regierung es wagen würde, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Noch heute machen sich meine Verwandten über meinen damaligen Optimismus lustig, aber ich glaube immer noch, dass ich Recht hatte. Unser Widerstand gegen die Invasion, die vom deutschen Feudal- und Militärclan angeführt wurde, beinhaltete nie den Hass auf das deutsche Volk oder die Absicht, es zu versklaven. Ich persönlich hatte nie die Idee, Nettlau auf dem Altar des Vaterlandes ausweiden zu lassen. Ich habe während des Krieges weiterhin um mich herum Ideen der universellen Brüderlichkeit und des Verständnisses der Gegner verbreitet, die auf dem einfachen gesunden Menschenverstand beruhen. Als die Gefahr vorüber war, nahmen wir ohne Groll, ohne Scham und ohne Reue unsere Propaganda wieder auf, die mir ohne Unterbrechung zu sein schien, weil meine Gedanken in meinem Gehirn keine Abweichung erfahren haben. Ich gestehe, auch wenn ich Descarsins empören sollte, dass ich die gleiche Haltung gegen eine von Mussolini geführte Invasion einnehmen würde, ohne Hass gegen die Italiener. Aber da ich den französischen Royalisten feindlich gesinnt bin, warum sollte ich das Gesetz der Faschisten akzeptieren, nur weil die Faschisten Ausländer sind? Und doch ist der Faschismus viel weniger gefährlich, viel weniger mächtig, als es der große deutsche Generalstab war. Sein Sieg hätte weitaus geringere Auswirkungen; zumindest würde er in Frankreich die triumphale Rückkehr des chauvinistischen und reaktionären Geistes bewirken. Aber ich behaupte nicht, dass ich Descarsins meine Meinung aufzwingen will3. Kann ich sagen, dass ich seit dem Krieg besser atme, dass ich mehr Vertrauen in eine friedliche Entwicklung der Völker habe, seit Europa nicht mehr die Reiche Deutschlands, Österreichs und Russlands wie einen Ballast mit sich herumschleppt? Es gibt den Faschismus und einige andere Diktaturen. Sie sind von untergeordneter Bedeutung und vor allem für ihre eigenen Völker unangenehm. Der stärkste, der italienische Faschismus, hat kein Geld, also kann er nichts tun, sondern geht in den finanziellen Bankrott. Die Nachbarn müssen sich jedoch vor den Zuckungen des Tieres im Moment seines Todeskampfes hüten. Wir haben gelitten, viele Menschen sind gestorben, das ist wahr. „Die Ertrinkungsfälle von Nantes während der Französischen Revolution, die Hinrichtungen in den russischen Gefängnissen begeistern mich auch nicht.“ (Paul Reclus). Aber die Generationen, die nach uns kommen, werden es nach der Depression, die auf einen so großen Umbruch folgt, leichter haben, sich zu befreien. Bevor ich eine bereits zu lange Antwort schließe, möchte ich Descarsins darauf hinweisen, dass er die Unterzeichner des Manifests mit der Groupe de Plus Loin verwechselt. Nun gibt es in unserer Gruppe sicherlich Gefährten, die die Ansichten der Sechzehn nicht teilen. Dennoch haben wir uns nie gegenseitig aufgefressen. Wir wissen, dass wir alle in gutem Glauben handeln. Unsere Diskussionen sind ein Austausch von Ideen. Wir haben nicht den Anspruch, mit aller Gewalt gegen unsere Gegner Recht zu haben. Wir wissen, dass die Wahrheit viele und unterschiedliche Seiten hat. Deshalb suchen wir nicht nach der absoluten Wahrheit. Wir versuchen, uns ein Bild von den Realitäten zu machen, ihre Komplexität zu erahnen und einige ihrer Zusammenhänge zu begreifen. Diese Studie erfordert einen unvoreingenommenen Geist, einen Sinn für Relativität und ein Wissen, das über das hinausgeht, was die meisten Anarchisten aus ihrer Selbstbeobachtung ziehen. Es gibt zwei Arten von Propaganda. Die eine ist, den Schädel zu stopfen und der Leichtgläubigkeit anderer einen zwingenden Katechismus