(Argentinien) ÜBER DIE ANSTECKUNG DER DISKURSE

ÜBER DIE ANSTECKUNG DER DISKURSE. Wir werden weder durch die Wissenschaft, noch durch den Staat, noch durch das Kapital gerettet werden.

Quell: La Caldera, die Übersetzung ist von uns

La Caldera
12.06.2020, Argentinien

Eine wissenschaftliche Körperschaft, welcher die Regierung der Gesellschaft anvertraut wäre, würde sich bald gar nicht mehr mit der Wissenschaft, sondern mit ganz anderen Dingen beschäftigen; sie würde, wie alle bestehenden Mächte, sich damit befassen, sich ewige Dauer zu verschaffen, indem sie die ihr anvertraute Gesellschaft immer dümmer und folglich ihrer Regierung und Leitung immer bedürftiger machen würde.“
Mikhail Bakunin, Gott und der Staat

Wir sind Zeugen eines Moments, in dem uns die Realität als eine Dichotomie präsentiert wird, in der es auf der einen Seite diejenigen gibt, die die Coronavirus-Pandemie als das Hauptproblem sehen, mit dem wir derzeit als Menschheit konfrontiert sind, während auf der anderen Seite die Betonung nur auf dem Fortschritt der Kontrolle über unser Leben liegt, wobei die Ausrufung der Pandemie und die Verlängerung der Quarantäne die perfekte Entschuldigung für diesen Zweck sind.

So unwahrscheinlich es ist, dass das Virus Teil einer Verschwörung ist, so unwahrscheinlich ist es unserer Meinung nach auch, dass die Zahlen der Toten und Infizierten falsch sind.

Wir wissen, dass es viele heftige Kritiker der Quarantäne gibt, die sich nur nach der Freiheit sehnen, ihre Profite wachsen zu sehen, und die wahrscheinlich das Einfühlungsvermögen vieler finden werden, die sich lieber exponieren, als ihre Arbeitskraft verkaufen zu können: Das ist die Stärke der vom Kapital auferlegten Aufwertung, einer Gesellschaft, in der wir, egal wie viel Nahrung es gibt, nur essen werden, wenn wir Geld haben, um dafür zu bezahlen.

Wir finden uns auch in extravaganten Theorien und Diskursen wieder, die nicht in der Lage sind zu erkennen, dass diese ganze Krise der Produktionsweise, in der wir leben, ihrer Beziehung zum Lebensraum und der Art und Weise, in der die Reproduktion des Kapitals gegenüber unserer Gesundheit und der unseres Planeten privilegiert ist, sehr gut entspricht. Für all dies ist kein machiavellistischer Plan nötig; es ist alles Teil eines Systems, das seine Widersprüche bis an die Grenze ausreizt.

Es macht keinen Sinn, dass wir dem Kapitalismus und seinen Institutionen weiterhin vertrauen; Zahlen wie auch die Gesundheitspolitik funktionieren nach der Logik des Kapitals. Trotz dieser Realität gibt es einen Glauben an Institutionen, der Angst und Passivität fortbestehen lässt. Selbst wenn es ein Hinterfragen und Misstrauen gegenüber der Führung und den ergriffenen Maßnahmen gibt, drückt sich tief im Inneren der Glaube aus, dass es einen besseren Weg für das Funktionieren der kapitalistischen Gesellschaft gäbe. „Wir müssen einen Kapitalismus schaffen, in dem alle gewinnen“, würde jeder Scharlatan sagen, der gerne das sagt, was alle hören wollen; aber das ist nicht möglich, nur einige Leute profitieren unter dem Kapitalismus, und das bestimmt unsere Existenz in dieser Gesellschaft zutiefst.

Dieser Glaube ist kein Produkt unserer Unschuld oder unseres Unwillens. Wir sind materiell von diesen Institutionen abhängig, und unser ganzes Leben ist von ihnen durchdrungen, bis zu dem Punkt, an dem wir schließlich ihre Existenz naturalisieren1 oder vergessen, dass sie Teil der Räder dieses Systems sind, selbst wenn sie uns palliativ mit medizinischer Versorgung und Nahrung helfen oder wenn sie das Transportsystem verbessern oder mehr Polizei auf die Straßen schicken: es wird immer darum gehen, die Reproduktion der Wirtschaft zu sichern.

