Wie anstrengend, das Unvereinbare zu vereinbaren…


Per Mail erhalten, von uns übersetzt, eine Antwort aus Italien zum Text „Über die üblichen alten – geliebten – Fragen. Über Kommunismus und Individualismus“.


Wie anstrengend, das Unvereinbare zu vereinbaren…

Kürzlich wurde sowohl auf Il rovescio als auch auf La Nemesi ein Beitrag mit dem Titel „Sulle solite vecchie amate questioni. A proposito di comunismo e individualismo” (Über die üblichen alten – geliebten – Fragen. Über Kommunismus und Individualismus)1 veröffentlicht (https://ilrovescio.info/2025/10/22/sulle-solite-vecchie-amate-questioni-a-proposito-di-comunismo-e -individualismo/) veröffentlicht, der ein paar Antworten auf vier kritische Texte enthält – zwei davon von Juan Sorroche, einem anarchistischen Gefangenen, einer von einem anonymen Autor und der andere von der anarchistischen Gruppe Panopticon –, die sich mit den Artikeln „La fase nichilista” (Die nihilistische Phase)2 und „L’anarchismo rivoluzionario contro la desistenza” (Der revolutionäre Anarchismus gegen die Aufgabe) befassen, die beide in der siebten Ausgabe der anarchistischen Zeitschrift Vetriolo veröffentlicht wurden.

Die vier erwähnten Texte sind weder inhaltlich noch in ihrer methodischen Herangehensweise, ob man den Begriff nun mag oder nicht, vergleichbar. Es spielt keine Rolle, dass hinter den Zeilen, die du vor Augen hast, der Autor eines dieser vier Texte steht; Anonymität sei es, sowohl für das eine (Einige kritische Überlegungen zu „Die nihilistische Phase”)3 als auch für das andere. Ich kann jedoch nicht umhin festzustellen, dass emmeffe, der Autor der Antwort, oder besser gesagt der Antworten, der offensichtlich weniger an die Wahl der Anonymität gewöhnt ist, ziemlich selbstbezogen und, ich würde sagen, egozentrisch auf meinen Beitrag geantwortet hat, wobei er eine Reihe von kritischen Punkten ignoriert hat, die für eine Debatte unter Revolutionären viel wichtiger sind als falsch interpretierte Vorwürfe mangelnder Originalität in der Theoretisierung der sogenannten nihilistischen Phase. Anstatt darauf zurückzukommen – Selbstbezogenheit ist furchtbar langweilig –, finde ich es interessanter, nur auf einige Punkte einzugehen, die in seinem Text angesprochen wurden, unabhängig von ihrem konkreten Bezug zu den in den vier verschiedenen Texten vorgebrachten Kritikpunkten, um die Debatte anzuregen. Zu diesem Zweck kann es hilfreich sein, einige Textzitate zu verwenden. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass in der Broschüre „Bussole impazzite” https://lanemesi.noblogs.org/post/2025/09/25/bussole-impazzite-note-critiche-su-teoria-radicale-classe coscienza-individuo-comunita-e-possibilita-di-rottura-rivoluzionaria/)4 einige Themen behandelt werden – auf die ich hier nicht näher eingehen kann –, um die sich auch die aktuelle Debatte dreht: das Individuum, die Gemeinschaft, der Inhalt des Kommunismus und die jüngsten Aufstände und Unruhen auf der ganzen Welt.

Der Ausdruck „Frontismus” bezeichnet die seit den 1930er Jahren angewandte Strategie, angesichts der zunehmenden Gefahr durch Faschismus und Nationalsozialismus breite Volksfronten zu bilden, d. h. Bündnisse zwischen Parteien, Gewerkschaften/Syndikate und anderen großen kollektiven Organisationen verschiedener sozialer Schichten. Mit der Strategie des Frontismus wird also angenommen, dass der Faschismus das absolute Böse ist und dass der Klassenkampf gegen diesen Fluch in den Hintergrund treten muss. Der Frontismus wurde vor allem von marxistischen Parteien verschiedener Couleur, ursprünglich von Stalinisten und Sozialdemokraten, theoretisiert und in die Praxis umgesetzt, gefolgt in der Nachkriegszeit von der Frontpolitik des Maoismus und Guevarismus, die die nationalen Befreiungskämpfe wieder aufgriff, die ursprünglich Ausdruck der Bourgeoisie der unterdrückten Länder waren (nur um die Unwissenden daran zu erinnern, dass die Marxisten die ersten waren, die den Klassenkampf zugunsten politischer Bündnisse aufgegeben haben, und dass bestimmte postkoloniale Gruppen viel mehr stalinistisch-maoistisch als libertär sind).“