aufzuzwingen. Die andere ist, zum Nachdenken anzuregen; diese kleine Zeitschrift hat keine andere Ambition. Die Gefährten von Plus Loin sind weder Meister noch geistliche Anführer. Sie weigern sich, ihre Überlegungen als endgültige Formeln darzustellen. Selbst im revolutionären Bereich haben im Laufe der Menschheitsgeschichte Revolten trotz eines recht ähnlichen Ideals oft den Lehrkörper geändert, auf den sie ihre Forderungen stützten, ob es sich z.B. um die Kommunen des Mittelalters, die Französische Revolution oder die Pariser Kommune handelte. Auch das anarchistische Dogma ist nicht endgültig. Wir haben die Etikette aus Zuneigung und Ehrfurcht vor den Älteren, die unsere moralische Emanzipation bewirkt haben, beibehalten, ohne uns jedoch verpflichtet zu fühlen, ihre Ideen, die uns veraltet und überholt erscheinen, beizubehalten. Was macht es schon, wenn die heutige anarchistische Bewegung ins Nichts zurückkehrt! Die Ideen der Emanzipation und der Freiheit werden in einer anderen Form oder unter einem anderen Namen wieder aufleben. Mit den derzeitigen Befürwortern der Bewegung versteinern diese Ideen in negativen Formeln: Nieder mit der Moral, nieder mit der Familie (es gab sogar vor dem Krieg eine Sekte wissenschaftlicher Anarchisten, die aus Halbverrückten bestand, die Gefühle leugneten und verkündeten: nieder mit der Liebe), nieder mit dem Krieg, nieder mit der Politik, nieder mit dem Eigentum, nieder mit der Gesellschaft usw.; all dies in einem Block, ohne irgendwelche Kontingenzen zu berücksichtigen, aus Angst, sich zu irren oder getäuscht zu werden. In Wirklichkeit sind die angeblich befreiten Anarchisten Sklaven absoluter Prinzipien. Sie haben die DOKTRIN schließlich in einen kleinen Kreis von vereinfachten Ideen eingeschlossen, die einigen von ihnen die Illusion geben, alles zu wissen, und das Gefühl einer immensen Überlegenheit. Einer von ihnen, dem wir zufällig ein Exemplar von Plus Loin geschickt hatten, antwortete uns: „Als Lektüre habe ich nicht viel zu lernen…“. Aber er dachte, er würde uns mit seinem Angebot zur Zusammenarbeit ehren. Der schwärzeste Punkt ist, dass die Propaganda größtenteils entweder von Fanatikern oder von genusssüchtigen Egoisten betrieben wird. Ist es verwunderlich, dass diese Propaganda viele brave Menschen, die die gleichen Ziele wie wir haben, abgeschreckt und vertrieben hat? Sicherlich gibt es in der Masse derer, die Descarsins als „alle anderen Anarchisten“ bezeichnet, eine Mehrheit von tapferen Idealisten, die nicht zu entmutigen sind und die besten aller Menschen sind. Aber müssen wir ihnen, um ihnen zu gefallen, Artikel anbieten, die nach den Klischees geschrieben sind, an die sie sich gewöhnt haben? Die meisten Menschen wollen nur das lesen, was ihrer Meinung schmeichelt und das, was sie gelernt haben, endlos wiederholt. Wir behalten die Unabhängigkeit unserer Kritik und die Freiheit unserer Überlegungen. Aber um Descarsins zu beruhigen, versichern wir ihm, dass wir unseren Antimilitarismus von früher immer ohne Hintergedanken beibehalten haben, dass wir wie er den Egoismus und den Stolz des Patriotismus verabscheuen und dass unsere Hoffnung darin besteht, dass eines Tages alle Barrieren zwischen den Nationen verschwunden sein werden. M. PIERROT. * * * REKTIFIKATION. – Wir erhalten einen Brief von Richard (aus Algier), in dem er behauptet, dass Cornélissen gegen Pierrot Recht hat. Das Manifest der Sechzehn erschien zum ersten Mal am 14. März 1916 in La Bataille. Richard fügte hinzu: „Ich messe dem Datum der Deklaration große Bedeutung bei. Es belegt, dass sie erst nach mindestens 16 oder 18 Monaten Krieg ausgearbeitet wurde, zu einem Zeitpunkt, als die zentralen Imperien, die an allen Fronten siegreich waren, die Situation zu beherrschen schienen. Wir sind unseren Herren nicht zu Hilfe geeilt, wie man uns vorgeworfen hat, sondern wir haben uns unter die Verteidiger unserer bedrohten Freiheiten eingereiht. Ich für meinen Teil würde es in einer solchen Situation wieder tun.