Auf französisch hier, und von hier entnommen und korrigiert
Der Militante im 21. Jahrhundert
Die Situationisten machten aus der Verweigerung der Militanz eine grundlegende Banalität und diese Kritik wurde 1972 im Text „Die Militanz als höchstes Stadium der Entfremdung“1 zusammengefasst.
Für uns ist Militant keine Beleidigung für Leute, mit welchen wir nichts gemeinsam hätten (wie petit-bourgeois damals für viele Militante). Gewisse Gefährten können der Militanz verfallen: Da wir nicht die Perfektion suchen, sehen wir darin nicht zwingend ein Motiv, mit ihnen zu brechen.
In der situationistischen Kritik war die Militanz gleichbedeutend mit der Aufopferung seines Lebens für eine Sache, der Negation seiner persönlichen Wünsche und der Unterwerfung unter eine Doktrin. Und v.a. mit dem Glauben, die Veränderung der Welt durch immer mehr Interventionen, Sitzungen und Worten für möglich zu halten. Der Militante ist voluntaristisch und produktivistisch.
Wie hat sich der Militante vierzig Jahre später verändert? Mit welchen Konsequenzen für unsere Kritik der Militanz?
Von der Aufopferung zum Hedonismus
(Anm. d. Ü., das französische Wort militant kommt vom Wort militer) Militer, das ursprünglich Krieg führen bedeutet: Der Militante ist ein politischer Soldat, doch das Wort bekommt mit den Syndikaten und den Massenparteien, Zeitgenossen der Demokratie, seinen modernen Sinn.
Man engagiert sich als Militanter also wie man arbeitet, die Arbeit ist ein Kult im 19. und lange während dem 20. Jahrhundert: Die Arbeit hat einen heiligen Wert und die Anhänger der Situationistischen Internationalen waren nicht die ersten, welche die religiösen Aspekte der Militanz bemerkten.
Heutzutage ist die Arbeit in unserem Leben und in unseren Köpfen (auch in jenem des Arbeitslosen) dermassen verankert, dass sie keinen Kult mehr braucht. Im Westen wird die Aufopferung mittlerweile weniger gepriesen als der Hedonismus. Somit verändert sich der Militante. In der Politik ist die demonstrative Strenge nicht mehr in Mode und die Langeweile ist kein Beweis für Ernsthaftigkeit mehr. Kämpfen bedeutet, sich zu amüsieren, Partys zu feiern oder gar nur das zu tun. Für die temporären Kulturarbeiter ist die Organisation eines festlichen Picknicks beispielsweise eine „Aktion“, welche von der „Aktionskommission“ vorbereitet wird genau wie die Besetzung des Lokals der CFDT [gemässigtes christliches Syndikat].
Selbstverständlich lässt der geführte Klassenkampf wenig Raum für die Freude, aufopfernde Verhaltensweisen bleiben eine Möglichkeit für den syndikalistischen Militanten. Es verhält sich anders mit dem politischen Militanten, für welchen Handeln eine Entscheidung oder gar eine Freizeitaktivität ist: In den westlichen Demokratien strebt das zeitgenössische Individuum nach seinem eigenen Vergnügen und verweigert die Selbstnegation. Welcher Militante des NPA [Nouveau parti anticapitaliste – trotzkistisch] oder des PC [KP] opfert heutzutage sein persönliches Leben der Partei?
Missionar
Die religiöse Dimension ist noch lange nicht verschwunden: Es braucht eine Herrschaft des Bösen (König Geld zum Beispiel) damit die Befreiung geschehen kann.
Die Apokalypse (griechisch für Enthüllung oder Offenbarung) bedingt Satan, den „Prinzen der Welt“, d.h. immer mehr Unterdrückung im Kapitalismus.
Um das Monster niederzustrecken, ist es nicht mehr in Mode, Anführer werden zu wollen, wie damals die trotzkistischen Gruppen, welche gegründet wurden, um die zukünftigen Kader der Partei zu formen, obwohl der Militante also nicht mehr Chef werden will, glaubt er weiterhin, dass er mehr Bewusstsein hat als andere, betrachtet sich als unentbehrlich und gibt sich eine Mission. Er rekrutiert nicht mehr: Er informiert (siehe weiter unten zum Aktivismus und Cyberaktivismus).
