Originaltext wurde aus der anarchistischen Publikation Terra Cremada entnommen, die Übersetzung ist von uns.
Begriffe annehmen, die uns nicht gehören;
Beiträge zur Überwindung der Demokratie
„Zu sprechen, zu kommunizieren, etwas sagen zu wollen, das über die bloßen Worte hinausgeht, ist heutzutage eine mühsame Aufgabe, eine schrecklich schwere Aufgabe, aber schrecklich notwendig. Wie was benennen, wenn wir die Worte nicht haben, wenn sie uns besitzen? Wie lernen wir zu sagen, was wir fühlen, ohne vorher zu verlernen, was für uns empfunden wurde und wovon wir nur ein Teil als bloße Zuschauer sind? Eine schwierige Aufgabe, sie kann aber nicht mehr verschoben werden. Wie kann man eine wahre Wahrheit sagen? Wie kann man sich entkleiden und losbinden, ohne in die schreckliche Kälte der Einsamkeit und die schwachsinnige Angst vor jemandem zu fallen, der Unterstützung braucht und nur ungern um Hilfe bittet, aus Angst, aus Furcht und Panik, einer von vielen zu sein, die in Not sind? Wie kann man an diesem Punkt ohne Terror und Unbehagen fallen? Wie kann man wieder sprechen lernen, ohne in die Falle zu tappen, sofort gehört werden zu müssen? Wie kann man den Worten ihre Fähigkeit zur Übertretung zurückgeben, jetzt, da die Wahrheit nur gesagt werden kann, wenn sie nicht gehört wird?Lasst uns also barbarisieren, lasst uns schreien, lasst uns die Angst loswerden, nicht verstanden zu werden: Wir sind ungeduldig, wieder etwas Wahrheit zu hören.
Da uns die Worte gestohlen wurden, können wir nur Lügen erzählen“
Dies haben wir auf den Mauern des Viertels Gràcia gelesen
„Sie nennen es Demokratie und sie ist es nicht“, schreien die überzeugten Demonstranten voller Entrüstung. Es würde nicht so wehtun, wenn dieser Slogan nicht bei fast jeder Demonstration skandiert würde; es wäre nicht so schmerzhaft, wenn es nicht die Tatsache gäbe, dass dieser gewöhnlich bei den Demonstrationen skandiert wird, die zu unseren nächsten Umfeld gehören1. Diese Mythologisierung der Demokratie ist unseres Erachtens nach ein Produkt der allgemeinen Verwirrung, die auch dazu führt, dass sich manche Menschen als links betrachten oder sich solche allgemeinen Begriffe wie soziale Bewegungen zu eigen machen. Wenn wir dieses Thema in diesem Text behandeln wollen, dann nicht zufällig, sondern weil wir heute Zeugen eines Kampfes sind, der in Ermangelung von Worten, die genau das ausdrücken, was wir empfinden, allzu oft dazu führt, dass die Strukturen, die er von Anfang an bekämpfen will, durch die Verstärkung der Vorstellungen, denen diese Strukturen angepasst sind, verstärkt werden. Mit diesem Text wollen wir eine Einladung zur Analyse mit der Absicht aussprechen, einige Konzepte zu entmystifizieren und sie so an den richtigen Ort zu bringen. Sie aus der Zweideutigkeit herauszunehmen, an die wir gewöhnt sind, und sie zu bezeichnen oder zu resignieren, um uns näher daran zu nähern, das zu sagen, was wir fühlen und denken, und uns zu zwingen, ein wenig mehr über das, was wir sagen, nachzudenken.
Demokratien und Demokraten
Wir sind keine Demokraten, wir sind keine Antidemokraten. Wir suchen und kämpfen für den Aufbau einer Gesellschaft, in der menschliche Beziehungen nicht durch Geld oder die Ausübung von Macht über andere vermittelt werden; das ist unsere Absicht. Sich selbst in eine Schublade der Kritik an der Demokratie zu stecken, wäre genauso gültig, aber gleichzeitig genauso unpräzise, wie sich als Anti-Polizei oder Anti-Fernsehen zu profilieren. Dennoch halten wir es für notwendig, eine Analyse dessen vorzunehmen, was Demokratie heute bedeutet, denn wenn man sieht, wie sich die Logik, auf der sie beruht, in viele Reden einiger unserer Gefährt*innen einschleicht, wird es für uns sehr schwierig, einen wirklichen Bruch mit dem gegenwärtigen Herrschaftssystem zu erreichen. Wir greifen die Demokratie an, weil sie die präziseste und perverseste Form ist, die der Kapitalismus annimmt, wenn es darum geht, uns zu beherrschen. Wir greifen die Demokratie an, weil ihre demobilisierende Kraft zu einem großen Teil darin besteht, uns innerhalb der breiten Rahmen zu mobilisieren, die sie nicht in Frage stellen. Wir greifen die Demokratie an, weil wir noch nicht aufgegeben haben, die Welt zu verändern, weil wir noch nicht aufgegeben haben und in der Lage sind, kollektive Situationen zu wünschen, von denen wir nichts wissen, und weil wir spüren, dass das Leben nicht an den Grenzen dessen liegt, was heute möglich ist.
Es stimmt, dass einige unserer engsten Gefährt*innen sagen werden, dass diese Vision von Demokratie falsch ist und dass diese Demokratie im Wesentlichen etwas anderes ist. Wir beabsichtigen nicht, eine Debatte auf semantischer Ebene zu initiieren, es geht nicht um Begriffe oder Adjektive, unsere Debatte zielt darauf ab, die Art und Weise zu vertiefen, wie das demokratische Ideal in unsere Diskurse und Dynamiken eindringt, sie neutralisiert und es uns unmöglich macht, Formen der Gemeinschaftsorganisation zu entdecken, die über diejenigen hinausgehen, die wir bereits kennen und die uns nicht befriedigen; die über die Möglichkeit hinausgehen, die Bedingungen des menschlichen Elends, in dem wir leben, zu verbessern, indem wir wirkliche Brüche mit dem kapitalistischen und patriarchalischen Beziehungsmodus schaffen. Darüber hinaus sagen wir denjenigen, die glauben, dass Demokratie etwas anderes ist, die glauben, dass unsere Feinde wieder einmal dieses schöne Wort gestohlen haben, um ihr Gegenteil zu bezeichnen, dass sie sich irren. Die einzigen, die den Begriff falsch darstellen, sind diejenigen, die behaupten, gegen seine derzeitige Form zu sein. Das heißt, es sind nicht unsere Feinde, sondern einige unserer Gefährt*innen, die uns mit ihrer zweideutigen Sprache verwirren und uns dazu bringen, weiterhin in Begriffen zu denken, gegen die wir kämpfen wollen. Wenn wir das gegenwärtige Herrschaftssystem zum Einsturz bringen wollen – und das ist es, was wir wollen -, dann müssen wir unsere Position bezüglich der Art und Weise, wie sich diese Herrschaft gegenwärtig manifestiert, klären, um auf diese Weise den besten Weg zu finden, ihr zu entgegentreten und sie zu überwinden.
Wir haben beschlossen, eine Analyse der Probleme vorzunehmen, die wir bei der Verwendung und dem Missbrauch von Begriffen wie Dialog, Konsens, Frieden oder Partizipation/Teilnahme beobachten, die das Ergebnis und gleichzeitig die Stütze der Logik sind, auf der die Demokratie beruht, Konzepte, von denen sie genährt wird und die sie nährt. Deshalb beschließen wir, offen zu sprechen; wir sind bilderstürmerisch2 und entschlossen, mit allem zu brechen, was vor uns liegt und uns das Gegenteil beweist; wir sind prädisponiert und bereit, unsere Kritik für die Punkte zu öffnen, die es verdienen, diskutiert zu werden; alles fallen zu lassen, was fallen sollte, auch wenn es uns irgendwann geholfen hat, uns selbst zu stützen. Wir sind ständig auf der Suche nach den besten Mitteln, um den Staat anzugreifen, in dem Bewusstsein, dass der Gedanke – und das Handeln, das sich daraus ableitet – niemals radikal ist, sondern vielmehr in der Fähigkeit, sich an veränderte Umstände anzupassen: Jetzt sind wir an der Reihe, die Demokratie zu kritisieren, weil sie die Form ist, die der Feind heute annimmt, aber wir wissen, dass die Instrumente, die uns gestern geholfen haben, sie zu bekämpfen, morgen für uns völlig nutzlos sein können.
Das demokratische
„Die Losung jedes Despotismus lautete: „Du sollst weder dies noch das tun“. Die kommandierende Stimme der Totalitären war: „Du wirst dies oder jenes tun“. Unser Befehl lautet: „Du bist.““
1984, George Orwell
Die Demokratie hat heute die Macht. Wir nennen Macht die Fähigkeit, den eigenen Willen über andere Menschen auszuüben, ob aktiv oder passiv, ob aufgezwungen oder überzeugt. In einem diktatorischen Regime wird sie vor allem mit Gewalt ausgeübt, in einem demokratischen Regime durch Überzeugungsarbeit, Verführung und die Schaffung absoluter Wahrheiten, wobei immer weniger Raum für wirkliche Fragen bleibt. Wenn wir daran interessiert sind, die Macht zu studieren, dann deshalb, weil wir sie bekämpfen wollen, und weil wir die Mutation erkennen wollen, unter der die kapitalistische Regierung in einem diktatorischen Szenario gegenüber einer demokratischen leidet. Wir müssen nach den Beweisen suchen, die diese Macht bestätigen und reproduzieren, nicht nur in den eklatantesten Beweisen, sondern auch in den kleinen Feinheiten und Kapillaren, die ihr authentische Konsistenz verleihen. Aus diesem Grund greifen wir die Demokratie und die scheinbar breite Phantasie, die sie prägt, an.