“ Tatsächlich schickt uns Cornélissen seinerseits das Manifest selbst. Es ist vom 28. Februar 1916 datiert. Wir möchten die Gelegenheit nutzen, um die folgenden Passagen wiederzugeben: „… Wenn die deutschen Arbeiter beginnen, die Situation so zu verstehen, wie wir sie verstehen und wie sie bereits von einer kleinen Minderheit ihrer Sozialdemokraten verstanden wird, und wenn sie sich bei ihren Regierenden Gehör verschaffen können, könnte es eine Grundlage für den Beginn von Friedensgesprächen geben…“. „… Was die Frage betrifft, wie man in Deutschland über die Friedensbedingungen denkt, so ist eine Tatsache sicher: Die bourgeoise Presse bereitet die Nation darauf vor, die reine und einfache Annexion Belgiens und der nordfranzösischen Departements zu verschmähen. Und es gibt in Deutschland keine Kraft, die sich dem widersetzen könnte… „In unserem tiefen Bewusstsein war die deutsche Aggression eine – ausgeführte – Drohung nicht nur gegen unsere Hoffnungen auf Emanzipation, sondern gegen die menschliche Entwicklung. Deshalb haben wir, die Anarchisten; wir, die Antimilitaristen; wir, die Feinde des Krieges; wir, die leidenschaftlichen Anhänger des Friedens und der Brüderlichkeit der Völker, uns auf die Seite des Widerstands gestellt und glaubten nicht, unser Schicksal von dem der Bevölkerung trennen zu müssen…“ * * * Aus einem Brief unseres Freundes Ishikawa, einem der „Sechzehn“, der seit 1920 nach Japan zurückgekehrt ist, entnehmen wir folgende Passage: „Ich stimme dir voll und ganz zu. Vor allem finde ich, dass sich die Mentalität des japanischen Militaristen seit dem europäischen Krieg, d.h. seit dem Debakel des deutschen Militarismus, völlig verändert hat. Ja, das militaristische Japan ist demokratisiert, weil es gespürt hat, dass der alte Militarismus gegen die große demokratische Volksbewegung nicht mehr standhalten kann.“ Unsere Diskussionen – Über das Manifest der Sechzehn – M. Isidine, Auguste Bertrand, Jean Wintsch und M. Pierrot Plus Loin N°44 – November 1928 Zu der Reihe von Überlegungen, die von Gefährten in den Spalten von Plus Loin zu diesem Thema geäußert wurden, möchte ich ein paar Worte hinzufügen. Diese Meinungsverschiedenheit in anarchistischen Kreisen dauert nun schon seit Jahren an, und weder die Zeit noch die Ereignisse scheinen die eine oder die andere Seite etwas gelehrt zu haben. Jedes Mal, wenn dieser Punkt berührt wird, bricht der Zorn mit neuer Kraft wieder aus. Und doch, wurde die Bedeutung dieser Meinungsverschiedenheit nicht übertrieben? Wird sie nicht durch eine Art Autosuggestion verstärkt, durch die Gewöhnung an die immer gleichen Argumente? Erinnern wir uns daran, wie viele von denen, die später die Unterzeichner des „Manifests der Sechzehn“ als Abtrünnige bezeichneten, in den ersten Tagen des Krieges glühende Befürworter des Widerstands gegen die auf Paris marschierenden deutschen Armeen waren. Als 1912 während des Balkankrieges die „Temps Nouveaux“ Artikel von Kropotkin und Tscherkesoff veröffentlichten, die ungefähr die gleichen Ansichten vertraten wie die, die später so viel Empörung hervorrufen sollten, schrie niemand „Verrat“. Es ist offensichtlich, dass die Meinungsverschiedenheiten in den Augen der Gefährten erst später und allmählich ihre gigantischen Ausmaße annahmen. Kann man in der Tat sagen, dass uns der Ausgang aller Krieges – außer