Unser Autor macht es sich ein bisschen zu einfach. Der antifaschistische Frontismus ist sicher einer der besten Ausdrücke für optimistische Annahme und aktive Teilnahme an klassenübergreifenden (interklassistischen) sozialen Kämpfen. In diesem Sinne behält die Formel „Antifaschismus ist das schlimmste Produkt des Faschismus”, die oft benutzt wird, aber selten in der Praxis umgesetzt wird, ihre Gültigkeit, und zwar nicht nur, weil der Faschismus am Ende des Zweiten Weltkriegs militärisch verloren und politisch gewonnen hat, als Ausdrucksform des Kapitalismus (und damit des Staates). Tatsache ist, dass die Taktik des antifaschistischen Frontusmus, um ehrlich zu sein, nicht ausschließlich auf die marxistischen Parteien zurückgeführt werden kann, die den Richtlinien der von den Bolschewiki dominierten Dritten Internationale treu waren. Übrigens schlossen sich innerhalb dieser nicht alle Parteien der Taktik der Einheitsfront an; Der Fall der Kommunistischen Partei Italiens, die kurz zuvor gegründet worden war und von der sogenannten italienischen kommunistischen Linken und dem mehrfach erwähnten – was angesichts der anarchistischen Ausrichtung unseres Autors wenig kohärent ist – Amadeo Bordiga geführt wurde, ist symbolisch, aber er erschöpft nicht die skeptischen und ablehnenden Positionen gegenüber des Frontismus, die im marxistischen Lager weiter verbreitet waren, als man denkt, und zwar nicht nur zu Beginn der 1920er Jahre.

Der Frontismus ist ein Phänomen, das historisch gesehen auch viele, aber nicht alle Anarchistinnen und Anarchisten betraf, sowohl in Italien zu Beginn der 1920er Jahre mit den Arditi del popolo, zwischen 1943 und 1945 mit der Partisanenbewegung Resistenza, als auch, noch deutlicher, in Spanien, und zwar in dem Maße, in dem der Faschismus als der zu bekämpfende Feind Nummer eins angesehen wurde. Der Klassenkampf und die endgültige revolutionäre Auseinandersetzung wurden so auf die wiederhergestellte Demokratie verschoben. Der Autor von Die nihilistische Phase (weist später selbst darauf hin: In Spanien nahmen einige Anarchistinnen und Anarchisten sogar Ministerposten5 an, ganz zu schweigen von den Versuchen, die spontanen Streiks zu sabotieren, die bereits in der Anfangsphase des Bürgerkriegs mehrmals stattfanden, im Mai 1937 in Barcelona, in der Rede von Durruti im Radio Barcelona6 (und im Bulletin Solidaridad Obrera vom vom 5. November 1936), in der der anarchistische Anführer – es gibt viele Beispiele für echte libertäre Anführer in der Geschichte des Anarchismus – die Arbeiterorganisationen ermahnte, nicht zu vergessen, dass ihre Hauptaufgabe darin bestand, den Faschismus zu bekämpfen, weshalb sie „Groll und Politik beiseite lassen und an den Krieg denken” sollten. Zurück zu unserem Autor: Es ist nicht klar, warum das Beispiel des Verrats der CNT eine Ausnahme sein soll, die es erlaubt, den frontistischen Taktizismus den Marxisten zuzuschreiben und die Anarchistinnen und Anarchisten historisch aus der Verantwortung zu entlassen.

Die Frage ist immer noch aktuell. Tatsächlich wird der klassische militante Antifaschismus mit all seinen unschönen Begleiterscheinungen wie Politik, Karrierismus, racketistische Logik, Kompromissen mit dem „geringeren Übel“ usw. auch heute noch von vielen Aktivistinnen und Aktivisten gerne angenommen. Dahinter steht dasselbe Prinzip: Zuerst muss man sich mit der faschistischen Gefahr auseinandersetzen, die immer um die Ecke lauert – ohne zu überlegen, was Faschismus neben Squadrismo, den Schwarzhemden, dem Rizinusöl und der repressiven Brutalität –, und ignoriert so seinen tieferen Inhalt, der auf eine kapitalistische Phase und einen Klassenkampf beschränkt ist, der in der Form, wie er vor einem Jahrhundert stattfand, nicht mehr existiert. Dann, vorausgesetzt, dass seine Existenz anerkannt wird, gibt es den Klassenkampf. Jede antifaschistische Front ist eine demokratische Front, jede klassenübergreifende Front ist eine Front gegen die Autonomie des Proletariats.