Wir können Demokratie als das Ende eines Prozesses der Ausrottung der Dissidenz definieren, als das Prinzip der kulturellen Homogenisierung, sobald die große Mehrheit der Bevölkerung das Funktionieren des Herrschaftsapparates akzeptiert hat; in dem Moment, in dem die Macht bereits hegemonial geworden ist. Es kann keine Demokratie geben, solange es noch kollektive Vorstellungen gibt, die fest genug sind, um die Macht zu erschüttern, solange es noch eine Möglichkeit der kulturellen Übertragung über die herrschende hinaus gibt. Demokratie kann nicht ohne die physische Vernichtung nicht nur des Widerstands, sondern auch der Widerstandskultur verwirklicht werden.
Zwischen Demokratie und Diktatur würden wir den Unterschied in quantitativer Hinsicht im Ausmaß der Unterdrückung finden, die jeder einzelne braucht, um seine eigenen Ziele zu erreichen, und die je nach den Bedürfnissen des Staates aufeinander folgen. Es ist nicht so, dass die Demokratie nicht mit der gleichen Intensität wie die Diktatur unterdrückt, sondern dass sie dies mit größerer Präzision und in begrenzterer, der neuen gesellschaftlichen Realität angepasster Weise tut. Im Gegensatz zu dem, was eine große Mehrheit denken mag, können sie – und tun es auch – im Laufe der Zeit in Form von Ausnahmezuständen koexistieren3. Die Diktatur ist also ein verallgemeinerter Ausnahmezustand, während die Demokratie – weil sie diese Verallgemeinerung nicht braucht – selektiv wird, indem sie ihre eiserne Hand nur auf jene Schichten der Bevölkerung anwendet, die sie brechen muss oder die sie durch Freizeit und Konsum nicht zum Schweigen zu bringen vermag: Abschiebeknäste, Gefängnis, Besserungsanstalten – oder der Euphemismus für Umerziehungszentren -, psychiatrische Zentren… Schließlich geht es darum, die Grundlagen des kapitalistischen Systems zu bewahren: das Privateigentum und die Trennung zwischen Politik, Wirtschaft und Leben. Isolierung oder Ausrottung dessen, was es in Frage stellen könnte.
Wenn der Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie nur auf einer quantitativen Ebene bestünde, könnten wir sagen, dass es keinen wirklichen Unterschied zwischen ihnen gäbe und dass daher diejenigen, die um die Verwirklichung „wahrer“ Demokratie ringen, nicht fehlgeleitet wären. Was wir beobachten, ist, dass diese zusätzlich zu dem Unterschied, der auf der quantitativen Ebene wirkt, einen abgrundtiefen Unterschied in der Form des Regierens darstellen, und hier halten wir inne, um zu zeigen, dass wir uns bereits in einer echten Demokratie befinden.
In einer Diktatur ist Repression explizit, weil sie die Fähigkeit zur Machtausübung demonstrieren will. In diesem Sinne versucht die Diktatur, ihre Opposition zu terrorisieren, indem sie ihre „harte Hand“ gegenüber ihren Feinden öffentlich macht, das heißt, indem sie mit einer rein verhaltensorientierten Strategie regiert. Andererseits strebt die Demokratie nach Mittäterschaft4 und Partizipation, und in diesem Fall basiert ihre Regierungsstrategie auf dem Festhalten der Bevölkerung an ihren Diktaten durch Verführung, Integration und, unabdingbar, Bildung. Die Demokratie akzeptiert die Figur des Feindes nicht, weil dies das „Ende der Geschichte“ bedeutet. Sie begreift daher nicht, dass etwas jenseits dessen, was sie als pathologisch einstuft, eine Ordnung wünschen kann, die sie überwindet oder in Frage stellt.
Mit der Dissidenz ein Ende setzen
„Zuerst werden wir alle Subversiven töten, dann werden wir ihre Kollaborateure töten, dann ihre Sympathisanten, dann diejenigen, die gleichgültig bleiben, und schließlich werden wir die Schüchternen töten.“
General Ibérico Saint Jean. Gouverneur der Provinz Buenos Aires. Mai 1977
In einer Demokratie muss Macht legitimiert werden, in einer Diktatur muss Macht ausgeübt werden. In einer Diktatur ist es notwendig, den Feind zu eliminieren, in einer Demokratie ist es notwendig, den Feind zu neutralisieren. Das eine kann ohne das andere nicht existieren, sie sind komplementär, und deshalb setzt die Demokratie ein höheres Stadium bei der Verwirklichung kapitalistischer Ziele voraus und ist viel gefährlicher, wenn nicht sogar auf der Ebene, unsere körperliche Unversehrtheit gefährdet zu sehen, wenn wir vor der Schwierigkeit stehen, gegenhegemoniale Emanzipationsvorstellungen zu zeichnen. Die beiden Systeme sind totalitär, eines, weil es physisch unmöglich ist, die etablierten Ränder zu verlassen, und das andere, weil es die Gesamtheit des kollektiven Vorstellbaren monopolisiert, es phagozytiert5 und keinen Raum für einen anderen Ort, eine andere Welt lässt, die den Kapitalismus übertrifft. Während in einer Diktatur die sozialen Unruhen auf die Suche nach Mittäterschaft6 für den Sturz der Macht gerichtet sind, werden sie in einer Demokratie, da es keinen Horizont für die Überwindung dieser Unruhen gibt, auf die intime Sphäre, auf die individuelle Verwaltung, gelenkt. In einer Demokratie ist es nicht mehr notwendig, die Macht zu konsolidieren, weil sie bereits eingeführt wurde.
Die perversen Grundlagen der Demokratie; ihre Mythen
Erster Mythos: von der Dichotomie Demokratie/Diktatur
Der demokratische Diskurs ist insofern kraftvoll, als der Bürger und der Stadtmensch auf der Ebene der Regierung einer Stadt einen Diskurs, der ihm frontal entgegengesetzt ist, nicht zulassen, da niemand in der Lage wäre, in der Opposition zum Dialog einen Nicht-Dialog als Lösung von Konflikten zu verteidigen oder gegen die polizeiliche Kontrolle unseres Lebens auf die Straße zu pissen. Diese Falle taucht innerhalb dessen auf, was einige als die Doppelbindung7 bezeichnen, eine Falle, die es sehr schwierig macht, eigene Identitäten zu schaffen, die der kapitalistischen Eindimensionalität entgehen. Diese Doppelbindung, die auf binärer Logik beruht, stellt die falsche Dichotomie zwischen Arbeiter/Arbeitsloser, Diktatur/Demokratie, Bürger/Anti-System, Frieden/Gewalt, Vandalismus/Bürgersinn, Verrückt/Normal und so viele andere Dualitäten in eine antagonistische Opposition und ohne Diskussionsspielraum, die der Staat nutzt, um keinen Raum für alles zu lassen, was sich seiner Logik entzieht, denn wenn man gegen die Demokratie ist… ist man für die Diktatur, oder? Dieser Diskurs lässt keinen Raum für die Opposition, weil er uns in die Parameter der Akzeptanz von Regeln stellt, wo die Teilnahme uns bereits in eine Situation der Wehrlosigkeit und Unterwerfung unter die Autorität versetzt, die die Spielregeln festlegt. Wenn wir uns entscheiden, gewaltfrei mit demjenigen zu sprechen oder zu interagieren, der uns unterwirft, geben wir eine Situation der Ungleichheit zu – während die einen die Macht haben, haben die anderen nur die Macht, die Entscheidungen zu akzeptieren – und dann versetzen wir uns in eine Ebene der Schutzlosigkeit, in der wir entweder nur die Vorschläge desjenigen akzeptieren können, der uns unterdrückt, oder wir verlassen das Spiel und werden als „intolerant“ oder „schlechte Verlierer“ disqualifiziert.
Die Falle liegt in der verwirrenden Natur der Frage: Bist du dies oder das Gegenteil? Indem wir uns keinen Raum geben, uns wirklich zu erkennen, installieren wir uns auf einer Ebene, die uns nicht gehört, innerhalb von Parametern, in denen wir nur von denen definiert werden können, die die Macht haben, uns sozial zu definieren, d.h. die über die Massenmedien und die Mechanismen der kulturellen Weitergabe verfügen. Dieser Köder, den wir allzu oft schlucken, führt uns zu der heute typischen Formel, Entkriminalisierungskampagnen zu initiieren, die darauf beruhen, dass wir nicht das sind, was man uns nennt, oder innerhalb der ebenfalls dummen Formel, uns als das anzuerkennen, womit wir identifiziert werden: Sind wir Terroristen, sind wir Antisystemisch, sind wir gewalttätig, sind wir Kriminelle? Jede Antwort auf diese Fragen wird uns dazu bringen, den Köder zu schlucken; wo es keine wirkliche Frage gibt, brauchen wir uns bei dem Versuch, eine Antwort zu geben, nicht zu ermüden.