eines Bürgerkriegs – gleichgültig ist? Es gibt Kriege, deren Ausgang über die politische oder nationale Unabhängigkeit von Völkern entscheidet; es gibt Kriege, in denen der Sieg eines der Gegner eine starke allgemeine Reaktion hervorrufen kann. Schließlich ein sehr deutliches Beispiel aus unserer Nähe: angenommen, eine Macht oder eine Koalition von Mächten erklärt Russland in diesem Moment den Krieg. Wie auch immer unsere Meinung über das gegenwärtige innere Regime Russlands aussehen mag, die Russische Revolution an sich hat einen solchen Wert, dass eine Gefahr, die ihre Eroberungen bedroht, uns nicht gleichgültig lassen kann. Nun ist es unbestreitbar, dass ein solcher Krieg die alte Welt mit den Anfängen eines neuen Lebens konfrontieren würde, wenn auch in Form eines Konflikts zwischen zwei Staaten und zwei Armeen. Die Einstellung zu einem Krieg ist also je nach den Umständen unterschiedlich; man kann darüber diskutieren, ob eine bestimmte kämpfende Partei es wert ist, verteidigt zu werden, ob ein bestimmter Ausgang des Krieges die Menschheit einen Schritt vorwärts oder rückwärts bringen wird, aber man sollte eine Frage der Einschätzung oder Vorhersage von Ereignissen nicht zu einer Grundsatzfrage von höchster Bedeutung erheben. Es gibt noch eine weitere Seite der Frage, die man bis jetzt noch nicht gesehen zu haben scheint. Ja, es gibt unbestreitbar einen Widerspruch in der Haltung der Anarchisten, die sich im Großen Krieg auf die Seite eines der Gegner stellten. Davor darf man die Augen nicht verschließen. Man kann nicht leugnen, dass die Teilnahme an einem Krieg eine Verletzung pazifistischer und antimilitaristischer Prinzipien darstellt, dass der Eintritt in eine Armee und die Unterwerfung unter die Disziplin ein wichtiges Zugeständnis ist. Aber war dieser Mangel an Logik nicht dem Leben selbst inhärent? Konnten sich die Anarchisten diesem Widerspruch entziehen? Und gerieten diejenigen, die sich auf den entgegengesetzten Standpunkt stellten, nicht in einen ebenso eklatanten Widerspruch, wenn auch in umgekehrter Richtung? In Wirklichkeit war es niemandem möglich, diesem Widerspruch zu entkommen. Denn während die Teilnahme am Krieg gegen pazifistische und antimilitaristische Prinzipien verstößt, stellt der Nicht-Widerstand gegen Invasionsarmeen eine mindestens ebenso große Verletzung des obersten Prinzips des Widerstands gegen Unterdrückung dar, eine mindestens ebenso große Aufgabe des Geistes der Revolte. Diese Konflikte sind das Werk des Lebens selbst. Der schwerwiegendste ist der, der sich vor dem Gewissen jedes Revolutionärs stellt: auf der einen Seite das unbestreitbare Prinzip der Unverletzlichkeit des Lebens und der menschlichen Persönlichkeit; auf der anderen Seite das Recht auf Aufstand und revolutionären Kampf im Namen der Emanzipation eben dieser menschlichen Persönlichkeit. Man muss sich entscheiden, so wie man sich im Moment des Krieges entscheiden musste. Und selbst Enthaltung und Untätigkeit sind keine Lösung: der Nicht-Widerstand gegen das Böse ist in Wirklichkeit immer ein Dienst, der dem Stärkeren geleistet wird. Auf die eine oder andere Weise waren die Anarchisten gezwungen, ihre Meinung in die Waagschale zu werfen. Nun, welches der beiden kollidierenden Prinzipien ist das allgemeinere, tiefere, wertvollere: das pazifistische und antimilitaristische Prinzip oder das Prinzip des Widerstands gegen die Unterdrückung? Unbestreitbar das letztere. Der Antimilitarismus ist nur eine besondere Form der Opposition gegen den Staat, so wie der Krieg nur eine besondere Erscheinungsform der kapitalistischen und hierarchischen Organisation der Gesellschaft ist. Im Gegensatz dazu ist