Horizontalität
Weit jenseits der Kreise jener, welche man „Autonome“ nennt, bekennt sich heutzutage jeder linke oder linksradikale Militante mehr oder weniger zur Autonomie. Die Vorliebe unserer Zeitgenossen für die Freiheit ist daran wahrscheinlich nicht ganz unschuldig, doch der Niedergang der Vermittlungen und der Vermittler widerspiegelt v.a. eine Krise der Verwaltungsapparate der Verteidigung der Lohnarbeit – der sozialistischen Parteien und Syndikate. Die Bürokraten haben viel mehr Mühe als früher, ihre vermittelnde Rolle auszuüben. Diese Schwächung trägt zur Erschütterung des Glaubens an eine um die Arbeit strukturierte und von in Konflikt stehenden Klassen angetriebene Gesellschaft bei und er erlaubt es der Theorie der Herrschaft, sich auf Kosten der Klassenanalyse aufzudrängen: Es gebe keinen gesellschaftlichen Schwerpunkt mehr, nur eine Artikulation von Kräfteverhältnissen in allen Bereichen, die „Arbeitswelt“ ist nur einer davon.
Foucault und Bourdieu schrieben es unermüdlich: Alles sei heutzutage mit Dispositiven der Macht und der Kontrolle zu erklären.
Mit zwei Konsequenzen.
Erstens übt die Macht ihre Herrschaft durch eine Vielzahl an Praktiken aus, denn sie ist omnipräsent, scheinbar auch in uns selbst, die Kritik der Macht findet also an einer Gesamtheit von Orten (oder Identitäten) statt, wovon keiner (oder keine) die anderen bestimmt: Arbeit, Gender, Rasse, Kultur, Gesundheit, Umwelt usw., Schluss mit der vermeintlichen Hegemonie der Arbeiterklasse. Es ist nicht mehr prioritär, die Kämpfe von oben zu zentralisieren, sondern eher, auf ihr Niveau hinabzusteigen, durch einen distanzierten und in aufeinanderfolgende Mobilisierungen fragmentierten Militanz: Man unterstützt die Sans-Papiers, man denunziert das transatlantische Freihandelsabkommen, man demonstriert gegen den FN…
Danach, um „die Kämpfe miteinander zu verbinden“, drängt sich die Demokratie als Mittel zur Wiedervereinigung der getrennten Bereiche an: doch eine Basisdemokratie, direkt, heute lokal, übermorgen universell. Man zieht den Konsens der Abstimmung vor, gemäss der von den demokratischen Gesellschaften proklamierten Verweigerung der Gewalt: Medien, Polizei, Staat, Universität usw. müssen nicht mehr zerstört, sondern in Einklang gebracht werden.
In Tat und Wahrheit beschränkt sich die Horizontalität im allgemeinen auf die Demokratie der Strassenumfrage. Eine früher emblematische Organisation der Erneuerung, ATTAC, funktioniert ausgesprochen anti-demokratisch und die Regel des Konsenses widersteht schlecht einer grundsätzlichen Meinungsverschiedenheit.
Expertise
Der zeitgenössische Protest ist allgemeinen Theorien gegenüber skeptisch, doch er braucht seine Experten: Spezialisten der Wirtschaft, Geographie, Soziologie, Ökologie, Recht usw., und natürlich die unentbehrlichen professionellen Organisatoren (welche im nächsten Absatz diskutiert werden).
Die alte sozialistische Arbeiterbewegung, v.a. die stalinistische, wählte bevorzugt der Arbeiterklasse entstammende Anführer aus, welche den Klassenkampf wie ein intellektueller Arbeiter verkörperten und die Synthese der Vergangenheit und der Gegenwart des Proletariats und der Menschheit darstellten. Maurice Thorez war sowohl bezüglich Kultur als auch politischer Strategie eine Autorität. Heutzutage hat es keinen Platz mehr für ein totales, von der Klassenpartei getragenes Wissen: Der Experte ist nur in seinem Bereich Experte.