Andererseits und um die Dichotomie Demokratie/Diktatur zu entmystifizieren, sehen wir, dass, obwohl es auf dem Gebiet des spanischen Staates nicht üblich ist, einen Einsatz der Armee zu sehen, wir nicht dasselbe von den besetzten Gebieten sagen können, die über seine Grenzen hinausgehen. Während also die Regierung innerhalb des Staates auf demokratische Weise erfolgt, erfolgt die Regierung in den besetzten Gebieten in Form von verallgemeinerten Ausnahmezuständen8. Diese Dichotomie ist ein nicht wahrnehmbarer Teil des demokratischen Spektakels.
Zweiter Mythos: von Dialog und Konsens
Einer der grundlegenden Mythen, auf denen die demokratische Logik beruht, ist, dass alle Konflikte durch Dialog gelöst werden können. Es liegt auf der Hand, dass der Dialog von grundlegender Bedeutung ist, um mit anderen Menschen kommunizieren zu können und so zu wissen, was wir brauchen oder was wir fühlen, aber zu glauben, dass durch diesen Dialog divergierende Bedürfnisse oder Interessen miteinander in Einklang gebracht werden können, ist ziemlich naiv.
Die Idee des Konsenses macht dann Sinn, wenn eine Gruppe von Betroffenen – eine Gemeinschaft – bei der Lösung eines bestimmten Problems geschlossen bleiben muss; wenn es keine Gemeinschaft gibt oder wenn das Problem – oder das allgemeine Interesse – diffus ist, wird dieser Konsens nicht real werden, da er andere Aspekte als die genannten verdeckt. Wenn zum Beispiel Personen, die bisher nicht teilgenommen haben, an einer Universitätsversammlung erscheinen, um den Streik, der sie daran hindert, in den Unterricht zu gehen, zu erzwingen, was sollen wir tun? Sich hinsetzen und in Ruhe reden, um zu versuchen, eine Entscheidung zu treffen, die uns alle einschließt, oder sie angesichts ihrer opportunistischen Haltung gegenüber der Vollversammlung losschicken, um „sie im hohen Bogen rauszuschmeißen?“ Die Räume für Diskussionen und die Möglichkeit eines Konsenses müssen denjenigen offen stehen, die bereit sind, sie jederzeit zu respektieren. Wenn diese Figuren auftauchen, sollten wir sie nicht als bloße Studenten sehen, sie sind die Träger dessen, was wir bekämpfen, was in unsere Vollversammlung reinkommt.
Die Herstellung von Konsens, weit entfernt von dem, was die Befürworter dialogischer Prozesse wünschen9, ist kein Prozess, der den Herrschaftsverhältnissen fremd ist und daher nicht von ihnen getrennt werden kann; im Gegensatz zu politischen Positionen, die versuchen, die Konfrontation zu leugnen – oder sie nur der Sphäre des Wortes vorzubehalten -, besteht der Konflikt im Zusammenprall der Interessen zwischen den Herrschenden und den Beherrschten, und dies kann nicht mit Hilfe des Wortes gelöst werden, u.a. weil dieses Wort nicht die Macht hat, ausgeführt zu werden, während die der Macht zur Verfügung stehenden Mechanismen dies tun.
Der demokratische Sieg kommt in dem Moment, in dem ein Konsens auf der Grundlage geschaffen wird, dass die Interessen der dominierten Klasse mit den Interessen der dominanten Klasse übereinstimmen, nicht vorher. Ihre Glücksideale, ihre Vorstellungen von Freiheit, Gesundheit, Liebe… das ist der monopolisierende Triumph der Demokratie, die fast völlige Abwesenheit von Diskursen oder Vorstellungen, die sie konfrontieren oder über sie hinausgehen. Schließlich dürfen wir in einer demokratischen Gesellschaft alles sagen, was wir denken, weil uns die Möglichkeit genommen wird, wirklich zu denken, was wir sagen. Was wir tun, ist mehr als denken, wir wiederholen. Es geht nicht darum, über Politik zu reden, sondern Politik zu machen; das Denken und Verbreiten dessen, was wir gedacht haben, ist in einer demokratischen Gesellschaft nicht mehr beängstigend, weil das Denken, das von der Aktion, die es erfordert, abgekoppelt ist, für die Macht harmlos wird, Teil ihres Spektakels. Die revolutionäre Praxis braucht eine revolutionäre Theorie, aber wenn wir unsere Diskussionsräume nicht verlassen, um diese Theorie in die Praxis umzusetzen, werden wir uns verfestigen und sterben, bevor wir geboren werden.
Dritter Mythos: von der Mehrheit und dem Respekt für Minderheiten
Man geht davon aus, dass die Demokratie die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit ist, wobei die Minderheiten in ihrer Entwicklung immer mehr berücksichtigt werden. Sind es die Mehrheiten, die die Situationen verändern, oder sind es im Gegenteil die von einigen aktiven Minderheiten geschaffenen Situationen, die die Position der Mehrheiten verändern, indem sie diese in Frage stellen? Aber was bedeutet es, eine Mehrheit zu sein?
Die Demokratie ist im weitesten Sinne legitimiert, wenn man davon ausgeht, dass die Mehrheit – durch die Tatsache, eine zu sein – im Besitz der Wahrheit ist, d.h. dass sie Recht hat. Eine Annahme, die in der Infamie verankert ist, einen Prozess der offenen Auslöschung von Dissens, sowohl physisch als auch symbolisch, und der Macht seiner Übertretung durchlaufen zu haben. Teil der Mehrheit zu sein, bedeutet heute, die herrschenden Bedingungen zu akzeptieren und nicht Partei zu ergreifen10. Die Mehrheit in unseren Gesellschaften ist eine Gruppe von atomisierten Individuen, gesellig durch ihren Zerfall, vereint durch ihre Undurchlässigkeit, durch den Widerspruch, der von der Überzeugung ausgeht, dass der andere den Feind beherbergt, und von der Notwendigkeit, aus unserer Isolation herauszukommen, auf der Suche nach echten Freundschaften, die über das Teilen unserer Einsamkeit hinausgehen. Die Mehrheit ist heute die desillusionierte und aseptische Individualität, die ihr Ding macht, die sich der Realität immer weiter anpasst, ohne zu versuchen, sie zu verändern, sich ihr auf therapeutische Weise anzupassen und Heilmittel zu finden, die es ihr erlaubt, ihre Existenz erträglich zu machen.
Wir sind daran interessiert zu erfahren, woher die demokratische Logik stammt, die wir – sowohl in der bourgeoisen Demokratie als auch in der Arbeiterdemokratie11 – in der Aufklärung finden, welche die Grundlage des Ideals der Moderne ist, die den Kapitalismus – sowohl den liberalen als auch den staatlichen – schützt. Wenn wir an diesem Punkt interessiert sind, dann nicht als historische Daten, um zu erkennen, dass derselbe Begriff der Vernunft Produkt und Ergebnis der Herrschaftsverhältnisse und der besonderen Weltanschauung der herrschenden Klasse ist. Die Schaffung von Wahrheiten – und damit von Willen und Bedürfnissen – ist möglich, wenn Macht verfügbar ist, und diese wiederum wird durch die Fähigkeit gewährt, die Wahrheiten zu produzieren und zu reproduzieren, die es ermöglichen, sie zu konsolidieren. Wir haben den totalen Sieg, wenn Akzeptanz die Mehrheitsoption ist, wobei die Mehrheit dann akzeptiert, mit Resignation und Apathie regiert zu werden.
Vierter Mythos: vom Frieden als Dekonfliktualisierung der menschlichen Beziehungen
Nur weil es Frieden gibt, heißt das nicht, dass es keine Gewalt gibt. Es gibt nie so viel Frieden wie nach einem Bombenangriff. Um diesen Frieden aufrechtzuerhalten, sind Zwang und Angst unverzichtbare Instrumente, die der Kapitalismus – und jede Form der Herrschaft – einsetzt, um seine Privilegien zu erhalten und Angriffen zu entgehen. Das bourgeoise-utopische Ideal versucht, Konflikte zu vermeiden, indem es sie durch einen Dialog zwischen den Klassen in die demokratische Arena bringt und gleichzeitig den Apparat stärkt, der es ermöglicht, das Leben seiner Sklaven zu beherrschen und auszubeuten.
In einem Herrschaftsverhältnis wird dasjenige, das dominiert, immer mit der Idee gerechtfertigt, dass es auf die „natürliche Beziehung“ der Menschen antwortet12 und daher nicht aufgezwungen wird. Angesichts des Mangels an Bezugspunkten und der Schwierigkeit, andere Horizonte jenseits der Leitlinien zu schaffen, reproduzieren viele unserer Gefährt*innen am Ende die utopische Idee von der endgültigen Erreichung eines Ortes, einer konfliktfreien Gesellschaft, die mehr damit zu tun hätte, das Elend ertragen zu können als es zu bekämpfen. Konflikte sind der menschlichen Natur inhärent in der Beziehung, die sie zu ihrer Umwelt herstellen; Konflikte wie auch Versuche, sie zu lösen, sind es, die uns dazu bringen, uns mit anderen zu verbinden, Affinitäten zu weben, Mittäterschaft13 zu suchen, Hilfe zu brauchen. Ein Leben ohne Konflikte, ohne Überwindung oder Suche ist ein Leben, das einen solchen Namen nicht verdient. Darüber hinaus gibt es aktuelle Konflikte auch als Folge kapitalistischer und patriarchalischer Beziehungen, und die Vermeidung oder der Versuch, das aus diesen Widersprüchen resultierende Unbehagen zu vermeiden, kann uns nur dazu führen, unsere Anpassung an eine delirierende und repressive Realität therapeutisch zu unterstützen; man kann sagen, dass dies heute die von der Mehrheit der Bevölkerung am häufigsten genutzte Option ist14.