Der Hauptstrang dieser letzten Analysen, die wir nur unpassend und sehr vereinfacht als politisch aktuell bezeichnen können, führt uns zu den beiden Schriften, gegen die unsere letzten Gesprächspartner polemisiert haben. Anlässlich der ersten Wahl von Trump haben wir eine grobe Hypothese aufgestellt, die meiner Meinung nach auch heute noch ziemlich gut geeignet ist, die Gegenwart zu beschreiben:

Wir stehen vor einer Phase, die wir als „Krise der Globalisierung” bezeichnen, und die sogenannte reaktionäre Welle, die die linksgerichteten Gutmenschen so sehr erschreckt (Trump, Putin, Orban, Zölle, Verhärtung der Märkte, Rassismus und Schließung der Grenzen), ist ein Ausdruck dieser Krise. Diese Krise wird durch neue Technologien ermöglicht, die die Produktion in den entwickelten Volkswirtschaften relativ flexibler machen und damit die Dynamik umkehren, die während der langen Phase der Standortverlagerungen entstanden ist (inzwischen sind auch die einst armen Länder zu reifen kapitalistischen Ländern geworden, die asiatischen Arbeiter haben begonnen, etwas anständigere Löhne zu fordern usw.). Ein Teil des westlichen Kapitalismus hat sich daher dafür entschieden, Investitionen wieder ins eigene Land zu holen, und sich politische Hüllen (wie den Trumpismus) zugelegt, die zu diesem Zweck geeignete Maßnahmen (z. B. Zölle, um ein aktuelles Beispiel zu nennen) ergreifen, während die alte liberale politische Elite entsetzt ist und zum Widerstand aufruft.“

Wir haben es schon seit einiger Zeit mit einer Krise der Globalisierung zu tun, aber wir müssen ein paar wichtige Sachen klarstellen, nicht um uns mit akademischem Geschwätz zu beschäftigen, wie viele Aktivistinnen und Aktivisten hartnäckig tun, sondern um zu verstehen, wohin die kapitalistische Produktionsweise führt. Zunächst einmal hat der Globalisierungsprozess, der eine Antwort auf die am Ende des Goldenen Zeitalters aufgetretene Akkumulationskrise war, von Anfang an nur teilweise und keineswegs endgültige Antworten auf den prekären Gesundheitszustand des Kapitalismus geliefert. Die Globalisierung war anfangs eine echte Plattform für die Wiederbelebung der weltweiten Akkumulation, unterstützt durch den Finanzimperialismus des Dollars und die Ausweitung seines Einflussbereichs – ermöglicht durch das Ende der Bretton-Woods-Abkommen – auf den gesamten Globus. Gleichzeitig erleben wir die rasante Entwicklung Chinas, die das Ergebnis der Annäherung zwischen China und den USA ist, begleitet von einem erheblichen Rückgang der industriellen Produktivität in den USA und der fortschreitenden Bildung riesiger Blasen aus fiktivem Kapital, die kurz vor dem Platzen stehen, usw. Widersprüche, die sich trotz unzähliger Versuche, sie einzudämmen, verschärft haben und teilweise in der großen Subprime-Finanzkrise von 2008 explodiert sind.