Der Verlust der Totalität ermöglicht unvermeidlich neue Spezialisten: Experten der Komplexität, der Pluralität, der Transversalität, der Kontextualisierung, der Verwaltung der Koexistenz konkurrierender Identitäten, sowohl verbündet als auch rivalisierend.
Eine der Hauptaufgaben dieser „guten“ Experten ist es, die „bösen“ zu widerlegen, jene des Staates oder des MEDEF [französischer Zusammenschluss der Bosse], welche als unehrlich, parteiisch oder unfähig beurteilt werden, doch auf beiden Seiten geht es darum, realistisch zu sein, mit Zahlen zu beweisen, dass ein anderes Budget, eine alternative Verwaltung oder ein besseres Abkommen bezüglich der Arbeitslosenversicherung möglich wäre.
Beruf: Radikaler
Als die sozialistische Arbeiterbewegung einer Gegengesellschaft ähnelte, unterhielt sie ihre eigenen Berufsaktivisten: Journalisten, Vorsitzende, Verwalter von Vereinen, Genossenschaften usw. Die parlamentarische Demokratie wird heutzutage durch eine gesellschaftliche Demokratie ergänzt, wo die öffentlichen oder para-öffentlichen Mächte und eine Unzahl von privaten Organismen eine integrative und Arbeitsplätze schaffende Rolle spielen: So verschiedene Länder wie Frankreich und die USA entwickeln Vereine, „das Soziale“, die NGOs und einen Schwarm von Vermittlern. Soziale Arbeit wird zu einer politischen Waffe und die Schule als auch die Unternehmung zu einem Interventionssektor: Referenten gehen dorthin, um den Sexismus, den Rassismus oder die Homophobie zu denunzieren, ohne sich bewusst zu sein, dass sie damit jene Orte stärken, wo sich das reproduziert, was sie als Vorurteile betrachten.
Eine soziale Demokratie will ihre Widersprüche verstehen, eine Armee von Forschern beschäftigt sich also mit Konflikten, Streiks, Ausschreitungen, radikalen Theorien, linken Gruppen…Es werden Diplomarbeiten über die Trotzkisten in der Moselle oder die Ausgeschlossenen der Situationistischen Internationalen geschrieben. Nichts ist neutral: Die Mathematik liefert den mit Algorithmen vertrauten Trader, die Ornithologie beteiligt sich an der Erschaffung zukünftiger Supersoldaten2. Das 19. Jahrhundert hat die Soziologie der Massen eingeführt, heute ist die Polizei Forschungspartner der Wissenschaft der Kontrolle der Massen.
Das Studium wird mit der Praxis kombiniert. Die technisch-soziale Expertise gibt Anlass für eine vielfältige Serie an Jobs, welche in England movement jobs genannt werden: der entlohnte „Organisator“ eines Syndikates, der professionelle Rassismus-Redner, welcher in den Schulen spricht, der von der EU bezahlte Anti-Diskriminierungs-Forscher, der im Unternehmen für die Konfliktlösung verantwortliche Soziologe, ein mit öffentlichen oder privaten Geldern finanziertes radikales Magazin oder Kolloquium, z.B. jenes von der Partei Die Linke abhängige der Rosa-Luxemburg-Stiftung usw. „Wenn das eigene politische Engagement mit dem Geld Verdienen verschwimmt, lässt sich nicht mehr erkennen, was die Leute selber denken – und was sie aus beruflichen Gründen vertreten.“3
Der damalige Berufsrevolutionär wurde von der Partei bezahlt: Heute wird er vom Staat oder einem privaten Organismus entlohnt oder subventioniert, eine inakzeptable Abmachung für den Militanten der 1970er Jahre. Die Ablehnung der Parteien ist grösser, jene des Staates kleiner geworden.