Fünfter Mythos: der Gleichheit
„Das Gesetz, in seiner majestätischen Gleichheit, verbietet es sowohl Reichen als auch Armen, unter Brücken zu schlafen, auf der Straße zu betteln und Brot zu stehlen.“
Anatole Frankreich
Die Verteidiger der Demokratie – wir sprechen klar von denen, die dies in gutem Glauben tun – streben nach sozialer Gleichheit auf der Grundlage gleicher politischer Rechte, ohne zu erkennen, dass gleiche politische Rechte mit ungleichen Chancen jedes emanzipatorische Unterfangen trügerisch machen. Es macht Sinn, dass wir ausdrücken können, was unser Wille ist, wenn in diesem Ausdruck die Möglichkeit besteht, ihn auszuüben. Wenn unser Wille einerseits nur eine Meinung ist, oder wenn andererseits unsere Meinung durch Jahrhunderte der Herrschaft und Jahre der kulturellen Indoktrination durch Kindergärten, Schulen, Institute, Universitäten, Medien usw. bedingt ist, müssen wir uns fragen, ob diese Gleichheit real ist oder ob sie eine der Hauptfiktionen ist, auf der das demokratische Ideal beruht und legitimiert ist. Wir können uns der Tatsache nicht entziehen, dass keine Handlung echt sein kann, wenn sie durch Lohnarbeit und Privateigentum erzwungen erscheint.
In gleicher Weise wird die Form, die die Gleichheit annimmt, wenn sie sich nicht auf die Chancengleichheit beschränkt, zu einem Willen, dem Machthaber gleich zu werden; was sich also hinter dem Konzept der Gleichheit verbirgt, ist letztlich eine Aufhebung der differenziellen Merkmale, eine Homogenisierung, eine einzigartige Weise des Seins. Die vom Gleichheitsfeminismus begonnenen Kämpfe wurden auf das Feld der politischen Asepsis umgelenkt, in der Erkenntnis, dass jede Frau Zugang zur patriarchalischen Macht hat, solange sie bereit ist, sich voll und ganz wie ein Mann zu verhalten. In gleicher Weise zeigt uns Obamas Fall, wie jeder Schwarze die Regierung der Vereinigten Staaten erreichen kann, während er im Wesentlichen ein heteronormativer Weißer ist. Das Gleiche gilt für die Homosexualität, ein Kampf, der neu ausgerichtet wurde, um die Übertretung, die dem Infragestellen des Familienmodells innewohnt, zu neutralisieren, sie in den Bereich einer Anerkennung jener unterschiedlichen Merkmale zu bringen, die das Modell der Familienpolizei der kulturellen Weitergabe intakt ließen, und den Rest beiseite zu legen.
Sechster Mythos: von der Akzeptanz der Differenz
Die Umwandlung von Differenz in bloße Vielfalt ist der Triumph jedes demokratischen Ideals. Demokratie hat, ebenso wie Bürgersinn, einen scheinbar großen Spielraum für die Vielfalt der Diskurse, solange sie nicht mehr als das ist: Vielfalt. Das heißt, verschiedene (Viel) Versionen (falt) von „demselben“. Solange der Dialog nicht zur Konfrontation wird, solange es keine Feinde, sondern politische Gegner gibt, solange es keine explizite Gewalt, sondern Toleranz gegenüber dem Diktat desjenigen gibt, der die Spielregeln festlegt, werden wir alle mitspielen dürfen. Solange wir bereit sind, immer zu verlieren, wird man uns „die Gelegenheit“ geben, immer auf Sieg zu spielen.
Die kulturelle Globalisierung verbirgt sich heute unter dem Namen Multikulturalismus. Sie hat keine Angst mehr vor dem Fremden, solange der Fremde nicht wirklich ein Fremder ist, solange der Fremde sich für die gleichen Interessen einsetzt, die die gesamte westliche Gesellschaft bewegen – Konsum und Individualismus – und die Regeln respektiert, um sie zu erreichen. In die gleiche Richtung geht heute, wie bereits in verschiedenen Artikeln, die im Ergebnis des Universalen Forums der Kulturen15 erschienen sind, hervorgehoben wurde, eine aseptische Differenz gesucht wird, eine, die nicht in Frage stellt, die nicht an den Fundamenten der schwachen kapitalistischen Logik rüttelt, kurz gesagt, eine Differenz, die gleichermaßen egal16 ist. Die unvermeidliche Idee, auf der der Multikulturalismus beruht, ist die des universalistischen Charakters seiner Werte, indem er das, was er innerhalb seiner Grenzen des Erträglichen nicht versteht oder akzeptiert, billigt oder ablehnt. Wir sehen also, dass die Falle des Multikulturalismus – oder der demokratischen Kultur – darin besteht, seine Überlegenheit zu bekräftigen, die darauf beruht, ob man bestimmten Merkmalen anderer Kulturen – zum Beispiel der Folklore -, die die dominante Kultur intakt halten, zustimmt oder nicht. Letztlich geht es beim Multikulturalismus um kulturelle Eugenik.
Siebter Mythos: die Meinungsfreiheit
Wenn die Freiheit, sich auszudrücken, nicht mit der Fähigkeit, sich auszudrücken, gleichzusetzen ist, sprechen wir einfach von einer fiktiven Darstellung der freien Meinungsäußerung. Wenn jeder sagen kann, was er will, aber nur eine privilegierte Minderheit die Mittel hat, ihre Wahrheiten bis zum Überdruss zu wiederholen, können wir nicht von Gleichheit in den Bedingungen des Ausdrucks sprechen. Wir dürfen alles sagen, was wir denken, weil die unaufhörliche Wiederholung von Macht alle Arten von gegen-hegemonialen Diskursen in den Hintergrund drängt und sie zu etwas Residualem degradiert.
Indem wir Stöcke in unsere Räder stecken
– Politik als Kunst der Trennung
Demokratie trennt das wirklich politische Ereignis in das bloße Spektakel der Beteiligung und der institutionellen Verwaltung. Diese Verschiebung beruht auf dem Mythos, dass alle Konflikte durch Dialog gelöst werden können, auch wenn sie zwischen den Klassen bestehen. Auf diese Weise bringt die Politik auf das Feld der Debatte zurück, was zuvor ein Kampf diametral entgegengesetzter Interessen war. Auf diese Weise werden mit einer humanistischen Filigranität unvereinbare Einstiegspositionen wie die Ausbeutung eines großen Teils der Weltbevölkerung und der Nutzen einer Minderheit, die über das Wissen und die Produktionsmittel verfügt, in Einklang gebracht. Sie bringt die Figur des Klassenfeindes – wenn du als wohlhabende Klasse existierst, dann nur, weil ich als elende Klasse existiere – in die Figur des politischen Gegners zurück. Die Politik schafft es, inmitten des Trugschlusses gleicher politischer Rechte für alle „Bürger“ und ungleicher Chancen für alle Menschen zu koexistieren.
„Während also der Verzicht auf den Willen, sich selbst zu bestimmen, die Einzelnen in Fortsätze der Staatsmaschinerie verwandelt, setzt die Politik die Gesamtheit der Fragmente in einer falschen Einheit wieder zusammen.“
„Zehn Dolchstiche gegen die Politik“ in A Corps Perdu nº. 1 August 2009
Wir denken, dass eine Anmerkung notwendig ist: das Politische erscheint mit der direkten Intervention auf der Tatsache des Lebens in der Gesellschaft, auf ihrer Gesamtheit und den Ereignissen, die aus diesem Leben in unserem täglichen Leben abgeleitet werden. Die Politik ist im Gegenteil die Spezialisierung der globalen Angelegenheiten, sie verlangt eine Trennung von dem Sozialen, das sie hervorgebracht hat, um sie zum Gegenstand des Studiums zu machen. Demokratie stellt Entscheidungen und gesellschaftliche Organisation als etwas vom Leben selbst Getrenntes dar, Politik als etwas von der Lebensweise Getrenntes. Dies ist einer der zwingenden Gründe, warum wir gegen die Demokratie sind, welche Adjektive sie auch immer haben mag.
Dort, wo direkt in die Realität eingegriffen wird, wo es keine Kommunikation zwischen den betroffenen Personengruppen gibt, wo das Leben als Spektakel programmiert und gelebt wird, dort tritt die Politik und das Individuum in Erscheinung, mit seinem Recht, „es selbst“ zu sein, mit seinem Recht auf Privatsphäre, mit seinem Recht auf undurchdringliche Einsamkeit, mit seinem Recht, in einer Nische zu wählen, so dass es niemand sieht, mit seinem Recht, zwischen der einen oder anderen Marke desselben Produkts zu wählen, mit seinem Recht auf Gleichgültigkeit, auf Unterwerfung, auf den Tod im Leben, mit dem Recht, an seiner eigenen Vernichtung teilzunehmen.