Wir geraten in eine Sackgasse, wenn unsere Unzufriedenheit über die Wege kanalisiert wird, auf denen die Sprache des Bestehenden gesprochen wird, und zwar nicht, weil der Staat eine Höhle der schlechten Menschen ist (na ja, ein bisschen schon), sondern weil es die Art und Weise ist, in der das Kapital auf globaler Ebene seine Dominanz zum Ausdruck bringt, in jeder Region mit ihren Besonderheiten. In den letzten Jahren hat sich ein gewisses „Misstrauen“ gegenüber Institutionen manifestiert, klare Beispiele sind Regionen wie Chile, Frankreich oder die jüngsten Proteste gegen rassistische Polizeigewalt in den Vereinigten Staaten. Dieses Misstrauen muss darüber hinausgehen und die Notwendigkeit der Abschaffung dieser Gesellschaft in Betracht ziehen können, wenn wir nicht nur den Schauplatz der Weltkatastrophe neu dekorieren wollen (auch wenn dieser Schauplatz aus gewaltsamen Auseinandersetzungen oder spektakulären Mobilisierungen besteht).

Und nein, auch diesmal können wir nicht darauf vertrauen, dass die Wissenschaft uns retten wird – und hier müssen wir unseren Unterschied zu dem Zitat zum Ausdruck bringen, das wir am Anfang unseres geliebten Michail und seines Vertrauens in die richtige Wissenschaft gestellt haben. Es geht nicht darum, dass Wissenschaftler zuverlässiger sind als andere oder dass alle von transnationalen Unternehmen korrumpiert werden. Es geht um das Verständnis, dass es unmöglich ist, eine Art und Weise, die Welt zu verstehen, zu retten, indem man sie von der sozialen Form trennt, die sie geschaffen hat.

Über die Tatsache hinaus, dass wir in einigen Fragen mit der wissenschaftlichen „Gemeinschaft“ zusammenfallen werden (in anderen nicht) – wie wir mit wirtschaftlichen Analysen oder mit Staatskritikern, die aus den Sozialwissenschaften kommen, zusammenfallen können – sind diese Spezialisierungen Formen, die im Herzen des Kapitals eingesetzt werden, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, und in diesem Sinne ist es, dass sie sich entwickeln.

Natürlich sprechen die Zahlen, aber wir können eine Situation nicht nur durch sie bewerten, indem wir unsere Erfahrung und die Stimmen von Proletariern, die ihre Bedürfnisse zum Ausdruck bringen, verleugnen. Es gibt Probleme, die sich bei Todesfällen nicht einfach quantifizieren lassen, weil es einen Hintergrund gibt, der sich nicht grafisch darstellen lässt. Weder Femizide, noch illegale Abtreibungen, noch Todesfälle durch Arbeitsunfälle wären ein Problem von großem Ausmaß, wenn wir uns an Statistiken orientieren würden, da die Zahl der Menschen, die an diesen Ursachen sterben, im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung nicht signifikant ist. Und doch wissen wir, dass Gewalt gegen Frauen real und beunruhigend ist, so wie Gewalt bei bezahlter Arbeit uns Angst macht, uns betrifft und uns wütend macht. Unsere Kämpfe können sich nicht auf die in einer Grafik dargestellten Größen stützen; es geht um die Qualität der Leben und Beziehungen, die wir leben wollen.

Mit dem Coronavirus, der vorherrschenden Ideologie der Spezialisten des Staates und der Kraftwerke der Kommunikation, setzen sie, nicht ganz unschuldig, Virus mit Krankheit, Krankheit mit Tod, Leben mit Konsum und Arbeit gleich. Wir werden die Virulenz von Covid nicht leugnen, aber wir werden auch nicht seine niedrige Sterblichkeitsrate leugnen, die sogar noch niedriger sein könnte, wenn sich bestätigt, dass es in Wirklichkeit mehr Menschen gab, die sich mit dem Virus infiziert haben und nicht einmal Symptome zeigten. Dies bestätigt, dass uns das Virus sowohl präventiv als auch immunologisch gestärkt gleichgültig sein kann und wird (unser Immunsystem ist so eng mit unserem Geisteszustand, unserer körperlichen Aktivität, der Qualität unserer Nahrung, unserer guten Erholung verbunden, dass es selbstverständlich ist, wie bombardiert wir durch den Arbeitsüberschuss und das Gift, dem wir normalerweise ausgesetzt sind, sein können).