Der neue Geist der Militanz entspricht übrigens einem sehr verbreiteten Bild des zeitgenössischen Kapitalismus, welcher als in Einheiten dezentralisierter Netze funktioniere, wobei jede um ein Projekt organisiert ist und beinahe autonom funktioniert. Dieser Neokapitalismus mache einen neuen Typ der Aktion notwendig, welche gleich funktioniert: Jede Gruppe von Aktivisten handelt mit ihrem Ziel, horizontal, ohne Hierarchie, um sich erst danach mit anderen zu koordinieren. „Der Bürokrat wird durch den Manager ersetzt. Libertärer als ersterer besteht er auf der Autonomie und der individuellen Verantwortung. Doch er zwingt die Normen des Kapitals durch Effizienz, Rentabilität und Leistung auf.“4 Die Abwesenheit von Hierarchie zwischen den Gruppen verunmöglicht nicht eine Hierarchie innerhalb jeder davon, auch wenn sie informell sind.
Aktivität, Aktivismus und Militanz…
Die Teilnahme an einer kleinen oder grossen sozialen Bewegung, 15 Stunden täglich während mehrerer Wochen, bedeutet die Erfahrung einer intensiven Aktivität. Der Aktivist glaubt, dass es unvermeidlich und möglich ist, permanent subversiv zu handeln. Die Theorie hat übrigens auch ihre Aktivisten, für welche ihre Schriften eine notwendige Bedingung der Revolution sind.
Obwohl er selten sagt, er sei militant und opfert sein Leben nicht für die Politik, hat der zeitgenössische Aktivist das Ideal, bei allen Handlungen, allen Demos, allen Besetzungen dabei zu sein, um sich jedes Mal an die Permanenz des Klassenkampfes und an das Erfordernis der Revolution zu erinnern. Doch um jeden Preis handeln zu wollen, führt dazu, dass man dort interveniert, wo man überhaupt nichts mit dem angestrebten Ziel gemeinsam hat, und sich somit ausserhalb des Kampfes befindet, an welchem man teilnehmen will. Es müssen also Notlösungen gefunden werden, um trotzdem daran teilzunehmen.
Wenn man unbedingt zu einer tauben Welt sprechen will, schreit man letztendlich, um gehört zu werden, erfindet etwas dazu, setzt auf den Willen und interpretiert jede Situation als Notfall: Die Aktion löst sich von der Realität ab, obwohl sie sich vorstellt, mittendrin zu sein. Es ist diese Trennung, welche die Militanz charakterisiert (und nicht aufopfernde Verhaltensweisen, welche nur Beiwerk sind). Mit folgenden Effekten: Routine, Zwang, Spezialisierung, sogar Hierarchie – die Politik ähnelt immer mehr einer Arbeit.
Natürlich existieren Abstufungen, eine Grauzone, wo die Versessenheit, zu handeln, in den „militanten“ Aktivismus abgleitet, ohne es zu sein.
Die Schwächen der Bewegung werden ihr von der Situation auferlegt. Unsere Absicht ist es nicht, eine klare Grenze zwischen dem beschränkten Militanten und dem authentischen Revolutionär zu ziehen. Ist es Militanz, wenn eine Gruppe von kämpfenden Arbeitslosen einen wöchentlichen Stand vor der Familienkasse hält und zur Lösung von administrativen Problemen beiträgt? Was ist mit den Genossen, welche eine Bibliothek aufbauen, um dem Quartier eine neue Dynamik zu geben und gegenwärtige und künftige Solidarität zu begünstigen? Alles hängt von der Entwicklung dieses Kampfes und des Quartiers ab.
Cyberaktivismus
Eine Gemeinsamkeit des radikalen Milieus ist der Glaube, dass die Proletarier weltweit immer schlechter leben, obwohl sie immer mehr kämpfen: Wenn „die Revolution“ nicht kommt, was fehlt? Für viele sind es die Verbindungen: Es geht also darum, dazu beizutragen. Nicht, indem man den Kern einer künftigen Partei erschafft, sondern schlicht indem man die Organisation begünstigt und allen voran indem man die Informationsquellen und -kanäle unterstützt.