– Die doppelte Kunst der Demokratie: die Schaffung von Konsens und Wunsch
„Es ist möglich, die öffentliche Meinung genau so zu regulieren, wie eine Armee ihre Soldaten reguliert.“
Propaganda, Edward Bernays17
Es ist mehr als üblich, dass wir, wenn wir über Manipulation sprechen, auf den bereits berühmten Satz von Goeebels, dem Propagandaminister des Dritten Reiches, zurückgreifen: „Sage eine Lüge hundertmal, und sie wird zur Wahrheit werden“. Dieser Satz, der die Funktion zusammenfasst, die die politische Propaganda in jedem totalitären Regime entwickelt, ist in Bezug auf Bernays‘ Satz der Beweis für die Funktion, die die Massenmedien in jeder Demokratie bei der Ausarbeitung von Konsens haben, und er zeigt auch den manipulativen Charakter dieser Funktion. Jedes totalitäre Regime zeichnet sich durch die Abwesenheit von Diskursen aus, die es konfrontieren, und durch die Macht, die es von der Bevölkerung erhalten hat, die, ob aktiv oder passiv, die herrschenden Wahrheiten reproduziert.
„Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Idee der herrschenden Klasse.“.
Kommunistisches Manifest, K. Marx und F. Engels
Gegenwärtig arbeiten Staat und Markt über die Konsensbildung hinaus gemeinsam an der Schaffung und/oder Stärkung von Wünschen, die ihren Interessen entsprechen. Diese haben u.a. die Aufgabe, die wirklichen Interessen der isolierten Individuen umzulenken, sie innerhalb der Gewinnmargen zu halten und zu verhindern, dass diejenigen auftauchen, die zu einer Überwindung der kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsverhältnisse führen. Wenn wir uns die Freiheit an diesem Punkt nicht stark genug wünschen, dann deshalb, weil wir nur bei sehr wenigen Gelegenheiten die Gelegenheit hatten, sie gemeinsam zu erleben. Wir finden es interessant, diese Erzeugung von Wünschen nicht als einen perfekt studierten machiavellistischen Mechanismus zu sehen, sondern als die Reproduktion des herrschenden Imaginären und seiner in seinem Wesen unveränderlichen Mutation. Wir können bejahen, dass die Realität im Augenblick völlig kapitalistisch ist. Sowohl der Hedonismus als auch die Anpassung des mehrheitlich intellektuellen Denkens an die Aufgabe rupturistischer Thesen führen dazu, dass wir uns an das anpassen, was wir bereits kennen, und, falls wir nicht zufrieden sind, mehr von dem suchen, was uns als Glück verkauft wurde: mehr Geld, mehr Luxus, mehr Urlaub, mehr Liebe, mehr Sex, mehr Konsum, mehr, mehr… in der inneren Vergrößerung der Ränder zu bleiben, die uns das gleiche Elend bietet.
– Von der Teilnahme als Verzicht
„Wir fordern nichts von euch, weil wir alles wollen“, konnte man während des Kampfes gegen den Bologna-Prozess an einer der Wände lesen können, aber das war nicht der Fall; Tatsache ist, dass viele von uns zu spät erkannt haben, dass in der diskursiven Artikulation unseres Willens auf der Grundlage einer Forderung der Keim unserer Niederlage – einer unserer Niederlagen, zumindest auf politischer Ebene – inhärent war. Dennoch war dieser Prozess für einige von uns notwendig, um ihn seither ein wenig klarer zu gestalten.
Wir denken, dass es nicht möglich ist, den Triumph der Demokratie – und damit das Scheitern der proletarischen Kämpfe – zu verstehen, ohne das unglaubliche Gewicht zu betrachten, das die Sektoralisierung des Kampfes, die Artikulation von Vorschlägen in Form von Forderungen und die Anerkennung einer übergeordneten Autorität, die aus diesen Dynamiken hervorgeht, haben18. Die Demokratie verdankt ihren Triumph vor allem der Fähigkeit, jeden Diskurs zu verschlingen, der ihr nicht direkt entgegengesetzt ist. Wir glauben, dass dies möglich wird, wenn der Staat durchlässig wird für die Forderungen eines Teils der Bevölkerung, dem er sich unterwirft – von dem Gefangene, Kinder, Behinderte und undokumentierte Migranten ausgeschlossen sind -, so dass Forderungen entstehen und soziale Kämpfe auf der Grundlage verständlicher Diskurse artikuliert werden können, so dass diese vom Feld der Konfrontation und des Ermächtigens auf das Feld des institutionellen Managements umgelenkt werden können.
Der Demokratisierungsprozess der Bevölkerung in den 1970er Jahren hat dazu geführt, dass die populären Kämpfe – sei es von den Nachbarschaftsversammlungen oder von den Elternvereinigungen usw. – ihre Forderungen auf das Feld der Forderungen umlenken und im bürokratischen Kreislauf der kommunalen Verwaltung untergehen. Dieser Prozess findet aufgrund der Durchlässigkeit statt, die von den Rathäusern und Stadtvierteln – im Falle Barcelonas – bis zu den oberflächlichen Problemen der Bevölkerung gezeigt wird, die mit der partizipativen Demokratie flirten. Dieser Prozess ist insofern demobilisierend, als er einem großen Teil der entpolitisierten Bevölkerung – und auch vielen Politisierten – das Gefühl gibt, an dem neuen Prozess teilzuhaben, der sich während des wirtschaftlichen Übergangsperiode19, der die Hinwendung zum Parlamentarismus beherrscht, eröffnet. Die Legalisierung der Kommunistischen Partei – warum sollte sie illegal bleiben, wenn sie in der Praxis der demokratischen Logik folgte – und die Moncloa-Pakte20 sowie der anschließende Aufstieg der PSOE beendeten den Demokratisierungsprozess und die Vernichtung jeder Position eines Bruchs. Betrachten wir nun den von Itziar González geführten Fall der Demobilisierung der Kämpfe im Stadtteil Ciutat Vella, der sich von einem Aktivisten im Rahmen von Nachbarschaftskonflikten wie dem Forat de la Vergonya zu einem Gemeinderatsmitglied mit dem Bürgermeisteramt von Hereu entwickelt hat. In Barcelona ist es seit den ersten Kommunalwahlen (1979) eine Konstante, dass der Stadtrat Mitgliedern der oben genannten sozialen Bewegungen Führungspositionen anbietet. Der Übergang vom Aktivismus zu Institutionen würde die falsche Illusion einer linken Bürgerbeteiligung am Barcelona-Projekt rechtfertigen, für dessen Funktionieren es unerlässlich ist, dass jedes seiner Mitglieder Teilnehmer oder sogar Partner ist.
– Perversion lebenswert machen, eine Aufgabe für desillusionierte Ex-Revolutionäre
Wir können diese Resignation, diese Beteiligung an der Verbesserung der etablierten Ordnung nicht von einer politischen Niederlage, von einer Resignation zum Aufgeben trennen. Es ist nicht den Reaktionärsten zu verdanken, dass dieses System seine Perversion nährt, es ist nicht ihrerseits, dass das Elend lebenswert und damit noch berüchtigter wird. Nicht von ihnen stammen Vorschläge, Beteiligungsprojekte, Integration oder soziale Umerziehung und Hilfe, die Armut erträglich machen, nein, nicht von ihnen. Diese Verbesserung der Existenzbedingungen, diese Verwandlung des Käfigs in eine Urne aus Diamanten, ist denjenigen zu verdanken, die auf jede wirkliche Veränderung, auf jeden Bruch mit der etablierten Ordnung verzichtet und sich entschieden haben, die Rauheit zu polieren, die der Kapitalismus verursacht, indem sie seine Widersprüche weniger offensichtlich machen und es uns erschweren, Komplizen, Freund*innen in unserem Kampf für seine Zerstörung zu finden; sie demobilisieren uns, gerade indem sie uns zu partiellen Kämpfen mobilisieren, die das Problem nicht lösen, sondern es uns ermöglichen, weiterhin in ihm zu leben.
Die Demokratie, der Wohlfahrtsstaat und der Keynesianismus, der nach dem Zweiten Weltkrieg die revolutionäre Stimmung der Mehrheit der europäischen Bevölkerung beruhigte, erschienen als Zugeständnisse eines Kapitalismus, der seine Hegemonie durch einen starken Sowjetblock und durch proletarische Kämpfe, die sich über das gesamte Gebiet ausbreiteten, bedroht sah. Die Sozialdemokratie erscheint beim Sturz des realen Sozialismus – des Sowjetblocks – als Verteidigung der demokratischen Etappe der Herrschaft; als Verteidigung der Zugeständnisse, die der bourgeoise Apparat an die beherrschten Klassen macht, um ihre Unzufriedenheit zu mildern. Der Wohlfahrtsstaat erscheint als Zugeständnis für die Verbesserung der Existenzbedingungen der Arbeiter*innen in den Staaten, in denen die Gewissensbedingungen die Grenze von Unbehagen – Unterwerfung unter Unbehagen – Rückkehr nicht überwunden haben. Anders war es in den Staaten, in denen diese Grenze überschritten wurde und in denen die staatliche Intervention eher zu repressiven Maßnahmen neigte, in dem Wissen, dass sie nicht ausreichen würde, um die Massen zufrieden zu stellen. Die reformistischen Positionen sind zunächst aus den sozialen Sektoren hervorgegangen, die sich angesichts der Bedrohung ihrer Hegemonie dazu entschlossen haben, den proletarischen Kämpfen Zugeständnisse zu machen und sie auf das Feld der Artikulation von Forderungen zu führen. Diese Positionen sind nie vom Proletariat initiiert worden; nie bis jetzt.