die Idee des Widerstands, des Kampfes gegen eine starke Macht, der Verteidigung der Rechte und Freiheiten jeder gesellschaftlichen Gruppierung, des Kampfes gegen die Reaktion in all ihren Formen, die Grundidee des Anarchismus. Natürlich können beide Tendenzen ad absurdum geführt werden und die wahre Physiognomie der anarchistischen Bewegung verändern; aber in einer ernsthaften Diskussion sollte man sie nicht unter diesem abnormalen Aspekt darstellen. Derzeit scheint es, dass sich die Frage ein wenig verschoben hat: es werden vor allem Überlegungen zu den Ergebnissen des Krieges angestellt, es wird diskutiert, ob die Reaktion stärker oder schwächer geworden ist, wie die Dinge aussehen würden, wenn Deutschland gesiegt hätte usw. Die gegenwärtige Reaktion stärkt die These der Gegner der Kriegsbeteiligung, das ist eine Tatsache; aber wenn die Ereignisse anders verlaufen wären, hätte die Reaktion, die auf den Sieg Deutschlands gefolgt wäre, in gleicher Weise die gegenteilige These gestärkt und die Meinung der anarchistischen Kreise entsprechend verändert. Unter diesen Umständen verliert die Frage ihre Schärfe: es geht nicht mehr um die anarchistischen Prinzipien der Autoren des Manifests, sondern um ihre politische Einsicht: haben sie sich geirrt, als sie glaubten, dass sich die Sache lohnen würde? Aber kann die so gestellte Frage die Bedeutung behalten, die ihr zugeschrieben wurde, und die Zusammenarbeit von Gefährten verhindern, die nur durch eine unterschiedliche Einschätzung der politischen Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt getrennt sind? Marie Isidine * * * Ich befürchte, dass am Anfang all dieser Prosa ein Missverständnis steht. Descarsins ist „zutiefst betrübt, dass es in all den erschienenen Kommentaren nicht möglich ist, auch nur die kleinste ausgestreckte Stange zu erspähen, die eine Annäherung, eine Versöhnung zwischen den Anarchisten von Plus Loin und allen anderen ermöglichen würde… Indem er die Frage des Manifests stellte, hoffte er, sie in diesem Sinne gelöst zu sehen“. So wurde sie nicht gestellt, und so wurde sie auch nicht von Plus Loin auf die Tagesordnung gesetzt. Es wurde uns im Wesentlichen gesagt: viele junge Gefährten kennen das Manifest nur aus tendenziösen oder beleidigenden Interpretationen, die daraus gemacht wurden. Es ist für sie ein Glaubensartikel, dass es in krassem Widerspruch zur anarchistischen Doktrin steht. Es wäre in jeder Hinsicht nützlich, den Unterzeichnern die Gelegenheit zu geben, die Gründe für ihre Haltung zu erklären. Aber das reicht nicht aus, um die anarchistische Einheit wiederherzustellen, die das Manifest, wie es scheint, unwiderruflich gefährdet hat. Von den Angeklagten wurde erwartet, dass sie sich schuldig bekennen und mildernde Umstände geltend machen würden, um dann aufgrund ihrer guten Vorgeschichte das Bewährungsgesetz auf sie anwenden zu können. Sie sind jedoch nicht bereit, sich zu bessern, genauso wenig wie andere Anarchisten bereit sind, sie freizusprechen. Es ist ziemlich natürlich, dass sich die Anhänger von den Meistern trennen, wenn sie glauben, gute Gründe dafür zu haben, und es ist nicht in dieser Zeitschrift der freien Prüfung, die ständig dem doktrinären Geist entgegengesetzt wird, dass man dies schlecht finden wird. Wenn politische Parteien zu Wahl- oder Rekrutierungszwecken gezwungen sind, die widersprüchlichen Tendenzen ihrer Kongresse in Einstimmigkeitsanträgen unter einen Hut zu bringen, in denen Mehrheiten und Minderheiten sich um die notwendigen gegenseitigen Zugeständnisse bemühen, brauchen die Anarchisten keine solchen Disziplinen, sie können sich den Luxus einer völligen Unabhängigkeit des Denkens