Warum haben Staaten auf der ganzen Welt beschlossen, die Produktion wochenlang fast vollständig einzustellen, selbst um den Preis, viel Geld zu verlieren? Wir können es nicht mit Sicherheit sagen, aber sie waren von Anfang an die Hüter des Kapitals. Das historische Gedächtnis unserer Klasse deutet darauf hin, dass es keinen Grund zu der Annahme gibt, dass es diesmal einfach darum geht, für uns selbst zu sorgen. Genauso könnten wir uns fragen, welche wirtschaftlichen Vorteile die Quarantäne bietet, was die Möglichkeiten betrifft, die die Telearbeit zum Nutzen der Unternehmen und zur Prekarisierung der Arbeit bietet.

Angesichts all dessen treten wir, getrieben von Angst und Medienbombardement, in eine neue Phase ein, in der die Räte der UNO, der WHO, der Staaten und der großen Pharmakonzerne einen ungewöhnlichen Respekt finden, sie sind die neue Heilige Katholische Kirche, die uns sagt, wie wir leben sollen, und wer an ihren Reden zweifelt oder sie in Frage stellt, gilt als Ketzer.

Die Vorteile anzuprangern, die diese Enklaven, die Arbeitskräfte für das Kapital organisieren, in dieser Situation erlangen, ist selbst für einige Gefährten eine „konspirative“ Haltung. An welchem Punkt hören wir auf, die Polizei als eine Kraft der Kontrolle und Repression zu sehen, um zu akzeptieren, dass sie jetzt massiv auf den Straßen patrouilliert, weil sie über uns wacht?

Obwohl die Bourgeoisie nicht als ein einziges Organ agiert, ist es unbestreitbar, dass es Sektoren der Bourgeoisie gibt, die die Gesellschaft organisieren und reorganisieren, die vor der Entwicklung von Situationen warnen und auf diese reagieren, sogar widersprüchlich zwischen verschiedenen Produktionssektoren, Finanzen oder Vertretern des Staates.

Es gibt organisierte Prozesse. Oder wollen wir auch leugnen, dass es zum Beispiel in den 70er Jahren in Lateinamerika einen SYSTEMATISCHEN PLAN des Verschwindenlassens, der Ermordung und Aneignung von Babys gab? Wir können diese Ereignisse nicht als eine Phantasieverschwörung verstehen, sondern als die Koordinierung einer Reihe von Interessen, für die Entwicklung des Kapitals, was das Massaker und das Verschwinden von Hunderttausenden von Menschen und die Auferlegung einer „neuen Normalität“ in den Ländern der Region bedeutete.

Ja, das Kapital nimmt verschiedene Formen der Verwaltung von Ressourcen (einschließlich Humanressourcen) an, aber es gibt Kommandeure, die diese Entscheidungen treffen und leiten. Es handelt sich nicht um ein entpersonalisiertes Gewinnmandat oder eine unsichtbare feindliche Hand. Zu den sozialen Formen, die diese Manifestationen des Kapitals annehmen, gehören auch die Formen, die sie beharrlich verteidigen wollen. Und die wissenschaftliche Geschichte ist eine davon.

1A.d.Ü., mit naturalisieren, wird gemeint dass es eine an sich natürliche Gestalt annimmt, also eine dem Menschen natürlicher Zustand, nicht ein vom Menschen erzeugten. Wie z.B., dass die Herrschaft des Menschen durch den Menschen ein an sich natürlicher Zustand ist und nicht ein durch ihn erzeugter und man daher nichts dagegen machen kann. Dies nennt man auch Ideologie.

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