Zu sagen, dass die aktuelle Krise durch neue Technologien ermöglicht wurde – eine mechanistische Formel, die ein guter Anarchist seinen historischen Gegnern, den „wissenschaftlichen Sozialisten”, um die Ohren hauen sollte – ist eine vage Aussage, wenn man das Phänomen des tendenziellen Falls der Profitrate nicht berücksichtigt. Da das Kapital also gezwungen ist, seine Produktionsmittel ständig zu revolutionieren, um im Wettbewerb in Sachen Produktivität und Kosten mithalten zu können, kommt es zu einer Reihe von Widersprüchen, die mit dem Phänomen des maschinellen Ersatzes der lebenden Arbeitskraft zusammenhängen, was sich, auf den Punkt gebracht, wie folgt ausdrücken lässt: mehr fixes Kapital = weniger eingesetzte Arbeitskräfte = weniger Mehrwertschöpfung = wachsende überschüssige Bevölkerung = steigende Mengen unverkaufter Waren, mit allen Konsequenzen für die Märkte, das Währungssystem, den Kredit, die Finanzen usw. Wenn wir uns dann noch um die jüngsten, mittlerweile wiederkehrenden und systematischen Versuche einer selektiven Entkopplung zwischen den USA und China, um die weltweite Verschuldung und insbesondere um die Verschuldung der USA kümmern; auf die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten selbst ökonomisch und militärisch immer mehr Mühe haben, ihre Position als Weltpolizist aufrechtzuerhalten, auf die Infragestellung der Vorherrschaft des Dollars als Referenzwährung für den internationalen Handel und auf viele andere nicht unerhebliche Kleinigkeiten, dann ist Verwirrung mehr als garantiert. Die Krise der Globalisierung kann daher nicht auf die Durchsetzung neuer Technologien im Bereich der Produktion und Logistik reduziert werden.

Zu den internen politischen Spaltungen unter den großen Kapitalverwaltern gäbe es noch viel mehr zu sagen, zum Beispiel, dass das Reshoring und die bereits erwähnten Versuche, die beiden größten Volkswirtschaften voneinander zu entkoppeln – auch wenn man nur China betrachtet, was nicht wenig ist, denn ohne China würden die USA nicht bestehen –, nur wenige Ergebnisse bringen. Sogar Biden und die „liberale politische Elite” mussten das Erbe Trumps antreten, das in der Verschärfung des Handelskriegs gegen China besteht: ein Prozess, der 2018 mit Zöllen auf Stahl und Aluminium begann, die chinesische Importe im Wert von 370 Milliarden Dollar sowie Waren und Komponenten mit hohem Technologiegehalt betrafen. Was soll man dann von der gegenseitigen technologischen Abhängigkeit der beiden Mächte sagen, bei der China fast das Monopol auf Seltene Erden hat, die für die Entwicklung moderner Technologien und Waffensysteme, insbesondere im Bereich der KI, wichtig sind – wo schon die entscheidende Partie gespielt wird, weil sich ein offener Konflikt zwischen den beiden Giganten anbahnt, der vorerst nur verschoben ist – und die USA die Vorherrschaft (wie lange noch?) bei der Produktion von Mikroprozessoren und modernster Software haben? Kurz gesagt, der Knotenpunkt von Technologien und Rohstoffen macht deutlich, dass eine vollständige Entkopplung der beiden größten Volkswirtschaften der Welt unmöglich ist. Auf die US-Exportbeschränkungen für fortschrittliche Technologien reagiert China mit Exportbeschränkungen für Seltene Erden. Im Moment kann man nicht von einer Umkehrung der Globalisierung sprechen, vor allem weil die drei grundlegenden Prozesse, die sie ausmachen: globale Wertschöpfungsketten, Logistik und Öffnung der Weltmärkte, weiterbestehen… sie knirschen zwar, aber sie bleiben bestehen.

„Die nihilistische Phase ist der Zustand, in dem sich der Klassenkampf derzeit befindet. Der Klassenkampf verschwindet nicht, sondern wird verdrängt, er ist unbewusst, oft verspottet und verflucht, von seinen eigenen Akteuren verleugnet. Aber deshalb verschwindet er nicht. Der Klassenkampf wird, um eine Parallele zur Psychoanalyse zu ziehen, verdrängt, aber diese Verdrängung kehrt wie eine traumatische Verdrängung zurück und stört weiterhin den Schlaf des sozialen Friedens. Er kehrt als Symptom, als Neurose, als Massenirrationalismus zurück. Sein Hauptmerkmal war jahrelang die symptomatische Form des Massenwiderstands gegen die wissenschaftliche Entwicklung.“