leisten. Die Unterzeichner des Manifests vom Februar/März 1916 und die Mitarbeiter der Enquête sur les conditions d’une Paix durable (Untersuchung über die Bedingungen für einen dauerhaften Frieden) vom Januar/Juni 1917 beanspruchten diese Unabhängigkeit des Denkens. Mit den in Plus Loin veröffentlichten Artikeln ist es nicht mehr möglich, ihre Ansichten zu ignorieren oder von ihnen eine verspätete Desavouierung zu erwarten, die endlich die Seele der anderen Anarchisten erweitern könnte. Auguste Bertrand * * * Es scheint, dass mein kleiner Ordnungsantrag über das Manifest der Sechzehn dem Redakteur von Plus Loin einen Schwall von Beleidigungen, zwei oder drei freundliche und zivile Antworten und einige Zeitungsartikel in einem ernsten Ton, wie es sich gehört, eingebracht hat. In diesem Konzert der Beschuldigungen ist eine Stimme vorherrschend: die des „Réveil Anarchiste de Genève“. Da Bertoni für sich selbst und für einige italienische Arbeiter (in einer bestimmten Epoche ihrer Existenz) die gereinigte, strenge und endgültige anarchistische Wahrheit darstellt, halte ich es für nützlich, eine Tatsache zu den Akten zu bringen, die ich bereits Gelegenheit hatte, zu geben. Zu der Zeit, als die Deutschen 1914 vor der Marne mit fünfzig Kilometern pro Tag auf Paris herunterkamen, sah ich den Staatsbürger Bertoni bei mir zu Hause. Er war entsetzt über das, was geschehen würde: „Es wäre eine entsetzliche Katastrophe“, sagte er mir, „wenn die Deutschen die Franzosen besiegen würden; es gäbe eine monarchische und militärische Unterdrückung über ganz Europa; und jeder Kampf für die Freiheit wäre gefährdet.“ Schließlich fand sechs Tage später in Lausanne der Kongress der Fédération des Unions ouvrières (A.d.Ü., Föderation der Arbeiterunionen) statt, und ich erklärte dort, dass die Verletzung Belgiens eine Ungeheuerlichkeit sei, dass wir im Namen der Ideen von Freiheit und Gerechtigkeit, die wir verteidigten, die Sache der Alliierten unterstützen müssten, auf jeden Fall gegen die deutschen Invasoren protestieren müssten, denn es gäbe keinen Internationalismus, solange eine Nation einer anderen unterworfen sei. Ich war sehr erstaunt, als ich hörte, dass der Staatsbürger Bertoni antwortete, dass diese Fragen uns nichts angingen, dass es für die Arbeiterklasse nur einen Feind gäbe, den Kapitalismus, und dass wir, wenn wir für Belgien Partei ergriffen, zu Verbündeten der bourgeoisen Regierungen von Frankreich und England würden, die wie die deutschen imperialistisch seien, etc. Na und! Unter vier Augen hielt man ängstlich an den Franzosen fest und in der Öffentlichkeit gab man doktrinär vor, sie mit den Deutschen in einen Topf zu werfen! Es gab eine Wahrheit für die Auguren und eine Wahrheit für das Volk. Dies war der Beginn unserer Trennung. Wenn Bertoni 1914 Besorgnis äußerte, ehrt ihn das nur, denn er zeigte damit, dass er ein Mensch war, und ein Mensch, der vibriert, leidet und sucht, ist immer rührend. Dass Bertoni sich dann seit 14 Jahren damit brüstet, immer eine klare und kategorische Meinung zum Krieg von 1914 gehabt zu haben, ehrt ihn nicht besonders, denn was bleibt von seiner Weitsicht übrig, wenn bewiesen wird – was durchaus plausibel ist -, dass der Krieg von 1914 nicht den marxistischen Thesen folgte und keine vorwiegend kapitalistischen Ursachen hatte? Jean Wintsch * * * Was uns Wintsch berichtet, ist interessant in Bezug auf die Psychologie einiger Propagandisten. Ich kann darin bestätigen, was ich selbst bei einigen Anarchisten beobachtet habe, die aus Angst, sich zu kompromittieren, neutral geblieben sind. Sie gestanden mir „unter vier Augen“, dass sie, ohne den nationalistischen Wahn zu