Wir könnten diese Niederlage angesichts der Unfähigkeit – oder der Schwierigkeit – erklären, Referenzen zu finden, die über die von uns markierten hinausgehen, immer am Rande dessen, was wir für möglich halten. Unsere Möglichkeiten sind dann auf Kämpfe nicht-struktureller Natur beschränkt, die sich darauf beschränken, die Existenzbedingungen in einem System zu „verbessern“, von dem wir wissen und fühlen, dass es uns zum Elend verdammt.
Warum über Demokratie sprechen? Haben wir nicht unsere eigenen Begriffe?
Die meisten von uns haben sich irgendwann angesichts des offensichtlichen Mangels an Worten zur Definition unserer gemeinsamen Art, uns zu organisieren, dazu entschlossen, Adjektive zu verwenden, die das, was wir bereits wissen, an unseren emanzipatorischen Willen anpassen können. So sind Begriffe wie direkte Demokratie, inklusive Demokratie, deliberative, partizipatorische, horizontale usw. in den Lippen vieler von uns – oder Menschen, die uns nahe stehen – aufgetaucht. Am Ende Adjektive, die das Bestehende an unser Bedürfnis anpassen, einen Organisationsmodus zu erklären, den wir noch nicht kennen. Das Problem tritt in dem Moment auf, in dem diejenigen von uns, die wissen, dass das, was wir wollen und wofür wir kämpfen, eine Gesellschaft ist, in der unsere Aktivitäten nicht getrennt voneinander und von niemandem, der unsere Beziehungen vermittelt, durchgeführt werden, am Ende das Politische, das Ökonomische, das Ökologische oder das Verhältnismäßige trennen21. Wir denken, dass dies auf die Schwierigkeiten zurückzuführen ist, die wir haben, wenn wir uns Möglichkeiten vorstellen, die über die uns bereits bekannten hinausgehen, und dass wir unsere Vorschläge und Diskurse schließlich auf der Grundlage von Verbesserungen auf der Grundlage des Etablierten anpassen und so jede Art von echtem Bruch mit dem bereits Bestehenden unmöglich machen. Dies ist auf den Druck der positivistischen/rationalen Logik zurückzuführen, einen zwecklichen Diskurs in der Konfrontation mit dem, was wir nicht wollen, zu erarbeiten.
Wenn wir keine Begriffe wie direkte Demokratie verwenden, dann deshalb, weil wir uns nicht mit einem statischen Organisationsmodell zufrieden geben wollen, wir wollen nicht vorgeben, wie unsere Art zu organisieren sein soll, solange sie keinen Missbrach von Autorität impliziert. Warum sollten wir unsere Art der sozialen Organisation einen Namen geben, wenn wir bereits Begriffe haben, die uns in unserem Kampf leiten? Nennen wir es Kommunismus oder Anarchie; manchmal verirren wir uns auf dem Weg dorthin.
Warum Demokratie mit Adjektiven umschreiben? Eine andere Demokratie vor die bereits existierende zu stellen, ist Teil von zwei grundlegenden Fehlern: Entweder ist sie wirklich das Gegenteil von dem, was bereits vorhanden ist – in ihrer Qualität – und dann reden wir bereits über etwas anderes – warum es dann Demokratie nennen – oder wir reden über die gleiche Sache und fordern mehr Demokratie. Im letzteren Fall gelingt es uns nicht, aus den vom Kapitalismus gesetzten Grenzen auszubrechen, ganz im Gegenteil.
Und können wir jetzt für uns selbst sprechen?
Indem wir für andere sprechen, haben wir vergessen, wie man in der ersten Person spricht. Durch Wiederholung und Routine haben wir es versäumt, das zu sagen, was wir wirklich wollen, und indem wir immer wieder gesagt haben, was wir nicht wirklich gewollt haben, aber von dem wir dachten, dass es für andere viel verständlicher wäre, haben wir am Ende unser Wort verkümmern lassen. Das Wort, das nicht das unsere ist, ist schließlich in uns eingedrungen, hat einen Raum eingenommen, von dem wir dachten, wir hätten ihn nicht betreten, hat sich selbst installiert und die Schreie, die wir noch immer in uns tragen, entwaffnet. Wo sind unsere Worte? Kolonisiert, enttäuscht, warten sie ungeduldig darauf, dass wir lernen, unsere Angst zu verlieren.
Es ist möglich, dass die Sackgasse, in der wir uns gegenwärtig befinden, zu einem guten Teil darauf zurückzuführen ist, dass unser Kampf, der in die revolutionäre Tradition der Vergangenheit eingeschrieben ist, eine agglutinierende Projektion haben muss, d.h. dass die Revolution eine Frage der Massen ist oder sie wird nicht sein. Wir sagen nicht, dass es bei einer Revolution – oder gar einem Aufstand – nicht um einen Zusammenschluss von viel mehr Menschen als heute geht, aber was wir sagen, ist, dass wir zu oft versuchen, Sympathie für unsere Kämpfe zu schaffen, und dass sie infolgedessen am Ende geschwächt werden. In einem Bereich, der von Konsum und Waren geprägt ist, wird der Wille zur Vereinigung schließlich durch den Verkauf eines neuen Produkts geprägt; die Revolution nicht als eine Frage der Beteiligung und Komplizenschaft, sondern als eine Frage der Anziehungskraft näher zu bringen. Die Haftung ergibt sich aus der Notwendigkeit, eine bequeme Rede zu halten, die angenehm ist, obwohl wir sie nicht glauben, statt einer Rede, die stören und Antipathie hervorrufen kann, obwohl sie diejenige ist, die wir denken. Fragen wir uns, ob wir auf der Grundlage von Diskursen, die keine Verzerrung der Normalität provozieren, in der Lage sein werden, sie zu überwinden.
Im Amalgam22 der Menschen, die isoliert und hermetisch abgetrennt durch die Straßen dieser Stadt gehen, sind nur wenige bereit, ihr Elend zu überwinden, aber es gibt, und an sie werden wir uns wenden müssen, das Bewusstsein23, dass die Worte, die Brüche schaffen wollen, nur von denen gehört werden, die einen wirklichen Bruch wollen und nicht von denen, die selbstgefällige Worte wollen. Wir können nur mit denen sprechen, die bereit sind, zuzuhören, mit denen, die dafür empfänglich sind. Worauf wir hinweisen wollen, ist, dass wir keine wirklichen Komplikationen finden werden, wenn wir nicht anfangen, für uns selbst zu sprechen und nicht für das, wovon wir annehmen, dass die anderen es hören wollen. Wenn wir diese Debatte führen, dann deshalb, weil wir beobachten, dass wir uns zu oft vor der geringen Akzeptanz unserer Reden oder vor dem offensichtlichen Mangel an Sympathie seitens „der übrigen Bevölkerung“ ohnmächtig fühlen und in Untätigkeit verfallen, oder weil wir auf der anderen Seite nach Aktivitäten suchen, die von der Mehrheit übernommen werden können, und dabei diejenigen vernachlässigen, die in einer Vollversammlung in großer Zahl nicht konsensfähig wären. Dieses agglutinierende Ideal lässt uns oft in possibilistishen Kämpfe24 verfallen; es lässt uns nach Affinitäten suchen, wo jeder Diskurs zweideutig wird; wo unsere Kämpfe keine Unterbrechung des Alltagslebens mehr implizieren; wo es keinen Bruch gibt, gibt es nur eine Anpassung an das demokratische Spektakel, eine Stärkung desselben. Wenn wir warten, bis wir handeln, wenn sich alle einig sind, werden wir höchstwahrscheinlich am Ende nichts tun.
Wir sind dazu übergegangen, unseren Diskurs, unsere Praktiken und unsere Formen aufzuweichen, um sie für andere verständlich zu machen, weil ein selbst auferlegtes Stigma – verstärkt durch eine vermeintliche und manchmal nicht vorhandene öffentliche Meinung – es uns erschwert hat, transparent zu sein, und uns dazu drängt, unsere gewohnten Praktiken oder unsere Forderungen25 als illegal zu empfinden.