Für einen Überblick, der alles andere als vollständig ist, über die Determinanten des zeitgenössischen internationalen Klassenkampfs verweise ich auf das bereits erwähnte Werk „Bussole impazzite7. Ich beschränke mich darauf, einige Widersprüche hervorzuheben, die ich in dem Text gefunden habe. Zunächst fordert uns der Autor auf, uns vor klassenübergreifenden Kämpfen zu hüten, um dann zu behaupten, dass der Massenwiderstand gegen die wissenschaftliche Entwicklung mit dem Klassenkampf zusammenfällt. Letzteres setzt ein gewisses Maß an Autonomie des proletarischen Pols im Kampf gegen das Kapital voraus, und angesichts der globalen Ereignisse der letzten fünf Jahre während der Demonstrationen gegen die wissenschaftliche Entwicklung, wie zum Beispiel die Kämpfe gegen den Green Pass und die Covid-Impfpflicht in Europa, wäre dies völlig falsch, abgesehen von den Bewertungen, die man zu diesen Kämpfen abgeben kann, zu behaupten, dass in ihnen die proletarische Komponente dominierend war und, geschweige denn, über eine eigene Autonomie sowohl in Bezug auf die Ziele, außer in wenigen Fällen, als auch in Bezug auf die Organisation usw. verfügte. Es handelt sich nicht zufällig um klassische Beispiele für klassenübergreifende Kämpfe.

Es stimmt, der Klassenkampf ist nie rein, aber man kann ihn auch nicht dort suchen, wo er nicht wirklich da ist. Angesichts der Selbstverständlichkeit von Phänomenen, die hier nur schwer im Detail analysiert werden können, ist es natürlich möglich und notwendig, Manifestationen des Klassenkampfs auf der ganzen Welt aufzuspüren. Es muss jedoch betont werden, dass diese heute mehr denn je in direktem Zusammenhang mit der Krise der Reproduktion des Proletariats und der verarmten Mittelklasse stehen, also mit der Krise der Reproduktion des Verhältnisses zwischen Kapital, Arbeit und überschüssiger Bevölkerung. Der Green Pass war für einige Teile des europäischen Proletariats und der Mittelklasse vor allem deshalb ein Grund zur Mobilisierung, weil die Ablehnung der Impfung oft dazu führte, dass es schwierig war, einen relativ stabilen Job zu behalten und ein Gehalt zu bekommen, mit dem man in Zeiten der Pandemie überleben konnte. Prinzipien, Ethik, Leidenschaft für die Freiheit usw., die mehr oder weniger demokratisch, bourgeois oder kleinbourgeois ausgelegt werden – man kann nicht leugnen, dass der ideologische Einfluss der Mittelklasse offensichtlich war – und viel seltener libertär, sind zweitrangige Motive. Mit anderen Worten: Im Kapitalismus bringt es dir als vorbehaltloser Mensch nichts, wenn du nur Grundsatzerklärungen abgibst. Damit kannst du weder deine Miete noch deine Einkäufe, Rechnungen, Schulgebühren für deine Kinder bezahlen, wenn du es dir leisten kannst, Kinder zu haben, usw.

Bordiga, für den emmeffe eine unverständliche Leidenschaft zu haben scheint, hat immer gesagt, dass schöne Prinzipien, Ethik, der individuelle reine Wille und deren Summe nicht zu dem Phänomen der sozialen Ionisierung der proletarischen Moleküle führen können, was ein wichtiger Faktor für einen gewaltsamen allgemeinen Klassenkampf ist. Für den neapolitanischen Kommunisten unterscheidet sich die soziale Revolution nicht wesentlich von der Evolution der menschlichen Spezies: zuerst der Bauch, dann die Hand, schließlich das Gehirn; eine Sichtweise, die sich kaum mit dem anarchistischen Voluntarismus vereinbaren lässt und die der wissenschaftlichen Methode viel zu verdanken hat, obwohl sie der Wissenschaft und den Erkenntnistheorien der bourgeoisen Zivilisation sehr kritisch gegenübersteht. Für den orthodoxen Bordiga gab es keine halben Sachen: Der Marxismus, eine monistische Auffassung von Welt und materieller Realität, musste entweder vollständig akzeptiert werden oder man war nichts anderes als ein Scharlatan. Damit schließe ich die Klammer zum ersten Sekretär der PCd’I – Verfechter der Anonymität und erbitterter Feind dessen, was er als individualistische Pest bezeichnete, die in klarem Gegensatz zum Kommunismus steht, der wiederum nichts mit dem anarchistischen Kommunismus zu tun hat, der keine reale Bewegung, sondern ein zu verwirklichendes Ideal ist, von dem unser Autor spricht – hegte er eine aufrichtige Verachtung für einen bestimmten Anarchismus und für jede Form von „Proudhonismus” und Idealismus. Als Gegner der Bolschewisierung und Kritiker der sogenannten Degeneration der Dritten Internationale war er fest davon überzeugt, dass der Prozess der Selbstorganisation des Proletariats in Sowjets dennoch der Aktion der Klassenpartei untergeordnet sein müsse. Der Verteidigung demokratischer Mechanismen stellte er die Diktatur des Proletariats und den organischen Zentralismus entgegen. Emmeffe, rede du mal über Anarcho-Bordigismus!