teilen, vor der Niederlage Frankreichs gezittert hatten4. Manche Propagandisten haben schließlich eine so starke berufliche Deformation, dass sie es nicht wagen, die ganze Wahrheit zu sagen, oder zumindest das, was sie tief in ihrem Inneren für die Wahrheit halten, aus Angst, sich selbst oder ihren Einfluss auf ihre Anhänger zu schmälern – vielleicht auch, weil sie wie die christlichen Propagandisten, also die Priester, glauben, dass man dem Volk nicht die ganze Wahrheit sagen sollte, weil es sie nicht verstehen würde und damit die Propaganda (oder die Religion) kompromittiert werden würde. Viele Menschen sind in der Tat verwirrt und desorientiert, wenn sie sich in außergewöhnlichen Situationen befinden oder mit etwas komplexeren moralischen Phänomenen konfrontiert sind. Sie sind nur in der Lage, ihren unmittelbaren Interessen oder Gewohnheiten zu folgen. Da sind zum Beispiel die einfachen Leute, vor allem diejenigen, die ein miserables Einkommen haben. Viele von ihnen haben keinen Sinn für Freiheit. Ich erinnere mich, dass ich vor etwa 20 Jahren Schuhmachern geholfen habe, von denen die einen als Fabrikarbeiter Sozialisten und die anderen als Handwerker in ihren Läden Anarchisten waren. Es ist wahrscheinlich, dass der Zufall mich begünstigt hat und dass man sowohl unter Fabrikarbeitern als auch unter Handwerkern Menschen aller politischen Ansichten gefunden hätte. Es ist dennoch wahr, wenn man die Ausnahmen berücksichtigt, die auf den Charakter jedes Einzelnen und sein Temperament zurückzuführen sind, dass der arme Teufel, der Hilfsarbeiter, sich oft mit den sozialistischen Forderungen nach einem unmittelbaren und gesicherten materiellen Wohlstand zufrieden gibt und den bolschewistischen Staatskommunismus akzeptiert. Ein Handwerker, ein unabhängiger oder qualifizierter Arbeiter wird oft mehr wollen: er wird moralisches Wohlergehen und Freiheit fordern, und seine Forderungen werden einen antietatistischen Charakter annehmen. Von diesen werden die einen es dabei belassen, „sie werden sich auf den Boden der Arbeiterklasse allein stellen, die für sie die Einheit ist, die sie fühlen, während die anderen etwas Größeres, auch Abstrakteres fühlen, die zivilisierte Gesellschaft, die Interessen einer Zivilisation, etwas weitgehend Menschliches, das uns am Herzen liegt, weil wir davon profitieren konnten, und sei es nur durch unsere Bildung.“ Dieser Satz, den ich aus einem besonderen Brief von Wintsch herausgelöst habe, scheint mir einer psychologischen Realität zu entsprechen. Natürlich hat Bildung keine Wirkung auf bourgeoise Egoisten, auf diejenigen, die nur ihre eigenen Interessen oder die Interessen ihrer Klasse verstehen, oder deren Ideal sich höchstens zu einer nationalen Eigenliebe erhebt. Aber es gibt keine Verwechslung zwischen diesen Bourgeois und einem Mark Aurel, der das römische Reich gegen die Einfälle der Barbaren verteidigte, oder Kropotkin, der die Initiative für das Manifest der Sechzehn ergriff. Was ist also Patriotismus aus psychologischer Sicht? Es ist der Geisteszustand von Individuen, die ihre Selbstachtung und ihr Bedürfnis nach Überlegenheit in die Gruppe, die Mannschaft, das Korps oder die Nation projizieren, der sie angehören. Egal wie intim sie sind, weil sie sich als Individuen unterlegen fühlen und um dem Gefühl der Unterlegenheit zu entgehen, legen sie großen Wert darauf, Teil einer Gruppe zu sein, die anderen überlegen ist. So erklären sich der Korpsgeist und der Patriotismus mit der Eitelkeit und dem Dünkel, mit denen sich die Mitglieder jeder Gemeinschaft schmücken, und mit der Verachtung, die sie gegenüber Fremden bekunden. Es ist sicher, dass diese Geisteshaltung