Wir sind die Medien, hört man häufig. Oh, wie sehr! Der Cyberaktivismus funktioniert nach dem gleichen Modell wie die Medien. Vereinfachen, übertreiben, wiederholen: So fasste ein Journalist die sogenannt populäre Presse zusammen. Diverse Homepages mit revolutionärer Ambition funktionieren leider auch nach diesem Motto. Genau wie in den Reportagen, welche man in den omnipräsenten Bildschirmen sieht, wird der Leser-Zuschauer mit einem ununterbrochenen Fluss von Ereignissen konfrontiert, von welchen das eine genauso wesentlich ist wie das andere, obwohl ihre unendliche Aufeinanderfolge ihren vergänglichen Charakter bestätigt und sie aushöhlt.
„Das hat nichts mit dem Fernsehen zu tun!“, wird man uns sagen, „Denn hier ist der Zuschauer auch Akteur: Unsere interaktiven Homepages zeigen Leute, die sich gegenseitig informieren und einen Streik in Turin mit Ausschreitungen in Manila in Verbindung bringen!“
Es ist für die Beteiligten einer Aktion selbstverständlich, die Bilder davon zu verbreiten, v.a. auf den sozialen Netzwerken. Doch die Vermutung, die Streikenden aus Turin würden mit den Aufständischen in Manila kommunizieren – ein Ausnahmefall, der kaum von uns abhängt – würde die Frage aufwerfen, was der mögliche Effekt dieses Austauschs auf ihre jeweiligen Kämpfe wäre.
Der Cyberaktivismus stellt diese Frage nicht, denn er glaubt an die Illusion, Kommunikation sei Handeln.
Noch schlimmer, indem es die Medien auf ihrem Terrain besiegen will, kopiert das radikale Medium sie: systematische Dringlichkeit, Akkumulation, Sensationslust durch die Suche nach der frappierenden Meldung oder dem schockierenden Bild, das normalerweise bedeutungslos ist. Was beweist ein Foto eines blutenden Gesichts?
Die positiven Aspekte (die übermittelte Information, die unterhaltenen Verbindungen) des Cyberaktivismus werden grösstenteils durch seine Funktionsweise sterilisiert: Er zeigt uns die Repräsentation einer Welt, welche stetig revoltiert oder sich gar erhebt, eine Phantasiewelt, ein wahrhaftiges Paralleluniversum wie in einem Roman von Philip K. Dick – doch man sollte die Fiktion und die Revolution nicht miteinander verwechseln.
Selbstbildung und Vulgarisierung
Der Glaube an die zwingend befreiende Bildung ist die Grundlage der Militanz.
Parteischule, Sommeruniversität, Praktikum, Anleitung, Kurzfassung – gestern wie heute, der Militant bleibt ein Lehrer, welcher den pädagogischen Moden seiner Zeit folgt. Schluss mit dem Frontalunterricht, die zeitgenössische Schule platziert den Schüler „im Zentrum des Bildungsprojekts“. Man füllt nicht mehr den Schädel, sondern lehrt Autonomie, man hilft dem Lernenden, „Subjekt zu werden“, indem man ihn eine Fülle von Daten und Meinungen ordnen lässt, auf dem Papier oder dem Bildschirm, besonders dank den etlichen Online-Konferenzen auf Youtube.
Man korrigiert die Verhaltensweisen der Militanten und bringt ihm bei, sich selbst zu korrigieren, z.B. bezüglich der patriarchalischen Wortwahl. Ein Video erklärt, wie eine Debatte zu führen ist, eine Broschüre, wie mit einer Frau gesprochen werden muss, ohne sie zu unterbrechen.
Trotzdem kann der Pädagoge nicht anders, wie modern er auch sein mag, als an Stelle seines Schülers zu denken, für ihn bedeutet Unterricht Vulgarisierung. In Anbetracht einer Idee ist die erste Reaktion des Militanten, sich die Frage zu stellen, wie er sie benützen könnte. Er „instrumentalisiert“ die Theorie.