Um auf uns zurückzukommen: Die Kämpfe, die zwischen 2020 und 2021 in einer Reihe von Fabriken und Lagern in Italien geführt wurden, um die Schließung der Betriebe zu erreichen, die eigene Gesundheit zu schützen, eine sofortige Verringerung des Arbeitstempos und der Ansteckungsrisiken durchzusetzen, mehr Pausen zu bekommen, um an die frische Luft zu gehen und ohne Maske zu atmen, usw. (siehe AA.VV, Loco19, Colibrì), sind sicher nicht wegen einer weit verbreiteten, bewussten oder unbewussten Rebellion gegen die Wissenschaft und die Industriekultur passiert. Wenn das so wäre, hätte die Infragestellung der Industriegesellschaft, der Medizin und der Tracking-Geräte nach dem Ende der Gesundheitskrise kaum so schnell wieder aufgehört. Es ist daher verwunderlich, dass unser Autor die Leser auffordert, nicht in die Falle zu tappen, die diejenigen, die sich übermäßig von ihren eigenen Überzeugungen beeinflussen lassen, dazu verleitet, in sozialen Protesten und Kämpfen das zu suchen, was sie unbedingt darin sehen wollen.

In den USA hat die Ermordung von Floyd durch die Polizei – zusammen mit den Auswirkungen der Pandemie, die das Proletariat, vor allem das rassistisch diskriminierte, das seit Jahrzehnten angegriffen wird, hart getroffen hat, und der katastrophalen gesundheitlichen und sozialen Lage – als Auslöser für eine Ansammlung von Faktoren gewirkt, die bereit waren, in der direkten Konfrontation mit dem Staat zu explodieren. Die Ergebnisse sind bekannt: anhaltende Unruhen, Aufstände, Blockaden, Angriffe auf Polizeistationen, Bahnhöfe und Polizeifahrzeuge, Enteignungen, Besetzungen von Stadtgebieten, die der Kontrolle der Behörden entzogen wurden, Plünderungen und Revolten, die dazu neigten, ethnische Grenzen zu überschreiten und eindeutig klassenbezogene Züge anzunehmen. Tatsächlich stieß die Bewegung anfangs auf die Solidarität und aktive Beteiligung großer Teile des weißen Proletariats – enttäuscht und wütend über die nicht erfüllten Erwartungen hinsichtlich der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Reindustrialisierung der strukturschwachen Gebiete des Landes, die Trump 2016 versprochen hatte – und der Latinos; erst später, mit der Wiederbelebung durch den bunten postmodernen Müllhaufen, hat sie identitäre, demokratische und schließlich wahlpolitische Züge angenommen. Die Wut der ghettoisierten Bevölkerung, der Arbeiterinnen und Arbeiter in systemrelevanten Berufen, die oft in Jobs und Aufgaben mit minimalen Qualifikationsanforderungen beschäftigt sind, hat als Katalysator gewirkt und andere Teile des Proletariats mitgerissen, auch diejenigen mit etwas mehr „Sicherheit”, bis hin zur proletarisierten Mittelklasse und den sich rasch proletarisierenden Schichten. Es wäre unmöglich, die Merkmale der von den Medien eher oberflächlich (aber was soll’s) als GenZ bezeichneten Unruhen, die 2025 weltweit stattfanden, geschweige denn in den letzten fünf Jahren, aufzuzählen und zusammenzufassen. Wissenschaft und Technologie scheinen jedoch keineswegs im Mittelpunkt all dieser Ereignisse gestanden zu haben. Muss man vielleicht das Freudsche Unbewusste heranziehen?