keinem der Unterzeichner des Manifests zugeschrieben werden kann. Im Gegenteil, ich glaube, dass viele anarchistische Propagandisten unter unseren Gegnern im Stadium des Minderwertigkeitsgefühls stehen geblieben sind. Ich spreche nicht von denen, die die Interessen der Zivilisation nicht wahrgenommen haben und sich in gutem Glauben weigerten, Partei zu ergreifen. Ich spreche von denjenigen, die es aufgegeben haben, der vereinfachten Masse die momentane Notwendigkeit eines Beitritts zu einem Verteidigungskrieg verständlich zu machen, und die vor der öffentlichen Meinung nicht als durch die Ereignisse in den Bankrott getrieben erscheinen wollten. Fanatismus erschien ihnen besser als die Situation der Unterlegenheit, die für ihr Selbstwertgefühl zu schmerzhaft war. Es steht ihnen nicht zu, uns Gefühle und Ideen zuzuschreiben, die nicht die unseren sind, und uns den Vertrag von Versailles und den Vertrag von Trianon in die Schuhe zu schieben. Damit verhalten sie sich wie Redner bei öffentlichen Versammlungen, für die Bösgläubigkeit die Regel ist und die nur die Befriedigung ihrer Eitelkeit verstehen. Das Amüsanteste ist, dass sie uns unsere Eitelkeit vorwerfen und uns so nach ihren Maßstäben beurteilen. Selbst diejenigen unserer Gegner, die in gutem Glauben sind, selbst diejenigen, die wie Descarsins zu unseren Freunden gehören, können in der Diskussion nicht anders, als Verallgemeinerungen vorzunehmen, die unsere Gedanken verzerren. Descarsins zufolge sind wir zum Beispiel gezwungen, in jedem Krieg Partei zu ergreifen und uns unter das Banner einer der Kriegsparteien zu stellen, etc. Es genügt, diesen Ausgangspunkt als gegeben anzunehmen, um mit geschlossenen Augen, d. h. ohne etwas zu beobachten und nur mithilfe logischer Argumentation, zu unwiderlegbaren Schlussfolgerungen zu gelangen. Die Psychologie des Argumentierenden reicht nicht aus, um die Fakten nach Belieben zu verändern, und die Logik kann die Erfahrung und die Beobachtung nicht ersetzen. Ich würde sogar sagen, dass die Logik aufgrund ihrer Komplexität ein gefährliches Instrument im Zustand der biologischen und soziologischen Fakten ist. Sie vermittelt oft nur die Illusion, Recht zu haben, und führt zu Fanatismus, z. B. zum Tolstoismus. Was den Inhalt des Themas betrifft, verweise ich die Leser auf den Artikel von Isidine und fordere sie auf, ihn ein zweites Mal zu lesen. M. Pierrot
1In der moralischen Freiheit muss die Freiheit der nationalen Bräuche verstanden werden. Der Imperialismus ruft eine patriotische Reaktion der unterworfenen Völker (Polen, Irland, Indien usw.) hervor, die sich vor allem vom fremden Joch befreien wollen und für die die Eroberung der sozialen Freiheiten an zweiter Stelle steht. Die Bolschewiki haben sehr gut verstanden, dass die beste Politik darin besteht, die nationale Autonomie zu respektieren. 2Alle diese Punkte wurden in einer Enquête sur les conditions d’une paie durable, die 1917 von Les Temps Nouveaux unter Mitarbeit der meisten Unterzeichner des Manifests und einiger anderer Persönlichkeiten veröffentlicht wurde, näher erläutert. 3In diesem Sinne – im Sinne der Meinungsfreiheit – hätte ich mir gewünscht, dass das Manifest verfasst worden wäre. Ich habe es an Kropotkin geschrieben, der mir geantwortet hat. Aber ich habe nicht die Sorge, ich hätte fast gesagt, die Manie, alte Papiere aufzubewahren. 4Ich spreche nicht von denjenigen, die das Spielzeug ihrer Gefühlsschwankungen waren: zuerst von chauvinistischem Wahnsinn befallen, wurden einige später zu feurigen Zimmerwaldianern und gingen zum Bolschewismus über, ohne übrigens mehr Vernunft zu haben.
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