Als Marx im Frühling 1847 vor Arbeitern präsentierte, was später unter dem Titel Lohn, Preis und Profit veröffentlicht wurde, fasste er nicht einfach die Thesen der damaligen Sozialisten zusammen. Er machte eine Synthese davon, um zu versuchen, sie zu verstehen, damit die Bewegung sie überwinden könnte. Im Gegensatz dazu wiederholen die Homepages, welche sich zur Mission gemacht haben, die Grundlagen des Marxismus (oder des Anarchismus), die grundlegenden kritischen Konzepte, die Krisenanalyse usw. zu präsentieren, was man schon weiss, bestätigen es und reduzieren damit das Verständnis auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf das, was schon errungen, offensichtlich, weder theoretisch noch praktisch umstritten ist. Der Leser wusste, dass der Lohnarbeiter ausgebeutet ist, und vermutete bereits, dass die Finanz nicht die tiefe Ursache der Krise ist: Man liefert ihm nun die Demonstration davon. Wie an der Uni gibt es einen Bruch zwischen „Unterricht“ (für die Masse) und „Forschung“ (für jene, welche die für schwierig gehaltenen Texte lesen).
„Aus welcher Position sprichst du?“…
…hätte man damals gefragt.
Die Schiessbudenlogik interessiert uns nicht. Wir halten uns nicht für schlauer als der Nachbar und glauben auch nicht, dass wir die Widersprüche der radikalen Kritik durch die Magie einer Dialektik überwinden können, welche überall die positiven Aspekte herausfischt (die Energie des einen, den Informationsdrang des anderen, die Reproduktion von alten Texten beim dritten…), indem sie sich vor den abschreckenden Fehler aller hütet.
Hoffen wir auf jeden Fall nicht, dass wir heute die Organisation aufbauen können, welche morgen, „wenn es knallt“, bereit sein wird. Verfügbar bleiben ist häufig das beste, was man tun kann, indem man sich informiert, ohne alle seine Zeit vor dem Bildschirm zu verbringen, indem man handelt, aber nicht zwingend jeden Tag. In der notwendigen Verbreitung der radikalen Information und Thesen sind diese selbst nicht wichtiger als die durch ihre Zirkulation entstehenden Verbindungen, Verbindungen, welche wohl eines Tages nützlich sein werden, deren Formalisierung heute jedoch überflüssig wäre. Obwohl die kollektive Trägheit ein Hindernis für die Revolution ist, unterhalten gewisse Aktionsformen ebenfalls die Passivität.
Gemäss einem alten proletarischen Sprichwort „sind es nicht die Revolutionäre, welche die Revolution machen werden, sondern die Revolution, welche die Revolutionäre machen wird“.
G.D.
1Drei Jahre später veröffentlichte die Organisation des jeunes travailleurs révolutionnaires eine Fortsetzung, welche die Entstehung des Texts und seine Geschichte zusammenfasste, und erklärte, dass sie 1972, als sie sehr vom Rätekommunismus beeinflusst war, „den verhängnisvollen Charakter der demokratischen, rätekommunistischen, selbstverwaltenden Konzeption“ nicht wahrgenommen hatte: „Das konstituierende Prinzip der Demokratie ist die Trennung zwischen der Entscheidung und ihrer Ausführung. Gruppen wie Socialisme ou Barbarie oder danach die Situationistische Internationale beriefen sich sowohl auf die Demokratie als auch auf die Abschaffung dieser Trennung. Das ist gleichbedeutend mit der Versöhnung des Unversöhnlichen.“
2Die Weisskehlammer (Zonotrichia albicollis) ist fähig, zu fliegen, ohne zu schlafen, die amerikanische Armee interessiert sich für sie in der Hoffnung, Soldaten zu erschaffen, die keinen Schlaf mehr brauchen (Le Monde diplomatique, Juni 2014).
3„Beruf und Bewegung“, Wildcat #96, 2014.
4Lilian Mathieu, „Un „nouveau militantisme“? A propos de quelques idées reçues“, Contretemps, 2008.