Die nihilistische Phase, von der wir sprechen, findet in einem historischen Kontext statt, in dem die öffentliche Debatte zwischen der souveränistischen und der liberalen Strömung des Kapitals gespalten ist und in dem die Wissenschaft außerdem riesige Fortschritte in Bezug auf den Ausschluss von Arbeitskräften, Kontrolle und Verdummung gemacht hat. Unser anonymer Gesprächspartner wiederholt immer wieder, dass das, was passiert, keine Wende ist, „sondern das Ergebnis jener permanenten Umstrukturierung […], die in den 70er Jahren begonnen hat”; das scheint mir eine sinnlose Präzisierung zu sein, denn jedes historische Phänomen lässt sich auf ein anderes historisches Phänomen der Vergangenheit zurückführen (außerdem enthält sie mindestens ein Missverständnis, da der Gefährte von „Verlagerungen” spricht, während die nihilistische Phase, von der wir sprechen, gerade mit der Krise der Globalisierung beginnt). Aber in den 70er Jahren – Leute, lasst uns mal ehrlich sein – egal, wie sehr ihr euch selbst als hässlich, schmutzig und böse bezeichnet habt, gab es trotzdem eine politische Landschaft, in der die Kommunistische Partei weniger schlimm war als die Christdemokraten und die Christdemokraten weniger schlimm als die Neofaschisten. In der nihilistischen Phase gibt es dagegen keine reformistischen Klassenparteien mehr.“

Ausgehend von einer kurzen Zusammenfassung des aktuellen Stands der Globalisierung wurde deutlich, dass sie eine Verlangsamung erfahren hat, von der protektionistische Maßnahmen, die Stagnation multilateraler Handelsabkommen und die Einschränkung ausländischer Direktinvestitionen auf Produktionsebene nur einige Beispiele sind. Der gegenwärtige historische Kontext ist nicht grundlegend durch den politischen Konflikt zwischen Souveränismus und Liberalismus geprägt, wie unser Autor behauptet. Dieser Gegensatz spiegelt höchstens die oben kurz dargestellten und wirklich zentralen Widersprüche einer kapitalistischen Produktionsweise wider, die in einigen Regionen der Welt, vor allem im Westen, unter besonders schwierigen Bedingungen steht, sodass mittel- bis langfristig mit einer teilweisen Auflösung der aktuellen geoökonomischen Ordnung und einer unvermeidlichen Neuordnung des Weltkapitalismus zu rechnen ist. Der Begriff „Bruch” (disarticolazione: Exartikulation) erinnert zweifellos an das Auftreten von Phänomenen wie Handelskriegen und symmetrischen oder asymmetrischen Kriegen, aber auch an allgemeine soziale Umwälzungen, d. h. eine Wiederaufnahme des Klassenkampfs in verschiedenen Breitengraden, der sich der Kontrolle der Staaten und der herrschenden Klassen entziehen könnte. Man muss aber bedenken, dass die Globalisierung keine Politik ist, die man freiwillig annehmen oder ablehnen kann – die vom Autor als souveränistische und liberale Eliten bezeichneten einzelnen Kapitalverwalter verfügen nicht über die Kräfte, um hochkomplexe, festgefahrene und verzweigte globale Prozesse politisch zu beeinflussen –, sondern ein Stadium des Weltmarktes als Einheit der Produktion und des Warenverkehrs. Dieses Stadium, das wir in wenigen Zeilen zu zeigen versucht haben, hat zwar riesige Widersprüche hervorgebracht, die es in seiner Gesamtheit in Frage stellen, aber es hat noch nicht alle seine Karten ausgespielt. Der politische Konflikt zwischen den Eliten, von dem der Autor spricht, darf daher nicht verallgemeinert werden.

Die Standortverlagerung hat, anders als in diesem Textabschnitt behauptet, keineswegs nachgelassen; vielmehr lässt sich der Trend der letzten Jahrzehnte in einem weiteren Prozess der Konzentration und Differenzierung von Hierarchien und Funktionen innerhalb der globalen Wertschöpfungsketten zusammenfassen, mit Ländern, die auf den Export von Rohstoffen setzen, Länder mit einer großen Verfügbarkeit an billigen Arbeitskräften, Länder mit einer fortschrittlichen, aber extrem sektoralisierten Fertigung und schließlich Länder, die sich durch ökonomische Aktivitäten auszeichnen, die auf die Entwicklung von Spitzentechnologien und Dienstleistungen mit hohem technologischen Gehalt ausgerichtet sind und daher an der Spitze der Hierarchie stehen, aber dennoch in vielerlei Hinsicht von anderen Ökonomien abhängig sind. Emmeffe gibt die Globalisierung also zu früh auf.