Die Schwierigkeit, über der Asche zu erschaffen
„Die einzige, bereits jetzt zu kostende Freiheit ist in der Revolte gegen das Existierende zu finden, in dem Negativen, das sich ans Werk setzt, stets ohne aus den Augen zu verlieren, dass es darum geht, die Möglichkeit zu öffnen, wieder vom Positiven, von der Konstruktion von etwas Neuem zu sprechen. Wie einige alte Revolutionäre sagten: die neue Gesellschaft wird auf den Ruinen der alten Welt gebaut werden.“
„Autonomie… Wovon sprichst du?“ in A Corps Perdú Nr. 2, August 2010
Wir können nur auf der Asche erschaffen. Wir wollen eine Selbstverwaltung, die sich aus der direkten Intervention in unsere eigenen Konflikte ableitet, ohne Vermittler, ohne Bürokraten, ohne Spezialisten. Alles soll geschaffen werden: Die Sklavin weiß nicht, was sie jenseits ihrer Sklaverei sein kann, bis sie ihren Zustand verleugnet und sich offenbart; solange wir weiterhin glauben, dass wir als Arbeiter*innen kämpfen, können wir der Forderung nach Verbesserungen unserer elenden Ausbeutungsverhältnisse nicht entgehen; solange wir das Elend in der Entfremdung der Kontrolle über unser Leben nicht leugnen, werden wir nur die Kontinuität des Spektakels aufrechterhalten. Nur wenn wir uns weigern, das zu sein, was wir in dieser Gesellschaft sind, und wenn wir nach Affinitäten suchen, die unseren Kampf in einen kollektiven verwandeln, können wir intuitiv die Überwindung unseres Zustandes erahnen. Im Moment wissen wir nicht, was es bedeutet, mehr zu sein, und manchmal verwechseln wir es mit mehr zu haben. Dieses Ideal ist innerhalb der Grenzen des Möglichen gerahmt, und was wir als möglich kennen, ist heute berüchtigt. Wenn es zu Beginn des letzten Jahrhunderts möglich war, dass eine kollektive Vorstellungskraft die Menschen befähigte, für die Anarchie zu kämpfen, dann deshalb, weil die Anarchie embryonal in den alltäglichen sozialen Beziehungen gelebt wurde, die in den Nachbarschaften existierten, sei es in den Ateneos26, in der gegenseitigen Hilfe oder in den Kämpfen der Arbeiter*innen gegen die Arbeitgeber*innen. Heute ist dieses Imaginäre nicht nur nicht kollektiv, sondern viele von uns glauben nicht an das, was wir tun. Wie der Text Ai ferri corti27 betonte: „Das Geheimnis liegt darin, wirklich zu beginnen“.
Jeder Kampf zur Überwindung der gegenwärtigen Ordnung erfordert zwei Fronten, eine offensive und eine defensive. Gegenwärtig hat es der demokratische Diskurs geschafft, so tief einzudringen, dass wir nicht in der Lage sind, das zu verteidigen, was uns wirklich gehören könnte – aus Mangel an Vorstellungskraft, um ihm entgegenzutreten – und deshalb sind wir auch nicht in der Lage, an die Überwindung der kapitalistischen Beziehungen zu glauben. Deshalb wollen wir auf den Konflikt setzen, auf die energische Negation dessen, was uns vorausgeht, in dem Bewusstsein, dass, wie jemand sagte: „Wir werden nicht alles zerstört haben, bevor wir nicht auch die Trümmer zerstört haben“. In diesem Konflikt finden wir, wie wir bereits dargelegt haben, die authentische Verbindung zu anderen und den Keim dessen, was wir verteidigen wollen.
Wenn wir dies nicht tun, und das tun wir in der Regel nicht, werden wir in unseren Kämpfen weiterhin das reproduzieren, was wir zu bekämpfen beabsichtigen. Wir werden nicht wissen, wie wir aus dem Imaginären, das uns diese Gesellschaft bietet, herauskommen können, denn auch wenn wir Freiheit suchen, werden wir am Ende immer mehr Demokratie schaffen. Wir können dies in den Momenten des aufbrausenden Kampfes sehen, und der Fall des letzten Streiks im September ist ein gutes Beispiel dafür. Wenn wir die Vollversammlung von Barcelona als ein Potenzial für das Binden und den Kampf sehen, sehen wir dann nicht auch die Reflexion dessen, was ein Raum für die politische Verwaltung der Stadt sein könnte? Wären nicht die Streikkomitees ihre Version in der Nachbarschaft? Wir wollen nicht von der Arbeit ablenken, die angesichts des Streiks geleistet wird, aber wir wollen in Frage stellen, ob dies das Modell des Funktionierens ist, das wir anstreben. Macht zu dezentralisieren bedeutet nicht, sie abzuschaffen, sondern sie lokaler zu machen. Wir sind uns nicht darüber im Klaren, was dem, was wir verteidigen, am nächsten käme, aber wir sind nicht überzeugt von der Schaffung von Miniparlamenten, um das Problem der Parlamente zu lösen. Wie viele Menschen um uns herum stellen dies in Frage, wie viele Gefährt*innen träumen von Massenvollversammlungen, wollen wir Freiheit oder wollen wir Demokratie?
Wir wissen nicht, was kommen wird, wir wollen es nicht wissen, wir mögen die Vorstellung nicht, die Möglichkeit zu verlieren, den Weg zu genießen oder ihn zugunsten einer endgültigen Errungenschaft zu verpfänden. Wir sind bereits dabei, uns zu organisieren, und wir leben gerne unter uns… aber wir haben nicht genug. Wir lieben die Momente, in denen wir auf der Straße, auf den Plätzen und im Grünen zusammen sind oder andere Formen der Liebe entdecken, die über die heteronormativen hinausgehen, aber wir haben nicht genug davon. Wir haben nicht genug, denn unser Leben besteht heute nur noch aus unverbundenen Pinselstrichen oder Momenten der kollektiven Euphorie, in denen wir zwischen Leben und Alltag unterscheiden können; wir haben Angst, jeden Tag zur Normalität zurückzukehren. Deshalb verläuft unsere Zukunft eindeutig, indem wir an die Gegenwart glauben und anfangen, so zu leben, wie wir von nun an leben wollen, indem wir mehr und mehr diejenigen sind, die neue Beziehungsformen erleben, die sich der etablierten Ordnung entgegenstellen. Wir wollen keinen Unterschied zwischen Mitteln und Zweck machen, weil der Zweck letztlich aus Mitteln besteht. Unsere materiellen und sozialen Bedürfnisse zu befriedigen, ohne durch Geld vermittelt zu werden, ist das, was wir erreichen wollen, und wir wissen, dass es uns derzeit an Referenzen mangelt. Wir wollen keinen Übergang zu irgendeinem Stadium, es ist der Aufstand selbst, der Konflikt selbst und die Art und Weise, wie wir ihm begegnen, die uns den Schlüssel geben werden, nicht für eine zukünftige Gesellschaft, sondern für eine aus der Gegenwart gelebte Gesellschaft mit all ihren Aspekten in Gemeinschaft. Wir glauben nicht, dass es notwendig oder wünschenswert ist, festzulegen, wie das organisatorische Modell, das wir in Zukunft haben werden, aussehen wird. Was wir als notwendig erachten, ist, dass wir nur dann verstehen, dass wir in der Konfrontation mit unseren Problemen jenseits des Intimbereichs die Notwendigkeit finden werden – und das tun wir auch -, uns um unsere Beziehung zu anderen zu kümmern, indem wir den besten Weg zur Verwirklichung der menschlichen Gemeinschaft suchen. In einer Zeit, in der die Probleme im Individuum und größtenteils auf therapeutische Weise gelöst werden, fällt es uns auch schwer, die Möglichkeit einer sozialen Organisation zu sehen, in der die Erhaltung des Gemeinsamen, der Gemeinschaft, das Wesentliche ist. Das ist schwierig für uns, und deshalb wollen wir herausfinden, wo die Bremsen für die Konstruktion kollektiver Vorstellungen liegen, die die gegenwärtige Ordnung überwinden. Vorwegzunehmen, wenn wir noch nicht, wenn auch nicht vollständig, so doch sehr embryonal wissen, welche neuen Beziehungen sich aus dem direkten und gemeinsamen Eingreifen in die Lösung unserer eigenen Konflikte ergeben werden, führt uns oft dazu, die neuen Formen, die wir Schritt für Schritt im Kampf entdecken, nach dem zu definieren, was wir bereits wissen. Die Besessenheit zu wissen, was wir sind und wie wir uns organisieren, verankert uns in Realitäten, die unsere Dynamik bereits zu überwinden begonnen hat. Vielleicht werden wir am Ende in der Lage sein, die organisatorischen Modelle, die wir kennen und die uns nicht befriedigen, zu überwinden, wenn wir aufhören, uns zu fragen, wie wir uns organisieren, wenn wir uns bereits selbst organisieren. Es geht nicht darum, herauszufinden, was die ideale Organisation ist, sondern darum, in der Organisation unserer Affinitäten voranzukommen, uns selbst zu finden, uns selbst zu entdecken, uns um uns selbst zu kümmern.
Wir wollen in keinen sicheren Hafen landen, unser Weg liegt unter unseren Füßen. Von der Aufrichtigkeit und der Konsequenz, mit der wir die Schritte unternehmen, hängt es ab, dass die Unmöglichen, von denen wir heute nur träumen, Wirklichkeit werden, Situationen schaffen, die uns zur Begegnung drängen, den eindimensionalen Alltag durchdringen, die Ausnahme zum Keim eines Lebens machen, das wir intuitiv erahnen, aber noch nicht kennen.