Was seine Anmerkung zu den 70er Jahren angeht, weiß ich nicht, von wem er spricht, denn ich wurde geboren, als die PCI schon seit einigen Jahren endgültig tot war. Aber das Register ist genauso langweilig wie die Selbstbezogenheit, also lassen wir das lieber.

Wenn ich sage, dass wir auf populistische Bewegungen achten müssen, meine ich, wenn man mir eine ebenso gewagte wie großartige historische Parallele erlaubt, dass wir den aktuellen Populismus in Richtung seines Scheiterns treiben sollten, um die Entstehung einer neuen nihilistischen Bewegung zu unterstützen, die Vorbote des revolutionären Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist. Meine Oma hat immer gesagt, dass man Brot mit dem Mehl backt, das man hat. Wenn wir die Realität revolutionieren wollen, müssen wir eben von der Realität ausgehen. Im Moment ist Populismus/Nihilismus der irrationale und unbewusste (also unbewusste!) Ausdruck des Klassenkampfs. Die einzige Art und Weise, wie er sich im Westen auf Massenebene ausdrückt.“

Der Autor möchte eine Leiche wieder zum Leben erwecken, nämlich den russischen Nihilismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der genauso verfault ist wie der Zarismus. Man kann die Parallele zu der Situation eines Reiches nicht übersehen, in dem zum Zeitpunkt seines Untergangs noch mindestens drei Produktionsweisen nebeneinander existierten: die feudale, die asiatische und die kapitalistische, sowie Überreste eines uralten Kommunismus, die in der Dorfgemeinschaft oder Obscina zu finden waren. Der Klassenkampf ist eine Dynamik, eine historische Konstante innerhalb der Klassengesellschaften, kein Rezept, keine Formel und kein Organisationsmodell, das man nach Belieben, außerhalb von Zeit und Raum, auf der Grundlage persönlicher Vorlieben, Erwartungen und ethischer Prinzipien übertragen kann.

Die Formen des Klassenkampfs und die Art und Weise, wie sich die Ausgebeuteten organisieren, ändern sich, weil sich die Produktionsweise im Laufe der Zeit wandelt und die Klasse der Habenichtse sich entsprechend diesen Veränderungen auflöst und neu formiert. In diesem Sinne ist die Spontaneität des Proletariats das Wichtigste: die einzige Kraft, die den Organismen der proletarischen Autonomie Gestalt geben kann. Die revolutionäre Theorie muss sich auf diese Spontaneität einstellen, wo und wann immer sie auftaucht, ohne sich vorzumachen, sie ersetzen zu können, indem sie versucht, Etappen zu überspringen, die von Individuen oder Gruppen nicht übersprungen werden können, und vermeintliche Abkürzungen zu nehmen, die nur zu Selbstbezogenheit, Selbstgefälligkeit und Selbstbeweihräucherung der eigenen militanten Taten führen, die sich über die Feigheit und die abwartende Haltung der schläfrigen Sklaven lustig machen. Dass diese Abstimmung darauf abzielt, die Kontrolle über die revolutionäre Bewegung zu übernehmen, um sie zu lenken, anstatt ihren autonomen Drang zur Veränderung der sozialen Verhältnisse, die die gesamte Menschheit fesseln, zu unterstützen, ist eine andere Frage, die unbedingt angegangen werden muss, nämlich die der revolutionären Organisation.


1A.d.Ü., Über die üblichen alten – geliebten – Themen Über Kommunismus und Individualismus (mit einem Blick auf den Nihilismus)

2A.d.Ü., (Vetriolo) DIE NIHILISTISCHE PHASE

3A.d.Ü., Ein paar kritische Gedanken zu „Die nihilistische Phase”

4A.d.Ü., auch auf unseren Blog: Wahnsinnige Kompasse?.

5A.d.Ü., Federica Montseny, Juan García Oliver, Juan López und Joan Peiró.

6A.d.Ü., Durruti spricht (November 1936)

7A.d.Ü., auch auf unseren Blog: Wahnsinnige Kompasse?.

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