1Glücklicherweise vermeidet das anarchistische Milieu diese Art von Slogans. Leider finden letztere aufgrund der mangelnden Durchlässigkeit eines Teils dieses Milieus mit anderen, die ihm nahe stehen, nicht die Kritik an der Demokratie, in der sie sich widerspiegeln.
2A.d.Ü., im Originaltext wird der Begriff ikonoklastisch verwendet. Historisch betrachtet war der Ikonoklasmus eine religiöse Strömung unter orthodoxen Christen im früheren Mittelalter welche alle göttlichen Abbildungen zerstörten. Über den religiösen Hintergrund hinaus, haben in vielen Ländern Revolutionäre diesen Begriff als Synonym für die Kritik an jeglichen Götzenkult, Verherrlichung von Ikonen, von Personen, Ritualen und ähnlichen Dogmen und Fetisch ausgeübt.
3Der Ausnahmezustand ist die Aussetzung der Rechtsordnung mit provisorischem und außerordentlichem Charakter, die die Staaten verordnen, wenn sie ihre Regierung über die Bevölkerung in Gefahr sehen. Während der Demokratie gibt es viele Gruppen, die in einem permanenten Ausnahmezustand leben und denen die „Grundrechte“ vorenthalten werden. Wir werden hier nicht, das ist nicht die Debatte, unsere Position zu den Rechten eintragen, die der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger zur Verfügung stehen: Menschen, die „ohne Papiere“ eingewandert sind, Menschen im Gefängnis, FIES, Verrückte, als Terroristen gebrandmarkte Menschen, unheilbar Kranke, Mädchen usw.
4A.d.Ü., Komplizenschaft im Originaltext, anders als im Deutschen, ist der Begriff Komplizenschaft, complicadad auf Spanisch, kein Fremdword und man kann, anders als hier, diesen Begriff keine spezielle politische Konnotation geben.
5A.d.Ü., fasziniert
6A.d.Ü., siehe Fußnote Nummer vier
7Das Konzept der Doppelbindung wird von dem Anthropologen G. Bateson entwickelt und versucht, jene kommunikative Situation zu erklären, in der eine widersprüchliche Botschaft ausgesendet wird, die auf nicht offensichtliche Weise eine falsche Frage oder Aussage impliziert. Dieses Konzept versucht, viele der Ursprünge unserer Neurosen zu erklären.
8Fälle wie Irak, Afghanistan oder Angola, in denen nach innen hin im Namen der „humanitären Hilfe“ geworben wird und wo unter einem Euphemismus, der aufhört, so zu sein, von „Demokratisierung des Landes“ die Rede ist.
9Es ist unglaublich, welcher Unsinn aus dem Mund von Habermas und Konsorten zu hören ist (weg von der Frankfurter Schule und den wertvollen Beiträgen, die ihre Mitglieder nach dem Zweiten Weltkrieg geleistet haben), ein Paradigma dessen, was die Niederlage und die Aufgabe radikaler Positionen sein könnte, die die Sensibilität einiger Meinungen verletzen könnten, insbesondere jener, die die Fakultäten finanzieren, an denen diese Figuren lehren.
10Gleichwohl wissen wir, dass die vorgetäuschte Neutralität heute gleichzeitig eine Parteinahme zugunsten der Erhaltung des Status quo voraussetzt.
11Das Konzept der Arbeiterdemokratie wird unter derselben Logik wie die bourgeoise Demokratie geboren und entkommt nicht aus ihren Fallen: dem Konzept der Vernunft, der Trennung zwischen Politik, Wirtschaft und Leben sowie der Idee, dass es eine Gruppe von Menschen, in diesem Fall Arbeiter*innen, sein wird, die durch die Tatsache, dass sie welche sind, die Legitimität haben werden, ihre Wahrheit als Einzige durchzusetzen. Dies ist eine neue Mythisierung und Idealisierung eines Abstrakten.
12Das bourgeoise Ideal basiert neben anderen Maximen auf der Tatsache, dass die „natürliche“ Bedingung der Menschheit darin besteht, für sich selbst ein Wolf zu sein, aber was war zuerst da, die Henne oder das Ei? Diese Maxime gibt zusammen mit Darwins Evolutionstheorie (und dem daraus folgenden Sozialdarwinismus) die theoretische Unterstützung, die die Bourgeoisie braucht, um ihre Machtposition gegenüber dem Rest der Bevölkerung zu legitimieren.
13A.d.Ü., siehe Fußnote Nummer vier
14Zu den Konsumraten von Psychopharmaka in einer demokratischen Gesellschaft wie der englischen siehe im Rezensionsteil des Textes Beyond Amnesty.
15Auf dem Internationalen Forum der Kulturen könnt ihr den Artikel lesen: http://www.espaienblanc.net/Barcelona-2004-El-fascismo.html
16A.d.Ü., kann auch als „die gleich ist“ verstanden werden
17Edward Bernays war führend in der US-amerikanischen PR-Branche und Mitglied der Creel-Kommission. Diese Kommission, die auch als „Committee on Public Information“ bezeichnet wird, erschien während der Regierung Woodrow Wilson in den 1920er Jahren in den Vereinigten Staaten, um die öffentliche Meinung gegen den Krieg umzudrehen und sie für eine bewaffnete Intervention der USA im Namen der Alliierten im Zweiten Weltkrieg zu gewinnen. Die Kampagne „berichtete“ über Fakten wie „die Deutschen rissen Kindern ihre Arme ab“. Es muss gesagt werden, dass diese „Informationen“ größtenteils aus dem britischen Innenministerium stammten. Diese Kommission war Jahre später für die Propaganda bei der antikommunistische Hexenjagd in den Vereinigten Staaten zuständig.
18Damit wollen wir nicht sagen, dass Teilkämpfe nicht revolutionär werden können, da diese Kämpfe in vielen Fällen (obwohl sie nicht die Mehrheit sind) von sektoriellen Positionen ausgehen und, wenn sie voranschreiten, eine globalere Sicht der Situation einnehmen. Diese Tatsache tritt in jenen Kontexten auf, in denen die Kämpfe von den Betroffenen selbst in Ausübung direkter Aktion und bei der Schaffung eigener Abwehr- und Selbstverwaltungsmechanismen initiiert werden. Deshalb wissen wir, dass es keine reformistischen Kämpfe, sondern reformistische Methoden gibt. Wenn ein Kampf ohne Vermittler zwischen den Betroffenen und dem Brennpunkt, der die Unruhe hervorruft, geführt wird, spielt es keine Rolle, ob es sich um eine Lohnerhöhung handelt und die Figur der Arbeit selbst nicht von vornherein in Frage gestellt wird, so wie ein Kampf, so revolutionär er auch von Anfang an erscheinen mag, wenn ihre Teilnehmer*innen nicht selbst Betroffene sind, ein Kampf sein wird, der der spektakulären Darstellung überlassen wird.
19A.d.Ü., hiermit wird die „Übergangsperiode“ gemeint, auf Spanisch Transición, die ab Francos Tod 1975 bis zu den ersten demokratischen Wahlen 1977 verlief.
20A.d.Ü., der Pakt der Moncloa war eine Reform von 1977 die alle Parteien und Gewerkschaften in Spanien, außer der CNT, unterschrieben um das Kapital, was sich gerade in einer Krise befand, wieder auf Vordermann zu bringen.
21Wenn unser Elend durch diese Trennung gekennzeichnet ist, kann ihre Überwindung nicht durch einen Vorgang an einem ihrer Teile erfolgen. Der Kooperativismus (A.d.Ü., Genossenschaftsbewegung) kann der kapitalistischen Ausbeutung nicht ein Ende setzen, weil er die Arbeit verwalten will, so wie die Vollversammlung (A.d.Ü., hier verstanden als Ideologie, mit einem -ismus) dem Staat nicht ein Ende setzen kann, weil er eine andere Art der Verwaltung dieser Gesellschaft vorschlägt.
22A.d.Ü., unter Amalgam versteht man normalerweise eine Legierung auf der Basis von Quecksilber, es kann aber auch bildlich verstanden werden, als was bindend, eine Vereinigung oder Verbindung mehrerer (kulturellen, politischen, abstrakten, Kunst-) Elemente; Mischung; Gemisch usw.
23A.d.Ü. auch im Bezug auf sich selbst, das Bewusstsein haben.
24A.d.Ü., hier wird ein Bezug auf den Possibilismus genommen, welches eine reformistische Strömung in der sozialistischen Bewegung in Frankreich im 19ten war. Für sie war das Ziel unter Umständen auch mit dem Erreichbaren, dem Möglichen (possibile, daher der Name) sich zufrieden zu geben.
25A.d.Ü., hier wieder mal die Erklärung des Begriffes reinvindicación, weil es dazu im Deutschen keinen Äquivalent gibt. Wir haben es an dieser Stelle als Forderung übersetzt, es sollte jedoch nicht als Forderung im reformistischen Sinne verstanden werden, sondern eher als eine Art sich zu bekennen.
26A.d.Ü., Ateneos sind Kulturzentren die von Arbeiter*innen gegründet wurden. Fernab ihrer politischen Einstellung, gibt es daher anarchistische, kommunistische und auch auf Herkunft bezogene Ateneos im ganzen spanischen Staat. Die Gründung der Bewegung der Ateneos ging von der anarchistischen Bewegung aus.
27A.d.Ü., In offener Feindschaft